Aus dem Zirkularbrief 3 von Juli/August 2001

Bericht vom »Lektüre-Nachmittag Psychoanalyse IV« am 9. Juni

Otto Fenichel, »Über einige Differenzen zwischen mir und W. Reich in analytischen Auffassungen«

Dieser Text (Vortrag in Prag, Anfang Juli 1934, Manuskript »nur für den Hausgebrauch« an die Mitglieder des »Fenichel-Kreises«, veröffentlicht im Anhang zu Band 1 der Stroemfeld-Ausgabe Otto Fenichel: 119 Rundbriefe 1934-1945, Frankfurt/Basel 1998, S. 811–841) bezieht sich noch nicht direkt auf die »gesellschaftswissenschaftlichen und politischen Ansichten«, wie Fenichel zu Anfang betont.

In dieser Selbstbeschränkung »auf die reine Psychoanalyse« kommt schon die strenge Trennung zum Ausdruck zwischen »Psychoanalyse als Keim einer künftigen dialektisch-materialistischen Psychologie« einerseits und marxistischer Gesellschaftswissenschaft oder »Soziologie« als historischem Materialismus andererseits. Oder methodologisch gesagt: zwischen »Naturwissenschaft« und »Gesellschaftswissenschaft« bzw. »Wissenschaft der Geschichte«.

Damit ist bereits ein Grundproblem der Methode der kommunistischen Psychoanalytiker/innen angesprochen: Lässt sich eine solche Trennung überhaupt durchführen? Führt nicht das Beharren auf der biologischen, »biopsychischen« Natur des Triebwesens Mensch/Psyche schon zu einer »naturalistischen«, biologistischen Sichtweise – wie es heute von »links« der klassisch-freudianischen Schule üblicherweise vorgeworfen wird?

Die »Geheimen Rundbriefe« des »Fenichel-Kreises« dokumentieren vor allem in ihrem USA-Teil (1938-1945) die Anfänge und Entwicklung dieses Streits, in dem vor allem die »Freud-Dissidentin« Karen Horney und der »soziologistische« Psychoanalytiker Erich Fromm (der sich aufgrund dessen auch mit der »Frankfurter Schule« um Horkheimer und Adorno, an deren Institut für Sozialforschung er in der ersten Zeit seiner US-Emigration zunächst mitarbeitete, überwarf) im Zentrum der Auseinandersetzung standen.

Auf der anderen Seite grenzt sich aber Fenichel ebenso entschieden gegen einen Drall zum Biologismus bei Wilhelm Reich ab, der die Psychoanalyse bald nur noch auf »Sexualökonomie« reduziert und in eine Bio-Kosmogonie »aufzuheben« strebt.

Fenichel versucht demgegenüber mit streng »naturwissenschaftlicher« - wir sollten vielleicht besser einfach sagen: mit wissenschaftlicher – Exaktheit eine dialektische Methode in der Psychoanalyse zum Leben zu erwecken, die er in der Grundlegung dieser Wissenschaft bei Freud zwar angelegt sieht, die er aber – z. T. auch schon vor Freuds eigenen bürgerlich-ideologischen Blockierungen -, erst recht vor der Verdrängung und Anpassung der Mainstream-Psychoanalyse seit spätestens den 1930er Jahren zu retten versucht.

Von daher seine »strenge« Beschränkung auf »die reine Psychoanalyse«: eine – wie schon Freud sie sah – Art Zwillingsschwester der Medizin, »nur« mit dem Unterschied, dass das Psychische immer zugleich auch »das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse« verkörpert.

Der Text bietet uns von daher den Vorteil, die Positionierung einer kommunistischen Psychoanalyse als Verteidigung von Freud auch gegen Freud, d. h. Rettung des Wissenschaftlers Freud vor dem Bürger Freud, ebenso zu beobachten wie die Rettung des Wissenschaftlers Reich vor dem »Wahren Sozialisten« und schematistischen Pseudowissenschaftler, der sich damals schon zum »Lenin der Psychoanalyse« zu stilisieren versucht (wie Fenichel meint).

Revolutionär und der kommunistischen Bewegung dienlich kann nach Auffassung des Fenichel-Kreises eben nur eine Psychoanalyse werden, die allererst durch wissenschaftliche Korrektheit überzeugt und standhält, die als »Naturwissenschaft« ihre gesellschaftlichen Aussagen streng begrenzt und niemals überschätzt, sprich: niemals »psychologisierend« auf Gesellschaftliches überträgt und projiziert; die aber gleichwohl als borniert begreift, was Freud einmal gegen den »revolutionären« Dissidenten Gross als Warnung ausgesprochen hat: »Wir sind Ärzte und wollen Ärzte bleiben.«

Die Sprache ist sehr trocken (im Gegensatz zu der feurigen, faszinierenden Prosa Reichs), dafür auch klar und sachlich. Schwieriger für heutige, nicht mit der »orthodoxen« psychoanalytischen Fachterminologie vertraute Leser/innen ist eher das Begriffsfeuerwerk in dem internen Dokument. Dafür bietet dieser Text eine Dichte und Systematik, die zu erschließen sich lohnt, weil darin alle wichtigen, entscheidenden Begrifflichkeiten und Problemkomplexe der emanzipatorischen Psychoanalyse durchdekliniert werden. Es lohnt also, einzelnen Fachausdrücken nachzusteigen - z. B. mit »Das Vokabular der Psychoanalyse« von Laplanche und Pontalis.

Sollte der Text »Über einige Differenzen ...« für eine Nachmittagslektüre zu lang sein, empfiehlt sich als 15-Seiten-Einstieg folgender Auszug:

Einleitung: S. 811; Todestrieb: S. 812-820; Notwendigkeit der Triebunterdrückung: S. 828–831; wissenschaftliche Systematik: S. 838-841.

Peter Christoph

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