10.Mai 2003

Kritischer Lektürekurs:

Karl Marx zur »Judenfrage«

Einleitung / Vorbemerkungen

zum Seitenende

Die Schwierigkeiten heutiger Rezeption von MARX (1844) ZUR 'JUDENFRAGE' konzentrieren sich endgueltig auf den 2. Teil (MEW 1:371-377), die Kritik des Aufsatzes von BRUNO BAUER »DIE FÄHIGKEIT DER HEUTIGEN JUDEN UND CHRISTEN, FREI ZU WERDEN«.

In diesem Text setzt MARX konzentriert die bekannten christlich-germanischen und romantisch-buergerlichen Bilder vom »Juden« ein, um seine Argumentation zur WIRKLICHEN, radikalen, sozialen Emanzipation von Juden, Christen, Deutschen und Buergern ZU MENSCHEN, IN EINE BEWUSST-GESELLSCHAFTLICHE, FREI ASSOZIIERTE MENSCHENGATTUNG zu begruenden.

Fuer KARL MARX galt wie fuer den mit ihm befreundeten Zeitgenossen HEINRICH HEINE folgende Ausgangs-Situation:

»Mit nichts ausgerüstet als dem Taufschein, dem immensen Talent und dem nicht weniger immensen Vertrauen in Gültigkeit und Überzeugungskraft der Aufklärungsmaximen (...) brach [auf dem Wege der Entfaltung seiner radikalen Kritik vor ihm] jeder Widerspruch der bürgerlichen Aufklärung in Deutschland auf. (...) Dialektik der Aufklärung manifestierte sich, wie überall, damals in Deutschland mit seinen untergehenden Ständen und ungeborenen Klassen (MARX) (...) in einer christlich-deutschen Romantik (...) LUTHERisches Christentum und deutsch-messianisches Sendungsbewusstsein fanden im Nichtdeutschen, insbesondere im Franzosen, und im Juden die eifernd bekämpften Gegenbilder. Abermals Progression und Regression in einem. (...)

Dem Kult des vorbürgerlichen Mittelalters (wie man es zu verstehen glaubte) und des angeblich deutschbewussten und gegenuniversalistischen LUTHERtums (das jenen fürstlichen Partikularismus [den die germanomanischen Studenten und turnerbewegten 'Befreiungskrieger' der Jugendzeit von BÖRNE, HEINE, MARX e.a. so fanatisch bekämpften] in Wahrheit erst möglich gemacht hatte) widersprach die moderne Aufklärung mit ihrer abstrakten Forderung nach Menschengleichheit ebenso wie die beginnende, nicht minder abstrakte Geldwirtschaft. Juden waren an beidem beteiligt und interessiert. Die ideologische, politische und militärische Befreiungsbewegung gegen die französische Okkupation war daher aufklärungs- und judenfeindlich seit Anbeginn.« (HANS MAYER: AUSSENSEITER.(1975) Frankfurt/M 1981, S.351ff)

Unstrittig ist bei allen Lesarten, Deutungen und Implikationszuschreibungen die emanzipatorische Argumentationsrichtung dieses Textes, die MARXsche Intention auf Befreiung aller Menschen im allgemeinen UND DER JUDEN IN DER BUERGERLICHEN, VOR ALLEM DER PREUSSISCH-DEUTSCHEN GESELLSCHAFT im besonderen. Es geht dem beginnenden historisch-materialistischen Dialektiker MARX im Streit mit dem radikalen deutsch-linken JungHEGELianer B.BAUER genau wie diesem um die radikale Judenbefreiung in/aus den deutschen Zustaenden der nachNAPOLEONischen Ära des METTERNICH-Systems, das ihnen die rechtlich-politische Emanzipation unter dem NAPOLEONischen Besatzungsregime wieder genommen hatte.

KARL MARX ist persönlich ein »Produkt« dieser Rückgängigmachung, dieser Progression/Regression, denn sein Vater war vom jüdischen Glauben zum protestantischen Christentum konvertiert (als sein Sohn KARL HEINRICH sechs Jahre alt war) nicht aus »freiem Willen«, sondern weil er als Jude nicht zum Rechtsanwaltsberuf und Justizratsposten zugelassen wurde. Zugleich bemühte er sich energisch um vollständige »Assimilierung« an die bürgerlich-christlich-germanisch-preussische Kultur der damaligen Rheinprovinz; KARL MARX wurde getauft (ALBERT MASSICZEK: DER MENSCHLICHE MENSCH. KARL MARX' JÜDISCHER HUMANISMUS (WIEN FRANKFURT/M ZÜRICH 1968) S.169-185; 547).

Seine Mutter, die das sephardische Judentum einer ebenso alten ungarisch-niederländischen Rabbiner-Genealogie verkörperte, vollzog mental diese Assimilation nicht so entschieden mit und wurde von ihrem Sohn, ganz im Unterschied zum Vater, zeitlebens emotional abgelehnt (frühzeitiger Bruch. -- A.MASSIZCEK 133f; 169-181; 511-516,523,528ff; 540; FRANCIS WHEEN: KARL MARX (LONDON 1999; MÜNCHEN 2002) S..18, 23,43). Um diesen komplexen persönlichen, historischen und ideengeschichtlichen Kontext kurz klarzumachen (was im Einleitungsteil unseres Lektuerekurses vor allem durch ein Referat mit anschliessender Diskussion um die Positionierungen HEGELs und der Links-/JungHEGELianer zur damals so genannten 'Judenfrage' geschah), zitieren wir hier nur die klassische Skizze des Linkskatholiken FRIEDRICH HEER:

KARL MARX »stammt aus ältestem Geistesadel Europas. Große Rabbiner sind seine Vorfahren. (...) HERSCHEL MARX -- nach der Taufe HEINRICH MARX --, der Vater von KARL MARX, gehört in Trier, einer Stadt, in die die Juden mit CAESAR und AUGUSTUS gekommen waren, einer Familie an, die seit 150 Jahren fast erblich den Rabbiner stellt. (...)

'Entfremdung': Die GNOSIS, AUGUSTIN und HEGEL sprechen von der Entfremdung des Menschen von sich selbst. MARX, von HEGEL herkommend, durchdenkt die Entfremdung als Jude in der bewussten und tief in seinem Unterbewusstsein arbeitenden Auseinandersetzung mit dem Problem des Judentums. (...) Dieses Denken um die Entfremdung (...) wurzelt bereits bei MARX -- tief in seinem Unterbewusstsein -- im Ringen mit dem leidschweren Problem der Stellung der Juden in der Welt. Der Jude ist ein Fremder in der Welt. Der Jude ist ein Fremder in der Welt christlicher und nachchristlicher Völker.

Der deutsche Jude, ausgebrochen und ausgestoßen aus dem Ghetto im 19. Jahrhundert, ist sich seiner Vergangenheit, seiner Geschichte, seinem Gotte selbst entfremdet. Dieser glaubenslose, getaufte Jude (KARL MARX ist getauft und behandelt in der Abiturarbeit in Religion die Frage nach der Natur, den Gründen und Folgen der Vereinigung der Gläubigen mit Christus -- Johannes 15,1-14) sieht sich immer wieder in derselben Lage wie LUDWIG BÖRNE 1832: 'Die einen werfen mir vor, dass ich ein Jude sei, die anderern verzeihen es mir, der Dritte lobt mich gar dafür, aber alle denken daran. Sie sind wie gebannt in diesem magischen Judenkreise, es kann keiner hinaus.' (...)

Die offene Auseinandersetzung MARX' mit dem Judentum ist dürftig und nicht frei von jüdischem Selbsthass.

BRUNO BAUER, zunächst ein Freund von MARX und einer der schärfsten Köpfe der deutschen linken Intelligenz der LinksHEGELianer, hat in zwei Schriften, 'DIE JUDENFRAGE' und 'DIE FÄHIGKEIT DER HEUTIGEN JUDEN UND CHRISTEN, FREI ZU WERDEN', den Juden das Recht der Assimilation und der Gleichberechtigung mit den Christen abgestritten: Der Christ steht hoch über dem Juden; der Jude ist ein Fremdling, ein schlaffes, kraftloses, bösartiges Wesen, ausserhalb der guten Weltgeschichte stehend.

B.BAUER verschärft später noch seine Gedanken in der Schrift 'DAS JUDENTUM IN DER FREMDE', 1863: Der Jude ist ein Ausdruck des Bösen in der Welt. Der Hass des [ursprünglich christlichen, dann zum professoralen Atheisten mutierten] Theologen gegen den bösen Gott JEHOVA verdichtet sich hier im Hass gegen das Judentum, das als der Erzfeind aller guten Zukunft der Menschheit angesprochen wird. BAUER wird der geistige Führer eines deutschen Antisemitismus, der im Vormärz in WILHELM MARR, im wilhelminischen Deutschland in RUDOLF TODT und dem Hofprediger STÖCKER und seiner CHRISTLICH-SOZIALEN PARTEI an die Öffentlichkeit tritt und in der von BAUER mitgeschaffenen INTERNATIONALEN MONATSSCHRIFT, ZEITSCHRIFT FÜR ALLGEMEINE UND NATIONALE KULTUR UND DEREN LITERATUR (Chemnitz, ab1882) um den Aufbau einer internationalen Bewegung ringt. Nach dem Tode BRUNO BAUERs wird diese Zeitschrift in ANTISEMITISCHE BLÄTTER umbenannt. BAUER selbst will nicht als Antisemit bezeichnet werden.

War KARL MARX, der sich 1844 mit den beiden antijüdischen Schriften BRUNO BAUERs auseinandersetzt, selbst Antisemit ? Dies wird oft behauptet, stimmt jedoch nicht. MARX verteidigt die Juden, denen er jede rassische und religiöse Einheit abspricht, fordert aber, ganz im Sinne der Denker der Französischen Revolution, ihre Befreiung, um sie in die eine Menschheit hinein aufzulösen. MARX durchdenkt die jüdische Frage, die Stellung des Juden in der Welt, als die Frage des Menschen, denkt sie als Frage zunächst des 'Proletariats' durch. Seine Charakterisierung der sozialen Lage des Proletariats lässt sich direkt auf das Judentum anwenden. (...)

KARL MARX hat sich nach 1844 nie mehr direkt -- expressis verbis -- mit der Judenfrage befasst. In dieser Tatsache ist nicht einfach eine Ausflucht, eine Flucht vor sich selbst, vor dem Jude-Sein zu sehen, sondern etwas spezifisch Jüdisches und spezifisch Jüdisch-Prophetisches, nämlich: die Frage der eigenen Existenz und die Fragen des jüdischen Volkes als Menschheitsfragen.« (FRIEDRICH HEER: GOTTES ERSTE LIEBE. München 1967, S.257-260)

Schon dieser Hintergrund des MARXschen Textes ZUR 'JUDENFRAGE' -- mag ein christlicher Ideengeschichtler wie F.HEER diese Skizze auch philosemitisch »geschönt« haben -- verunmöglicht eine Lesart, die MARX zu einem geistigen Urheber der deutschen eliminatorischen »Endlösung der Judenfrage« 100 Jahre nach seinem Text machen möchte. Bei allem evtl. »jüdischen Selbsthass« (dazu A.MASSICZEK 548!,584), der bei MARX in dem Aufgreifen der antijüdischen Stereotypen vom »Geldmenschen« und »schmutzig-jüdischen praktischen Eigennutz« etc. (A.MASSICZEK 547) (sowie in späteren vertraulich-persönlichen Injurien etwa gegen den ostjüdischen politischen Parvenu LASSALLE und in ausserordentlich abstoßenden polemischen Klischee-Passagen von einem schlecht-assimilierten »jüdischen Schmutzjournalisten« und »Börsenwolf« in »HERR VOGT« (MEW 14:599-605) -- also im erniedrigendsten, kleinlichst-gehässigen politischen Handgemenge mit politischen Rivalen und Feinden) zum Ausdruck kommen mag: es geht MARX grundsätzlich um die Auflösung des von BÖRNE so treffend gekennzeichneten »magischen Bannkreises« jüdischer Identitätszuschreibung, jüdischer Besonderheit. Diese »Emanzipation vom Judentum« ist spürbar sein inneres Anliegen (F.WHEEN p.20;).

Nie und nirgends geht es MARX dabei um physische, gar »rassische« Eliminierung der jüdischen Menschen, »des Volkes der Juden«, wie immer letzteres definiert sei; keine einzige Formulierung dahingehend ist bislang auch von den erbittertsten MARXhassern im gesamten erschlossenen Werk je gefunden worden. Auch ist KARL MARX kein OTTO WEININGER. Wir finden bei MARX zwar späterhin (siehe weiter unten) Bestimmungen historisch-materialistischer, ökonomiekritischer Verortung »der Juden«, diese Stelle des empirischen Judentums unterscheidet sich jedoch jedesmal unmissverständlich klar von den JudenBILDERN (A.MASSICZEK 540f,543f;551-559;583) und PHANTASMATA, die uns im MARXschen Werk heute immer wieder irritieren, wenn wir auf sie stoßen, wo sie im Kontext der Enträtselung des Geldrätsels, besonders fetischistischer Gestaltungen des Kapitals und besonders menschenverachtender Formen kapitalistischer Ausbeutung von MARX ökonomiekritisch -- und, wie noch zu zeigen ist (siehe auf dieser webpage: den BEITRAG ZU DER VERANSTALTUNG »DAS KAPITAL. GEBRAUCHSANLEITUNG«: »ANSÄTZE FÜR EINE HISTORISCH-MATERIALISTISCHE KRITIK DES ANTISEMITISMUS AUF BASIS DES PRODUKTIONSPROZESSES DES KAPITALS (MEW 23), Dispositiv), ideologiekritisch und insbesondere religionskritisch -- eingesetzt werden. So taucht z.B. die SHYLOCK-Figur aus THE MERCHANT OF VENICE vom frühesten (HOLZDIEBSTAHLGESETZE-Artikel MEW 1:141) bis ins reifste Werk (MEW 23-25) geradezu leitmotivisch auf.

MARX, dem SHAKESPEARE-Fan, ging es mit dieser Technik offensichtlich um die adäquate Darstellung des inneren historisch-genetischen Zusammenhangs ökonomischer Opfer/Täter-Beziehungen mit den phobisch aufgeladenen Personifikationen, in denen sie unbegriffen fixiert worden sind und werden, in denen sie jedoch zugleich als bildlich-symbolische Ausdrucksformen wirklich-sinnlicher Verhältnisse ihre ästhetische Bewältigung und Auflösung und letztlich ihre wirklich-sinnliche Lösung erstreben: »des Menschen-Recht bricht unmenschlichen bürgerlichen Rechts-Schein« usw. Zum SHYLOCK-Motiv und zu MARX' Darstellungstechnik auf dieser Ebene sehr erhellend: SIEGBERT S. PRAWER: KARL MARX UND DIE WELTLITERATUR. München 1983; HANS MAYER: AUSSENSEITER. 1975, FRANKFURT/M 1981,S.311-458; DIETRICH SCHWANITZ: DAS SHYLOCK-SYNDROM -- DRAMATURGIE DES ANTISEMITISMUS. FRANKFURT/M 1997).

Der Zwiespalt, in dem sich MARX dem eigenen, d.h. familial-genealogisch »ererbten« Judentum gegenüber befand und den er immer wieder durch brutale Verdrängung, d.h. Bruch mit dem Elternhaus (F.WHEEN p.43, A.MASSICZEK 511ff) und Abweisung der religiös-kulturell-mentalen jüdischen Tradition und »Identität« ins kosmopolitisch-menschheitlich Allgemeine (späterhin: des internationalen revolutionären Proletariats -- dazu kritisch A.MASSICZEK 586ff) zu lösen versuchte -- bis hin zu gelegentlichen Abspaltungen und Projektionen der am Selbstbild haftenden stereotypen Züge einer »schmutzig-jüdischen« Identität, die ja nun gerade ihm selbst von anderen allzugern zugeschrieben, »angeklebt« wurden. Zu diesem auf MARX gekommenen Judenbild hier erstens das Beispiel des deutschen Aufklärers J.W.GOETHE -- zum einen, weil gerade das Bildungsuniversum der »GOETHE-Zeit« aus dem Hause MARX (Senior wie Junior) nicht wegzudenken war und genau den Horizont assimilationsjüdischer deutscher BürgerInnen vorgab, den auch ein KARL MARX nicht rundum überschreiten konnte; zweitens wegen der repräsentativen Prägnanz, die der Vorzug der »Konstruktion« des ambivalenten Judenbildes aus der Sicht des frankfurter (Spiess-)Bürgersöhnchens angesichts der WIRKLICHEN Welt der »Judengasse« (aus der LUDWIG BÖRNE kam, der am erschütterndsten ihre übelriechende Aura von Schmutz-und-Schacher-und-Erstickungsangst geschildert hat) ist:

»Zu den ahnungsvollen Dingen, die den Knaben und wohl auch den Jüngling bedrängten, gehörte besonders der Zustand der Judenstadt, eigentlich die Judengasse genannt, weil sie kaum aus etwas mehr als einer einzigen Straße besteht, welche in frühen Zeiten zwischen Stadtmauer und Graben wie in einen Zwinger mochte eingeklemmt worden sein. Die Enge, der Schmutz, das Gewimmel, der Akzent einer unerfreulichen Sprache, alles zusammen machte den unangenehmsten Eindruck, wenn man auch nur am Tore vorbeigehend hineinsah. Es dauerte lange bis ich allein mich hineinwagte, und ich kehrte nicht leicht wieder dahin zurück, wenn ich einmal den Zudringlichkeiten so vieler etwas zu schachern unermüdet fordernder oder anbietender Menschen entgangen war. Dabei schwebten die alten Märchen von Grausamkeit der Juden gegen die Christenkinder, die wir in GOTTFRIEDs Chronik grässlich abgebildet gesehen, düster vor dem jungen Gemüt. Und ob man gleich in der neuern Zeit besser von ihnen dachte, so zeugte doch das große Spott- und Schandgemälde [»Die Judensau«: Juden und Jüdinnen mit/als Ziegenbock sowie Milch und Kot einer Sau aufnehmend ...] welches unter dem Brückenturm an einer Bogenwand, zu ihrem Unglimpf, noch ziemlich zu sehen war, ausserordentlich gegen sie: denn es war nicht etwa durch einen Privatunwillen, sondern aus öffentlicher Anstalt verfertigt worden.

Indessen blieben sie doch das auserwählte Volk Gottes und gingen, wie es nun mochte gekommen sein, zum Andenken der ältesten Zeiten umher. Ausserdem waren sie ja auch Menschen, tätig, gefällig, und selbst dem Eigensinn, womit sie an ihren Bräuchen hingen, konnte man seine Achtung nicht versagen. Überdies waren die Mädchen hübsch, und mochten es wohl leiden, wenn ein Christenknabe, ihnen am Sabbat auf dem Fischerfelde begegnend, sich freundlich und aufmerksam bewies. Äusserst neugierig war ich daher, ihre Zeremonien kennen zu lernen. Ich liess nicht ab, bis ich ihre Schule öfters besucht, einer Beschneidung, einer Hochzeit beigewohnt und von dem Laubhüttenfest mir ein Bild gemacht hatte. Überall war ich wohl aufgenommen, gut bewirtet und zur Wiederkehr eingeladen: denn es waren Personen von Einfluss, die mich entweder hinführten oder empfahlen.« (J.W.GOETHE: DICHTUNG UND WAHRHEIT (dtv1962)S.136f) Anders als bei dem -- gewiss nicht judophoben -- deutschen Bürger GOETHE war der Abstoßungseffekt dieses stereotypen Bildes vom »schmutzig Jüdischen« und zugleich »uralten, fremden Volk« in seiner unheimlichen Archaik, dessen Geschichte in einer Art Ritzenwelt von »Schacher« zwischen den Extrempolen von Armut und Reichtum -- gleichsam einer Karikatur der bürgerlichen Gesellschaft -- auszulaufen schien, bei den assimilationsbestrebten jüdischen Bürgern vielmehr ein Selbstabstoßungseffekt.

Zweitens nehmen wir als Beispiel den notorischen Rivalenhass von BAKUNIN, der MARX mit Vorliebe als »deutscher Jude« mit den Allüren eines »Messias-Diktators« zeichnete -- wozu MAXIMILIEN RUBEL in seiner hervorragenden Studie »MARX ALS THEORETIKER DES ANARCHISMUS« (dt. in: DIE AKTION, Heft152/156,1996,S.99) hinzufuegt: »Wir verzichten darauf, hier eine Anthologie rassistischer und deutschfeindlicher Äusserungen zu erstellen, zu denen BAKUNIN durch die Figur von MARX angeregt wurde. Man findet sie ... in den ARCHIVES BAKOUNINE (...), LEIDEN 1963« und folgende Kostprobe zitiert: »Oh! Der Kommunismus von MARX will die starke Zentralisierung des Staats; und da, wo es die Zentralisierung des Staats gibt, muss es notwendigerweise eine Zentralbank geben; und da, wo eine solche Bank existiert, wird die parasitäre Natur der Juden, die auf die Arbeit des Volkes spekulieren, immer Mittel finden, um zu existieren ...« M.RUBEL schliesst: »Was soll man von einem 'Anarchisten' oder einem 'revolutionären Kommunisten' halten, der glaubt und behauptet, dass der Jude MARX von einer 'Horde kleiner Juden' umgeben sei, dass 'diese ganze jüdische Welt' -- 'ein Volk von Blutegeln' -- 'eng organisiert' sei 'ueber alle Unterschiede der politischen Meinungen hinweg', und dass es 'zum Großteil zur Disposition von MARX auf der einen und ROTHSCHILD auf der anderen Seite'» sei?«.

Solche ihm angehefteten, ja wohl in seinem eigenen Unbewussten offensichtlich selber anhaftenden Stereotypen (das Phantasma vom »schwarzen« jüdischen Charakter umgekehrt liebevoll auf sein eigenes Äusseres bezogen in dem Kosenamen, den ihm JENNY VON WESTPHALEN gab: »das Schwarzwildchen« und eben im zärtlich-familialen »der Mohr«) gab MARX in privatisiertem, zur Karikatur verkleinertem Format an andere als negative Projektionen weiter, nämlich an gewissermaßen echte, offen nicht- oder schlecht-assimilierte Juden (am deutlichsten und lächerlichsten in seinem geschmacklosen und taktlosen persönlichen Klatsch über »den jüdischen Nigger« LASSALLE. Wobei noch unbewusste Ranküne gegen diejenigen mitspielen mochte, welche NICHT assimiliert waren: »Sie [= die Mitglieder des Hauses ROTHSCHILD] konnten es sich leisten, DEN EINTRITTSPREIS ZUR EUROPÄISCEN ZIVILISATION, wie HEINE das genannt hat, ZU VERWEIGERN: DIE TAUFE. HEINE wurde Christ (...) FELIX MENDELSSOHN-BARTHOLDY, der Enkel des MOSES MENDELSSOHN, nahm die sorgsam von ihm selbst formulierten Glaubensartikel des LUTHERischen Christentums in den geistigen und künstlerishen Haushalt auf. (...) im Spätwerk fast ein leidiger Hang (...) Auch LUDWIG BÖRNE ging zur Taufe, und der Sohn KARL HEINRICH des Justizrats MARX in Trier. NICHT SO DIE ROTHSCHILDS. Die Familie DISRAELI trat der anglikanischen Hochkirche bei. DER SOHN DES HEYMAN LASSALLE AUS BRESLAU HINGEGEN BLIEB JUDE; übrigens ebenso der Sohn des Kölner Synagogenkantors OFFENBACH.« (HANS MAYER 1981,S.361)

Seine paar hässlichen »Juden«-Klischees gegen LASSALLE und andere, die wir Heutigen, NACH der Shoa, überhaupt nicht mehr als irgendwie »harmlos«-witzig, sondern einfach nur noch als entsetzlich und unerträglich empfinden köennen, reproduzierte MARX also offenbar unbewusst, um sich sozusagen endgültig davon reinzuwaschen, zu »taufen« im großen gattungserlösenden Strom des »Parteibildungsprozesses des Proletariats«: der »Partei im großen historischen Sinne« (MEW 30:489f).

Die Abwendung vom eigenen jüdischen Hintergrund und die Ablösung vom eigenen »ererbten« Judentum versuchte MARX offensichtlich durch emphatische Hinwendung zum universalen Proletariat, durch radikales Brechen mit den traditionalen Institutionen und Bindungen. Wir erinnern hier noch einmal an die längst bekannten Formulierungen, nur um sie diesmal im Bedingungszusammenhang dieses »Selbstreinigungs«-Syndroms vor Augen zu führen, das aus der »Atemnot«, »Erstickungsgefahr« in den Deutschen Zuständen einerseits, der bürgerlichen Gesellschaft andererseits (sprich: Progress als Regress) verstanden werden muss: als jener »Alb der toten Geschlechter«, den KARL MARX auf dem revolutionären Emanzipatonsanliegen der Menschheit (wie der Juden) lasten fühlte und den er einzig durch den erklärten Maximalismus einer universalistischen Bereinigung, »Vernichtung« alles »blut- und schmutztriefenden« Traditions-Unterbaus und Überbaus aus der Genesis der modernen Gesellschaft, aller »Trümmer und Überreste vergangener Produktionsweisen« sowie der Basisformen der modernen bürgerlichen Produktionsweise (»Monopol«=Kapital, Ware/Geld und Konkurrenzsubjekte; Staat/Recht/Politik; Mythos und Religion; Patriarchat/Familie) als als Ensemble vorgeschichtlicher menschlicher (Selbst-)Entfremdungen abzuwerfen, als widerlichen »Schmutz« abzuwaschen versucht:

»Die Arbeiterklasse kann sich nur selbst befreien, wenn sie die ganze Menschheit befreit.«

»Aufhebung der Familie! Selbst die Radikalsten ereifern sich über diese schändliche Absicht der Kommunisten. (...) Die bürgerlichen Redensarten über Familie und Erziehung, über das traute Verhältnis von Eltern und Kindern werden um so ekelhafter, je mehr ... alle Familienbande für die Proletarier zerrissen und die Kinder in einfache Handelsartikel und Arbeitsinstrumente verwandelt werden. (...)

Den Kommunisten ist ferner vorgeworfen worden, sie wollten das Vaterland, die Nation abschaffen. Die Arbeiter haben kein Vaterland. (...) Die nationalen Absonderungen und Gegensätze der Völker verschwinden mehr und mehr schon mit der Entwicklung der Bourgeoisie, mit der Handelsfreiheit, dem Weltmarkt, der Gleichförmigkeit der industriellen Produktion und der ihr entsprechenden Lebensverhältnisse. Die Herrschaft des Proletariats wird sie noch mehr verschwinden machen. (...)

Die Anklagen gegen den Kommunismus, die von religiösen, philosophischen und ideologischen Gesichtspunkten überhaupt erhoben werden, verdienen keine ausführliche Erörterung. (...) Die herrschenden Ideen einer Zeit waren stets nur die Ideen der herrschenden Klasse. (...) Die kommunistische Revolution ist das radikalste Brechen mit den überlieferten Eigentumsverhältnissen; kein Wunder, dass in ihrem Entwicklungsgang am radikalsten mit den überlieferten Ideen gebrochen wird.« (MEW 4:478-481)

Schon gegen MAX STIRNERs familialistischen Gewissens-Schmus hatte MARX 1845/46 die Heiligkeit der tradiierten Institutionen und Einklagung der zivilisatorischen Regelwerke gerade in Verbindung mit dem besonderen religiösen und alltagsfestlegenden Gesetzeskodex des Judentums kritisiert:

»Weil die Bürger Liebe zu IHREM Reich, IHREM Régime verlangen, wollen sie nach Jacques le Bonhomme [= dem Biedersinn des Spiessbürgers] 'ein Reich der Liebe auf Erden gründen'. Weil sie Respekt vor IHRER Herrschaft und den Verhältnissen IHRER Herrschaft fordern, also die Herrschaft über den Respekt usurpieren wollen, verlangen sie nach demselben Biedermann die Herrschaft DES Respekts schlechthin, verhalten sie sich zum Respekt als zum Heiligen Geist, der in ihnen lebt. (...) Ein neues Beispiel gibt uns Sankt Max [STIRNER] in der Familie. (...) So hält man die Familienliebe, den Familienbegriff fest; man hat also den 'heiligen Familienbegriff', 'das Heilige'. Der gute Junge sieht hier wieder die Herrschaft des Heiligen, wo ganz empirische Verhältnisse herrschen.

Der Bourgeois verhält sich zu den Institutionen seines Regimes wie der Jude zum Gesetz: er umgeht sie, sooft es tunlich ist, in jedem einzelnen Fall, aber er will, dass alle anderen sie halten sollen. Wenn sämtliche Bourgeois in Masse und auf einmal die Institutionen der Bourgeoisie umgingen, so wuerden sie aufhören Bourgeois zu sein -- ein Verhalten, das ihnen natürlich nicht einfällt und keineswegs von ihrem Wollen oder Laufen abhängt. Der liederliche Bourgeois umgeht die Ehe und begeht heimlichen Ehebruch; der Kaufmann umgeht die Institution des Eigentums, indem er andre durch Spekulation, Bankerott etcpp. um ihr Eigentum bringt -- der junge Bourgeois macht sich von seiner eigenen Familie unabhängig, wenn er kann, löst für sich die Familie praktisch auf; aber die Ehe, das Eigentum, die Familie bleiben theoretisch unangetastet, weil sie praktisch die Grundlage sind, auf denen die Bourgeoisie ihre Herrschaft errichtet hat, weil sie in ihrer Bourgeoisform die Bedingungen sind, die den Bourgeois zum Bourgeois machen, gerade wie das stets umgangene Gesetz den religiösen Juden zum religiösen Juden macht. Diese Verhältnis des Bourgeois zu seinen Existenzbedingungen erhält seine allgemeinen Formen in der bürgerlichen Moralität.« (MEW3:163f.)

Dass KARL MARX besonders deswegen das Judentum nicht leiden kann, weil es nun einmal besonders zäh in besonderer Wärme und Intensität an der patriarchalischen Familie festhält und ohne diese historisch wie in der modernen bürgerlichen Welt weder sich behauptet hätte noch gedacht werden kann (so ausführlich und plausibel z.B. MASSICZEK S.139-169; übrigens wird darin deutlich, wie weitgehend MARX dieses zäh-lebendige patriarchale Familien(über)leben ja schliesslich doch selber sehr offenbar völlig unbewusst in seiner mit JENNY VON WESTPHALEN gegründeten eigenen reproduziert hat!), das macht auch die Vehemenz begreiflich, mit der er die »natürlichen« und »heiligen« Bindungen »aller bisherigen Gesellschaftsordnung« radikal historisch zur Disposition stellt und »durch den gewaltsamen Umsturz« (MEW4:493) des zur communistischen Partei formierten Weltproletariats aufgekündigt sehen möchte: alle Festlegungen der menschlichen Gattungs-Individuen, sei es auf Arbeitsteilungen sei es auf Nationalitäten sei es auf feststehende Geschlechterrollen oder eben auf Religionen -- zu deren ältesten und kodifiziertesten eben das Judentum gehört --, sind für MARX Fesseln und Opium des gesellschaftlichen Individuums, sind Bornierungen und allenfalls »bornierte Vollendungen« gegen seine Gesellschaftlichkeit wie gegen seine Individualitätsentfaltung, und er macht sie immer wieder an der altehrwürdigen »natürlichen« Institution Familie fest:

»Wie Sancho [=MAX STIRNER] bisher alle Verkrüppelung der Individuen und damit ihrer Verhältnisse aus den fixen Ideen der Schulmeister erklärte, ohne sich um die Entstehung dieser Ideen zu bekümmern, so erklärt er diese Verkrüppelung jetzt aus dem bloßen Naturprozess der Erzeugung. Er denkt nicht im entferntesten daran, dass die Entwicklungsfähigkeit der Kinder sich nach der Entwicklung der Eltern richtet und dass alle diese Verkrüppelungen unter den bisherigen gesellschaftlichen Verhältnissen, historisch entstanden sind und ebensogut historisch wieder abgeschafft werden können. Selbst die naturwüchsigen Gattungsverschiedenheiten, wie Rassenunterschiede etc., von denen Sancho garnicht spricht, können und müssen historisch beseitigt werden.« (MEW3:410)

Durch diese Stellen soll hier also nur gezeigt werden, dass MARX' Verabscheuung des Judentums erstens aus der Heftigkeit seines eigenen Ablösungsversuchs von den familialen Bindungen sowohl auf der psychomentalen Ebene seiner eigenen jüdischen Herkunft als auch auf der theoriebildenden Ebene der Substitution von »Judentum« durch »Proletariat« zu erklären ist, was die besondere, »auserwählte« historische Rolle in der Beförderung der Gattungsmäßigkeit-an-und-für-sich (mit HEGEL ausgedrückt) der Menschheitsemanzipation betrifft. Dass zweitens die Richtung, auf die seine Vehemenz hindrängt, in keiner Weise eine »rassistische« oder nur irgendwie in einer positiven (Höherwertigkeit beanspruchenden) oder negativen (auf Minderwertigkeit oder sogar Vernichtung zielenden) Partikularität irgendeiner Menschengruppe steckenbleibende Richtung ist, sondern eine auf radikalste Weise universalistische. In diesem Universalismus allein ist MARX' Affekt gegen das -- wie immer noch sonst von ihm begrifflich oder bildlich, konkret oder abstrakt, treffend oder verzerrt aufgefasste -- »Judentum« aufgehoben, an seinem radikal antirassistischen, radikal menschlichen, total emanzipatorischen Kriterium ist er zu messen.

Als These kann hier bereits festgehalten werden, dass alle solchen KritikerInnen -- wie etwa der Klassiker EDMUND SILBERNER (»KOMMUNISTEN ZUR JUDENFRAGE. ZUR GESCHICHTE VON THEORIE UND PRAXIS DES KOMMUNISMUS«. OPLADEN 1983) -- , die MARX eine falsche, ungerechte, klischeehafte, ja direkt judophobe Bildlichkeiten und Assoziationen aufgreifende Zeichnung des empirischen Judentums vorwerfen und nachweisen, ihn deshalb aber sogleich »der Judenfeindschaft« oder gar »des Antisemitismus« zeihen, mit dieser letzteren Folgerung fehlgehen und KARL MARX prinzipiell und fundamental Unrecht tun.

Festzuhalten ist dabei, als zweite These, dass diese KritikerInnen noch stets als dezidierte, offen erklärte KONSERVATIVE ApologetInnen der Religion und der Tradition (des Judentums) gegen KARL MARX radikalen HUMANISMUS und REVOLUTIONÄREN Emanzipationsanspruch auftreten -- die Sache der menschlichen Gattung interessiert sie zunächst hier überhaupt nicht , sondern in erster Linie die Rehabilitierung des Judentums. Noch einfacher: sie können MARX schlichtweg nicht seinen revolutionären Radikalismus und »Totalitarismus« verzeihen, und mit seinem Angriff auf JEGLICHE RELIGIOSITÄT geht für sie, die nun einmal religös und /oder national/staatlich Gebundenen (religio = »Rückbindung«) -- von ihrer Kritiklosigkeit und Befangenheit in der Immanenz der politischen Ökonomie einmal ganz abgesehen --, »die Welt unter« bzw. ist gefährdet: ist doch MARX' Angriff IN IHREN AUGEN der Totalangriff auf IHRE -- bürgerliche -- Welt. (Bei SILBERNER z.B. ist dieser Grundaffekt, diese totale Verständnislosigkeit ganz unübersehbar, ungeniert am Werke; so räsonniert dieser positivistische »Wissenschaftler« etwa ebenso wirr wie starr wie philiströs-moralisierend angesichts des (siehe unten) zur Zeit unmittelbar vor den MARXschen Rezensionen ZUR 'JUDENFRAGE' formulierten Zwiespalts: »In seinem Brief an RUGE nennt MARX den jüdischen Glauben 'widerlich', sagt aber nicht warum.

Dass ihm alle Religionen widerlich waren, ist bei seinem Atheismus nicht erstaunlich. Erklärt er doch ein Jahr später, ähnlich wie schon HEINE und MOSES HESS vor ihm, Religion sei 'das Opium des Volks'. An RUGE schreibt er aber nicht von Religion im allgemeinen, sondern vom jüdischen Glauben speziell. Warum das? Vielleicht, weil ihm die Anhänger dieses Glaubens merkantiler veranlagt schienen als die anderer Religionen? Aber er war ja damals noch gar kein Sozialist oder Kommunist, sondern Chefredakteur einer angesehenen bürgerlichen Zeitung, die die finanzielle Unterstützung vieler wohlhabender Geschäftsleute genoss, wie z.B. die des Bankiers ABRAHAM OPPENHEIM, um nur einen der Aktionäre zu nennen. Nichts lag MARX damals ferner, als eine kollektivistische Gesellschaftsordnung zu predigen. (...) MARXens Abneigung gegen das Judentum hat daher mit kommunistischen Gedankengängen nichts zu tun. Nur hatten die in der Kindheit übernommenen Vorurteile inzwischen auch von dem Mann ganz Besitz ergriffen, und das liess dem Atheisten MARX die jüdische Religion besonders 'widerlich' erscheinen.« S.24 --

Abgesehen von seiner spiess-bürgerlichen Ignoranz (»eine kollektivistische Gesellschaftsordnung zu predigen« hält er allen Ernstes für eine seriöse Kennzeichnung des Kommunismus; wie sich auch sein hochtrabender Buchtitel über »...THEORIE UND PRAXIS DES KOMMUNISMUS« eingestandenermaßen als Gleichsetzung »des Kommunismus« mit »dem Bolschwismus« entpuppt, an welche plumpe und vulgäre »Definition« sich dieser Simpel aber dann auch nicht hält ...) denkt SILBERNER eben ganz nach der Logik derer, die schon einen SPINOZA verurteilten und zu erledigen trachteten, weil er ihnen als »Atheist« und Schlimmeres galt; und nach der Logik von MARXens rückständig gebliebener Mutter, die zeitlebens auf dem Standpunkt stehen blieb, den MARX einmal ironisch so zitierte: »Wie recht meine Mutter: »'De Karell hätt sollen machen Kapital!'» -- anstatt an dem Buch zu schreiben und mit fünfzig Jahren »immer noch Pauper« zu sein ... Wäre es nach SILBERNER, KÜNZLI, und wie sie alle heissen, gegangen, dann hätte sich am besten Vater HESCHEL MARX garnicht erst taufen lassen, und »Das Kapital« wäre nie geschrieben worden.

Man muss sich den bürgerlich-historischen Stumpfsinn und die religiöse Borniertheit derartiger MARX-«Kritiker« immer wieder im Ansatz vor Augen führen, um sich von ihrer spiesserhaften positivistischen Energie nicht jedesmal wieder allzusehr beeindrucken zu lassen ... ) Damit verfehlen solche »Kritiker« logischerweise schon im Ansatz die emanzipatorische Intention von MARX: für diesen ist die (partikulare) EMANZIPATION der Juden als unhintergehbare Richtlinie gerade in der proletarischen und menschheitlichen universalen AUFGEHOBEN, während für diese moralisierenden KritikerInnen verkehrtherum die reelle universale Menschheitserlösung erst mit der messianisch geglaubten des jüdischen Volkes zusammenfällt bzw. in letzterer »aufgehoben« sei. Das tatsächlich mit diesem Aneinandervorbeigehen des jüdisch-messianischen und des von MARX säkularisiert-messianischen (WALTER BENJAMIN 1940) Anliegens aufgeworfene Problem ist allerdings ein wirklich-historisches: die Tatsache, dass beide Messianismen -- der eine religiös-sittlich, der andere historisch-materialistisch -- die Frage der Emanzipation des menschlichen Gattungswesens in besonderer Weise als ihre entscheidende Schicksalsfrage stellen.

Zur Erhellung dieses unauflösbaren Zusammenhangs W.BENJAMIN im Anhang zu den Thesen ÜBER DEN BEGRIFF DER GESCHICHTE:

Der Historische Materialist »erfasst die Konstellation, in die seine eigene Epoche mit einer ganz bestimmten früheren getreten ist. Er begründet so einen Begriff der Gegenwart als der 'Jetztzeit', in welcher Splitter der messianischen eingesprengt sind.« (»Funken« nannte sie die jüdische Mystik.)

W.BENJAMIN erarbeitete einen historisch-materialistischen »Begriff davon, wie im Eingedenken die vergangene Zeit ist erfahren worden (...) Bekanntlich war es den Juden untersagt, der Zukunft nachzuforschen. Die Thora und das Gebet unterweisen sie dagegen im Eingedenken. Dieses entzauberte ihnen die Zukunft, der die verfallen sind, die sich bei den Wahrsagern Auskunft holen. Den Juden wurde die Zukunft aber darum doch nicht zur homogenen und leeren Zeit. Denn in ihr war jede Sekunde die kleine Pforte, durch die der Messias treten konnte.«

W.BENJAMIN spricht hier bemerkenswerterweise vom Judentum stets im Imperfekt. Wie MARX, auf den als Historischen Materialisten er sich beruft, lehnt er es ab, zum Judentum, zur RELIGIÖSEN Stufe des Messianismus, zurückzukehren. Denn, so schreibt er in den Notizen zu den Thesen ÜBER DEN BEGRIFF DER GESCHICHTE (nun aber im Perfekt und Präsens):

»MARX hat in der Vorstellung der klassenlosen Gesellschaft die Vorstellung der messianischen Zeit säkularisiert. Und das war gut so. (...) In Wirklichkeit gibt es nicht einen Augenblick, der SEINE revolutionäre Chance nicht mit sich führte -- sie will nur als eine spezifische definiert sein, nämlich als Chance einer ganz neuen Lösung im Angesicht einer ganz neuen Aufgabe. Dem revolutionären Denker bestätigt sich die eigentümliche revolutionäre Chance jedes geschichtlichen Augenblicks aus der politischen SITUATION heraus. Aber sie bestätigt sich ihm nicht minder durch die Schlüsselgewalt dieses Augenblicks über ein ganz bestimmtes, bis dahin verschlossenenes Gemach der Vergangenheit. Der Eintritt in dieses Gemach f#ällt mit der politischen AKTION strikt zusammen; und er [=dieser Eintritt in das bisher verschlossene Gemach der Vergangenheit] ist es, durch den sie [=die politische Aktion] sich, wie vernichtend [auch] immer, als eine messianische [Aktion] zu erkennen gibt. (Die klassenlose Gesellschaft ist nicht das ENDZIEL des Fortschritts in der Geschichte sondern dessen [=des Fortschritts i.S.v. »eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft«, siehe These IX] so oft missglückte, endlich bewerkstelligte Unterbrechung.)«

»Man kann im Werk von MARX drei Grundbegriffe namhaft machen und die gesamte theoretische Armatur des Werks als Versuch betrachten, diese drei Begriffe untereinander zu verschweissen. Es handelt sich um den Klassenkampf des Proletariats, um den Gang der geschichtlichen Entwicklung (den Fortschritt) und um die klassenlose Gesellschaft. Bei MARX stellt sich die Struktur des Grundgedankens folgendermaßen dar: durch eine Reihe von Klassenkämpfen gelangt die Menschheit im Verlaufe der geschichtlichen Entwicklung zur klassenlosen Gesellschaft. = Aber die klassenlose Gesellschaft ist nicht als Endpunkt einer historischen Entwicklung zu konzipieren. = Aus dieser irrigen Konzeption [von der kommunistischen Gesellschaft als einem »Endziel«, »Endpunkt« der Geschichte: d.h. als geschichtsteleologisch gesetzter, deterministisch vorgegebener Utopie am »Ende der Geschichte«, einem »Neuen Jerusalem« usw.] ist unter anderem, bei den Epigonen [des »MARXismus«], die Vorstellung von der 'revolutionären Situation' [als einer, auf die man nur attentistisch zu warten brauche -- siehe oben] hervorgegangen, die bekanntlich nie kommen wollte. = Dem Begriff der klassenlosen Gesellschaft muss sein echtes messianisches Gesicht wiedergegeben werden, und zwar im Interesse der revolutionären Politik des Proletariats selbst.«

Schon HEINRICH HEINE, der Zeitgenosse, Freund und Seelenverwandte von KARL MARX, schlug sich ebenso wie sein Antipode LUDWIG BÖRNE mit der Frage der Aufhebung (in der dreifachen HEGELschen Bedeutung) des jüdischen Messianismus und der jüdischen in der deutschen Misere als Aufhebung durch die Erlösung von der büergerlichen Gesellschaft, als säkularisiert-messianischer Universalismus, herum. Dazu HANS MAYER in seiner einfühlsamen, historisch-materialistisch zuarbeitenden Studie:

»Der Gegensatz zwischen HEINE und BÖRNE kulminiert in ihren durchaus divergierenden Interpretationen des SHYLOCK. BÖRNE trennt, dualistisch und moralisierend, den Geldjuden vom getretenen Menschen:

'Den Geldteufel in SHYLOCK verabscheuen wir, den geplagten Mann bedauern wir, aber den Rächer unmenschlicher Verfolgung lieben und bewundern wir.' SHYLOCK wird mit ROTHSCHILDs konfrontiert, mit den 'großen SHYLOCKs, mit christlichen Ordensbändern auf jüdischem Rockelor'. Die Antithese stellt ab auf edles oder unedles Menschentum.« Dagegen HEINE:

»Auch er versagt sich nicht die Anspielung auf SHYLOCKs Vetter, den 'Herrn von SHYLOCK zu Paris', welcher der 'mächtigste Baron der Christenheit' geworden sei. Allein die dualistische Betrachtungsweise hält er sich fern. Mehr noch: das moralisierende Scheiden zwischen edlen und unedlen Juden empfindet der an Überwindung der Antithesen von Nazarener- und Hellenentum arbeitende HEINE umgekehrt als TYPISCHE SHYLOCK-HALTUNG. Hinter dem Vorwand SHYLOCK analysiert HEINE, besonders in seinem BÖRNE-Buch von 1840, die Synthese aus Judentum, Christentum und asketischem Spiritualismus, die auch eine deutsche Synthese sei. Im BÖRNE-Buch wird das programmatisch formuliert:

'Wie dem auch sei, es ist leicht möglich, dass die Sendung dieses Stammes noch nicht ganz erfüllt, und namentlich mag dies in Hinsicht auf Deutschland der Fall sein. Auch letzteres erwartet einen Befreier, einen irdischen Messias -- mit einem himmlischen haben uns die Juden schon gesegnet --, einen König der Erde, einen Retter mit Zepter und Schwert, und dieser deutsche Befreier ist vielleicht derselbe, dessen auch Israel harret ...'

Im Zusammenhang von HEINEs geistiger Entwicklung kann eine solche These, zehn Jahre nach der Julirevolution formuliert, auch nach der Enttäuschung über das Scheitern des SAINT-SIMONismus [siehe dazu: LEO KREUTZER: HEINE UND DER KOMMUNISMUS. Göttingen 1970. Dort wird HEINEs Affinität zum Sozialismus von BABEUF und BUONAROTI herausgearbeitet.] , nur die universelle Revolution meinen, die Tat zum Gedanken, die Aktion des Mannes mit dem Liktorenbeil aus dem vier Jahre später entworfenen [DEUTSCHLAND -- EIN] WINTERMÄRCHEN. Revolution transzendiert alle Begrenztheiten von KANT und ROBESPIERRE, den jüdisch-BÖRNEschen Moralrigorismus wie den nationalistischen Partialrigorismus der antisemitischen Deutschtümler. Die Emanzipation der Juden in der Welt sei nur zu bewirken durch 'die Befreiung der Welt vom Juden', formulierte KARL MARX während seines Pariser Umgangs mit HEINE im Jahre 1844 in Paris in seiner Studie ZUR 'JUDENFRAGE'. Die HEGELianische Formulierung meinte dies: WENN jüdische EXISTENZ gleichzusetzen sei DER MODERNEN GELDWIRTSCHAFT, kulminierend IM ROTHSCHILD-SYMBOL, DANN müsse jüdische EMANZIPATION gleichzusetzen sein der BEFREIUNG VON DIESER GELDHERRSCHAFT. Ein qualitativer Sprung sei zu vollbringen: vom BÜRGERLICHEN SHYLOCK zum GENOSSEN SHYLOCK.« (HANS MAYER: AUSSENSEITER.(1981)S.356f)

Der MARXsche Zwiespalt hinsichtlich des Emanzipationsanspruchs (zwischen Partikularität und Universalität) kommt auch in jener Episode zum Ausdruck, die der kurz vor seiner Emigration nach Paris stehende junge MARX in einem Brief (an den JungHEGELianer ARNOLD RUGE, geschrieben im März 1843 aus Köln) beiläufig berichtet hat:

»Soeben kömmt der Vorsteher der hiesigen Israeliten [= jüdischen Gemeinde] zu mir und ersucht mich um eine Petition für die Juden an den Landtag, und ich will's tun. So widerlich mir der israelitische Glaube ist, so scheint mir BAUERs Ansicht [dass die Juden die jüdische Religion aufkündigen müssten um »frei zu werden«] doch zu abstrakt. Es gilt so viel Löcher in den christlichen Staat zu stoßen als möglich und das Vernünftige, so viel an uns [liegt], einzuschmuggeln.« (MEW 27:418)

Zum vorläufigen Abschluss dieser einleitenden Erläuterungen noch eine Skizze aus dem unübertroffenen Standardwerk von SIEGBERT SALOMON PRAWER (OXFORD 1976; MÜNCHEN 1983) »KARL MARX UND DIE WELTLITERATUR«, die sowohl das Klischee vom 'Juden MARX' als auch seinen zwiespältig-eindeutigen »Aufhebungs«-Versuch gegenüber diesem Judenbild zusammenfasst:

»Zahlreiche ... Bilder aus dem Alten Testament kommen MARX in seinen letzten Lebensjahren in den Sinn -- ESAU, der der sein Erstgeburtsrecht für ein Linsengericht verkauft, lässt ihn an das Proletariat denken, ehe es ein Klassenbewusstsein erlangt hat; und ebenso unvermeidlich erinnert ihn der mit Schwären bedeckte HIOB an sich selbst, heimgesucht von seinen ewigen Karbunkeln. '... so geplagt wie HIOB' nannte er sich 1868, 'obgleich nicht so gottesfürchtig.' L.S. FEUER, der diese Stelle zitiert [MARX AND THE INTELLECTUALS. A SET OF POST-IDEOLOGICAL ESSAYS. NEW YORK 1969,p.49. FEUER nennt MAX BEER und FREDERICK LESSNER als Quellen für MARX' Bemerkungen zu den jüdischen Propheten; die ursprüngliche Quelle ist ELEONOR MARX-AVELING], spricht auch davon, dass MARX in späteren Jahren gegenüber seinen jüdischen Vorfahren milder wurde. Er verweist auf MARX' herzliche Beziehungen zu HEINRICH GRAETZ, dem großen Historiker des jüdischen Volkes, den er 1877 in Karlsbad kennengelernt hatte und mit dem er korrespondierte; und er berichtet, dass MARX unwillig geworden sei, als er feststellte, dass seine Frau und seine Tochter ELEANOR an den 'säkularistischen' Gottesdiensten teilnehmen wollten, die von CHARLES BRADLAUGHs 'National Secular Society' gehalten wurden. Wenn sie ihre metaphysischen Bedürfnisse stillen wollten, -- soll er zu ihnen gesagt haben -- täten sie besser daran, die jüdischen Propheten zu lesen.

Doch selbst wenn MARX' Bemerkungen hier adäquat wiedergegeben sind, sollte man ihnen nicht irgendeine Art 'Rückkehr' zum Judentum entnehmen. MARX widerrief seine Deutungen des 'jüdischen Geistes' in ZUR 'JUDENFRAGE' nie und empfand kaum so etwas von jener Verwandtschaft mit dem jüdischen Volk, die andere so rasch an ihm zu entdecken glaubten. Der Eindruck, den [der Arbeiterbewegungsfunktionär der IAA] H.M.HYNDMAN von MARX gewann, ist in diesem Punkt nur zu charakteristisch:

'Natürlich, MARX war Jude, und mir schien, als vereinigte er in seiner eigenen Persönlichkeit und Gestalt -- mit seiner gebieterischen Stirn und den starken überhängenden Brauen, den feurigen blitzenden Augen, der breiten, sinnlichen Nase und dem beweglichen Mund, das Ganze umrahmt von ungepflegtem Haar und Bart -- den gerechten Zorn der großen Propheten seiner Rasse mit dem kalten analytischen Verstand eines SPINOZA und der jüdischen Doktoren.'

MARX selbst blieb, wie ISAIAH BERLIN zu Recht festgestellt hat [KARL MARX. SEIN LEBEN UND WERK. (dt.1979; S.112): MARX spielt in zwei Briefen an [seinen niederländischen Onkel mütterlicherseits] LION PHILIPS darauf an, dass er selbst Jude ist: am 25.6.1864 erwähnt er in Verbindung mit dem Alten Testament ironisch 'unsern Ahnenstolz'; am 29.11.1864 nennt er DISRAELI 'unser Stammesgenosse'.], bei seiner Auffassung, dass die jüdische Frage kein wirkliches Thema, dass sie nur dazu erfunden worden sei, Probleme von größerer Dringlichkeit zu verdecken, und dass er, was ihn selbst betraf, in seinem frühen Aufsatz das Thema ein für allemal erledigt habe.« (282f)

(Weitere Hinweise auf den historisch-mentalitätsgeschichtlichen Kontext von MARX ZUR 'JUDENFRAGE', die wir im KRITISCHEN LEKTÜREKURS zu diesem Text diskutiert hatten -- vor allem zu HEGELs Judenbild, den radikalen LINKS-/JUNGHEGELIANERN sowie LUDWIG FEUERBACH und MOSES HESS -- folgen in dem noch ausstehenden Bericht über den Kurs selbst.)

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