Aus dem Zirkularbrief 3 von September 2001
Arbeitsgruppe Autonomer KommunistInnen in der Sozialistischen Studienvereinigung (AGAK)
Wenn die Freiheit des Profits bedroht ist, wird scharf geschossen
Erklärung zu den Ereignissen in Genua
Im Zuge der Auseinandersetzungen beim G8-Gipfel wurde am 20. Juli ein Demonstrant von der Polizei erschossen und eine weitere Demonstrantin lebensgefährlich verletzt. Nach den Schüssen von Göteborg hat damit ein weiteres Mal ein europäischer Staat unter Beweis gestellt, dass seine Polizeikräfte bereit sind, auch das Leben von Demonstrant Innen zu opfern, um sich gegen die Kritik an der Ausplünderung der Erde durch die imperialistischen Staaten und Konzerne zur Wehr zu setzen. War es auch ein einzelner Polizist, der in einer Bedrohungssituation geschossen hat, so hat jedoch die Militarisierung der Polizeimaßnahmen diesen Mord erst ermöglicht.
Der terroristische Überfall der Polizeikräfte auf das Pressezentrum des Genoa Social Forum verweist darüber hinaus auf eine koordinierte Aktion, die deutlich machen soll: Wer die Macht des Kapitals in Frage stellt, kann seines Lebens nicht mehr sicher sein.
Die Äußerungen der führenden PolitikerInnen und der bürgerlichen Medien nach der Ermordung des Demonstranten laufen wieder einmal auf eine Taktik der Spaltung zwischen »friedlichen« DemonstrantInnen und »gewaltbereiten Chaoten« hinaus. Es gibt Anzeichen dafür, dass diese Taktik teilweise aufgeht. Festgestellt werden muss jedoch demgegenüber, dass die ursächliche Gewalt die der herrschenden Klassen der imperialistischen Länder und ihrer Staatsapparate ist. Sie sind es doch, die das Gewaltmonopol für sich beanspruchen, sie haben die Definitionsmacht, was »Gewalt« sein soll und was nicht, sie üben sie aus.
Vor dem Hintergrund dieser Tatsache eine Unterscheidung zwischen »friedlichen« und »gewalttätigen« DemonstantInnen machen zu wollen, heißt nichts anderes, als auf die Propaganda der Herrschenden hereinzufallen und sich argumentativ wie in praktischer Hinsicht wehrlos zu machen gegenüber einem hochgerüsteten staatlichen Repressionsapparat. Es kann auch durchaus gefragt werden: Wie anders als mit Krawallen und Aufständen hat denn das Bürgertum seine rechtsstaatlichen Normen durchgesetzt? Der entscheidende Akt der Durchsetzung der bürgerlichen Demokratie liegt nicht in der Konstituierung der französischen Nationalversammlung, sondern in der Erstürmung der Bastille.
Dass die Staatsmacht scharf schießt, wenn die Herrschenden attackiert werden, ist allerdings nichts Neues und war der bürgerlichen Demokratie nie wesensfremd. Nichts spricht dafür, dass sich der prinzipielle Charakter der Staatsgewalt verändern würde, auch nicht in Form eines »internationalen Polizeistaats« oder einer potenziell faschistischen »Diktatur des Weltkapitals«. Wer aus den Ereignissen auf einen faschistischen »Bullenstaat« schließt, dem mit demokratischen oder anarchistischen Idealen von »Rechtmäßigkeit« und »Gerechtigkeit« zu begegnen wäre, wie es verschiedene »GlobalisierungsgegnerInnen« artikulieren, gibt sich sozialen Illusionen hin: Die Demokratur des Kapitals im Weltmaßstab ist schlimm genug.
Die aktuelle Verschärfung polizeistaatlicher Methoden ist allerdings ein Anzeichen dafür, das die »zivilgesellschaftlich«-menschenfreundliche Maske der bürgerlichen Gesellschaft einmal wieder fällt und darunter der Klassencharakter des Staates in all seiner Brutalität zutage tritt. Darüber hinaus deutet allerdings auch einiges darauf hin, dass in der gegenwärtigen Phase, wie schon des öfteren in der Geschichte des bürgerlichen Staates, die politischen »Eliten« der bürgerlichen Gesellschaft ihre eigenen oft propagierten Grundsätze und Postulate über den Haufen werfen:
- Die weithin bejubelte Auslieferung Milosevics an das Den Haager Kriegsverbrechertribunal unter Bruch sämtlicher rechtsstaatlicher Normen (wobei es übrigens völlig gleichgültig ist, wer die ausgelieferte Person ist),
- der Entzug der Reisefreiheit für potenzielle TeilnehmerInnen an den Protesten in Genua (was auf ein faktisches Demonstrationsverbot plus Einschränkung der Freizügigkeit hinausläuft,
also die Beschränkung zweier grundlegender bürgerlicher Freiheiten, die das Bürgertum seit dem 18. Jahrhundert für sich durchgesetzt hat), - die zeitweilige Aufhebung der Bestimmungen des Schengener Abkommens über die Reisefreiheit innerhalb der EU (die eben nicht die Freiheit politisch agierender BürgerInnen ist, sondern lediglich die Freiheit des Warenverkehrs),
- der Überfall der Polizeikräfte auf schlafende DemonstrantInnen, bei dem Menschen teilweise schwer verletzt wurden und andere verschleppt wurden und schlicht »verschwanden« (als handelte es sich bei dem Terrain, auf dem sie agieren, nicht um Italien 2001, sondern um das faschistische Chile 1973),
schon das sind deutliche Hinweise darauf, dass die Herrschenden sich auf die nächste Krise und auf die Niederschlagung künftig zu erwartender Proteste vorbereiten. Sie werden im Interesse der Verteidigung der ökonomischen Struktur und des Krisenbewältigungsprojekts der Kapital- und Staatengruppen notfalls auch ihre eigenen formal-demokratischen Verfahrensweisen und bürgerlichen Rechtsnormen selbst auf den Müll werfen, wenn es darauf ankommt.
Bürgerkriegsszenarien mit entsprechenden Aufstandsbekämpfungsstrategien einschließlich der Suspendierung demokratischer Grundrechte werden offensichtlich zur Zeit für den »Ernstfall« erprobt. Dies versetzt uns in die - ebenfalls nicht neue - Situation, bürgerlich-demokratische Standards und Rechte gegen das Bürgertum verteidigen zu müssen, ohne uns freilich der Illusion hinzugeben, auf dieser Grundlage eine ausreichende Kritik an den herrschenden Verhältnissen entwickeln zu können.
Auch nach den Schüssen von Genua und auch wenn wir uns selbstverständlich mit den DemonstrantInnen solidarisieren, halten wir deshalb daran fest, dass innerhalb der antikapitalistischen Linken der soziale Inhalt und die politischen Positionen, die im Rahmen der Bewegung gegen die kapitalistische »Globalisierung« eine Rolle spielen, kritisch hinterfragt werden müssen. Entscheidend scheinen uns zunächst zwei Punkte zu sein:
1. Die Proteste gegen G8-Treffen, WTO-Konferenzen und IWF-Tagungen finden statt in einer Phase, in der gleichzeitig die Linke zumindest in Europa geschwächt ist. Vor allem in der BRD ist, abgesehen von isolierten Teilbereichsauseinandersetzungen, kaum ein Hauch von sozialen Kämpfen zu spüren, und die Niederlagen der Linken sind ebenso wenig verdaut wie die kapitalistische Modernisierungsspirale, die weite Teile der ArbeiterInnenbewegung überrollt hat.
Anders als etwa in Frankreich basiert die Beteiligung an einer internationalen Bewegung gegen die gemeinsamen Institutionen der imperialistischen Blöcke daher nicht auf einer sich entwickelnden Dynamik von Klassenkämpfen, sondern scheint auf den ersten Blick gleichsam bodenlos. Solange die Teilnahme an internationalen Protestbewegungen nicht verbunden ist mit der Entwicklung konkreter Gegenmacht gegen die Herrschaft des Kapitals, die verankert ist in einer langfristig angelegten Praxis in Betrieben und Stadtteilen sowie im heutigen Alltagsleben und der gesellschaftlichen Raum-Zeit dieser konkreten Welt, solange ist sie »nicht von dieser Welt«, solange bleibt sie Bewegung für abstrakte Utopien und Ideale und kann kein Durchgangspunkt für erfolgreiche revolutionäre Bewusstwerdungs- und Vergesellschaftungsprozesse sein. Die spektakulären Kämpfe woanders wirklich unterstützen zu können, setzt voraus, die Kärrnerarbeit zuhause zu machen.
2. Vorherrschend ist in der »Anti-Globalisierungs-Bewegung« nach wie vor eine verkürzte Kapitalismuskritik, die kaum über die Skandalisierung der Machenschaften der »transnationalen Konzerne« hinauskommt und sich zum größeren Teil auf der Ebene der Kritik der »Macht des Geldes« bewegt. So wird jedoch gar nichts erklärt, sondern allenfalls dämonisiert. Der kapitalistischen Realität, wie sie ist, wird das moralisierende Ideal einer Welt, wie sie sein sollte, entgegengehalten, sonst nichts (»Die Welt ist keine Ware«).
Auf der Grundlage dieser Sichtweisen ist darüber hinaus eine potenzielle Bündnisfähigkeit mit nationalistischen, naturalistisch-biologistischen, romantisch-regressiven und sogar strukturell antisemitischen Positionen gegeben. Dagegen ist herauszuarbeiten: Es ist nicht das »internationale Finanzkapital«, »der Zins« und »die Bankenmacht«, die eine sinnvolle Kapitalismuskritik anzugreifen hat, sondern das Kapitalverhältnis als totales und komplexes Produktionsverhältnis der vergesellschafteten Menschen; nicht das Geld und »der Wert« als solcher, sondern die kapitalistische Warenproduktion, die nur als Selbstverwertung des Wertes funktioniert und die perfekteste universale Fetischform »Geld« bedingt; nicht die Macht und Verschwörung irgendwelcher »Geldmenschen«, sondern das System der Produktion um der Produktion (von Tauschwert) willen, das System der »freien« Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft, in letzter Instanz ermöglicht durch das kapitalistische Privat- und Klasseneigentum an den Produktions- und Lebensmitteln selbst. Und es gibt kein weltweit einheitliches Interesse »der« transnationalen Konzerne, sondern eine Verschärfung der Widersprüche zwischen konkurrierenden imperialistischen Gruppen und Blöcken (USA/NAFTA und BRD/EU).
Der oberflächlichen Analyse entspricht die begrenzte politische Perspektive beträchtlicher Teile der »Antiglobalisierungsbewegung«: Von der Errichtung eines europäischen Sozialstaats gegen die »Amerikanisierung« des Sozialsystems über die Verteidigung des Nationalstaats gegen das internationale Kapital bis hin zu antimodernistischen Gemeinschaftsvorstellungen reicht die Palette der propagierten Alternativen.
Gegen die alltäglichen Verbrechen des kapitalistischen Systems aber helfen weder Schuldenstreichungen noch Lobbyarbeit, sondern nur die revolutionäre weltweite Aufhebung der kapitalistischen Warenproduktion und Lohnsklaverei, der Kampf für eine klassen- und staatenlose freie Assoziation der ProduzentInnen.
Die Guten, die Brutalen und die Bösen
Ein Flugblatt aus Italien zu den G8 und dem Gegenspektakel
Alles in allem scheint es so, als sei niemand mehr wirklich für das Treffen der G8. Gemeinderäte, Assessoren, Regierungspräsidenten von Provinzen, Priester und Ex-Christdemokraten sprechen sich gegen den Gipfel aus, indirekt sogar der Papst.
Kurz gesagt, eine recht schöne Opposition, finanziert von der Regierung (3 Milliarden Lire für das Genoa Social Forum, den so genannten Gegengipfel) und gelobt von der Presse. In diesem Zirkus, der von den Parteien bis zu den Gewerkschaften, von Liliput bis Tute Bianche, vom katholischen Vereinsleben bis zu den Centri Sociali reicht, gibt es keine wirkliche Kritik am Kapitalismus. Es wird nicht selten vom Neoliberalismus gesprochen (eine ökonomische Politik, welche man/frau durch eine andere ersetzen möchte), von undemokratischen Verhandlungstreffen (falsch: sie sind genauso demokratisch wie die Parlamente), von reichen und armen Ländern (die Klassen, wissen wir ja, existieren nicht mehr...) und ebenso von »wilder« Wirtschaft (welche allerdings von klugen Gesetzgebern rasch geregelt würde). Gegen die so genannte Diktatur der Märkte und der Multinationalen wird mehr Macht und Einfluss für die Staaten gefordert, notorische Verteidiger der Armen und Unterdrückten (wie das Polizeiaufgebot im Fall Genua zeigt).
Diese Opposition, die sich so gern ins Scheinwerferlicht setzt, verpasst keine Gelegenheit, ihre guten Absichten zu erklären und ihre realistischen Vorschläge zu präsentieren: etwa eine demokratisch gewählte UNO (für schön demokratische Kriege), die Kontrolle der Bürger über die Multis (in einer Zeit, in der erstere nicht mal kontrollieren, was sie denken oder essen), eine Steuer von null Komma irgendwas Prozent, um damit die Finanztransaktionen zu belegen (ein solcher Fonds, selbstverständlich vom Staat verwaltet, würde mit Bestimmtheit die Schicksale der Armen auf der Welt lindern und die Börse zum Absturz bringen...) und andere gigantische Verarschungen. Es ist mehr als wahrscheinlich, dass angesichts solcher Forderungen und Vorschläge auch die blödeste Regierung zu einem Dialog bereit ist.
Dialog ist das Zauberwort, das immer eindringlicher überall auftaucht. Um die wahren Gründe eines Kampfes gegen Staat und Kapital zu verbergen, anerkennt die Regierung die fiktiven Motive der falschen Oppositionellen, indem sie diese an den Verhandlungstisch holt.
Aber gegen jene, die mit Leuten, welche MigrantInnen ohne Papiere einsperren und abschieben, die im Namen der Menschlichkeit bombardieren, ausbeuten und die Welt täglich verrohen, nicht diskutieren wollen, sind Gummiknüppel der Polizei bereit, werden nun schon zum wiederholten Mal Schusswaffen eingesetzt, um ein paar von ihnen zu ermorden, um ihre Leben zu gefährden und um Überlebende und Ferngebliebene einzuschüchtern. Gegen jene die diese auf Autorität und Geld gründende Gesellschaft, in der zwischen Wirtschaft und Politik keinerlei Trennung auszumachen ist, zerstören wollen, wird die Kriminalisierung durch die Medien eingesetzt.
Während die Guten für ein System arbeiten, welches zu bekämpfen sie vorgeben, sind wir mit den und für die Bösen, mit denen, welche die Aushungerer und ihre Diener angreifen.
Das G8-Spektakel ist nur Rauch in den Augen, ein Treffen, wo anderenorts gefällte Entscheidungen formalisiert werden, der Vorwand für ein großes burleskes Experiment (eine abgeriegelte Stadt, eine jeder Quälerei ausgesetzte Bevölkerung). Schon zu Anfang wurden mehr als fünfzig Hausdurchsuchungen zum Schaden von AnarchistInnen und Autonomen in ganz Italien durchgeführt. Sie können ganz beruhigt sein, die Bonzen und ihre Herrschaftsbüttel, ob der spontanen sozialen Rebellion, weit weg von Journalisten, Investoren und von allen Leaders:
G8 ist jeden Tag und überall!
EINIGE ANARCHISTiNNEN