Aus dem Zirkularbrief 2, Juni 2001

Bericht vom Tagesseminar am 5. Mai 2001:

Warenproduktion und Übergangsgesellschaft 

Um das Thema angemessen diskutieren zu können, haben Peter Christoph und Nadja Rakowitz eine umfangreiche Textsammlung zusammengestellt, anhand derer diskutiert werden sollte. Da schon bei der Zusammenstellung klar wurde, dass wir diese Massen an Text nicht an einem Nachmittag bewältigen konnten, schlugen wir zu Anfang vor, das Problem zunächst von seiner »ökonomischen« Seite her anzugehen, also das Problem des Werts und der »Ökonomie der Zeit« zu diskutieren, um dann in einem nächsten Schritt die Frage nach dem politischen Übergang, der »Diktatur des Proletariats« auf der einen Seite und das Problem der Subjektivität und der Konstituierung von Klasse und Klas-senbewusstsein auf der anderen Seite diskutieren zu können. 

Wir begannen das Seminar mit der Diskussion eines Briefs von Marx vom 11. Juli 1868 an Ludwig Kugelmann, in dem er von der »Notwendigkeit der Verteilung der gesellschaftlichen Arbeit in bestimmten Proportionen« spricht, die »durchaus nicht durch eine bestimmte Form der gesellschaftlichen Produktion aufgehoben« sei, sondern »nur ihre Erscheinungsweise ändern kann«. Wie dies für eine nicht-kapitalistische Gesellschaft zu denken und wie es bei Marx gemeint sei, war auch die Diskussion, die sich an der berühmten Passage aus Kapital Bd. I zum »Verein freier Menschen« (S. 92 f.) zwischen uns entwickelte. Hier wird eine Gesellschaft beschrieben, in der sich alle »Bestimmungen von Robinsons Arbeit wiederholen..., nur gesellschaftlich statt individuell«. Gesellschaftliche Planung der Ökonomie wird hier folgendermaßen vorgestellt: »Ihre gesellschaftlich planmäßige Verteilung regelt die richtige Proportion der verschied-nen Arbeitsfunktionen zu den verschiednen Bedürfnissen.« Es gibt aber noch eine weitere Bestimmung: »Andrerseits dient die Arbeitszeit zugleich als Maß des individuellen Anteils des Produzenten an der Gemeinarbeit und daher auch an dem individuell verzehrbaren Teil des Gemeinprodukts.« 

Wie verhalten sich diese beiden Bestimmungen zueinander? Gehören sie - notwendig - zusammen oder widersprechen sie sich? Sind dies schon die Bestimmungen einer kommunistischen Gesellschaft oder sind sie noch bürgerlich beschränkt, wie Marx dies in der Kritik des Gothaer Programms schreibt? Diese Fragen zogen sich im Seminar durch den ganzen Nachmittag und wurde auch nicht »gelöst«, sondern an jedem weiteren Text weiterdiskutiert und präzisiert. Es war auch nicht unsere Absicht, hier eine fertige Antwort auf diese – wie wir meinen – theoretisch wie praktisch sehr grundsätzlichen Fragen geben zu können. Es ging uns darum, die Fragen genauer formulieren und den Dissens unter uns genauer bestimmen zu können. 

Dies wurde am nächsten Text noch schwieriger. In der »Kritik des Gothaer Programms« nimmt Marx nämlich wieder beide Bestimmungen auf: »Die individuelle Arbeitszeit des einzelnen Produzenten ist der von ihm gelieferte Teil des gesellschaftlichen Arbeitstags, sein Anteil daran. Er erhält von der Gesellschaft einen Schein, daß er soundsoviel Arbeit geliefert ... und zieht mit diesem Schein aus dem gesellschaftlichen Vorrat von Konsumtionsmitteln soviel heraus, als gleich viel Arbeit kostet.« (S. 20) Diese Vorstellung Lassalles wird in diesem Text zwar von Marx als »mit einer bürgerlichen Schranke behaftet« kritisiert, da sie auf der gleichen Vorstellung wie das bürgerliche gleiche Recht basiert. Es sei, so Marx, »ein Recht der Ungleichheit, seinem Inhalt nach, wie alles Recht ... Um alle diese Mißstände zu vermeiden, müßte das Recht, statt gleich, vielmehrungleich sein.« 

Dass hier eine Kritik formuliert wird, war im Seminar Konsens; unklar war und blieb aber, was die anschließende Bemerkung von Marx dazu zu bedeuten habe. Er stellt hier nämlich fest, dass diese »Mißstände ... unvermeidbar (sind) in der ersten Phase der kommunistischen Gesellschaft, wie sie eben aus der kapitalistischen Gesellschaft nach langen Geburtswehen hervorgegangen ist« (S. 20 f.). 

Die Frage war für uns also nun, ob diese bürgerlich beschränkten Formen, die doch auch noch sehr an die Vorstellungen von Proudhon erinnern, von Marx trotz aller Kritik als Übergangsform zur kommunistischen Gesellschaft verstanden worden sind. Wie wäre dann aber die Kritik an Proudhon bzw. dem Proudhonismus einzuschätzen? Auch hierüber konnten wir uns nicht einigen. Anhand ein paar ausgewählter Passagen aus der Proudhon-Kritik in den »Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie« versuchten wir zunächst einmal, zu rekonstruieren, was der springende Punkt der Kritik an der Arbeitswertlehre Proudhons denn ist. Hier kamen wir wieder auf das Problem der Ökonomie der Zeit zurück, worin »sich schließlich alle Ökonomie« auflöst, wie Marx in den »Grundrissen« schreibt (S. 105). »Ökonomie der Zeit sowohl wie planmäßige Verteilung der Arbeitszeit auf die verschiednen Zweige der Produktion bleibt also erstes ökonomisches Gesetz auf der Grundlage der gemeinschaftlichen Produktion.« (S. 105.) 

Auf der anderen Seite versteht sich bei Marx von selbst, dass die »unmittelbare Arbeitszeit selbst nicht in dem abstrakten Gegensatz zu der freien Zeit bleiben kann«, denn »die freie Zeit, die sowohl Mußezeit als Zeit für höhre Tätigkeit ist... hat ihren Besitzer natürlich in ein andres Subjekt verwandelt, und als dies andre Subjekt tritt er dann auch in den unmittelbaren Produktionsprozeß« (S. 607). 

Mit der Diskussion der Arbeit und ihrer Veränderung bzw. Kritik bei Marx, der Arbeitsteilung und auch der Arbeitswertlehre wollen wir das Seminar am Samstag, dem 16. Juni (14 Uhr) fortsetzen, um dann auch vorzustoßen in die oben genannten anderen Ebenen.

Nadja Rakowitz  

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