aus der FAZ-Beilage "Geisteswissenschaften" vom 24.02.1999

Der Normalität entgangen. Neue Dokumente zur Verhaftung von Georg Lukács 1941

Als der ungarische Intellektuelle Georg Lukács am 29. Juni 1941 in Moskau vom NKWD unter der Beschuldigung, ein Agent des ungarischen Nachrichtendienstes zu sein, verhaftet wurde, empfand er diesen Augenblick, wie er dreißig Jahre später in seiner Autobiographie "Gelebtes Denken" schildert, als Glück: "Unter Glück verstehe ich, dass ich erst zu diesem Zeitpunkt aufgeflogen bin, weil damals alle diese Hinrichtungen nicht mehr stattfanden … Ich bin durch eine der größten Verhaftungskampagnen der Welt gegangen. Ich wurde am Ende der Kampagne, als die eigentlichen Momente der Kampagne keine Rolle mehr spielten, für zwei Monate festgenommen. Das kann man nur als Glück begreifen." Über die Einzelheiten der Verhaftung von Lukács ist bislang kaum etwas bekannt gewesen, da er sich in seiner Autobiographie kaum dazu äußerte.

Als Agent entlarvt

Etwas Licht in diese Affäre konnte nun Reinhard Müller vorn Hamburger Institut für Sozialforschung in einem an der Freien Universität Berlin gehaltenen Vortrag bringen. Müller hatte sowohl die Kader- als auch die NKWD-Akte von Lukács einsehen können. Laut Verhaftungsbeschluss vom 25. Juni 1941 wurde Lukács aufgrund der Aussagen des im August 1940 beim illegalen Übergang der Staatsgrenze verhafteten Agenten des ungarischen Nachrichtendienstes Stepan Boilowitsch Timar "als Agent des ungarischen Nachrichtendienstes entlarvt, mit dem Timar durch eine vereinbarte Parole eine Spionageverbindung herstellen musste".

Obwohl diese Aussage bereits am 9. Mai zu Protokoll gegeben wurde, so steht die Verhaftung von Lukács dennoch im Zusammenhang mit der nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion einsetzenden Verhaftungswelle, die vor allem auf die Eliminierung der sogenannten "fünften Kolonne" zielte. Alle aus Deutschland oder mit ihm verbündeten Ländern stammenden Exilanten wie auch alle von Stalin als unzuverlässig verdächtigten Volksgruppen der Sowjetunion wie beispielsweise die Krimtataren wurden mit verschiedenen Terrormaßnahmen überzogen.

Lukács wurde während seiner zweimonatigen Haft insgesamt neunmal verhört. Die "aktiv" – unter Einschluss von Folter – geführten Verhöre zielten auf ein Geständnis des Delinquenten, galten doch Geständnisse, nach den Worten des sowjetischen Generalstaatsanwalts Andrej Wyschinsky, als das stärkste Beweismittel überhaupt. Doch Lukács zeigte sich widerspenstig. In den Verhörprotokollen finden sich mehrfach Formulierungen des Fragestellers wie: "Hören Sie auf, zu beharren" oder: "Sie setzen fort, sich zu drehen und zu wenden", die anzeigen, dass sich Lukács nicht einfach unterwerfen wollte. Dennoch konnte der Verfasser international bekannter Bücher, wie "Theorie des Romans" und "Geschichte und Klassenbewusstsein", und ehemalige Mitarbeiter des Instituts für Philosophie der Akademie der Wissenschaften der Sowjetunion nicht verhindern, dass seine Arbeiten durch Schläge von Polizeibeamten eine Kritik erfuhr, die auf die Feststellung hinauslief, dass er den Marxismus nicht richtig verstanden habe. Das Niveau der Auseinandersetzung, dem sich Lukács anpassen musste, macht folgende "Frage" des NKWD-Untersuchungsführers deutlich, die zugleich das zu erwartende Urteil einschloss: "Sie versuchen vergeblich, sich für einen Kommunisten, einen Marxisten auszugeben. Sie waren in der Theorie Idealist, in der Praxis Opportunist und Fraktionsmacher. Einfach gesagt, Sie standen im Dienst ausländischer Nachrichtendienste, waren ein Spion."

Wären die Dinge "normal" verlaufen, daran ließ Müller keinen Zweifel, wären Verurteilung und Hinrichtung nicht zu verhindern gewesen, zumal der Hauptbelastungszeuge Timar schon am 6. Juli "zum höchsten Strafmaß" verurteilt und bereits hingerichtet worden war. Zwei Umstände waren für das Überleben von Lukács entscheidend. Zum einen wurde der an der Parteihochschule der Komintern lehrende hohe ungarische Funktionär László Rudas gleichzeitig mit ihm verhaftet. Zum anderen war der 1919 zusammen mit Lukács in der ungarischen Räteregierung arbeitende Mátyás Rákosi nach fünfzehnjähriger ungarischer Kerkerhaft 1940 in die Sowjetunion entlassen worden. Rákosi war somit zu einem in gewisser Weise "unantastbaren" Märtyrer der internationalen Revolution geworden, wie seinerzeit im Reichstagsbrandprozess der mittlerweile zum Komintern-Vorsitzenden aufgestiegene Bulgare Georgi Dimitroff.

Seine Rettung schilderte Lukács in seiner Autobiographie. "Da Dimitroff von mir eine sehr gute Meinung hatte, startete er sofort eine Aktion. Glücklicherweise war auch László Rudas zusammen mit mir verhaftet worden, so dass sich auch die ungarische Partei dieser Aktion sofort anschloss. In jener Zeit fungierte Mátyás (Rákosi) bereits als künftiger Führer und hatte natürlich ein sehr gutes Verhältnis zu Rudas. Als Dimitroff nun Rákosi anbot, eine Aktion für Lukács und Rudas zu machen, konnte dieser schlecht sagen, für Rudas und gegen Lukács. Das hätte sehr gegen Rákosis Physiognomie gesprochen."

Zweimal überlebt

Mit Beschluss des NKWD vom 20. August 1941, bestätigt am 23. August vom Volkskommissar für innere Angelegenheiten Lawrentij Berija, wurde Lukács "Wegen nichterwiesener Anklage" aus der Haft entlassen. Ungewollt ermöglichte es Rákosi, dass die Ironie der Revolutionsgeschichte ihren Lauf nahm. Mit Georg Lukács wurde nämlich ein Mann gerettet, der 1956 nicht nur zu Rákosis Sturz beitrug, sondern darüber hinaus auch noch Minister für Volksbildung in der reformorientierten und später durch sowjetische Truppen gestürzten Regierung Imre Nagy wurde. Auch bei diesem Unternehmen wurde Lukács verhaftet und überlebte ein zweites Mal. Verständlich, dass er diese Erfahrungen unter dem Begriff Glück verbucht hat.

Ralf Zwengel

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