Aus dem Zirkularbrief 3 von Juli/August 2001

Veranstaltungs-Bericht:

Faschismus-Seminar

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An dem Seminar zu Problemen des Faschismus vom 24. bis 27. Mai in der Mühlgasse nahmen zeitweise an die 25 Interessierte teil. Es fand vereinzelt Zustimmung und einige Kritik, vor allem an den Darbietungsformen.

Trotzdem hier ein Überblick über den Verlauf in seinen wesentlichen Ergebnissen.

1. Das Ausgangsreferat umriss vor allem die verschiedenen Aspekte des Phänomens Faschismus. Aus dieser Verschiedenheit ergab sich die Unmöglichkeit einer klassischen Definition des Begriffs. Es ist also nur ein Analysieren der widersprüchlichen Elemente des Faschismus in ihrem Zusammenspiel möglich. Dem sollten die folgenden Themenblöcke dienen.

Das Grundproblem, um das alle Ausführungen kreisten, war der Zusammenhang zwischen den objektiven wirtschaftlichen und politischen Machtbedingungen, die Faschismus möglich machen, aber nicht erzwingen, und den Ausrichtungen und Prägungen der Menschen, die als Subjekte sich zu Trägern der faschistischen Bewegung machen.

2. Das Referat über den Chefdenker und Verwaltungsjuristen des NS-Faschismus, Werner Best, sollte vor allem die Herkunft der im Faschismus verwendeten Herrschaftstechniken aus der Mitte der bürgerlichen Gesellschaft herausarbeiten. Durch seinen Rückzug auf das »Völkische« als Bezugspunkt ergab sich für Best eine breit gefächerte Palette von Verhaltensmöglichkeiten und die Chance einer durchgehaltenen Identität von der Weimarer Republik bis spät in die Zeiten der BRD. Besonderer Nachdruck wurde in der Diskussion auf die betonte Selbstverpflichtung zur Leidenschaftslosigkeit eines solchen Typus gelegt – gegen alle volkstümlichen Vorstellungen von der Notwendigkeit einer sadistischen Charakterkomponente für die »Vollstrecker« der nazistischen Vernichtungspolitik.

3. Schon Best hatte die Zerlegung des einheitlichen Staatsgebildes im Nazismus gezeigt: Die Polizei sollte gerade deshalb ohne gesetzliche Einschränkung gegen die »Feinde« agieren, damit in dem so von ihr gehegten Raum das Wirtschaftsbürgertum weiterhin sich auf Vertragstreue und Berechenbarkeit verlassen konnte.

Diesen Aspekt des Zerfalls der einheitlichen Rechtsstruktur im Nazismus arbeitete vor allem das Referat über Franz Neumanns »Behemoth« heraus. Demnach bildeten die vier Säulen der Partei, der Wehrmacht, der überkommenen Bürokratie und der monopolistisch organisierten Wirtschaft die Stützen eines Herrschafts- und Machtsystems, das in gewissem Sinn schon »gar kein Staat mehr war«.

Die Diskussion konzentrierte sich vor allem auf die zwei Alternativmodelle, die beide im Umkreis des Horkheimer-Adorno-Instituts entstanden waren. Das Institutsmitglied Pollock hatte gegen Neumann mit dem Konzept eines »Staatskapitalismus« gearbeitet; nach diesem Konzept wäre es der Nazidiktatur gelungen, den Privatkapitalismus in Deutschland auf perverse Weise zu vergesellschaften.

3. Sind die inneren Befehlsstränge und die Zweck-Mittel-Relationen des Nazisystems denen des Sowjetsystems zumindest unter Stalin gleichzusetzen?

Das so genannte Totalitarismus-Theorem war Gegenstand eines eigenen Themenblocks. Entlang einem Interview von Zeev Sternhell aus jungle world wurden Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Stalinrussland und Hitlerdeutschland herausgearbeitet. Dabei stellte sich heraus, dass die klassischen Merkmalselemente des totalitären Staates auf eine beliebige Anzahl von Staaten angewendet werden können, insofern zur Unterscheidung nichts beitragen.

Sternhell weist vor allem auf die unterschiedliche Bedeutung der Konzentrationslager in beiden Systemen hin: Wurde in Russland der Tod von Arbeitskräften in den Lagern billigend in Kauf genommen, war er in den Vernichtungslagern des NS-Regimes ab 1942 das ausdrückliche Ziel der »Todesfabrik«.

Damit ergab sich zweifelsfrei, dass, wenn wir den »eliminatorischen Antisemitismus« als Zentrum der Nazibewegung ansehen, auf keinen Fall eine Gleichsetzung der UdSSR unter Stalin mit dem großdeutschen Reich möglich sein wird.

Die Diskussion mühte sich um neue und befriedigendere Bestimmungen des Begriffs »Totalitarismus«, ohne zu ausreichend unterscheidungskräftigen Definitionen zu gelangen.

4. Immer wieder wurde von linker Seite die Forderung erhoben, den Faschismus und den Nationalsozialismus nicht als eine einheitliche Bewegung darzustellen. Ein Unterscheidungskriterium war der eliminatorische Antisemitismus des Nationalsozialismus, auf den die allgemeinfaschistischen Theorien nicht abzielten.

Diesen Ansatz verfolgt Moishe Postone in dem Artikel »Antisemitismus und Nationalsozialismus« weiter und versucht, Nationalsozialismus und Antisemitismus auf Grundlage einer Kategorie zu erklären. Diese gemeinsame Kategorie ist für ihn ein sozioökonomischer Ansatz. Er stellt die Behauptung auf, dass die Vernichtung der Juden eine Vernichtung der abstrakten Arbeit sein sollte. Seine Argumente bauen auf der marxistischen Theorie von Fetisch und Doppelcharakter der Ware und damit der Gesellschaft auf.

Die konkreten Hervorbringungen werden »fetischistisch« als Rechtfertigung unserer irdischen Existenz genommen. Diese konkrete Arbeit muss davor bewahrt werden, dass im notwendigen Vergleich jeder Arbeitsleistung mit jeder anderen in der »abstrakten Arbeit« die Spur eines jeden individuellen Anteils an der »vor Augen liegenden« Produktion gelöscht wird.

Also muss die »abstrakte Arbeit« selbst bekämpft werden, ja vernichtet. Wird in einer letzten Übersteigerung des hergebrachten Antisemitismus der Jude an sich mit der »abstrakten Arbeit« gleichgesetzt, dann werden die »Todesfabriken« von Auschwitz als letzte Möglichkeit einer konkreten Arbeit - in der Vernichtung der abstrakten - denkbar.

Zugleich wird dann im Juden der Doppelangriff fassbar – der der plutokratischen Konkurrenz der Angelsachsen, die uns zum Selbstvergleich innerhalb der gesamten abstrakten Arbeit zwingen, und der des Kommunismus, der gerade von der abstrakten Arbeit ausgehend die planvolle Zusammenarbeit »freier Menschen« anstrebt, in welcher in einer Gesamtrechnung aller Ressourcen und Arbeitsleistungen erstmals eine gesellschaftliche Produktion ins Auge gefasst werden könnte.

In der Diskussion wurden vor allem die Schwierigkeiten deutlich, eine so abstrakte Theorie »herunterzutransformieren« auf das vorfindbare Bewusstsein der einzelnen Akteure. Da abstrakte Arbeit im fortbestehenden Kapitalismus ja auf keine Weise verschwinden kann, in welchen Worten, welchen Bewusstseinsinhalten lässt sich dann das vermeintliche Erfolgserlebnis des Faschisten fassen?

5. Dieser subjektiven Seite widmeten sich die Texte aus Walter Benjamin und Klaus Theweleit - wobei das Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt keinesfalls selbstverständlich ist. Es versteht sich nicht von selbst, dass die Welt in eine subjektive und objektive Hälfte zerfällt. Diese Auffassung ist ganz zuletzt selbst Ausdruck der bürgerlichen Unfähigkeit zur Totalität.

Dies vorausgeschickt, erwies sich vor allem der Begriff der »Ästhetisierung« aus Benjamins »Kunstwerk-Aufsatz« als fruchtbar. Beschrieb er im Einzelnen – konkret am futuristischen Kampfflieger - die Möglichkeit, äußerste Modernisierung mit barbarischer Ausschweifung zusammenzubringen, so zeigte er im Blick auf den Gesamtzusammenhang des Nazisystems in der »Lust am Untergang« die Möglichkeit einer Politik äußerster Selbstentfremdung metaphysischer Voyeure, die noch die eigene Vernichtung ins Gesamtkalkül lustvoll einzubeziehen vermögen.

Die nähere Charakterisierung solcher Akteure durch Theweleit als »Nicht-zu-Ende-Geborene«, die sich nur in einem Körperpanzer vor dem Auseinanderfallen schützen, bot Anlass zur Frage, wie sich Theweleits auf Deleuze/Guattari gestütztes Modell zu dem Freuds verhalte; weiter: wenn Verhässlichung natürlich auch nur eine Form der Ästhetisierung ist, in welchem Umfang wir den heutigen Skinheads zum Beispiel eine solche Körperpanzerung zuschreiben können?

Fritz Güde

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Zusammenfassung der Kritik an Konzeption und Durchführung des Faschismus-Seminars

Am Ende des dritten Seminartages wurden ohne Diskussion von den noch anwesenden Seminarteilnehmern folgende Statements abgegeben. Sie werden hier nicht einzelnen Personen zugeordnet, sondern eher der inhaltlichen Stoßrichtung nach zusammengefasst:

Mangelhafte Vorbereitung:

1. Recht einhellig wurde bemängelt, dass nicht im Voraus ein Reader versandt oder im Netz zur Verfügung gestellt wurde, der eine intensivere Vorbereitung erlaubt hätte.

2. Ebenso hätte zu einem Vorbereitungstreffen eingeladen werden sollen, das auch Interessenten von außerhalb Frankfurts und außerhalb der Vereinigung erlaubt hätte, eigene Beiträge und Themenvorschläge einzubringen.

Durchführung:

3. Als unbefriedigend empfunden wurde allgemein die Darstellung des Zusammenhangs der einzelnen Blöcke. Bei der Durchführung seien viele Teilaspekte nur angerissen worden, so dass keine Vertiefung möglich gewesen und kein Gesamtbild entstanden sei.

4. Beklagt wurde die Mischung der Darstellungsformen. Es sei oft nicht klar gewesen, ob es sich um ein Einleitungs-Statement des Referenten, die Wiedergabe des zugrunde liegenden Textes oder einen Diskussionsbeitrag gehandelt habe.

5. Allgemein bedauert wurde die Undurchsichtigkeit des Tagesablaufs. Es hätte jeden Morgen ein aktualisierter Tagesplan entworfen werden sollen, in dem dann auch die kurzen Unterbrechungen und die eigentliche Mittagspause allen Teilnehmern berechenbar gemacht worden wären.

6. Kritisiert wurde weiter das Diskussionsverhalten. Viele hätten gemäß der Rednerliste bloß ihre gebunkerten Redevorsätze loswerden wollen, anstatt auf den aktuellen Verlauf der Diskussion und die eben gestellte Frage zu achten. (Redezeitbegrenzung als Notregelung wurde gefordert.) Andere wieder fanden den Diskussionsverlauf vor allem zum Thema Theweleit lebendig.

7. Scharf angegriffen wurde schließlich von einem Teilnehmer der Frontalvortragsstil. Er forderte eine klarere Strukturierung des Gesamtverlaufs durch einen durchdachten Wechsel von Gruppenarbeit und Plenumsdiskussion.

8. Getadelt wurde weiterhin die Schwerfälligkeit der für die einzelnen Gebiete Zuständigen, die es nicht verstanden hätten, sich auf das ganz unterschiedliche Niveau und die Erwartungshorizonte der Teilnehmer einzustellen. Es hätten weniger die, die sich seit Jahren und Jahrzehnten mit dem Thema beschäftigten, das große Wort führen dürfen; zumindest hätten sie nicht so autistisch von ihrem eigenen Wissensstand ausgehen sollen.

Das Wegbleiben einer Gruppe ab dem zweiten Tag wurde vor allem auf dieses - viele unangenehm berührende -Gurutum zurückgeführt. (Nur gesprächsweise war auch von sektenhaftem Auftreten der Vorbereitungsgruppe insgesamt die Rede.)

9. Ausgesprochen vermisst wurde ebenfalls eine klare Zielvorgabe des Seminars. Was sollte »herauskommen«? Welche aktuellen Handlungsmöglichkeiten in der Gegenwart - vor allem in der derzeitigen Auseinandersetzung mit den Neonazis in Frankfurt und anderswo - ermöglichten uns die allenfalls trotzdem gewonnenen Erkenntnisse? Dazu habe es kaum Ansätze zu Versuchen einer Antwort gegeben.

Inhalte:

10. Den gesamten Faschismus in einem Drei-Tage-Seminar »enzyklopädisch« behandeln zu wollen, wurde als vermessen und undurchführbar bezeichnet.

10.1. Für ein weiteres Seminar, das trotz allem gewünscht wurde, wurden vorgeschlagen:

10.2. An der Richtigkeit der vorgetragenen Inhalte wurde kaum gezweifelt. Allenfalls bei der Darstellung von Theweleit wurde bemängelt, dass der Bogen nicht geschlagen wurde zwischen der psychischen Fundierung des Nationalsozialismus in den Einzelnen und den konkreten Staatsmacht- und Wirtschaftszusammenhängen des NS-Systems als politische Organisation.

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Aktuelle Folgerungen

Wegen einer Abendveranstaltung zur Diskussion der Vorgänge am 1. Mai in Frankfurt entfiel die vorgesehene Schlussrunde zu Folgerungen und Konsequenzen der hier gefundenen Ergebnisse für den aktuellen Kampf gegen die verschiedenen Formen des heutigen Faschismus.

Es hätte sich aber vermutlich ergeben:

  1. Wie das Beispiel Best zeigt, der sich auch nach 1945 keineswegs den rechten Splitterparteien anschloss, sondern der FDP, ist es in »windstillen« Zeiten auch vollkommen überzeugten Nazis möglich, sich ohne Aufsehen und persönlich erfolgreich in der Mitte der Gesellschaft zu halten. Der Umkehrschluss liegt auf der Hand: Bei entsprechend »stürmischeren« Zeiten fänden die jetzt als »extrem« gehandelten Gruppen sofort ihre Führungskräfte.
  2. Die Folgerung aus »Behemoth« könnte zwar sein, dass man am vereinheitlichenden Parlamentarismus unter allen Umständen festhalten muss, damit ein Zerfall in isolierte Machtblöcke nie eintreten kann. (Möglicherweise hat der resignierte Neumann nach 1950 selbst so gedacht.) Bei konsequentem Weiterdenken des neumannschen Ansatzes und ent-sprechenden politologisch-empirischen Forschungen würde sich aber ergeben, dass auch bei fortbestehendem Parlament die Verselbstständigung von Elementen des Machtapparats sich unkontrolliert vollzieht (entsprechende Schlagworte: »Involution des Parlamentarismus«, Bürokratisierung usw.):
    Gegenwehr gegen Prozesse der Faschisierung kann also nur zum geringsten Teil übers Parlament laufen, sondern wesentlich nur über den theoretischen und praktischen Einsatz für eine »Kontrolle von unten« in der Selbsttätigkeit sich als politisch verstehender Subjekte.
  3. Die Unmöglichkeit, die Gleichung rechts = links zu vollziehen, ist das entscheidende Ergebnis der Totalitarismus-Debatte. Daraus ergibt sich sofort, dass auch nicht die selben Kampfmethoden gegen rechts angewendet werden können, wie sie staatlicherweise gegen links angewendet wurden (Parteiverbot, Berufsverbot, Versuch der Widerlegung einer Theorie usw.). Und zwar deshalb, weil es - wie zum Beispiel das Parteiverbot der NSDAP in Österreich von 1934 bis 1938 schlagend zeigt, den »Rechtsextremen«, um einmal den Ausdruck zu verwenden, ohne weiteres möglich ist, unauffällig bei den gewöhnlich Rechten zu überwintern, bis »die Zeit gekommen ist«.
  4. Die Postone-Diskussion sollte vor allem hellhörig machen für alle Erscheinungsformen des subjektiv sogar möglicherweise ehrlichen, aber zu kurz springenden Antikapitalismus von rechts, in dem dann vielleicht nur die Banken angegriffen werden oder nur der Konsumterror oder die Globalisierung. Postone geht bei seinem Konzept der Abwehr der abstrakten Arbeit ja durchaus von einem »linken« Affekt aus. Er skizziert zur Abschreckung die mörderischen Folgen, zu denen er führen kann.
  5. Die Überlegungen Theweleits in ihrer einfühlsamen Schilderung der Not der »Nicht-zu-Ende-Geborenen« führen uns so weit, die Empörung derjenigen sogar zu teilen, die sich selbst in einer Warenwelt nur noch als verdinglichte Kampfmaschine aushalten können.
    Was wir allerdings am Faschisten kritisieren und bekämpfen, ist der zerstörerische Ausweg, den er sucht – selbstzerstörerisch und menschheitszerstörend –, wenn er die Arbeit und die Arbeitsabhängigkeit belässt, wie sie sind, aber im Wüten gegen den imaginären Gegner, der ihm das Wert-Etikett um den Hals gehängt hat, durch dessen Beseitigung in den Selbstgenuss des »konkreten Arbeiters« kommen will. Über die berechtigte moralische Verurteilung hinaus kritisieren wir das faschistische Vorhaben aber auch als vergeblich. Wo überhaupt kapitalistisch produziert wird, ist die abstrakte Arbeit unweigerlich das Komplement der konkreten.
  6. Selbst diese geringen Ergebnisse des Seminars zeigen zumindest eines: Die Bekämpfung des heutigen Neo-Faschismus kann und darf sich nicht erschöpfen im zweifellos nötigen Streit um die Straße. Mindestens ebenso wichtig ist die Bekämpfung von Haltungen und Machttechniken aus der Mitte der Gesellschaft, in denen Faschismus Fuß fassen kann - sicher nicht in einer offen militärisch-imperialistischen Wiederholung vergangener Formen, aber im Versuch einer zeitgemäßen Formierung der neuen »Volksgemeinschaft«.

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