Aus dem Zirkularbrief 1, Mai 2001

Henning Böke

Staatsdiskurse und Subkulturdiskurse.

Warum man nicht von einer in die andere Sackgasse irren sollte. Zur Diskussion (Kritik an ›Dr Jeckyll & Mr. Hyde‹)

»Die über einige Jahrzehnte hinweg entwickelten unterschiedlichen Sprachregelungen machen es heute oft schwierig, zu gemeinsamen produktiven Diskussionen etwa zwischen linken GewerkschafterInnen, universitären Gruppen, Reststrukturen der radikalen Linken und Menschen aus internationalistischen Initiativen zu kommen. Die Schaffung eines vernetzenden Zentrums für Debatten und politischen Austausch ist eine unserer Basisaufgaben, die angegangen werden muss, um der diffusen Zersplitterung und dem Nischendasein der Linken einen übergreifenden Ansatz entgegenzusetzen, der aus der gemeinsamen Gestaltung durch Menschen aus unterschiedlichen politischen Zusammenhängen und Praxisfeldern heraus lebt.« So heißt es in einer Selbstdarstellung der Sozialistischen Studienvereinigung, nachzulesen in der Rubrik »Über uns« ihrer Internetseiten.

Hier wird richtig festgestellt: Die Linke befindet sich in einem Zustand der Zersplitterung, der so weit geht, dass allein die Einigung darüber, worüber überhaupt gestritten wird, mitunter undurchführbar schwierig ist. In den letzten Jahrzehnten hat eine Ausdifferenzierung von Paradigmen innerhalb der Linken stattgefunden, die es fraglich erscheinen lässt, ob man überhaupt von einer »Linken« insgesamt noch reden kann. Und doch gibt es irgendwo Gemeinsamkeiten, zu denen zweifellos der Antifaschismus gehört. Gestritten wird hier allerdings darüber, wie weit diese Gemeinsamkeiten auch ins bürgerlich-demokratische Lager hineinreichen dürfen.

Dieser Streit ist im Kern einer um die Definitionsmacht: Sollen Linke, die faktisch in der Gesellschaft eine kleine Minderheit sind, sich an Aktionen der »Anständigen«, der »demokratischen Mitte« gegen den »Extremismus« beteiligen und versuchen, in breiten Bündnissen um Anerkennung zu werben, oder sollen sie sich auf Zusammenhänge beschränken, in denen auf die geballte Kraft der reinen Gesinnung gesetzt wird?

Soll Antifaschismus verstanden werden als eine auf einem demokratischen, humanistischen Konsens beruhende Plattform, innerhalb derer die Linke sich als die konsequenteste Kraft zu präsentieren versucht, wobei sie allerdings angesichts der realen Kräfteverhältnisse das Risiko eingeht, untergebuttert und vor den Karren einer Politik gespannt zu werden, die alles daran setzt, jedem Rest von Systemopposition den Garaus zu machen, oder soll die Einsicht in den Zusammenhang von Faschismus und Kapitalismus als essenzielle Grundlage von Bündnispolitik angesehen werden, womit man sich gegen Vereinnahmung schützt, jedoch riskiert, dass die Diagnose der Gemeinsamkeiten von bürgerlicher (»neuer«) Mitte und Faschisten zur selffulfilling prophecy gerät? Zugleich damit geht es in diesem Streit um die Frage, ob die Perspektive der Überwindung des Kapitalismus als in Kontinuität zu den »fortschrittlichen« Errungenschaften der bürgerlichen Gesellschaft stehend gedacht wird, wie es seit jeher im gewerkschaftlichen, traditionell-kommunistischen und linkssozialdemokratischen Spektrum üblich war – also sozusagen Sozialismus als bessere und konsequentere Verwirklichung der Demokratie –, oder muss es um einen viel radikaleren Bruch mit der bürgerlichen Lebensform gehen, die den Faschismus inmitten der abendländischen Zivilisation hervorbrachte – so die Position des linksradikalen Spektrums? Kann man, wie der alte sozialistische Antifaschist Lorenz Knorr neulich in einer Rede sagte, den Faschismus durch eine Stärkung von »Demokratie und Mitbestimmung« bekämpfen, oder sind das allzu stumpfe Waffen?

Hier tritt die Verschiedenheit der Paradigmen, Diskurse, Sprachregelungen innerhalb der Linken exemplarisch zutage. Das wäre genau der Testfall, an dem die in der eingangs zitierten Erklärung der Sozialistischen Studienvereinigung erhobenen Forderungen einzulösen wären: Gerade diese Thematik wäre einen Versuch wert, mit VertreterInnen verschiedener linker Positionen deren Paradigmen zu diskutieren – herauszufinden, was die spezifische Logik der jeweiligen Positionen ist, wie die grundlegenden Problemstellungen in ihnen gefasst sind, welche Implikationen diese kategorialen »Einsätze« haben, was sie zu denken gestatten und was sie verweigern. Zweifellos wären Fortschritte in diese Richtung nur in einem langwierigen, viel Geduld erfordernden Prozess zu erzielen; eine schwierige Aufgabe also, aber eine notwendige.

Es ist verständlich, dass aktuelle politische Vorgänge von solcher Tragweite wie der Versuch der Faschisten, auch in Frankfurt Wurzeln zu schlagen, auch eine in erster Linie auf theoretische Diskussion orientierte Gruppe zur direkten Stellungnahme nötigen. Anlässlich des geplanten Naziaufmarschs am 1. Mai hat die Studienvereinigung sich zum Ziel gesetzt, zwischen dem gewerkschaftlich orientierten und dem linksradikalen Spektrum zu vermitteln. Diese Entscheidung ist richtig, sie nimmt Bezug auf ein reales Erfordernis. Not täte ein Gremium, das in der Lage wäre, diese Vermittlung in Angriff zu nehmen. Mitglieder der Studienvereinigung haben hierfür einen Text verfasst, der den Faschismus als äußerste Zuspitzung des Zwangscharakters der Lohnarbeit beschreibt und den Kampf gegen die Lohnarbeit dementsprechend als konsequentesten Kampf gegen den Faschismus. Eine Position, die, deutlich verschieden von der des traditionssozialistischen Spektrums, Antifaschismus und Klassenkampf in einer linksradikalen Perspektive zusammenfasst und damit leider das Ziel, zwischen verschiedenen Diskursen in der Linken zu vermitteln, verfehlt, indem einfach, statt das Verhältnis der gegebenen Diskurse zueinander zu untersuchen, eine konstruierte Synthese als eigener Diskurs in die Welt gesetzt wird, der kritisch daraufhin befragt werden sollte, ob denn damit tatsächlich etwas Neues gesagt wird und wer damit erreicht werden kann.

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Hinter dem Text steht das berechtigte Anliegen, über einen bloß mobilisierungstechnischen Aktionismus der AntifaschistInnen hinaus inhaltliche Grundfragen anzugehen. Wo allerdings in Flugschriften versucht wird, ganze theoretische Gedankengebäude in Kurzfassung zu verwursten, lassen sich Verkürzungen kaum vermeiden, die fatale Folgen haben können. Überdies droht der Rückfall in ein Politikkonzept, das die Studienvereinigung an sich mit gutem Grund meiden wollte, nämlich das alte der Programmlinken, die meinte, man müsse sich nur über die richtige Theorie einigen und diese dann in Politik übersetzen.

Nehmen wir die Sache mit der Arbeit und der Arbeitskraft, deren korrekte Unterscheidung im Sinne von Marx hier zur Herleitung des korrekten revolutionären Antifaschismus dienen soll. Bei Marx handelt es sich um Aussagen im Rahmen einer theoretischen Problematik, nicht um empirische Befunde. Im vorliegenden Text aber ist die Rede von der angeblichen »Tatsache, dass unsere Arbeitskraft verkauft wird – und nicht ›die Arbeit‹, die selbst keinen Wert hat«. Die Frage, ob Arbeit oder Arbeitskraft verkauft wird, ist aber nicht auf der Ebene der »Tatsachen« entscheidbar. »Tatsache« ist zunächst einmal, dass der Arbeiter prima facie für geleistete Arbeit bezahlt wird, und selbst Karl Marx gelangte zu einer anderen, theoretisch ergiebigeren Ansicht nicht dadurch, dass er sich die »Tatsachen« anschaute, sondern er brauchte etliche Jahre der Auseinandersetzung mit ökonomischen Texten, um in der Frage nach dem Wert der Arbeit eine andere, unausgesprochene Frage zu erkennen, nämlich die nach dem Wert der Arbeitskraft.

Die Arbeiterbewegung hat, ausgehend von dieser Entdeckung, erfolgreich einige Kämpfe darum geführt, dass über die geleistete »Arbeit« hinaus Leistungen zur Reproduktion der Arbeitskraft bezahlt werden (bezahlter Urlaub, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall). Andererseits gibt es aber nach wie vor die alte gewerkschaftliche Forderung: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit, um beispielsweise gegen die schlechtere Bezahlung weiblicher Arbeitskraft zu kämpfen. Vom theoretisch korrekten Standpunkt aus, wie er im in Rede stehenden Text geltend gemacht wird, müsste diese Forderung als Unsinn abgetan werden, weil es ja eine »Tatsache« sein soll, dass nicht die Arbeit, sondern Arbeitskraft verkauft wird . . . Daran sollte deutlich werden, dass theoretische Begriffe nicht einfach eins zu eins in Agitation übersetzbar sind. Der essenzialistische Begriffsgebrauch an dieser Stelle markiert die Tendenz einer ökonomistisch- reduktionistischen Verkürzung, die dem Text innewohnt.

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Das Positionspapier verfolgt das richtige Ziel, die Kontinuität zwischen bürgerlichdemokratischem »Normalzustand« und Faschismus darzustellen. Die theoretischen Mittel, die hierfür eingesetzt werden, blenden jedoch entscheidende Zusammenhänge aus.

Liberalismus (= freier Arbeitsmarkt) und Faschismus (= Zwangsarbeit) werden als zwei Varianten des bürgerlichen Fetischismus dargestellt, die offensichtlich irgendwie dialektisch ineinander umschlagen; wie das geschieht und vor allem: wie die Lohnarbeiter, die an diesem Umschlag beteiligt sind, subjektiv dazu kommen, bleibt im Dunkeln, indem alles aus einem zentralen (ökonomischen) Vergesellschaftungsprinzip abgeleitet wird und die Instanzen des Staates und der Ideologie ausgeblendet werden. Es ist gelegentlich von freiem und gleichem Warentausch die Rede, aber die Wirklichkeit der Rechtsbeziehungen, die damit verbunden sind, wird ignoriert, wohl weil die VerfasserInnen der Meinung sind, dass das Recht und andere ideologische Formen nur ideeller Ausdruck des einen Vergesellschaftungsprinzips sind.

Als theoretisches Tischleindeckdich fungiert der Begriff des »Fetischismus«, dem Marx im Kapital keine zwanzig von zweitausend Seiten gewidmet hat, der jedoch im Diskurs linksintellektueller Subkulturen in Deutschland in den letzten zehn Jahren zum privilegierten Schlüsselwort geworden zu sein scheint. Dass diese Metonymie jahrzehntelang vom klassischen Arbeiterbewegungsmarxismus praktisch überhaupt nicht zur Kenntnis genommen wurde,[1] dürfte Gründe haben, die sicher nicht bloß in Ignoranz bestanden.

Seit Ende der sechziger Jahre haben sich in der neuen Linken demgegenüber Richtungen der Marxinterpretation herausgebildet, die Parabel vom »Fetischismus«, mit ihrer zweifellos starken Suggestivkraft, als den eigentlichen Kern der marxschen Theorie ansehen. Dies geschieht durch den Trick, in sämtliche von Marx entwickelten Bestimmungen der kapitalistischen Produktionsweise das Prinzip des »Fetischismus« hineinzuprojizieren, ohne zu fragen, inwieweit dieses Unterfangen überhaupt kohärent ist. Die Projektion funktioniert nur dadurch, indem der Begriff des »Fetischismus« als mit dem der »Verkehrung« synonym angenommen wird, wofür Marx aber gar keine Grundlage bietet.

Am Ende des ersten Kapitels des ersten Kapital-Bandes spricht Marx von einem »Fetischcharakter der Ware«, um eine Besonderheit der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber anderen Gesellschaftsformen zur Geltung zu bringen, noch bevor er die bürgerlichen Verhältnisse als Klassenverhältnisse begrifflich entwickelt hat, indem er anhand der Warenform als solcher in einer Waren produzierenden Gesellschaft eine spezifische »Verkehrung« plausibel zu machen versucht: Gesellschaftliche Verhältnisse erscheinen als Verhältnisse von Sachen, gesellschaftlich Konstituiertes als vermeintlich naturwüchsig. Mit dieser These versucht Marx sich bestimmte Vergewisserungen zur Kritik an den »Illusionen« der Ökonomen zu verschaffen, noch bevor er in der Darstellungsfolge zum eigentlichen Kern seines Dissenses mit der »bürgerlichen« Ökonomie vorgedrungen ist, nämlich dem Ausbeutungsverhältnis, wobei die Entgegensetzung von transparenten Verhältnissen von »Menschen«, die er sowohl in der feudalen als auch der kontrafaktisch eingeführten kommunistischen Gesellschaft gegeben sieht, und den sachlichen Abhängigkeitsverhältnissen der bürgerlichen Gesellschaft ausgesprochen naive subjekttheoretische Grundannahmen ins Spiel bringt. Im siebzehnten Kapitel des ersten Bandes, wo Marx das Rätsel der Verwechslung von Arbeit und Arbeitskraft auflöst, sieht die Konstellation ganz anders aus. Sobald die Arbeit des Lohnarbeiters »wirklich beginnt«, sagt Marx, »hat sie bereits aufgehört, ihm zu gehören, kann also nicht mehr von ihm verkauft werden«.[2]

Das ist der Kern: die Abhängigkeit des Arbeiters, die sich hinter dem freien Rechtsverhältnis der Lohnarbeit verbirgt. Den Ausdruck »Wert der Arbeit« bezeichnet Marx als einen »imaginären«, der »aus den Produktionsverhältnissen« – und nicht etwa aus der Warenform als solcher – entspringt. Es ist schlicht die Form des Arbeitstages, die den Anschein erweckt, geleistete »Arbeit« werde als Ware bezahlt. Mit dem entfremdungstheoretischen Hokuspokus des Fetischismus-Abschnitts, wo Marx in jene schlechte Philosophie zurückfällt, mit der er 1845 abgerechnet hatte, hat das gar nichts zu tun. Die »Verkehrung« ist hier nicht ein mysteriöses Spezifikum der bürgerlichen Gesellschaft, sondern »dass in der Erscheinung die Dinge sich oft verkehrt darstellen, ist ziemlich in allen Wissenschaften bekannt, außer in der politischen Ökonomie«:[3] dass die alltägliche Wahrnehmungsweise von Zusammenhängen und ihre theoretische Erklärung zwei verschiedene Paar Schuhe sind, dass das Alltagsbewusstsein Ursachen und Wirkungen verwechselt, ist ein allgemeiner Sachverhalt, den lange vor Marx bereits Spinoza glänzend durchleuchtet hat.

Wie oben bereits angedeutet, hat sich im Anschluss an die marxsche Distinktion von Arbeit und Arbeitskraft eine gewerkschaftliche Kampfpraxis herausgebildet, die diese Distinktion bewusst aufgenommen hat. Nur so sind Lohnersatzleistungen für tatsächlich nicht geleistete Arbeit möglich, etwa die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall oder bezahlter Urlaub als Teil der Reproduktion der Arbeitskraft, und in Tarifverträgen von Industriebranchen mit starker Gewerkschaft lassen sich manche Konstruktionen finden, in denen gezielt von der Bereitstellung der Arbeitskraft ausgegangen wird. Aber mit so etwas beschäftigen sich linksintellektuelle Subkulturen, die mit dem wahren Marx die Welt erklären wollen, ja nicht. Die Fetischismustheoretiker, die sich immer als Kritiker von »Mystifikationen« profilieren möchten, sind es selbst, die die Mystifikationen schaffen.

Es liegt also auf der Hand, dass der Versuch, die von den Faschisten betriebene quasireligiöse Überhöhung der Arbeit aus dem »Lohnfetisch« abzuleiten, der angeblich »nicht erkannt werden« könne – wobei sich dann allerdings fragt, wieso ausgerechnet die Sozialistische Studienvereinigung es aber doch kann – eine Erschleichung ist. Die modische Theorie der »Fetischismuskritik«, auf die sich hauptsächlich Marxisten kapriziert haben, denen der Bezug auf reale Klassenkämpfe abhanden gekommen ist, funktioniert über Suggestivformeln, wobei von Marx als Aperçu assoziativ hingeworfene Worte wie »Alltagsreligion« als theoretische Offenbarung verkauft werden.

Der Vorteil solcher Suggestivbegriffe liegt zweifellos darin, dass man mit ihnen alles erklären kann, so zum Beispiel auch den Faschismus; der Nachteil ist der, dass man, indem man damit alles erklärt, tatsächlich gar nichts erklärt. Richtig ist an der Fetischismustheorie die marxsche Einsicht, dass das Kapital ein gesellschaftliches Verhältnis ist und nicht das Produkt einer Verschwörung; um dies herauszustellen, kann der Begriff des Fetischismus unter Umständen agitatorisch sinnvoll sein; er kann sinnvoll sein, um zum Ausdruck zu bringen, dass es in einer radikalen Kritik des Kapitalismus nicht einfach um Fragen der Verteilungsgerechtigkeit geht, sondern um eine Gesamtheit von gesellschaftlichen Verhältnissen und Verkehrsformen. Er ist bei Marx Index eines Problems, nicht dessen Lösung.

Die Liebhaber der Fetischismuskritik indes geraten in einen Zirkel – den sie dann als »Dialektik« ausgeben –, indem sie im zweiten Schritt argumentieren: Das Kapital ist ein gesellschaftliches Verhältnis, und die gesellschaftlichen Verhältnisse sind kapitalistisch. Im Staat, im Recht und in der Ideologie sehen sie Ausdrucksformen der durchs Prinzip der »Verdinglichung« menschlicher Verhältnisse bestimmten »Totalität«. Demgegenüber hat Althusser geltend gemacht: Das Kapital ist ein gesellschaftliches Verhältnis; in diesem Verhältnis haben der Staat, das Recht, die Ideologie eine materielle Existenz; sie sind nicht »Ausdruck« eines mysteriösen Vergesellschaftungsprinzips, sondern Instanzen von relativem Eigensinn, die kapitalistische Vergesellschaftung erst möglich machen. Wenn übrigens Moishe Postone, einer der führenden Theoretiker der fetischismuskritischen Neomarxismen, das Kapital als »strukturierte Praxis« bezeichnet, ist er Althusser gar nicht so fern.[4] Die Frage ist nur, wie diese strukturierte Praxis aufzuschlüsseln ist: hegelianisch-reduktionistisch als expressive »Totalität« oder in Anerkennung kontingenter Komplexität.

Welche Auswirkungen sich daraus ergeben, lässt sich am vorliegenden Text zeigen. Hier wird nämlich beispielsweise der »Augenschein« des Geldes als unmittelbarer, spontaner Effekt des Fetischismus aufgefasst. Tatsächlich ist aber jeder »Augenschein« ein überdeterminierter Effekt. Keiner der Gegenstände, auf die wir Bezug nehmen, ist uns unmittelbar gegeben. Der Staat, das Recht, die Ideologie haben einen aktiven Anteil an den »fetischistischen« Wahrnehmungs- und Verhaltensmustern, und das ist gerade entscheidend für das Verständnis der Kontinuität zwischen bürgerlich-demokratischer und faschistischer Ideologie. Es ist doch so: Der deutsche Arbeiter[5] ist nicht nur der der Ausbeutung unterworfene Proletarier, sondern er ist zugleich Warenbesitzer, Steuerzahler und Staatsbürger. Er ist ein rechtliches und politisches Subjekt, das im demokratischen Staat den Anrufungen der demokratischen Ideologie unterworfen ist: »Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus«,[6]»Der Staat, das sind wir«; daraus, aus dem realen Imaginären der Ideologie, ergeben sich die Herr-im-Hause-Ansprüche, die vor allem in Krisenzeiten gegen unerwünschte Konkurrenz geltend gemacht werden, dergestalt, dass sich der deutsche Arbeitslose etwa einbildet, für ihn und nicht für Kurden und Tamilen müsste »unser« Staat etwas tun.

Das Imaginäre »unseres Staates« erzeugt den Anspruch, zum Beispiel über eine für »uns« zweckmäßige Verwendung »unserer Steuergelder« bestimmen zu wollen. Dass bei Arbeitern die Forderung nach Zwangsarbeit für Sozialhilfeempfänger auf ein hohes Maß an Zustimmung stößt, hängt ja gerade damit zusammen: Wieso sollen die unproduktiv auf »unsere« Kosten leben? Allerdings beinhaltet das Argument »Es ist unser Geld« immer eine Lüge, weil die Existenz von Geld als solchem Ergebnis der Trennung des Reichtums von seinen Produzenten ist. Die Frage ist nur, wie dieses imaginäre »Wir« zustande kommt, das die Verkennung dieser Trennung garantiert – jene demokratische Staatsbürgertugend, die die Faschisten besonders ernst nehmen. Hier gerät die Fetischismustheorie in Schwierigkeiten, wenn sie das Alltagsbewusstsein unmittelbar aus ökonomischen Formbestimmungen »ableiten« will und dabei die Instanz des politischen Imaginären überspringt.

Der Text beinhaltet die Grundthese, dass die Faschisten bloß den Zwang, der der freien Lohnarbeit immer schon innewohnt, zur offenen Norm erheben wollen: ». . . die kapitalistische Demokratie der Ausbeutung soll verwandelt werden in direkte kapitalistische Staatssklaverei« – warum aber die Nazis die »Freiheit und Gleichheit der Käufer und Verkäufer der Ware Arbeitskraft . . . nur in die offene Zwangsarbeit verwandeln« wollen, bleibt ein Rätsel. Wer ein solches Programm vertritt, hätte keine Chance, auch nur auf ein Minimum an gesellschaftlicher Akzeptanz zu stoßen. Notwendige Existenzbedingung faschistischer Strömungen ist immer der Schulterschluss mit der »Mitte«, wie ihn Haider in Österreich besonders erfolgreich vollzogen hat.

Im letzten Halbjahresprogramm der Studienvereinigung hat der Ankündigungstext von Heribert Schiedel den Kern sehr gut getroffen, wo von Haiders »Anrufung«[7] der »kleinen Leute« die Rede war. Das Erfolgsrezept des Rechtspopulismus besteht nicht darin, die Ersetzung freier Lohnarbeit durch Zwangsarbeit zu propagieren, sondern darin, dass zunächst einmal vor allem die unteren Bevölkerungsschichten als freie Subjekte und verantwortliche Staatsbürger angerufen werden. Haider nennt sich selbst einen »freiheitlichen Reformpolitiker« und bezeichnet sich als konsequenten Demokraten, der gegen den alten ständestaatlichen Filz in Österreich kämpft. Seine Kritik an der parlamentarischen Demokratie knüpft an die der rechten Parlamentarismuskritiker der Weimarer Republik an: Im parlamentarischen System müssen immer umständliche Verfahrensregeln eingehalten, Kompromisse gefunden, Sonder- und Minderheiteninteressen berücksichtigt werden, so dass die Handlungsfähigkeit des Staates und damit die Volkssouveränität eingeschränkt werde. Deshalb plädierte Haider immer für eine Präsidialdemokratie mit einem starken, direkt gewählten Staatsoberhaupt und starken plebiszitären Elementen: das ist genau Carl Schmitts Konzeption des »Souveräns«.

Diese Art von Volkssouveränität Haiderschen Typs verspricht zunächst einmal, den »kleinen Leuten« als freien Subjekten Gehör zu verschaffen, sie spricht deren bürgerlich-liberales Selbstbewusstsein im Rahmen des demokratischen Staatsdiskurses an. Zwangsarbeit im Interesse des »Gemeinwohls« ist in solchen Konzeptionen für diejenigen vorgesehen, die zur Selbstbehauptung als freie Lohnarbeitersubjekte entweder zu schwach oder als freie Konkurrenz unerwünscht sind. Das ist auch in radikaleren, offen neofaschistischen Konzeptionen nicht anders. Auch in Nazideutschland überwogen zunächst die »freien« Arbeitsverhältnisse, mit bestimmten Modifikationen wie dem Fehlen freier Gewerkschaften.

Der Erfolg der Nazis beruht doch gerade darauf, dass sie, trotz einiger Modifikationen wie der, dass man »Heil Hitler« anstelle von »Guten Tag« sagen musste, die alltäglichen Grundstrukturen der bürgerlichen Gesellschaft intakt ließen; das ist ja auch der Grund, warum Leute wie Joachim Gauck und Konsorten der Meinung sind, die DDR sei in mancher Hinsicht schlimmer gewesen als das Dritte Reich. Das Problem ist leider, dass in Nazideutschland eine Mehrheit von anständigen Bürgern mit dieser faschistisch dressierten, im Kern aber intakten bürgerlichen Gesellschaft ganz gut zurechtkam. Die Leidtragenden waren Minderheiten. Hervorzuheben ist vor allem auch die echte Begeisterung weiter Teile der Jugend im NS-Staat. Uns ist kaum nachvollziehbar, wie man stolz darauf sein konnte, eine HJ-Uniform zu tragen. Es war aber so, weil nie zuvor in Deutschland die Jugend eine derartige gesellschaftliche Anerkennung genossen hatte wie die, die ihr ausgerechnet mittels der Uniform verliehen wurde. Man sieht hier besonders deutlich, wie die ideologische Anrufung von Subjekten nicht manipulativ, sondern produktiv wirkt, ihnen ein Selbstbewusstsein gibt.

Offensichtlich muss die Frage, was die Attraktivität des Faschismus für seine Anhänger ausmacht, ganz anders angegangen werden als von unseren Autoren, bei denen als Erklärung der zeitgenössischen faschistischen Bewegungen nichts weiter herauskommt als einerseits eine funktionale Bestimmung, derzufolge diese Bewegungen dazu da seien, »allen spontanen Unmut, alle Ansätze emotionalen Staus und Unbehagens im Kapitalismus, die in irgendeine antikapitalistische Rebellion aussschlagen könnten, restlos aufzufangen«, und andererseits die Bestimmung der Plausibilität der faschistischen Ideologie für ihre Anhänger als Resultat einer einfachen fetischistischen Illusion.

Das erklärt nicht die Strahlkraft der neurechten Ideologie, und es erklärt den Zusammenhang der dem Selbstverständnis nach »ideologiefreien«, »pragmatischen«, »modernen« Politik der »neuen Mitte« mit faschistischen Strömungen als Zusammenhang von Elementen einer übergreifenden restaurativen Tendenz nur sehr unzureichend. Die Entschlüsselung dieses Zusammenhangs bedürfte eines Interpretationsrahmens, der ideologische Kämpfe in ihrem relativen Eigensinn begreifen kann, was der Fetischismustheorie ganz fremd ist.

Die Fragwürdigkeit der Positionen des Papiers lässt sich an einer merkwürdigen Sprachakrobatik festmachen: »Schließlich gab und gibt es keine ›deutsche Arbeiterklasse‹ als homogenen ›weißen‹ Block und ›Nährstand der Nation‹, sondern immer nur das Proletariat in Deutschland – eine Abteilung des Weltproletariats, ebenso global und multipel wie das Kapital . . .« Hier werden zwei verschiedene Aussagen in einer zutiefst zweideutigen Form miteinander verschmolzen: 1. Es gab und gibt keine deutsche Arbeiterklasse, 2. Die deutsche Arbeiterklasse ist nicht homogen.

Gibt es also eine deutsche Arbeiterklasse? Dass es keine ethnisch homogene deutsche Arbeiterklasse gibt, ist an sich trivial. Aber: Gibt es nun eine deutsche Arbeiterklasse, wenn man das Attribut »deutsch« nicht in offenkundig unsinniger Weise als Inbegriff ethnischer Reinheit versteht? Es wird richtig gesagt, in welchem Sinne es sie nicht gibt, und die Frage ist, wem das gesagt werden soll. Ruhrpottarbeitern beispielsweise würde man die Zusammensetzung der Bevölkerung im Revier nicht erklären müssen, sie wissen es selbst sehr genau. Der Text schweigt aber darüber, in welchem Sinne es die deutsche Arbeiterklasse gibt. Es gibt sie, insofern die Eigenschaft des deutschen Arbeiters, Staatsbürger zu sein, eben nicht einfach ein scheinhaftes Akzidens ist, das einem vermeintlich essentiell proletarischen Subjekt bloß äußerlich angeheftet würde, sondern Teil seiner Existenzweise, Teil der materiellen Wirklichkeit des Staates und der Ideologie. Das imaginäre Verhältnis der Menschen zu ihren Existenzbedingungen ist Teil der Verhältnisse.

Die Frage, was dazu führt, dass deutsche Arbeiter sich als Teil eines nationalen Kollektivs wiedererkennen, das sich gegen Konkurrenz abschottet, wird im vorliegenden Text aber gar nicht gestellt, da die unglückselige Fetischismustheorie aus allgemeinen Bestimmungen des Kapitalverhältnisses heraus im Voraus Erkenntnisse verbürgen soll, die erst aus einer Analyse des Ensembles der ökonomischen, politischen und ideologischen Verhältnisse zu gewinnen wären.

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Die fetischistische Überhöhung der Arbeit in der Naziideologie soll den Aussagen der Studienvereinigung ein Ergebnis des »Lohnfetischs« sein. Die Fragwürdigkeit dieses Erklärungsansatzes wurde oben bereits aufgezeigt.

Mit dem Arbeitsfetischismus ist es doch so wie mit dem Stein bei Spinoza, der sich frei fühlen würde, wenn er Bewusstsein hätte – das ist die Wirkungsweise der Ideologie, die die Menschen dazu bringt, das, was sie tun müssen, für sinnvoll und Produkt des freien Willens zu halten.

Im Kapitalismus, wo die Verwertung des Werts als Selbst»zweck«[8] funktioniert, hat die Arbeit einen Stellenwert wie in keiner vorangegangenen Gesellschaft erhalten. In mittelalterlichen Klöstern beispielsweise galt die Devise »Ora et labora«, die Arbeit wurde neben dem Beten als Teil eines gottgefälligen Lebenswandels angesehen; hier war die »Arbeit« etwas ganz anderes als die spätere Lohnarbeit. Der Kapitalismus indes hat einen Arbeitsdruck in die Welt gesetzt, der zuvor nicht vorstellbar gewesen wäre, und die Menschen haben darauf damit reagiert, dass sie das, was sie nicht abwehren konnten, zur Tugend erhoben haben. Die Intuition, die in der marxschen Charakterisierung der bürgerlichen Verhältnisse als Verhältnisse einer fetischistischen »Verkehrung« steckt, ist die, dass im Kapitalismus die Arbeit aus ihrer Eingebundenheit in lebensweltliche Zusammenhänge mit entsprechendem Deutungsrahmen herausgelöst wurde und allein durch die Imperative der Selbstverwertung des Werts kommandiert wird.

Nun unterstellen die Menschen bei allem, was sie tun und tun müssen, einen Sinn ihres Tuns; wenn jemand diesen Sinn in Frage stellt, ist zumeist eine ernste psychische Krise die Folge. So kommt es, dass auch der Zwang zur Lohnarbeit als einer Arbeit, der jeder sichtbare Bezug auf konkrete gesellschaftliche Bedürfnisse abhanden gekommen ist – in diesem Sinne könnte man sie »entfremdet« nennen, aber das ist eben auch nur eine ideologische Metapher und keine Erklärung –, von denen, die ihm unterliegen, mit Sinn erfüllt wird. Will man erklären, warum diese Sinnstiftung in protestantisch geprägten Ländern und insbesondere in Deutschland, hier aber überkonfessionell, besonders gut funktioniert, müsste der relativen Autonomie ideologischer Prozesse Rechnung getragen werden.

Mit einer Ableitung aus dem »Fetischismus« der Waren- und Kapitalform dürfte das kaum zu leisten sein. Es fragt sich aber, warum die Suggestivformeln der Fetischismuskritik, obwohl ihr theoretischer Ertrag, wie gezeigt, eher gering, wenn nicht gar fragwürdig ist, eine so zentrale Stellung im Diskurs bestimmter linker Subkulturen einnehmen.

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Themenwechsel. In der späten Ära Kohl war die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ein Thema, das tatsächlich die Massen bewegte. Kapitalistenverbände und die auf sie eingeschworenen Politiker behaupteten, Arbeiter feierten zuviel krank. Sozialdemokraten und staatstragende Gewerkschafter entgegneten: Nein, Arbeiter feiern nicht krank, sie werden durch die Arbeitsbelastung eben oft krank. Die Wirklichkeit ist doch die: Natürlich wird krankgefeiert. Wenn Arbeiter unter sich sind, geben sie das zu und erzählen Anekdoten darüber. Das ist eine Form, sich dem Druck der Lohnarbeit zu entziehen. Aber als vernünftiges, verantwortungsbewusstes Subjekt darf man das nicht sagen. Der Diskurs der politischen Vernunft beinhaltet Kriterien, die vorn vornherein Opposition ausschließen. Das ist übrigens der Grund, warum in Demokratien fast alle kommunistischen und linkssozialistischen Parteien, sobald sie eine gewisse parlamentarische Stärke erlangt haben, zur Sozialdemokratie mutierten, weil das Streben nach »Politikfähigkeit« (wie es in den Flügelkämpfen der Grünen in den achtziger Jahren so schön hieß), nach konstruktiver Teilhabe am Diskurs der politischen Vernunft und Verantwortung das geradezu erzwingt.

Ein Diskurs ist im Sinne von Foucault ein Aussagesystem, das die Gesamtheit aller in diesem System »sinnvollen« Aussagen definiert, also festlegt, welche Aussagen zugelassen und gültig sind und welche nicht. Jeder Diskurs enthält also Kriterien dafür, was in diesem Diskurs als Argument zulässig ist und was nicht. Es gibt einen Staats- Diskurs der politischen Vernunft, des mündigen, verantwortungsbewussten Bürgers. Dieser Diskurs wird allen Bürgern permanent beigebracht und abverlangt. In diesem Diskurs ist zum Beispiel der Satz »Hohe Lohnnebenkosten sind ein Standortnachteil« ein gültiges Argument, das weitgehend akzeptiert sind. Der Satz »Ein gutes Bildungs-, Gesundheits- und Sozialsystem ist ein Standortvorteil«, der sozusagen den Platz von Oskar Lafontaine im Aussagesystem repräsentiert, ist ebenfalls grundsätzlich ein gültiges Argument, auch wenn er in maßgeblichen Kreisen eher Stirnrunzeln hervorruft. Der Satz »Krankfeiern ist eine Methode, sich dem Druck der Lohnarbeit zu entziehen« ist dagegen kein gültiges Argument, weil er bestimmte der Staats-Vernunft inhärente Kriterien der »Verantwortlichkeit« nicht erfüllt. Würde jemand im Parlament oder in der Medienöffentlichkeit so etwas sagen, gäbe es vielleicht einen kurzen Entrüstungssturm, aber die Sache würde wahrscheinlich schnell abgehakt, weil ein solcher Satz nach den Regeln des Staats-Diskurses einfach nicht Gegenstand einer »ernsthaften« Diskussion sein kann. Wer so argumentiert, würde einfach nicht ernst genommen.

Die Sozialdemokratie hat seit jeher im Rahmen des Staats-Diskurses agiert. Kommunisten wissen demgegenüber, dass die Linke sich bestimmten typischen Fragestellungen des Staats-Diskurses verweigern muss. Wir diskutieren nicht über Fragen vom Typ »Sind in Deutschland die Löhne zu hoch?« oder dergleichen. Wer sich auf solche Fragen bloß einlässt, hat schon verloren. Traditionell haben die kommunistischen Parteien, insbesondere seit 1945, ihre Zurückweisung von Diskursen, die von vornherein nur solche des Kapitals sein können, mit dem Bestreben verbunden, dem Diskurs des Kapitals einen bestimmten Konsens, vorzugsweise gegründet auf Werte des Humanismus und der Demokratie, entgegenzuhalten. »Statt den Kampf um Standorte zu führen, wollen wir uns für die Schwächeren einsetzen«: diese Aussage eines DKP-Kandidaten im Kommunalwahlkampf verweigert in charakteristischer Weise einen Diskurs (»Standort«) im Namen eines anderen, als übergeordnet angesehenen, auf einen übergreifenden (hier: moralischen) Konsens zielenden Diskurses (»Eintreten für die Schwächeren«). Ich sage das ganz neutral, ohne Bewertung.

Das Problem bei der Sache ist, dass in dem Moment, wo eine systemoppositionelle Partei eine gewisse parlamentarische Präsenz erlangt, die Verweigerung von Diskursen, die die Linke verweigern muss, etwa der »Standort«- Frage, nicht auf Dauer konsequent durchzuhalten ist, weil eine parlamentarisch tätige Partei sich an bestimmten immanenten Erfolgskriterien parlamentarischen Handelns orientieren muss. Wer den Tanzboden des Parlaments betritt, muss eben nach der Musik tanzen, die dort gespielt wird. Das, und nicht etwa Korruption und Infiltration durch Agenten der Bourgeoisie, erklärt die Sozialdemokratisierung der großen kommunistischen Parteien des Westens.

Linksradikale Subkulturen, die diese Gefahr erkannt haben, versuchen in der Regel, jeden breiten Konsens, wie ihn die Traditionslinke stets anstrebte, zu meiden und stattdessen einen eigenen Gegendiskurs zu entwickeln. Bei manchen Gruppen von Autonomen ist das zum Beispiel ein Diskurs, der sich um Schlüsselwörter wie »Schweinesystem« gruppiert; in solchen Kreisen ist der Gebrauch des Ausdrucks »Schweinesystem« konstitutiv für die Gruppenidentität, die Teilnahme an diesem Sprachspiel qualifiziert für die Gruppenzugehörigkeit. In anderen, stärker intellektuell geprägten Zusammenhängen der radikalen Linken hat sich dagegen in den letzten zehn Jahren, nach dem endgültigen Niedergang des Paradigmas »Marxismus-Leninismus«, die »Fetischismuskritik« als neues Sprachspiel etabliert, über das bestimmte Subkulturen ihre Gegnerschaft zum bürgerlichen System formulieren und ihre Gruppenidentität bestimmen.

Im Unterschied zur Traditionslinken, die die Verweigerung bestimmter kapitalistischer Staatsdiskurse stets unter Berufung auf andere weithin konsensuelle politische und moralische Diskurse (Werte der Demokratie, des Humanismus, das Grundgesetz, Interessen der Menschen oder der Bürger gegen die der Banken und Konzerne usw.) formuliert und dabei das Risiko eingeht, durch die Hintertür die Logik des Systems wieder hereinzulassen, gegen die man an sich opponieren möchte, zimmern die radikalen Subkultur-Linken sich ihre eigenen Diskurse von vornherein so zurecht, wie es den eigenen Interessen, Befindlichkeiten und Selbstverständnissen entspricht. Da werden altehrwürdige Begriffe wie der des Proletariats so umgestrickt, dass man sich selbst richtig schön als Proletarier fühlen kann,[9] oder es werden Begriffe, die bei Marx als Metonymien am Rande auftauchen, als neues Zentrum der Theoriebildung rearrangiert: Über den Begriff des »Fetischismus« wird der eigene Wissensvorsprung gegenüber den vom »gegenständlichen Schein« geblendeten Massen definiert. Zu fragen wäre, ob nicht einer Selbstreflexion des eigenen Tuns der Vorrang gebühren müsste.

Natürlich haben auch traditionslinke Organisationen und Zusammenhänge ihre eigenen, mitunter verschrobenen Organisationsdiskurse. Im Falle der DKP ist das beispielsweise die »wissenschaftliche Weltanschauung«, eine Formel aus der Mottenkiste des Szientismus des neunzehnten Jahrhunderts, entstanden als Widerpart gegen die einst allgegenwärtige religiöse Ideologie, sinnlos geworden, wo diese sich verflüchtigt hat, und im Parteidiskurs sicher von der Funktion her eine Chiffre für das, was die kommunistische Partei von bürgerlichen und sozialdemokratischen Parteien als rein systemimmanten Interessenkoalitionen unterscheiden soll; die Partei täte gut daran, an die Stelle dieser Chiffre, von der niemand mehr so recht sagen kann, was sie eigentlich – in einem starken Sinne – bedeuten soll, die Entwicklung eines neuen revolutionären Profils fürs einundzwanzigste Jahrhundert zu setzen, aber gut Ding braucht eben Weile.

Das Gute an der DKP ist jedenfalls, dass in ihr nicht so heiß gegessen wie gekocht wird; dass sie zu differenzieren vermag zwischen der Frage, was von Kommunisten und Linken sozusagen an vorderster Front diskutiert wird, und der Frage, was in welchem Zusammenhang wie vermittelt werden kann. Das unterscheidet sie vorteilhaft von subkulturellen linksradikalen Grüppchen, die meinen, sie müssten nur ihre »reine Lehre«, die statt weiland »Marxismus-Leninismus« oder »Maozedongideen« heute zum Beispiel »Fetischismuskritik« heißt, in leicht popularisierter Fassung der Öffentlichkeit vorbuchstabieren, wobei dann Diskurse herauskommen, mit denen die Subkulturgrüppchen von vornherein nur ihresgleichen erreichen können.

Bei aller notwendigen Kritik an den Gewerkschaften: Wenn eine linksradikale Gruppe, bestehend überwiegend aus Mitgliedern, die aufgrund von Überzeugungen auf eine bürgerlich-etablierte Lebensform verzichten und sich mit einem oft prekären Lebensstandard unterhalb des Durchschnitts bescheiden, gewerkschaftliche Forderungen nach Schaffung von Arbeitsplätzen von vornherein in die Nähe des Faschismus rückt, kann sie nicht erwarten, von einem langzeitarbeitslosen Familienvater Mitte 40, der seinen Kindern kein Aufwachsen auf Sozialhilfeniveau zumuten möchte, ernst genommen zu werden. Wenn solche Subkulturgruppen sich dann, mittels eines passend zurechtgebogenen Proletaritätsbegriffs, auf den proletarischen Klassenkampf berufen, ist ein wirklicher Fortschritt gegenüber den K-Gruppen-Projektionen aus den siebziger Jahren jedenfalls noch kaum erkennbar. Demgegenüber hat die Traditionslinke immer noch den Vorzug, dass sich den Spannungsverhältnissen realer Diskurse und Interessenlagen über die unmittelbare eigene Klientel hinaus aussetzt.

Denn jede Klassenkampfposition, die nicht Schall und Rauch, pure Verlautbarung bleiben will, muss die Diversität der Diskurse, in denen sich heute Klassenwidersprüche auftun, reflektieren; langer Atem ist erforderlich, um die Nahtstellen der verschiedenen Klassensegmente aufzuspüren. Mit der schematischen Unterscheidung von korrumpierter Arbeiteraristokratie und guten Operaisten ist es nicht getan; vor allem ist der Text der Sozialistischen Studienvereinigung kein Diskurs von afroamerikanischen oder aus Sizilien nach Norditalien eingewanderten ArbeiterInnen, sondern ein Diskurs von Intellektuellen, die bestimmte Gruppen von ArbeiterInnen für ihr Leitbild der »richtigen« Proletarität vereinnahmen, das in Wirklichkeit von ganz anderen Voraussetzungen ausgeht.

Als das traditionelle Leitbild der Proletarität, der Industriearbeiter, in den Hintergrund zu treten begann, saßen weite Teile der Linken dem Trugschluss des »Abschieds vom Proletariat« auf. Nicht minder verkehrt als die frühere Identifikation des Proletariats mit einem bestimmten historischen Typ des Arbeiters ist aber die heute bei den Teilen des linksradikalen Spektrums, die richtigerweise nicht in den Abgesang auf den Klassenkampf und die Arbeiterklasse einstimmen möchten, verbreitete Erhebung dessen, was Karl Heinz Roth die »neue Proletarität« nennt, zum neuen Leitbild. Denn neben der neuen Proletarität existiert weiterhin die alte bis uralte. Es gibt in dieser Gesellschaft Menschen, die im Rahmen der Lohnabhängigkeit Aufstiegs- und Erfolgschancen haben und diese nutzen. Es gibt andere, die keine Chancen haben. Und es gibt diejenigen, die prinzipiell Chancen haben, sie aber nicht wahrnehmen, weil sie bestimmte Anpassungsleistungen nicht erbringen wollen. Die proletarisierten Intellektuellen, das sind zumeist diejenigen, die die Ermahnungen ihrer Eltern, doch etwas »Ordentliches« zu machen, bewusst ignoriert haben. Sie sollten ihren Bewusstseinsvorsprung zu Besserem nutzen als zur Erhebung der eigenen Situation zum Nabel der Welt.

5

Es gibt einen von der Mehrheit der Arbeiterklasse – im weitesten Sinne – als verbindlich anerkannten Diskurs der Staats-Vernunft. Daneben gibt es linksradikale Subkulturdiskurse, die die Mehrheit des »Proletariats«, in dessen Namen diese Subkulturen auftreten, schlicht und einfach nicht versteht.[10] Wenn das alles wäre, wäre es niederschmetternd und vielleicht am besten, auf die Bahamas auszuwandern. Zum Glück gibt es etwas anderes: Es gibt das Verdrängte, für das das Krankfeiern nur ein Beispiel ist. Es gibt die Verhaltensweisen, in denen Proletarier sich der Staats-Vernunft entziehen und ihre spezifische eigene Vernunft entwickeln. Diese existiert gegenwärtig nicht als ein Diskurs der »Politik«. Sie ist von der Schwelle, wo sie die Tabus der Staats-Vernunft durchbrechen und in einem positiven, nicht auf Anpassung zielenden Sinne »politikfähig« werden könnte, weit entfernt. Eine radikale linke Perspektive kann nur darin bestehen, aus diesem Verdrängten, das die Formung »vernünftiger« Staatsbürger, die Bildung verantwortungsbewusster Subjekte[11] als Schatten begleitet, die Formung einer neuen, nicht mehr dem staatlichen »Wir« hörigen Vernunft zu fördern.

Das aber würde heißen, nicht aus der Sackgasse der Staatshörigkeit, in der die Traditionslinke eingeklemmt ist, in die andere Sackgasse subkultureller Isolation zu irren. Nicht, dass linksradikale Subkulturen illegitim wären. Wir brauchen sie. Autonome, Punks, linke Skins haben sich als zuverlässiger erwiesen als so manche, die einst die Fahne der Partei der Arbeiterklasse (wie auch immer sie heißen mochte) gegen die linksradikalen und alternativen Kinderkrankheiten schwenkten und dann umkippten. Während jene militanten Subkulturen immerhin Lebensformen praktizieren, die, wenngleich nicht populär, dennoch durchaus auch in der Durchschnittsbevölkerung leise Ahnungen der Möglichkeit eines Lebens ohne Leistungsterror und Staatshörigkeit aufkommen lassen können, was teils mit Hass, manchmal aber auch mit unterschwelliger Sympathie quittiert wird,[12] bleiben indes Theorie produzierende Subkulturen zur Wirkungslosigkeit verdammt, nicht Fisch, nicht Fleisch, den militanten Subkulturen nicht militant genug, den Traditionslinken jedoch unverständlich und suspekt.

Eine am Klassenkampf und nicht bloß an den Distinktionsritualen soziokultureller Milieus orientierte Linke aber braucht die Organisationen der Traditionslinken. Denn es sind diese Organisationen, die in der Lage sind, Menschen über die Gräben der bourdieuschen »feinen Unterschiede« hinweg politisch zusammenzubringen. Es mag biografischen Zufällen geschuldet sein, dass ich eine linksradikale Grundhaltung mit starken traditionslinken und gewerkschaftlichen Bezügen verbinde; maßgeblich ist für mich die Einsicht, dass eine radikale Haltung nur in der ständigen Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Normalstandards und nicht in der Hybris eigener Selbstüberschätzung entwicklungsfähig ist und Strahlkraft zu entfalten vermag. Deshalb bin und bleibe ich Mitglied traditioneller Organisationen, die in linksradikalen Subkulturkreisen verpönt sein mögen: Mitglied einer DGB-Gewerkschaft und Mitglied der Deutschen Kommunistischen Partei.

In der Sozialistischen Studienvereinigung sehe ich Erkenntnispotenziale, die einen genuinen Beitrag zum Ausgang aus den Sackgassen der verschiedenen Segmente der Linken leisten könnten: wenn die programmatische Absicht, die ich eingangs zitierte, ernsthaft umgesetzt würde. Das aber verböte strengstens eine engstirnige Festlegung der Vereinigung auf eine bestimmte Variante des intellektuellen Linksradikalismus. Anstelle der altlinken theoretischen Praxis der Denunziation des Falschen und Verkündigung des Wahren, die in der Stellungnahme zum 1. Mai ganz ungebrochen fortgeführt wird, müsste sie eine Form der Reflexion politischer Paradigmen finden, in der die Akteure verschiedener linker Zusammenhänge sich gleichermaßen wiederfinden und die Angst vor der Einsicht in die Konstitutionsbedingungen des eigenen Diskurses überwinden könnten, um im Erkennen von Grenzen diese überschreitbar zu machen. Damit würde sie zu einer wirklich neuen Institution ohne Vorläufer. Als fetischismustheoretisch modernisierter KGruppen- Ersatz für politisch heimatlose prekarisierte Linksintellektuelle dagegen wäre sie wertlos.

HENNING BÖKE

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Fussnoten

1)Der einzige bolschewistische Theoretiker, der ihn beiläufig erwähnte, war meines Wissens Bucharin.

2)MEW 23, S. 559.

3)Ebd.

4)Tatsächlich ist Postones Position ja zuweilen als »strukturalistisch« kritisiert worden. Es scheint bei einigen Anhängern idealistischer Subjektphilosophie so ein merkwürdiger pawlowscher Reflex zu sein, bei jeder Verwendung des Wortes »Struktur« gleich »Strukturalismus!« zu schreien.

5)Ich lasse die weibliche Form weg, weil ich nicht empirisch beurteilen kann, inwieweit es bei Arbeiterinnen von der männlichen Norm abweichende Wahrnehmungsweisen gibt.

6)Das steht übrigens auch im Parteiprogramm der NPD!

7)»Anrufung« (interpellation: hat im Französischen den Doppelsinn einer Anrufung auf der Straße und einer vorübergehenden Festnahme) ist ein ideologietheoretischer Schlüsselbegriff Althussers.

8)»Zweck« ist freilich immer eine ideologische Kategorie.

9)»Proletarier ist der, der keine Macht über den Gebrauch seines Lebens hat und der das weiß«, hieß es bei den Situationisten. Mit einem derart gleichsam ins Existenzielle gewendeten Prolataritätsbegriff kann man sicher auch allerhand leidende leitende Angestellte zu Proletariern erklären.

10)Demgegenüber verdienen die »Antideutschen« in gewisser Weise durchaus Respekt, weil sie sich nicht
eine intime Verbundenheit mit dem Weltproletariat in die Tasche lügen, sondern offen als radikale Minderheit auftreten, die keine imaginären stärkeren Bataillone auf ihrer Seite hat.

11)Althusser konnte das im Französischen assujetissement nennen: Subjektwerdung durch Unterwerfung.

12)Vor der letzten Bundestagswahl hörte ich Gespräche von Facharbeitern, die die Wahlwerbespots der Anarchistischen Pogo-Partei Deutschlands mit Heiterkeit und auch Bemerkungen wie »Irgendwie haben sie ja Recht mit ihrem ›Arbeit ist Scheiße‹« kommentierten.

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