Aus dem Zirkularbrief 2, Juni 2001

Zur Totalitarismus-Theorie 

Beitrag zur Veranstaltung am 25. April 2001 

Wir mobilisieren zum Ersten Mai. Wir mobilisieren gegen den Aufmarsch der Worch-Gruppe. 

Was sagen wir aber denen, die sich an den Ersten Mai 1933 erinnern wollen, als die Nazis ihren Aufmarsch durchführten, der dann am 2. Mai folgerichtig mit der endgültigen Besetzung der Gewerkschaftshäuser endete? Man hört gar nicht so selten: Und was war da der Unterschied zwischen diesem Ersten Mai 1933 und dem 1932 - oder dem 2001? Und was war der Unterschied zum Aufmarsch in Moskau am 1. Mai 1918 – oder dem denkwürdigen 1975, als das befreite Vietnam Ho-Chi-Minh-Stadt in Besitz nahm? War nicht jeder erste Mai seit 1933 immer schon eine große Beschlagnahme des Einzelnen, militärisches Marschgehabe, egal ob von rechts oder links? 

Was sagen wir denen? Das wäre hier kurz zu überlegen. 

1. Ausgangspunkt: Das Gefühl, zwischen zwei gleich unangenehmen Zukunftsaussichten eingeklemmt zu sein, überfällt unweigerlich den isolierten Vereinzelten, der sich in den Trümmern des untergehenden liberalen Rechtssystems vorfindet. Das gilt nicht nur für den kleinen Lebensmittelhändler am Eck, der im Normalfall das Geschlucktwerden durch Aldi genau so verabscheut wie die Forderungen der Gewerkschaften, sondern ebenso für den aufstiegsbewussten Angestellten wie für den Lehrer in seinem handwerklich verstandenen Hirnformerbetrieb. Literarisch unvergleichlich dargestellt bei Fallada in »Kleiner Mann, was nun?«, interpretiert in einer frühen Studie von Lethen. 

2. Theorie: In den Fassungen z. B. von Dolf Sternberger und Hannah Arendt wird die Ausgangsposition des geängstigten Einzelnen verallgemeinert. Wenn als Ausgangspunkt jeweils der liberale Rechtsstaat genommen wird, folgt von daher schon, dass jede seiner Negationen undialektisch gleichgesetzt wird, die welche die Freiheitsversprechungen des Liberalismus erst real erfüllen, die welche sie als verjährt abschaffen will. 

3. Resignative Fassung der Theorie: »Wir haben die Revolution nicht geschafft, seien wir froh, dass wir wenigstens unsere bürgerlichen zivilen Freiheiten bewahren, so gut es geht!« Vorgetragen von Willy Brandt, der altersmilde erinnerte an den - überwundenen - Spruch aus Weimar, »Republik, das ist nicht viel / Sozialismus ist das Ziel«, bis zu den mürbe gewordenen Alt-SDSlern. Cohn-Bendit. Thomas Schmid. Nouveaux philosophes in Frankreich. Derzeit herrschender Diskurs der Rot-Grün-Regierung. 

4. Historischer Einwand gegen beide Fassungen: Du willst dem Satz Voltaires folgen: »Beschränken wir uns auf unseren Garten.« Du kannst die Gartengitter so verstärken, wie du willst: die Bewegung außerhalb deiner wird sie doch eindrücken. Also wähle! 

Der Einwand ist zu entkräften für den, der auf jede Zeitperspektive verzichtet über seine eigene Lebenszeit hinaus. Deshalb die wütende Utopie des Anti-Utopisten Hartung 1990 und anderer: Verzichte auf »Visionen« = Verzichte darauf, dir selbst vorweg zu sein. Das ist in Wirklichkeit ein auf lange Sicht undurchführbares Programm der Selbstverblödung. Kurzfristig ist es allerdings geläufige Lebenspraxis mit guten Durchschlängel-Chancen. 

Ergebnis 1: Die Frage kann nicht geklärt werden aus der Perspektive des beängstigten Einzelnen und seiner Wünsche. Es ist real durch keinen Vergleich herauszubekommen, ob es noch unangenehmer war, in Dachau zu sitzen als bei den Sowjets in Kolyma. (Margarete Buber-Neumann, die beide Erfahrungen mitgemacht hatte, fand – aus Ressentiment– die russischen Lager unangenehmer.) Sie kann nur geklärt werden aus den möglichen Perspektiven, die den Theorien der jeweiligen Unterdrückungssysteme zugrunde liegen. 

Ergebnis 2: Dann ergibt sich, dass aus dem faschistischen Grundansatz: eine als Substanz bestimmte Gruppe - die eigene - kämpft auf Leben und Tod um die nicht zu vermehrenden Subsistenzmittel auf dieser Erde unausweichlich zunächst Unterdrückung der und Kampf mit der Fremdgruppe folgt, dann Stählung und Hochzüchtung der eigenen. Faschismus als Theorie ist ohne Alternative. Er führt notwendig immer zum selben Ergebnis. 

Selbst wenn wir der falschen Behauptung folgten, dass im Marxismus selbst schon die stalinistische Unterdrückungspolitik angelegt gewesen wäre, müssten wir zugeben, dass aus dem Marxismus jedenfalls auch ganz andere Folgerungen sich ziehen lassen. Also lassen sich zumindest beide Theorien nicht gleichsetzen. 

Ergebnis 3: Woher kommen dann die unbestreitbaren Ähnlichkeiten im Auftreten von Nationalsozialismus und kommunistischer Parteipolitik? Antwort: Aus wechselseitigen Anpassungen. Es handelt sich also nicht um eine Wesensähnlichkeit von Anfang an, sondern um Akkomodationen. 

Die Nazis mussten sozialistisch tun, um die wirklich sozialistisch gesonnene Arbeiterklasse niederkämpfen zu können. Das Surrogat verdrängt das Original. Die Kommunisten - vom Programm der nationalen und sozialen Befreiung 1930 in Deutschland angefangen bis zu Stalins Ausrufung des vaterländischen Krieges – machten im Augenblick ihrer Schwächung verhängnisvolle Zugeständnisse an bestehende Bewusstseins- und Organisationsformen. Die Nazis mussten, die Kommunisten meinten, sie müssten. 

Fazit: Wer sich selbst in seiner relativ gesicherten Position einigelt und diese gegen alle weiterführenden oder bedrohenden »Angriffe« verteidigt, der kann durch kein Argument logisch zum Verlassen seiner Position gezwungen werden. Man kann ihm nur nachweisen, dass er sich dann auch keinen über seine Verbunkerung hinausweisenden Gedanken erlauben darf und notwendig dümmer wird, als er sein müsste. Insofern treten antitotalitäre Theorie und Haltung etwas immer neu auf. Sie sind unwiderlegbar, aber ohne jede Gedankenfrucht.

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