Karl Marx, Zur Judenfrage, MEW 1, S. 361 – 370
Marx’ Kritik der »sogenannten Menschenrechte«
Bruno Bauer behauptet, dass »der Jude« die »sogenannten Menschenrechte« (Marx) nicht in Empfang nehmen könne. Sein Wesen als Jude zwinge ihn in Absonderung von den anderen Menschen zu leben, was mit den Menschenrechten unvereinbar sei. Marx zieht die Deklaration der Menschenrechte aus ihren Entstehungsländern, Frankreich und den Vereinigten Staaten heran, um diese Behauptung zu prüfen. Er kommt zu dem Ergebnis, dass die Menschenrechte und die Glaubensfreiheit nicht unvereinbar miteinander sind, wie dies Bauer behauptet hatte, sondern, dass vielmehr die Glaubensfreiheit ein Menschenrecht ist. »Das Privilegium des Glaubens ist ein allgemeines Menschenrecht.« (S. 363) Um dies zu belegen zitiert er aus den entsprechenden Verfassungen und Deklarationen.
Im Folgenden untersucht Marx die Menschenrechte (droits de l’homme) und die von ihnen unterschiedenen Staatsbürgerrechte (droits du citoyen). In den Verfassungen wird aus dem Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft der »homme«, der »Mensch schlechthin«. Seine Rechte, also des Menschen als Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, werden Menschenrechte genannt. Marx erklärt dies aus dem Verhältnis der bürgerlichen Gesellschaft zum politischen Staat. Die Menschenrechte sind nichts anderes, als die Rechte des Mitglieds der bürgerlichen Gesellschaft, »d.h. des egoistischen, des vom Menschen und vom Gemeinwesen getrennten Menschen.« (S. 364) Um dies zu belegen zieht Marx die »radikalste Konstitution« der französischen Revolution, die Verfassung von 1793 heran. Diese proklamiert »Gleichheit, Freiheit, Sicherheit, Eigentum« als »natürliche und unabdingbare Rechte«.
1. Freiheit
Im Sinne der Verfassung von 1793 und der Deklaration der Menschenrechte von 1791 bedeutet Freiheit, das Recht, alles tun zu dürfen, was keinem anderen schadet. Die Grenze der eigenen Freiheit ist durch das Gesetz markiert. Marx kritisiert und beschreibt dies zugleich in dem er sagt: »Es handelt sich um die Freiheit des Menschen als isolierter und auf sich zurückgezogener Monade.« (S. 364) Bauer argumentiert, dass der Jude unfähig sei, die Menschenrechte in Empfang zu nehmen, weil sein jüdisches Wesen ihn zur Absonderung zwinge. Marx stellt fest, dass nicht das »jüdische Wesen« die Absonderung hervorruft, sondern das Menschenrecht der Freiheit auf der gegenseitigen Absonderung beruht. »Es ist das Recht dieser Absonderung, das Recht des beschränkten, auf sich beschränkten Individuums.« (S. 364)
2. Privateigentum
Das Privateigentum ist »die praktische Nutzanwendung des Menschenrechts der Freiheit«. (S. 364) Die Verfassung von 1793 beschreibt es in Artikel 16 als das Recht, seine Güter, Einkünfte, Früchte seiner Arbeit und seines Fleißes zu genießen und willkürlich darüber zu disponieren. Wie das Menschenrecht der Freiheit ist es ein Recht, das willkürlich, also ohne Beziehung auf andere Menschen, unabhängig von der Gesellschaft genossen werden kann. Es ist also ein Recht des Eigennutzes. Die Freiheit und ihre Nutzanwendung, das Privateigentum, »bilden die Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft. Sie lässt jeden Menschen im anderen Menschen nicht die Verwirklichung, sondern vielmehr die Schranke seiner Freiheit finden.« (S. 365)
3. Gleichheit
Die Gleichheit wird hier in ihrer nicht-politischen Bedeutung behandelt. Sie ist die Gleichheit der »Freiheit«. Jeder Mensche wird »gleichmäßig als solche auf sich ruhende Monade betrachtet.« (S. 365) Das gleiche Gesetz gilt für alle, egal, ob es beschützt oder bestraft (Verfassung von 1795, Art. 3).
4. Sicherheit
Der Artikel 8 der Verfassung von 1793 beschreibt die Sicherheit als den Schutz, den die Gesellschaft jedem Mitglied in Bezug auf seine Person, seine Rechte und sein Eigentum gewährt. Die Sicherheit ist nach Marx »der höchste soziale Begriff der bürgerlichen Gesellschaft…dass die ganze Gesellschaft nur da ist, um jedem Mitglied die Erhaltung von Person, Recht und Eigentum zu garantieren.« (S. 365f) Die Sicherheit geht nicht über die anderen Rechte hinaus, sie »ist vielmehr die Versicherung ihres Egoismus.« (S. 366)
Kein »sogenanntes Menschenrecht« geht über den egoistischen Menschen, d.h. den Menschen als Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, hinaus. Marx bezeichnet den Menschen der »Menschenrechte« als »das vom Gemeinwesen abgesonderte Individuum«. Der Mensch, so seine Kritik, wird nicht als »Gattungswesen« aufgefasst, sondern das Gattungsleben, die Gesellschaft, als ein dem Individuum äußerlicher Rahmen, als Beschränkung ihrer ursprünglichen Selbständigkeit. Einigendes Band ist einzig die Naturnotwendigkeit (nämlich nur in Gesellschaft produzieren und existieren zu können), das Bedürfnis, das Privatinteresse, die Bewahrung der Eigentumsverhältnisse und ihrer eigenen egoistischen Person. (S. 366)
Marx beschreibt im Folgenden den historischen Prozess der Überwindung der feudalen Gesellschaft. Auf den ersten Blick scheint dieser paradoxe Resultate zu Stande gebracht zu haben. Alle Barrieren (Stände, Privilegien etc.) zwischen den verschiedenen Gliedern der Bevölkerung wurden niedergerissen, aber zugleich die Absonderung des Menschen vom Menschen feierlich proklamiert. Das politische Gemeinwesen wurde zum bloßen Mittel der Erhaltung der Menschenrechte herabgesetzt und der »citoyen« zum bloßen Diener des egoistischen »homme« gemacht. Die Sphäre, in der sich der Mensch als Gemeinwesen verhält, wurde unter die Sphäre, in der er sich als Teilwesen verhält, gestellt. Nicht der »citoyen«, sondern der »bourgeois« wurde als der eigentliche und wahre Mensch, als »homme«, angesehen. Und schließlich stand die revolutionäre Praxis in flagrantem Widerspruch zu ihrer eigenen Theorie. Letzteres verdeutlicht Marx am Widerstreit zwischen »Sicherheit« und »Freiheit«, der während der französischen Revolution offen zu Tage tritt. Das Menschenrecht der »Sicherheit«, also die Theorie, wurde in der Praxis durch die Aufhebung des Briefgeheimnisses verletzt. Ebenso verhielt es sich mit der von Robespierre aufgehobenen Pressefreiheit als Konsequenz der individuellen Freiheit. Die praktische Durchführung der Theorie ist der Zweck der Regierung, d.h. die Politik ist nur ein Mittel. Die Erklärung der Menschenrechte von 1791 stellt dies im zweiten Artikel ausdrücklich fest:
»Das Ziel aller politischen Vereinigung ist die Erhaltung der natürlichen und unabdingbaren Menschenrechte.«(S. 367, Fußnote 1) Ebenso die Erklärung der Menschenrechte von 1793. In deren ersten Artikel hieß es: »Die Regierung ist eingesetzt, um dem Menschen den Genuß seiner natürlichen und unabdingbaren Rechte zu verbürgen.«(ebd.)
Die Praxis der Regierung verstieß wie gezeigt gegen diesen Auftrag. In beiden von Marx angeführten Fällen war das Menschenrecht kein Recht mehr, weil es in Konflikt mit dem politischen Leben geriet. »Aber die Praxis [das Verletzen der Menschenrechte, MW] ist nur die Ausnahme und die Theorie die Regel.«(S. 367)
Angenommen die revolutionäre Praxis, das Verletzen der Menschenrechte durch die Politik, würde das richtige Verhältnis darstellen, dann bliebe die Frage, warum die Verkehrung im Kopf entsteht, warum die Politik in den Verfassungen und Deklarationen als Mittel zur Durchsetzung der Menschenrechte bezeichnet wird.
»Das Rätsel löst sich einfach. Die politische Emanzipation ist zugleich die Auflösung der alten Gesellschaft, auf welcher das dem Volk entfremdete Staatswesen, die Herrschermacht, ruht. Die politische Revolution ist die Revolution der bürgerlichen Gesellschaft.« (S. 367) In der feudalen Gesellschaft war das soziale Verhältnis, das auch als alte bürgerliche Gesellschaft bezeichnet wird, unmittelbar das politische Verhältnis der Menschen. Besitz, Familie und Art der Arbeit fanden unmittelbare Entsprechung in den politischen Formen, dem Stand, der Grundherrlichkeit und der Korporation. Das besondere Verhältnis zum Staatsganzen, z.B. als Mitglied einer Korporation, war gleich dem allgemeinen Verhältnis zum »Volksleben«. Dem »Volk« erschien deshalb die Herrschaft auch als eine besondere Angelegenheit.
Die politische Revolution beseitigte die Herrschermacht und machte die Staatsangelegenheiten zu »Volksangelegenheiten«. Der politische Staat wurde von einer besonderen zu einer allgemeinen Angelegenheit, indem alle Stände, Zünfte, Korporationen, Innungen und Privilegien, die mit einer besonderen politischen Stellung verbunden waren, aufgelöst wurden. »Die politische Revolution hob damit den politischen Charakter der bürgerlichen Gesellschaft.«(S. 368) Übrig blieben ihre einfachen Bestandteile, »einerseits [] die Individuen, andererseits [] die materiellen und geistigen Elemente, welche den Lebensinhalt, die bürgerliche Situation dieser Individuen bilden.«(S. 368) In seinen späteren Schriften wird Marx diesen Prozess genauer beschreiben und von der Herstellung des Kapitalverhältnisses sprechen. Dies ist kein natürliches. Es beinhaltet einerseits den »doppelt freien Arbeiter«, »frei in dem Doppelsinn, dass er als freie Person über seine Arbeitskraft als seine Ware verfügt, dass er andrerseits andre Waren nicht zu verkaufen hat, los und ledig, frei ist von allen zur Verwirklichung seiner Arbeitskraft nötigen Sachen« und andererseits privaten Besitz der gesellschaftlichen Produktionsmittel.
Nach diesem Umwälzungsprozess hatten die bestimmte Lebenstätigkeit und die bestimmte Lebenssituation nur noch individuelle Bedeutung. Sie bestimmten nicht mehr das allgemeine Verhältnis des Individuums zum Staat. »Allein die Vollendung des Idealismus des Staats war zugleich die Vollendung des Materialismus der bürgerlichen Gesellschaft.« (S. 369) Die in der feudalen Gesellschaft herangewachsene Bourgeoisie kann erst zur Macht gelangen und sich voll entfalten, wenn sie den Staat zur allgemeinen Angelegenheit erhebt, wenn jeder besondere Einfluss auf den Staat aufgehoben wird. »Dennoch ist mit der politischen Annullation des Privateigentums das Privateigentum nicht nur nicht aufgehoben, sondern sogar vorausgesetzt.« (S. 354) Was nämlich sozial nicht existiert, braucht auch nicht politisch aufgehoben zu werden. Der Zensus war der letzte Ausdruck der politischen Anerkennung des Privateigentums. In der bürgerlichen Gesellschaft werden die sozialen Unterschiede im Bezug auf die Politik aufgehoben. Dadurch hören sie aber nicht auf zu »wirken und ihr besonderes Wesen geltend [zu] machen.«(S. 354) Herrschaft und Macht werden also nicht mehr durch die politische Anerkennung des Privateigentums hergestellt, sondern umgekehrt, durch das Abstrahieren vom Privateigentum, durch die Behandlung als »unpolitische[n] Unterschied«(S. 354).
Die Herrschermacht des Monarchen wurde als »politisches Joch« empfunden. Dessen Beseitigung war zugleich »die Abschüttelung der Bande, welche den egoistischen Geist der bürgerlichen Gesellschaft gefesselt hielten.«(S. 369) Im Kommunistischen Manifest schreibt Marx über den Auflösungsprozess der feudalen Gesellschaft: »Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seine natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen, als das nackte Interesse, als die gefühllose »bare Zahlung«. Sie hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt. Sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt. Sie hat, mit einem Wort, an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung, die offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung gesetzt.« Die feudale Gesellschaft wurde in ihren Grund, den Menschen, der nicht mehr als »Herrscher von Gottes Gnaden« angesehen wurde, aufgelöst. Aber diese Auflösung war die Auflösung in den wirklichen Grund, den egoistischen Menschen. Dies ist nicht als Naturalisierung eines bestimmten gesellschaftlichen Verhältnisses zu verstehen. Marx spricht nicht abstrakt vom Menschen, der von Natur egoistisch ist, sondern vom wirklichen Menschen, also dem Menschen wie er in der bürgerlichen Gesellschaft wirkt. Die Vorstellung eines abstrakt menschlichen Wesens lehnt er ab. In den Feuerbachthesen heißt es deshalb: »Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum inwohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.«
Marx bezeichnet den Menschen der bürgerlichen Gesellschaft, als Basis oder Voraussetzung des politischen Staates. Der Staat hat den »bourgeois« in den Menschenrechten anerkannt und es sich zur Aufgabe gemacht, Mittel zu seine Erhaltung zu sein. Weil die gesellschaftliche Basis der bürgerlichen Gesellschaft durch die bürgerliche Revolution unangetastet blieb, konnte die politische Revolution nur die Glaubensfreiheit, nicht aber die Befreiung von der Religion bringen. Ebenso konnte nur die Freiheit des Eigentums, nicht aber die Befreiung vom Eigentum erreicht werden. Und statt der Befreiung vom Gewerbe, nur die Gewerbefreiheit.
Die Konstitution des politischen Staates und die Auflösung der alten bürgerlichen Gesellschaft ( der feudalen bürgerlichen Gesellschaft) in die unabhängigen Individuen, deren Verhältnis sich im Recht ausdrückt, vollzog sich in ein und demselben Akt. Die sich durch das ganze Werk von Marx ziehende Kritik an der Naturalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse, die im Fetischcharakterkapitel des Kapitals auf den Punkt gebracht wird, zeigt sich bereits in diesem Text. Es scheint nämlich, als sei der Mensch, als Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft, als unpolitischer Mensch, der »natürliche« Mensch und die Menschenrechte »droits naturelles«. Die von Marx zitierten Deklarationen der Menschenrechte und Verfassungen sprachen immer von den »natürlichen und unabdingbaren« Rechten des (!) Menschen. In seiner Proudhonkritik »Das Elend der Philosophie« schreibt Marx dazu: »Die Ökonomen verfahren auf sonderbare Art. Es gibt für sie nur zwei Arten von Institutionen, künstliche und natürliche. Die Institutionen des Feudalismus sind künstliche Institutionen, die der Bourgeoisie natürliche. Sie gleichen darin den Theologen, die auch zwei Arten von Religionen unterscheiden. Jede Religion, die nicht die ihre ist, ist eine Erfindung der Menschen, während ihre eigene Religion eine Offenbahrung Gottes ist. […] Somit sind diese Verhältnisse [der bürgerlichen Gesellschaft, MW] selbst von dem Einfluss der Zeit unabhängige Naturgesetze. Es sind ewige Gesetze, welche stets die Gesellschaft zu regieren haben. Somit hat es eine Geschichte gegeben, aber es gibt keine mehr.« Der Schein der Natürlichkeit entsteht, weil die »selbstbewusste Tätigkeit« sich auf den politischen Akt, die politische Revolution, konzentrierte. »Der egoistische Mensch ist das passive, nur vorgefundene Resultat der aufgelösten Gesellschaft, Gegenstand der unmittelbaren Gewissheit, also natürlicher Gegenstand.« (S. 369) Die begriffe »selbstbewusste Tätigkeit« und »unmittelbare Gewissheit« sind Kategorien aus Hegels »Phänomenologie des Geistes«. Die »unmittelbare Gewissheit« bezeichnet das Unvermögen über den bloßen Schein der Dinge hinaus ihr Wesen zur erblicken. Die Vermittlung, also der Prozess der Entstehung des Gegenstandes, ist auf dieser Ebene noch nicht bewusst. Die politische Revolution war die Auflösung des feudalen bürgerlichen Lebens in seine Bestandteile ohne diese selbst zu revolutionieren und der Kritik zu unterwerfen, um an ihre Stelle den »Verein freier Menschen« oder »eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden, die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist« , zu setzen. Die politische Revolution verhält sich zur »Grundlage ihres Bestehens«, der bürgerlichen Gesellschaft, der Welt der Bedürfnisse, der Arbeit, der Privatinteressen, dem Privatrecht, als zu einer nicht weiter begründeten Vorraussetzung, als zu ihrer »Naturbasis«.
Es interessiert also nur »was ist«, nicht aber wie es wurde. Bei Marx liegt deshalb immer auch der Blick auf der Entstehung der gesellschaftlichen Verhältnisse, z.B. auf der »ursprünglichen Akkumulation«, dem blutigen Prozess der Entstehung kapitalistischer Produktionsverhältnisse.
Der Text wiederholt nun scheinbar das Motiv des »homme«, der fälschlicherweise als »eigentlicher Mensch« angesehen wird. Er wird dies, »weil er der Mensch in seiner sinnlichen individuellen nächsten Existenz ist, während der politische Mensch nur der abstrahierte, künstliche Mensch, der Mensch als eine allegorische, moralische Person«(S. 370) ist. Der »wahre Mensch« wird als abstrakter »citoyen« und der »wirkliche Mensch« als egoistisches Individuum anerkannt.
Zum Schluss des ersten Teils wird die Emanzipation von den beschränkten Verhältnissen der bürgerlichen Gesellschaft diskutiert. Um Missverständnis zu vermeiden, muss darauf hingewiesen werden, dass Marx die politische Emanzipation und die bürgerliche Gesellschaft auch als Fortschritt betrachtet: »Die politische Emanzipation ist allerdings ein großer Fortschritt, sie ist zwar nicht die letzte Form der menschlichen Emanzipation überhaupt, aber sie ist die letzte Form der menschlichen Emanzipation innerhalb der bisherigen Weltordnung.«(S. 356) Emanzipation bedeutet die Zurückführung der menschlichen Welt, der Verhältnisse, auf den Menschen selbst.
Die politische Emanzipation ist die Reduktion des Menschen auf das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, auf das egoistische Individuum einerseits und den Staatsbürger, die moralische Person, andererseits. Es findet also eine Trennung, Spaltung oder Sonderung der Menschen in und durch die verschiedenen Sphären statt.
Menschliche Emanzipation würde verlangen, dass der wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger als Ausdruck der Trennung in sich zurücknimmt, sie aufhebt und zugleich in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, Gattungswesen wird. Der nur gesellschaftlich produzieren könnende Mensch, muss die Produktion nicht mehr individuell und privat, sondern bewusst gesellschaftlich regeln. Kapitalistische Produktion ist zwar in höchstem Maße gesellschaftlich und arbeitsteilig, allerdings in »ungesellschaftlicher« Form. Sie ist »Privatarbeit in unmittelbar gesellschaftlicher Form«. Um das, was Marx menschliche Emanzipation nennt, erreichen zu können, muss der Mensch seine eigenen Kräfte als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert haben und die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in Form der politischen Kraft von sich trennen. Das setzt allerdings die bewusste und planmäßige Produktion assoziierter und freier Menschen voraus, ist also mit kapitalistischer Warenproduktion, mit Markt und dem Privateigentum an den gesellschaftlichen Produktionsmitteln nicht zu machen. Marx kann das alles in diesem Text nur andeuten, nicht aber exakt ausdrücken, weil die »Kritik der politischen Ökonomie« von ihm noch nicht angegangen wurde.