Arbeitsblatt zum Seminar »Antikapitalismusphantasien der Nazis«

Welchen Beitrag kann die »Kritik der politischen Ökonomie« zur Erklärung des NS-Antikapitalismus leisten?

1. Die »Kritik der politischen Ökonomie« erklärt, wie die verkehrten Vorstellungen aller an der kapitalistischen Produktionsweise Beteiligten über diese selbst entstehen. Sie erklärt sie aus der historisch-spezifischen Form des Arbeitsprozesses in Gesellschaften mit kapitalistischer Produktionsweise. Vereinfacht gesagt, erzeugt eine bestimmte Art des Produzierens in den Köpfen der Produzenten falsche Vorstellungen über dieses Produzieren. Es sind unmittelbar notwendig verkehrte Vorstellungen, die den Produzenten die Struktur ihrer eigenen ökonomischen Praxis nicht offenbaren. Umso mehr das Bewusstsein an der oberflächlichen Erscheinung klebt, umso naturgemäßer und abstrakter Spinnerei fern, dünkt es sich.

2. Für jede im »Kapital« behandelte Kategorie zeigt Marx, wie sie den Produzenten zu Bewusstsein kommt, worin die Differenz zwischen diesem Bewusstsein und der nicht erscheinenden Struktur ihrer Praxis besteht, und warum dies so ist.

3. Die Darstellung im »Kapital« beginnt mit der »einzelnen Ware«, die, um vorherrschende Form des Arbeitsproduktes in einer Gesellschaft zu sein, jedoch die Trennung der unmittelbaren Produzenten von den gesellschaftlichen Produktionsmitteln, also Klassenverhältnisse, voraussetzt. Von diesen muss am Anfang jedoch abstrahiert werden, da ihr Begriff den Begriff der einfacheren Warenform zur Bedingung hat.

4. Fasst man die Wertform der Arbeitsprodukte als Naturform gesellschaftlicher Produktion auf, übersieht man notwendigerweise nicht nur ihre historische Besonderheit, sondern auch die der Geldform, Kapitalform etc.

5. Der Fetischcharakter der Ware besteht darin, dass ein gesellschaftliches Produktionsverhältnis als Natureigenschaft eines Dinges, der Ware, erscheint. Er entspringt aus dem eigentümlichen Charakter der Arbeit, welche Waren produziert. Weil gesellschaftliche Produktion in privater Form den Warenaustausch (konkreter: die Zirkulation) als Vermittlung benötigt, erscheinen an den dinglichen Vermittlern die gesellschaftlichen Verhältnisse. Diese verkehrte Vorstellung ist die richtige unmittelbare Wiederspiegelung der Erscheinung der realen Verhältnisse im Kopf der Produzenten. Es ist eine verkehrte, fetischistische Praxis, die ein fetischistisches Bewusstsein erzeugt. Die gesellschaftlichen Verhältnisse als Verhältnisse der Sachen erhalten daher ein Eigenleben gegenüber ihren Produzenten. Hieraus entspringt die Vorstellung, anonymen Mächten ausgeliefert zu sein. Unter anderem im NS-Antikap werden diese unvermittelt auf die sie produzierenden Menschen zurückgeführt. Sie werden nicht als sachlich vermittelte und damit unkontrollierbare Verhältnisse von Personen gefasst, sondern als verschleierte Herrschaft von Personen, d.h. letztlich »der Juden«. Wer viel Geld hat, kann viel kaufen. Wer sehr viel Geld hat, kann (fast) alles kaufen, so die Logik des Antikapitalismus von rechts und links. Daher beherrschen die Reichen (bzw. die Juden) über tausend unsichtbare Fäden die Welt.

6. Der Begriff Fetisch drückt aus, dass die Waren als Produkte der menschlichen Hand als mit eigenem Leben begabte, untereinander und mit den Menschen in Verhältnis stehende, erscheinen. Marx sieht darin eine Analogie zur Religion, in der die Produkte des Kopfes ein Eigenleben führen und das Denken beherrschen. Der Unterschied liegt darin, dass es sich nicht um das Produkt des Kopfes, sondern um ein materielles, vom Menschen unterschiedenes Produkt menschlicher Arbeit handelt. Die Fetischformen sind daher »eine Fiktionsweise ohne Phantasie, eine Religion des Vulgären« oder »Religion des Alltagslebens«.

7. Der Fetischcharakter der Ware scheint noch relativ leicht zu durchschauen. Bei konkreteren Formen (Geld, Kapital etc.) verschwindet dieser Schein der Einfachheit.

8. Eine Form der »Kritik« des Fetischcharakters besteht darin, das Naturalisierte als bloßes Zeichen zu betrachten. Damit wird es zu einem willkürlichen Reflexionsprodukt der Menschen. Die oberflächliche, aufklärerische Kritik an der Naturalisierung enthält immerhin eine Ahnung davon, dass z.B. Wert- und Geldform nicht dingliche Eigenschaften, sondern dinglicher Ausdruck menschlicher Verhältnisse sind. Weil sie den Schein zum bloßen Hirngespinst macht und nur abstrakt darauf verweist, dass die Verhältnisse ja schließlich doch von den Menschen gemacht werden, geht diese Kritik am wirklichen Verhältnis, das sich real dinglich darstellt, vorbei.

9. Der Warenfetisch wird erst dann für das Denken bedeutsam, wenn es von der Geldstruktur abstrahiert und nur die Warenstruktur betrachtet. Denn auf der Oberfläche sind Geld und Ware immer schon gemeinsam vorhanden. Daher erscheint der Warenfetisch im Alltagsdenken in der Form des Geldfetischs bzw. erscheint die Werteigenschaft als Natureigenschaft des Arbeitsproduktes in Form des Preises. Der Wert ist hier nur ein anderes Wort für Preis. Der Geldfetisch ist daher das sichtbar gewordene, die Augen blendende Rätsel des Warenfetischs.

10. Im Geld projektieren sich alle Wertformen der Ware, werden handgreiflich. Der Geldfetisch löscht diesen Zusammenhang aus, macht ihn zu einem bloß äußerlichen, willkürlichen (mit NS-Staatsgewalt scheinbar trennbaren) Zusammenhang von Waren und Geld. Die Besitzer des Geldes tragen eine besondere Form gesellschaftlicher Macht als Privatmacht der Privatpersonen in der Tasche. Das Geld ist kosmopolitisch, Bürger dieser Welt. Die zersetzende Wirkung der Warenproduktion erscheint als zersetzende Wirkung der selbständig existierenden Wertform aller Waren, des Geldes. Daher wird das Geld als Gleichmacher, die scheinbar natürlichen Ordnungen zerstörender Fluch, in antiken, feudalen und kapitalistischen Gesellschaften (Marx zitiert stellvertretend Sophokles und Shakespeare) kritisiert. Immer ist die Kritik am Geld die Kritik an seinen wirklichen oder vermeintlichen Trägern, den Personifizierungen des »Geldprinzips«. Der Jude als Geldmensch ist der Kosmopolit, der erbarmungslose Schacherer (»Shylock«), der Zersetzer »natürlicher Ordnung«.

11. Auch der Kapitalfetisch besteht in der Verdinglichung / Naturalisierung eines gesellschaftlichen Verhältnisses. Die gesellschaftlichen Produktionsmittel erscheinen als von Natur aus mit Kapitaleigenschaft begabt. Daher ohne Kapital scheinbar keine Produktion möglich.
Entwickelte Waren- und Geldzirkulation schließt unsichtbar das Kapitalverhältnis als Herrschaftsverhältnis ein. Das Geld selbst ist jedoch kein Herrschaftsverhältnis wie das Kapitalverhältnis. Dieses erscheint jedoch nicht als Verhältnis, sondern als persönliche Herrschaft der Kapitalisten oder als Sachzwang. Das heißt: Die Träger oder Personifizierungen des Verhältnisses werden für die Wirkungen desselben persönlich verantwortlich gemacht oder die Existenz von Herrschaft überhaupt mit dem Verweis auf Sachzwänge bestritten.

12. Der Weg der Darstellung im »Kapital« beginnt mit der Ware. Im Verlauf der drei Bände des »Kapital« wird Schritt für Schritt begrifflich das rekonstruiert, was in der Vorstellung der Ausgangspunkt ist, die Oberfläche mit ihren verkehrten Erscheinungen. Beginn mit der unbegriffenen Oberfläche im Forschungsprozess. Von dort aus analytisch-abstrahierendes Aufspüren der den Handelnden unmittelbar unbewussten, weil nicht erscheinenden Struktur ihrer Arbeit. Von deren einfachsten Formen ausgehend (nur dies sichtbar in der Darstellung im »Kapital«) Rekonstruktion der Oberfläche, aber als Begriffene, so dass Schein, Erscheinung und verborgenes Wesen der Verhältnisse miteinander vermittelt sind.

13. Bei der Behandlung des Kapitals im ersten und zweiten Band wird von den konkreten, an der Oberfläche erscheinenden Formen des Kapitals abstrahiert. Allerdings erscheinen die Resultate der Abstraktionen in den konkreteren Formen als Momente. Daher ist der Widerspruch, der in den weiterentwickelten Formen als äußerlicher Gegensatz erscheint, hier noch in Einheit. Später erscheinen Arbeits- und Verwertungsprozess analog zum Verhältnis von Ware und Geld als rein äußerliche, zusammenhanglose Gegensätze von verschiedenen Kapitalsorten.

14. Wie die Wertformen der Ware sich im Geld projektieren, so projektieren sich die Formen der gesellschaftlichen Arbeit im Kapital. Der kapitalistische Produktionsprozess erscheint als bloßer Arbeitsprozess, d.h. als Arbeitsprozess in seinen abstrakten Momenten wie er allen Gesellschaften gemeinsam ist. Der Verwertungsprozess erscheint diesem äußerlich. Dass es die bestimmte gesellschaftliche Form des Arbeitsprozesses ist, die ihn zugleich zum Verwertungsprozess stempelt und den unmittelbaren Zweck des gesamten Produktionsprozesses - Verwertung des Wertes - setzt, bleibt unsichtbar.

15. Auf Seiten der Lohnarbeiterklasse wird die Ausbeutung und die Verkehrung von Subjekt und Objekt im Arbeitsprozess am eigenen Leib erfahren (Es sind nicht die Arbeiter, die die Maschinen anwenden, sondern die Maschinen wenden die Arbeiter an / das Gefühl »ausgesaugt zu werden« → »Blutsauger«). Da ihre wirklichen Ursachen jedoch nur verkehrt erscheinen, können sie ohne Denkanstrengung nicht begriffen werden. Sie bleiben ein Mysterium bzw. »Dunkelding«, erscheinen als unüberschaubare Masse an Fragmenten oder als Einheit, wo sie keine Einheit sind.

16. Der Lohnfetisch lässt die für die kapitalistische Produktionsweise wesentliche Kategorie des Mehrwertes als historisch-spezifische Form der Mehrarbeit verschwinden. Die Lohnform zeigt, dass alle Arbeit bezahlt wird (»Stundenlohn«). Ausbeutung wird so in der Produktion zwar erfahren, kann aber vom im Lohnfetisch befangenen Bewusstsein gar nicht theoretisch begründet werden. Daher z.B. das Ausweichen auf irrationale oder moralische »Kritik des Kapitalismus«. Es scheint hier, als sei das Denken überhaupt ein Feind des Arbeiters.

17. Am zinstragenden Kapital erscheint schließlich der Verwertungsprozess. Allerdings erscheint er in verkehrter Form. Ein Ding erlaubt seinem Besitzer, aus Geld ohne alle Vermittlung (Arbeit) mehr Geld zu machen. Die in der Produktion erfahrene Ausbeutung, findet hier endlich eine scheinbare Ursache. Über den Zins vermittelt scheint der »natürliche« kapitalistische Arbeitsprozess von den Geldkapitalisten beherrscht zu werden. Der Geldfetisch schließt nun rückwirkend die Vorstellung ein, dass jede Geldausgabe Kapital darstellt. Daher Zinskritik fast immer mit Geldkritik verbunden (→ siehe »Die Kritik am Zins« / Konfusion über die verschiedenen Bestimmungen des Geldes). Mit der fortschreitenden Trennung von Kapitalfunktion und Kapitaleigentum im Laufe der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise auf ihrer eigenen Basis, d.h. mit der reellen Subsumtion in immer neuen Schüben, erscheint der Gegensatz in immer grelleren Formen. Dies geht einher mit der Zunahme der durch das Kapital produzierten sozialen und ökologischen Verheerungen.

18. Die Einheit des kapitalistischen Produktionsprozesses als Arbeits- und Verwertungsprozess wird in die zusammenhanglosen und feindlichen Gegensätze von produktivem Kapital, Handelskapital und zinstragendem Kapital aufgespalten. Die Lohnarbeit bildet scheinbar eine Einheit mit dem produktiven Kapital. Die Personifkationen von Lohnarbeit und produktiven Kapital, Lohnarbeiter und Unternehmer unterscheiden sich demnach nur noch durch die Höhe ihre Gehaltes, die Qualifikation, Art der Tätigkeit etc., aber nicht prinzipiell. Beide erscheinen als Arbeiter [→ Volksgemeinschaft (statt Klassenkampf - der Marxismus daher »Trick« der Juden...), raffendes und schaffendes Kapital, plutokratische Nationen usw.]. Als Gegenspieler, als Nicht-Arbeit, treten das Handelskapital und vor allem das zinstragende Kapital und deren Personifikationen auf. Sie sind die Nicht-Arbeiter. Ihre Revenue daher im Gegensatz zu allen anderen Revenuen aus Ausbeutung, Betrug (Verstoß gegen den Äquivalententausch) stammend.

19. Die Naturalisierung der Lohnarbeit als bloße Arbeit und die Identifikation der sachlichen Mittel des Arbeitsprozesses mit ihrer Kapitalform lässt die Vorstellung entstehen, dass man sich bloß von der »Zinswirtschaft«, der »Hochfinanz« und dem »Geldsystem« befreien müsse, um die Missstände der kapitalistischen Produktion loszuwerden. Wenn ein solches Bewußtsein von »Kapital«, »Kapitalismus« oder »kapitalistischer Produktionsweise« spricht, meint es bloß die Erscheinungsformen der Wertseite der kapitalistischen Produktion (»NS-Wertkritik« kommt dann eben nicht zum Wert, sondern sitzt spätestens dem Geldfetisch auf. Es folgt dann eine Kritik, die darüber mosert, dass alles käuflich geworden ist.). Weil der Zusammenhang nicht erscheint, begreift es nicht, dass die verschiedenen Formen im Lohnarbeit-Kapitalverhältnis als historische Form der Produktion ihre Ursache haben (→ Steckenbleiben der »NS-Revolution« im eliminatorischen AS).

20. Wenn die »Kritik der politischen Ökonomie« der notwendige Schritt einer Theorie der gesellschaftlichen Totalität als eines »Komplexes aus Komplexen«(Lukács) ist, dann sind die hier angerissenen Fetischformen auch in den weiterentwickelten, außerökonomischen Verhältnissen und Vorstellungen vorhanden. Die Betrachtung der Gesellschaft muss immer mit der historisch-konkreten gesellschaftlichen Totalität beginnen und wieder bei ihr enden. Ihre Analyse muss mit der materiellen Produktion beginnen, weil Arbeit in ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Form absolute Bedingung menschlichen Lebens ist.

21. Der NS-Antikapitalismus ist komplexer als das System der Fetischformen. Er enthält es, geht aber nicht darin auf. Die Fetischformen können z.B. nicht erklären, warum es ausgerechnet die Juden waren, die Opfer des Vernichtungswillens der Nazis wurden. Auch bleibt die Vermittlung zwischen den Fetischformen und der psychischen Struktur der Individuen offen. Weiter - und Postone schränkt seine Untersuchung darauf ein - erklären sie nur (ansatzweise) »was im NS durchbrach« und nicht »wie« das geschah.
Der NS-Antikap ist wesentlich antisemitisch. Gottfried Feder bezeichnete den Antisemitismus als den »geistigen Unterbau der Bewegung«. Allerdings projizieren sich im Bild vom Juden mehr als nur unmittelbar ökonomische Erscheinungen. Der Antisemitismus ist vielmehr eine umfassende Welt-»Erklärung«, die auf sexuelle wie ökonomische und soziale Bedürfnisse »Antworten« liefert.

22. Die ökonomistischen Funktionstheorien, die von Zwecksetzungen der Kapitalgruppen ausgehen und die gesellschaftliche Bewegung zum NS als deren Resultat betrachten, also die kapitalistische Gesellschaft als bereits einem Plan, nur dem Plan der Kapitalisten unterworfen betrachten, könnten auf der Grundlage der »Kritik der politischen Ökonomie« als Theorie einer in der Gesamtheit naturwüchsigen Produktionsweise einen ganz anderen Sinn und eine ganz andere Erklärungskraft bekommen. Man kann ihren wahren Gehalt dadurch retten, dass man sie einordnet, d.h. sie aus der fetischistischen Vorstellung, dass die Kapitalisten wenn sie nur wollen, Nationalsozialismus nach Belieben machen könnten, befreit. Man muss zeigen, wie und wo die bewussten Absichten selbst verkehrt waren und doch dazu beigetragen haben, dass das Ziel erreicht wurde - allerdings auf ganz anderem, den Handelnden unbewusstem Wege.
Es ist nur ein oberflächlicher Widerspruch, den NS als antikapitalistisches Bewusstsein zu bezeichnen und gleichzeitig auf den Klassencharakter des NS zu verweisen. Denn das fetischistische Bewusstsein in antikapitalistischer Form kann die kapitalitische Produktionsweise nicht überwinden. Am Ende des dritten Bandes des »Kapital« bringt Marx die Herrschaft des Kapitals und seiner Personifikationen mit dem fetischistischen Bewusstsein zusammen. Es entspricht nach Marx dem Interesse der herrschenden Klassen, weil es die Naturnotwendigkeit und ewige Berechtigung ihrer Einnahmequellen zu einem Dogma erhebt.
Es wäre für den NS konkret zu zeigen, welche antikapitalistischen Vorstellungen problemlos mit kapitalistischer Praxis in Einklang zu bringen waren bzw. sie leiten konnten, welche aufgegeben werden mussten, weil sie dyfunktional waren und welche trotz ihrer Dysfunktionalität bis zum Ende die Praxis des NS beherrscht haben.

23. Die Fetischformen und ein darin befangenes Bewusstsein existieren in allen Ländern mit kapitalistischer Produktionsweise. Sie dominieren das Alltagsdenken der Mehrheit der Menschen auf der Erde. Dennoch führt dieses Bewusstsein nicht permanent zu eliminatorischen Antisemitismus. Bestimmte Resultate des fetischistischen Bewusstseins in Form des NS-Antikap sind also mehr ein Potential, das erst unter bestimmten Umständen wirklich wird, ganz wie in der Warenzirkulation nur die Möglichkeit der Krise liegt.

24. Postone hat das Verdienst, als erster auf den Zusammenhang des (NS-)Antisemitismus mit den Fetischformen aufmerksam gemacht zu haben. Allerdings konzentriert er sich m.E. zu sehr auf den Warenfetisch und handelt sich dadurch den Vorwurf der Analogiebildung und des Mangels an Vermittlung ein. Gerade die Untersuchung des Lohn- und Zinsfetischs hätte seine Argumentation schlagender gemacht, da hier nur noch »der Jude« eingesetzt werden muss, damit der NS-Antikap in einem seiner wesentlichsten Momente hergeleitet ist. Weiterhin bleibt zu klären, wie Postones (Fehl)Interpretation der »Kritik der politischen Ökonomie« zu den Mängeln seines Ansatzes führt. Wichtig scheint mir vor allem die genaue Unterscheidung zwischen dem, was den Menschen bewusst ist (der Wert ist abstrakt, erscheint ihnen aber nicht als solcher, sondern als Preis, als Bezug der Ware auf das Geld usw.) und dem, was ihnen unmittelbar unbewusst bleiben muss. Denn das, was zwar wesentliches Verhältnis, aber unbewusst ist, kann nicht bewusstes Motiv der Antisemiten sein.

25. Nicht nur rechter, sondern auch linker Antikapitalismus sitzt dem falschen Schein der Fetischformen auf. Die verschiedenen dem Schein verhafteten Varianten des Antikapitalismus bilden eine Skala, die von der plattesten Vulgärökonomie und dem NS-Antikap bis hin zur klassischen politischen Ökonomie in ihren besten Repräsentanten (»eso- und exoterischer« Adam Smith, Ricardo, der nicht die Warenform untersucht bzw. »warum dieser Inhalt jene Form annimmt«) reicht. Selbst die klassische politische Ökonomie, die bewusst und unbewusst den inneren Zusammenhang der bürgerlichen Produktionsverhältnisse erforscht, bleibt - Grund ist die Auffassung der Warenform als Naturform - in der mehr oder weniger kritisch aufgelösten Welt des Scheins befangen. Daher ihre Inkonsequenzen, Halbheiten und ungelösten Widersprüche.

26. Hält der linke Antikapitalismus das Lichtbild der kapitalistischen Realität gegen diese, fordert also wirkliche Verwirklichung von Freiheit und Gleichheit, so will der NS die Ungleichheit und Unfreiheit der Menschheit (die er als bloßes Hirngespinst betrachtet) mit totaler Gewalt erhalten und ausweiten. Die bewusste rassistische und antisemitische Fundierung des Antikap der Nazis fehlt dem linken Antikapitalismus.

27. Die Leiche im Keller des linken Antikapitalismus ist die gemeinsame Basis mit dem rechten Antikap, die mehr oder weniger starke Befangenheit in den Fetischformen. Daher nicht nur immer die Möglichkeit des Antisemitismus, sondern oft auch die Wirklichkeit z.B. bei Proudhon (»Man muß diese Rasse [gemeint sind Juden und Jüdinnen] nach Asien zurückschicken oder sie ausrotten«), Gesell, aber auch den staatsfixierten Kathedersozialisten wie Wagner, Rodbertus und Dühring (»Die Judenhaftigkeit lässt sich nicht anders als mit dem Juden selbst beseitigen.«). Auch die Kritik des Linksricardianismus und der Vulgärsozialisten (Gray, Bray, Ravenstone, Hodgeskin) am Zins vom Standpunkt der Arbeit weist wesentliche Züge des NS-Antikap auf. So sagt Bray: »Wir brauchen das Kapital und nicht die Kapitalisten«, die er als Geldkapitalisten fasst und deren »ableben« er durchspielt. Die Auffassung, dass die Kapitalisten bloße Personifizierungen des Kapitalverhältnisses sind, betrachtet er als subjektive Täuschung, hinter der Betrug und das Interesse der Kapitalisten steckten (--> Die Frage »wem nützt es?« wird gegen die Erkenntnis der wirklichen Zusammenhänge ausgespielt). Die scheinbaren Gegensätze (z.B. Proudhon und Dühring) entpuppen sich so als Pole einer Einheit. Umgekehrt erscheint der wirkliche Gegensatz (Kapital und Lohnarbeit) bei ihnen als Einheit gegenüber dem Geldkapital.
Die von den Nazis angestrebte »Querfront« ist wegen dieser unbewussten oder verdrängten gemeinsamen theoretischen Basis möglich. Wenn Osama Ibn Laden jetzt die Lektüre von Noam Chomsky empfiehlt, so handelt es sich daher genau so wenig um eine »Instrumentalisierung« wie wenn die Nazis antikapitalistisch agitieren und sich der »sozialen Frage« zuwenden.

 

 

 

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