veröffentlicht in der Zeitung zur Demo gegen den Nazi-Aufmarsch in Frankfurt am 1.Mai `01

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Dr. Jekyll & Mr. Hide

Der demokratische Kapitalismus und seine hässliche Kehrseite. Zur Nazi-Demo in Frankfurt am 1. Mai 2001.

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Demokratische Lohnsklaverei oder faschistische Zwangsarbeit?

Wenn die Nazis am 1. Mai wieder in Frankfurt Fuß fassen können, wenn ihnen die demokratische Justiz und Polizei die Möglichkeit geben, hier offen aufzumarschieren – dann ist das der Skandal der bürgerlichen Gesellschaft. Es ist der Skandal der kapitalistischen Finanzmetropole Frankfurt, es ist der Skandal der Euro-City und damit der Skandal des neuen Kerneuropa unter deutscher Hegemonie, dass sie ihre eigene Nazibrut, ihren eigenen Wechselbalg in aller Öffentlichkeit ihr Wertesystem verkünden lässt: die Zwangsarbeit als obersten Grundsatz der kapitalistischen Gesellschaft.

Denn die Nazis haben immer nur zu Ende gedacht und zur äußersten Konsequenz getrieben, was die kapitalistische Ausbeutung unbezahlter Mehrarbeit überhaupt erst möglich macht: die Basistatsache, dass wir nicht über unsere Produktions- und Lebensbedingungen gesellschaftlich verfügen, sondern dass sie Privateigentum, Kapital sind, dem wir unsere Arbeitskraft individuell verkaufen müssen, wenn wir überleben wollen – die Grundtatsache der Lohnarbeit, die zwar frei ist, aber gerade darum Lohnsklaverei.

Freie Lohnarbeit ist nichts als frei zu wählende Zwangsarbeit, auf der die Ausbeutung fremder, unbezahlter Mehrarbeit durch das Kapital beruht – diese Freiheit und Gleichheit der Käufer und Verkäufer der Ware Arbeitskraft wollen die Nazis nur in die offene Zwangsarbeit verwandeln, wie ihre Vorbilder das in der Geschichte Europas bereits einmal vorexerziert haben: die kapitalistische Demokratie der Ausbeutung soll verwandelt werden in direkte kapitalistische Staatssklaverei, die bürgerliche formale Freiheit und Gleichheit wollen sie endgültig umstürzen in offene rassistische Ungleichheit, Unfreiheit und Selektion. Die bürgerliche Idealweltgesellschaft der friedlichen Vertragspartner in Warenkauf und -verkauf soll in die offene nationalsozialistische Kriegsvolksgemeinschaft von Verzicht und Selbstaufopferung nach innen, Privilegierung nach außen auf Kosten unterworfener Opferbevölkerungen verwandelt werden.

Mit all diesen Programmzielen trompeten die Nazis seit jeher nur die wirklichen Tendenzen und heimlichen Konsequenzen des demokratischen Kapitalismus heraus, sie bezeichnen genau den Umschlagpunkt, wo die bürgerliche Gesellschaft ihre eigenen Idealprinzipien und politisch-rechtlichen formalen Standards hinten hinunterfallen lässt, weil sie ihre ökonomische Krise, ihre sozialen Spannungen nicht mehr mit demokratischen Illusionen verdecken kann. Und die Nazis exekutierten diesen Umschlag mit deutscher Gründlichkeit. Sie wollen die kapitalistische Produktionsweise in Deutschland modernisieren, indem sie uns in die deutschen Zustände der germanischen Barbarei zurückkippen.

Die bürgerliche Gesellschaft ist der Dr. Jekyll, die Nazis sind ihr Mr. Hyde. Der Skandal besteht in der neuen Schamlosigkeit, in der der braune Mr. Hyde in der Berliner Republik herausgelassen wird, geschützt und präsentiert wird – jetzt sogar in Frankfurt-Eurocity – als Drohung und Ankündigung gegen alle, denen die ganze kapitalistische Richtung nicht passt. Uns weht heute in unserem Alltag ein neuer scharfer Wind um die Nase: In ständiger Konkurrenz gegeneinander gesetzt erleben wir, wie die menschliche Arbeitskraft, Kreativität und Phantasie, unsere Kooperations- und Teamarbeitsfähigkeiten in bisher ungekanntem Ausmaß in die Verwertungsstrategien des Kapitals einverleibt werden, wie – gerade in der New-economy- Metropole Frankfurt – Selbstausbeutung und Mobbing gang und gäbe sind, der Kampf zwischen den jung-dynamisch-skrupellosen Modernisierungsgewinnern und den als ineffektiv ausgesonderten Verlierertypen an Dynamik gewinnt.

Die Auswirkungen dieser Modernisierungsspirale strafen jede bürgerlich-demokratische Rhetorik Lügen und produzieren eine verinnerlichte Gedankenwelt, die von den Paradigmen des »survival of the fittest«, der Ausmerzung der Untüchtigen und der warenförmigen Zurichtung aller Lebensäußerungen geprägt ist. Hierbei spielen die Faschisten ihren Part, indem sie janusköpfig zum einen als »sozialrevolutionäre« Opposition gegen das globale »Finanzkapital« auftreten, zum anderen aber die radikalste Zuspitzung aller totalitären Allmachts- und Vernichtungsphantasien der bürgerlichen Gesellschaft darstellen. Als solche »radikale Opposition« der Verlierer gegen »das System« und gleichzeitig Repräsentanten der zu Ende gedachten Leitideologien der bürgerlichen Gesellschaft sind sie höchst funktional für das, möglichst von keiner wirklichen Opposition gestörte, Kapitalverwertunginteresse der Bourgeoisie. Den antisozialen rosa-grünen Modernisierungseliten, der »Neuen Mitte«, dienen sie als ideale Projektionsfläche, auf der diese als »Alternative« ihren »Antifaschismus« der ganz gewöhnlichen, bürgerlich-demokratisch legitimierten rassistischen Konkurrenz platzieren können – Green Cards für hoch qualifizierte indische IT-Experten, Massenabschiebung unerwünschter, weil ökonomisch überflüssiger Flüchtlinge und prekäre Billiglohnjobs für die geduldeten ArbeitsmigrantInnen inklusive.

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Die Neue Mitte modernisiert besser

Dabei sind die Nazis längst nicht mehr als Impulsgeber für den staatlich regulierten Rassismus selber nötig. Noch weniger für die kapitalistische Modernisierung heute: beschränken sich doch ihre wirtschaftspolitischen Programme auf die romantisch-imperialistische Restaurierung eines verallgemeinerten familiären Mittelstands, in den sie ihre »deutsche Arbeit« ebenso utopisch zurückstopfen wollen wie in die grobstofflichen Formen eines industrialistischen Taylorismus à la »Deutsche Arbeitsfront«, das Ganze flankiert von der alten Arbeitslager- und Vernichtungdurch- Arbeit-Inbrunst. Diese Formen braucht der Kapitalismus heute so nicht mehr: Die Mittelstandsnostalgie wird locker von CDU bis Grünen abgedeckt, und für die modernisierten Konzepte direkter Zwangsarbeit sorgen längst die grün-sozialdemokratischen think-tanks, wo es um die Überführung und Betreuung der herausgefallenen bzw. »entlaufenen« LohnsklavInnen in maßgeschneiderte Jobs gehen soll, die »wirklich« den eigenen Vorstellungen entsprechen sollen und für die man aber auch »wirklich« etwas tun muss . . .

Nein, die Nazis sind für etwas anderes da: Nicht zufällig hat sich bei ihnen längst der »sozialrevolutionäre« Flügel durchgesetzt. Ihre gegenwärtige Funktion besteht nur darin, allen spontanen Unmut, alle Ansätze emotionalen Staus und Unbehagens im Kapitalismus, die in irgendeine antikapitalistische Rebellion ausschlagen könnten, restlos aufzufangen und in ihrer antisemitischen, pseudosozialistisch-rassistischen und kriegs-, schlachthaus-, vernichtungsgeilen Grundsuppe zu ersäufen. Nur diese rein ideologisch-politische Funktion erfüllen sie noch: die Reste oder Ansätze einer revolutionären Linken vom Topos der sozialen Revolution, von der Perspektive einer nicht mehr kapitalistischen Gesellschaftlichkeit restlos zu enteignen, sie als Möchtegern- Todesschwadronen einzuschüchtern und zu binden und ansonsten die rassistische Färbung der alltäglichen Konkurrenz »weltanschaulich« zuzuspitzen und »radikal« zu pushen. Diese Spielart von »Antikapitalismus« und Arbeitsideologie ist es, die das Kapital, der Nationalismus des »Standorts« und der Staats-»Antifaschismus« der »stolzen Deutschen« jetzt braucht. Der Schoß aber wird immer fruchtbarer, aus dem das kriecht.

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Nationalrevolutionär gegen das »Finanzkapital«

Dieser verkürzte und verdrehte »Antikapitalismus«, diese Anbetung und Beschwörung der konkreten »deutschen« Arbeit, mit denen die braunen Kohorten jetzt wie Gespenster in den Ruinen der einst modischen Kapitalismuskritik der 1970er Linken erscheinen, beutet nur konsequent die jahrzehntelange Enteignung von kritischer Theoriebildung und revolutionärer Perspektive in beiden deutschen Staaten und in dem Vierten Reich der neokapitalistischen deutschtümelnden Verblödung aus: die klägliche flächendeckende Bewusstseinslage auch in der übrig gebliebenen Linken, dass das Kapitalverhältnis als Ganzes mehr denn je undurchschaut geblieben ist und deshalb links wie rechts immer wieder in Zins tragendes »raffendes« Kapital der Banken, »der Spekulanten« usw. – kurz: irgendwelcher böser verschwörerischer Geldmenschen bzw. -Unmenschen – einerseits, gutes, Werte und Stoffe »schaffendes« Kapital andererseits polarisiert werden kann, wobei der Augenschein des »Geldes, das arbeitet«, diese höchste Fetischform der kapitalistischen Warenproduktion, zu dieser »Alltagsreligion« tagtäglich führt und somit das mystifizierte Aussaugen und Ausbeuten fremder Arbeit als das Produktionsverhältnis jeden Kapitals (Mehrwertproduktion) unaufgedeckt bleibt. Eine notwendige Funktion und Komponente des kapitalistischen Gesamtreproduktionsprozesses wird abgespalten und als geheimnisvolle Potenz (eben »des Juden«) zur Bereicherung, als verschwörerisch-blutsaugerische Macht personifiziert und dämonisiert.

Zugleich damit wird »die Arbeit« als gleichsam naturhafte Quelle des Werts und Profits fetischistisch überhöht, weil der kapitalistische Lohnfetisch nicht erkannt werden kann: die Tatsache, dass unsere Arbeitskraft verkauft wird – und nicht »die Arbeit«, die selbst keinen Wert hat –: Aus dem Kauf der keineswegs natürlich bedingten Ware Arbeitskraft allein kann Wert, Mehrwert (mehr Wert, als die Ware Arbeitskraft in Gestalt des zu ihrer Reproduktion nötigen Warenkorbs selber hat) und somit Kapital schlechthin produziert werden. Nicht aus »der Natur der Arbeit« bzw. »der Arbeit« als gleichsam biologischer Naturkraft kommt Profit zustande, sondern erst aus den kapitalistischen Eigentumsverhältnissen, nämlich der Nichtverfügung über die gesellschaftlichen Produktionsmittel und Lebensmittel, einem besonderen, gewaltsam hergestellten, historischen Produktionsverhältnis, das unsere, die gesellschaftliche wie individuelle, Arbeitskraft überhaupt erst zur Ware macht.

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Deutsche Arbeit = Gottesdienst

Von den Nazis wird also auf konsequenteste, verblendetste und verkehrteste Weise das Kapitalverhältnis selbst als Aneignung fremder, unbezahlter Arbeit – wegprojiziert: auf einen personifizierten, konstruierten Sündenbock. »Die fremde Macht, die uns aussaugt und beherrscht« wird phantasiert als »die Juden« (deren Wesen laut Hitler gerade die Nichtarbeit sei) und als alle »minderwertigen«, sprich »arbeitsscheuen, arbeitsunfähigen, auf unsere Kosten lebenden Elemente« im Sinne von »Untermenschen, niederen Rassen und (biologisch-genetisch) Asozialen« usw. usf. – kurz: der ganze fremde = arbeitsunwillige Rest der Welt. Deutsch sein heißt in diesem Wahnsystem Arbeit als Selbstzweck, Opfer für »die Gemeinschaft«, Lebenssinn und Gottesdienst: »eine Sache um ihrer selbst willen tun!« Alle dagegen, die nicht an diesem deutschen Wesen genesen, nähmen dem »anständigen, rechtschaffenen« treudeutschen Arbeiter die Früchte seiner deutschen Wertarbeit weg.

Es genügt ein Blick auf dieses deutsch-kapitalistische knechtselige Arbeitsethos (das Hitler am konzentriertesten in seiner Rede über »Deutsche Arbeit und Judentum« schon 1920 formuliert hat), um zu sehen, wie tief und breit dieser »Gemeinsinn« in der Mitte – ob alt oder neu – dieser deutschen Bürgergesellschaft sitzt – an der Wurzel des deutschen Kapitalismus und spießbürgerlichen »Deutschen Sozialismus«, dem er bis heute in allen möglichen Formen wieder neu entspringt. So formulieren die alten und neuen Nazis nur unverblümt-zynisch aus, was der deutsche Normalbürger mehr oder weniger verschämt schon immer fühlt und »denkt«: So wie das BRD-Staatsbürgerrecht noch immer juristisch ein »Bluts«-Recht ist, so ist auch die deutsche Vorstellung von »Arbeit« nach wie vor mit der Hitlerschen identisch: »deutsche Arbeit«, »deutsches Wesen« und »deutsches Blut« verschmolzen.

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Standortsicherung braucht Co-Management

Wie dringlich das Kapital unsere Bindung an »den Standort« unserer Ausbeutung festklopfen und verinnerlicht sehen will, spricht es mit der Stimme des Handelsblatts aus, das am 20. März fordert, es sei »notwendig, jetzt von Zuwanderung, Selbstbewusstsein, Leitkultur zu sprechen«, und »die Nation« müsse das Thema Nr. 1 im Bundestagswahlkampf werden: »denn die anderen drängen uns zu mehr Selbstbewusstsein« bei der Konkurrenz um die hegemoniale Formierung des Kerneuropa- Projekts. Die verschärfte Konkurrenz der Kapitalgruppen beruht aber auf der verinnerlichten, vermobten Konkurrenz der Lohnabhängigen unten, auf der ökonomisch stimulierten Mentalität der »Arbeitnehmer«Innen im internationalen Kampf um »die Arbeitsplätze« – den Standort des kleinen (Aufstiegs-) Mannes und der kleinen (Karriere-) Frau sozusagen. Nach neuerer Umfrage sprechen sich 67 % der deutschen Jugendlichen »gegen arbeitsplatznehmende Ausländer« aus.Und auch in der Gewerkschaftsjugend greift seit Jahren der Wirtschaftsrassismus um sich – ein Menetekel für die Träger des »Bündnisses für Arbeit«, das nichts anderes als das blairistische Bündnis von Kapital, Staat und Co-Management für den modernisierten Ausbau der Lohnsklaverei in erweiterte, direkte Zwangsarbeit ist. Denn zum Grundsatz aller National-Sozialisten und Rassisten, »Deutsche Arbeitsplätze für Deutsche«, ist es von der Arbeitsplatzideologie kaum noch ein Sprung. Wenn die Führung des DGB den Fetisch Lohnarbeit/ Kapitalstandort am 1. Mai in Gestalt des Kultus um »mehr Arbeitsplätze«, »Erhalt des Standorts«, »für soziale Gerechtigkeit – gegen die Banken- und Spekulantenmacht« usw. auf deutschsozialistische Art einklagt und zum Fest des höchsten Wesens erhebt, dann ist diese gefährliche Rhetorik den Interessen der »nichtdeutschen« LohnarbeiterInnen nicht gerade dienlich, die in der BRD von der rot-grünen Regierung auf soft-»multikulturelle« Weise ausgeschengent und eingedeutscht werden sollen.

Eine Front gegen den »Antikapitalismus« der Nazis gar ist mit Losungen wie »Arbeitsplätze statt Ausländerhetze« schon gar nicht zu bilden. Im Gegenteil: Mit der »Arbeitsplatz«-Phraseologie begibt man sich auf das Terrain des Gegners und letztlich in gefährliche Nähe zum Wahn der Nazis von der »deutschen Arbeit«, den Hitler dem niedergeworfenen revolutionären Proletariat verordnet hat, als er den 1. Mai zum »Tag der nationalen Arbeit« machte, an den die Nazis uns in Frankfurt – ihrer Stadt des deutschen Handwerks – konsequent erinnern wollen, um endgültig den wirklichen Sinn des 1. Mai, Kampftag des internationalen Proletariats seit 1886, auszulöschen und in sein Gegenteil umzukehren. Der 1. Mai bleibt aber symbolisch und wirklichhistorisch ein Fest der Internationale aller Menschen, die sich gemeinsam gegen ihre Ausbeutung durch das Kapital wehren.

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Klassenkampf vs. Nation

Diesen originären Charakter des 1. Mai zu betonen ist jedoch nicht nur Ausdruck eines sturen »Trotz alledem !«, sondern fundamentale Bedingung für die Wieder-Entdeckung der eigenen Geschichte und die Entwicklung einer wirklich antikapitalistischen Strategie, die gegen die Fetischformen Lohnarbeit, Staat und Nation die internationale Klassensolidarität der Proletarisierten, die Überwindung der Konkurrenz der Lohnabhängigen untereinander setzt. Genauso wenig jedoch, wie »die Nation« oder »die Arbeit« naturwüchsig aus den gesellschaftlichen Verhältnissen erwachsen, sind die Lohnabhängigen per se revolutionär und solidarisch. Das Proletariat konstituiert sich als Klasse im Verlaufe eines langwierigen und widersprüchlichen Prozesses, der auch von Niederlagen und Rückschlägen geprägt ist. Dabei spielt auf der Ebene der elementaren Klassenerfahrung die Aufspaltung der Lohnabhängigen in FacharbeiterInnen und Ungelernte, aufsteigende und untergehende Industrien, privilegierte und unterprivilegierte ArbeiterInnengruppen eine Rolle. Auf der politischen Ebene spielt sich immer wieder von neuem die Auseinandersetzung ab zwischen sozialpartnerschaftlichen, auf nationale Integration der Arbeiterbewegung und ständischen Chauvinismus der privilegierten »weißen«/»deutschen« Facharbeiter gegenüber MigrantInnen, Frauen und weniger qualifizierten ArbeiterInnen setzenden reformistisch-staatsfetischistischen Bürokratien einerseits und jenen Strömungen der Arbeiterbewegung andererseits, die den herrschenden Klassen und ihren Ideologien ihre proletarische Selbstorganisation, einen praktischen Internationalismus und den Kampf gegen das Lohnsystem als Ganzes entgegensetzen. In dieser Auseinandersetzung muß sich der Klassenstandpunkt der Proletarisierten und seine Umsetzung in revolutionäre Praxis immer aufs neue herausbilden und behaupten.

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Eine Klasse ohne Nationalität

Schließlich gab und gibt es keine »deutsche Arbeiterklasse« als homogenen »weißen« Block und »Nährstand der Nation«, sondern immer nur das Proletariat in Deutschland – eine Abteilung des Weltproletariats, ebenso global und multipel wie das Kapital, das es in transnationaler Kooperation produziert und von dem es in internationaler Konkurrenz um die Wette ausgebeutet wird. Die »deutschen Arbeiter« waren von jeher eine Ansammlung aus verschiedenen Migrationsschüben, deren Beteiligte gegen jeweils eine andere Einwanderergruppe ausgespielt wurden. Die polnischen ArbeiterInnen im Ruhrgebiet im 19. Jahrhundert etwa, die wie der letzte Dreck behandelt wurden, deren Nachkommen 150 Jahre später selbst von den Nazis zum Kern der »Volksgemeinschaft« gezählt werden.

Im deutschen Sprach- und Kulturraum setzt sich der gesellschaftliche Gesamtarbeiter mehr denn je zusammen aus allen möglichen Segmenten und Individualitäten, deren Fähigkeiten, deren Mobilität und Migration schon längst den künstlich-»natürlichen« Schranken der nationalstaatsbornierten Produktion, ja der kapitalistischen, sprich: firmen- und staatsbornierten Produktionsweise der Geld-, Tauschwert-, Profitproduktion um ihrer selbst willen ins Gesicht explodiert. Um so anachronistischer und irrsinniger ist die Zwangsvorstellung der Nazis von dem »deutschen Arbeiter«. Sie stützten sich auf eine korrumpierte Herrenschicht von Facharbeitern, die dem zu beaufsichtigenden Heer der »Fremdarbeiter« aller Länder gegenübersteht. Gleichzeitig wurden und werden die »Minderwertigen«, »Arbeitsscheuen«, »Querulanten«, »Unnormalen« und »Bummelanten« im Inneren aus dem Staatsvolk herausselektiert. Klarer kann der rassistische Charakter dieser Aufspaltung des Proletariats in Deutschland nicht zu sich kommen. Wer immer eine solche national-sozialistische Vorstellung vom deutschen Arbeiter schürt, fördert die Selbstzerfleischung der internationalen Klasse.

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Haymarket als Fanal und Beispiel

Als Anfang Mai 1886 in Chicago am Haymarket die Auseinandersetzungen zwischen ArbeiterInnen und Kapital eskalierten, in deren Gefolge schließlich fünf Anführer der Streikbewegung hingerichtet wurden, handelte es sich bei der Mehrzahl der demonstierenden ProletarierInnen um EinwanderInnen aus den verschiedensten Ländern, aus Polen, Irland, Deutschland, Italien, Russland kamen sie, und jede Einwanderergruppe hatte noch bisher die ein paar Jahre früher gekommene im Kampf um die niedrigeren Löhne verdrängt, der Rassismus aller gegen alle war das vorherrschende Prinzip gewesen. In dieser seit 1877 ausgebrochenen Bewegung, ausgelöst ursprünglich von den Eisenbahnarbeitern von Pennsylvania, war dieses Konkurrenzverhältnis erstmals durchbrochen worden, und in den »Knights of Labor« entstand eine kämpferische Organisation, die der korporatistischen »American Federation of Labor« (AFL), die fast ausschließlich weiße angelsächsische Facharbeiter vertrat und z. B. afroamerikanischen ArbeiterInnen teilweise immer noch den Zugang verwehrte, eine praktisch-internationalistische Alternative gegenüberstellte.

Aus den Protesten gegen diese Hinrichtungen, die schon kurz darauf selbst vom neu gewählten Gouverneur von Illinois als Justizmord bezeichnet wurden, entstand der 1. Mai als gemeinsamer Kampftag aller ArbeiterInnen, egal welcher Nationalität und Herkunft. Und sie, die immer wieder darum kämpfen mussten, innerhalb der »etablierten« Arbeiterbewegung überhaupt zur Kenntnis genommen zu werden, kämpften in der Regel nicht einfach um »Arbeitsplätze«, sondern um kürzere Arbeitszeiten, gegen die Hetze am Arbeitsplatz, gegen mörderische Arbeitsbedingungen und – gegen den Chauvinismus rassistischer Vorarbeiter.

Dabei ging es immer um das Zurückweisen einer ganzen Arbeitsmentalität des Kapitals und seiner Modernisierungstechniken, in der alles ausgekämmt werden muss, was sich an Lebensformen und Mentalitäten der restlosen Einverleibung und Ummodelung durch den kapitalistischen Produktionsprozess sträubt. Gegen diese Zurichtung kämpften z. B. auch große Teile der italienischen Massenarbeiter der sechziger und siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts, aus deren Kampf und Sabotageformen viele Impulse für die militante operaistische Linke und viele weitere Taktiken und Formen des Klassenkampfes bis heute stammen. Viele dieser un- und angelernten ArbeiterInnen, die in der Hochzeit des Fordismus von den großen Automobilwerken Norditaliens geschluckt wurden, stammten aus dem agrarischen Süden und besaßen weder jenen Fundus an Kampferfahrungen und Ritualen der alten reformistischen Arbeiterbewegung, noch hatten sie jenen ständischen Stolz der qualifizierten Metallarbeiter auf den Arbeitsplatz, das Werk, den Konzern. Sie kamen aus Strukturen, die nicht von der Totalität und Rationalität des kapitalistischen Produktionsprozesses geprägt waren, und empfanden daher die daraus entspringende Arbeitssituation als fremd und feindlich. »Kampf gegen die Arbeit« war darum auch das Leitmotiv ihres mit äußerster Militanz geführten Kampfes und gemeint war die entfremdete Lohnarbeit. Hinzu kam als »ewiges« Spaltungselement die rassistische Diskriminierung durch die Norditaliener, der sie als ArbeitsmigrantInnen innerhalb Italiens ausgesetzt waren.

In dieser Dimension ist der 1. Mai die internationalistische Fete gegen alle hierarchischen, zerstückelnden Formen der Arbeit, wie sie uns die kapitalistischen und staatlichen Eigentumsverhältnisse aufzwingen, eine Feier der Kämpfe für unsere endgültige Emanzipation von aller Zwangsarbeit, Verwertung als Ware Arbeitskraft, Konkurrenzwahn und Trennung von unseren eigenen kooperativ-kreativen Möglichkeiten, für das Zur-Geltung-Bringen unserer selbstbestimmten »Welt produktiver Anlagen« und Bedürfnisse als gesellschaftliche, weltgesellschaftliche Individuen, für die gesellschaftliche Aneignung des ungeteilten, ungeheuren Reichtums, den wir als Weltgesellschaft schon längst hervorbringen und mit allen gemeinsam sinnvoll verwenden und genießen könnten – sobald die Zwangsformen von Kapital, selbstzerstörerischer Konkurrenz und rassistischer Menschenschinderei von unserer Arbeit und unserem Leben endlich abgeworfen sind.

Geschrieben Ende März 2001

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