Aus dem Zirkularbrief 2, Juni 2001

Zum Charakter der Arbeit der Studienvereinigung 

Als Zusatz zum Namen Sozialistische Studienvereinigung schlage ich vor: theorie praxis lokal. 

Begründung: 

1. Häufig äußern Leute nach einem ersten Blick auf unsere Ankündigungsträger (Plakat, Programmheftchen, Flyer) das Missverständnis, wir seien wohl eine Art »Studentenvereinigung« und unsere AdressatInnen irgendwelche »Studierenden«. Auch nach Berichtigung dieses ersten Eindrucks bleibt diese Assoziation von »Studien« als bloßem diffusen »Studieren«, »Studium« i. S. v. individuell-bürgerlichem Bildungsstreben oder akademischer Ausbildung usw. Diese vage und grundfalsche Vorstellung wäre durch einen Zusatz einigermaßen auszuräumen, in dem der Akzent auf die Theoriebildung gelegt wird, mit der wir uns beschäftigen und für die wir in dieser Stadt einen Ort bieten. 

Hie und da gibt es in der kulturlinken Szene workshops bzw. club-artige Lokalitäten unter dem Namen »Theorielokal« (Beispiel: Kassel). Ein Signal der Öffnung gegenüber diesem Segment der »radikalen« Linken würde uns ohnehin nicht schaden, sind doch die Berührungsscheu und Kulturschranke von dieser Seite, wie wir immer wieder merken mussten, enorm (kein einziges Antifa-»Mitglied« aus der Stadt hat unsere Sonderveranstaltung zur Vorbereitung des 1. Mai 2001 besucht!). Es handelt sich allerdings nicht darum, sich dieser Szene irgendwie anzubiedern, sondern gerade darum, ihr die allzu bequeme Abschottung, Theorieabstinenz, Streitvermeidung und Abwehr gegenüber der kollektiven strömungsübergreifenden Theoriebildungsanstrengung, zu der wir auffordern und die wir ermöglichen, zu erschweren. Der anhaltenden teilweisen Quarantäne durch »gewollte Missverständnisse« sollten wir nicht durch ein Firmenschild noch Vorschub leisten, das den Charme eines Kaninchenzüchtervereins mit der Attraktivität einer Debattiergemeinde oder -gemeinschaft ergrauter altlinker »ewiger Studenten« oder gefallener Professoren, verhinderter Schulmeister usw. vereinigt, wie es die bestehende Namensgebung, noch dazu mit ihren ausgesprochen hässlichen und einfallslosen Initialen, verströmt (SSV evoziert einen Mief aus Schülerselbstverwaltung, Seckbacher Sportverein oder Schmetterlings-Sammlern, und unbeabsichtigt schlägt der Klang der ersten beiden Buchstaben allzu schmerzhaft ans Ohr). Unsere Notbezeichnung der ersten Stunde sollten wir deshalb etwas in den Hintergrund zurückziehen und in den Vordergrund, gewissermaßen als Blickfang, den lokalen ebenso wie den »Lokal«-Charakter unseres Theoriestützpunkts stellen (vgl. Kluge: Etymologisches Wörterbuch): Ort, Stelle, Raum, ja in einem bestimmten Sinne tatsächlich Gast-Stätte (nicht nur »Veranstaltungscafé«) für kollektive Theorieaneignung und -rekonstruktion ebenso wie für permanente konstruktive Diskussion zu sein. Dabei sollte in der Bezeichnung mitschwingen, dass jede/r sozusagen von der Straße herein an diesem Ort der Theoriebildung willkommen ist, unverbindlich über alles hier Stattfindende hinaus, d. h. ohne politisch »in irgendetwas hineingezogen zu werden«, was den gängigen Erfahrungen mit dem Parteien-, Sekten- oder Szenenwesen entsprechen würde. 

2. Mit dem Label »Theorielokal« etwa würden wir uns indessen noch nicht hinreichend absetzen von der Abgehobenheit »bloßer« Theorie, auch nicht von der philosophencaféartigen Esoterik linker Theorieclubs der einschlägigen halbakademischen Szene. Unser Anliegen und unsere Originalität bestehen gerade in einer Theoriebildung praxisorientierter, revolutionär-sozialistischer Struktur, d. h. wir begreifen solcherart Theorie selber von vornherein als eine entscheidende Dimension radikal-umwälzender gesellschaftlicher Praxis. Die bewährte Formel von der »theoretischen Praxis« oder »Praxis der Theorie« trägt dieser historischen Gegenwärtigkeit Rechnung, da wir uns offensichtlich wieder in einer Phase der Klassenkämpfe befinden, wo einerseits revolutionäre Praxis auf die Wiedergewinnung verschütteter und enteigneter Theorie weitgehend zurückgedrängt ist, zugleich aber andererseits der Kampf für kollektive Theorie-Rekonstruktion, theoriepraktische Aneignung täglich spürbar deutlicher entscheidend wird als Bedingung, den anstehenden Aufgaben und unterirdisch sich sammelnden Tendenzen, die auf spontane Kampf-Praxisformen vieler Menschen in näherer Zukunft hindrängen und deuten (siehe gerade den Sprung, den wir am 1. Mai auf der Straße erlebt haben), auch die Möglichkeit zu geben, sich effektiv zu organisieren und dabei die bürgerlichen Horizonte selbsttätig zu überschreiten. 

Dass hier Ort, Raum, Stelle da ist, dies heute vorzubereiten, könnte die Erweiterung unserer Bezeichnung in theorie praxis lokal signalisieren. Zudem drückt sie die Möglichkeit und womöglich den Anreiz aus, ähnliches an anderen Orten, in anderen Räumen aufzunehmen, was eben nicht nur lokal auf Frankfurt am Main und Region beschränkt sein muss. 

Peter Christoph 

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