Auseinandersetzung. Aus dem Zirkularbrief 3 von Oktober 2001
Peter Christoph, Lutz Getzschmann
Initiale Erklärung
Die Sozialistische Studienvereinigung und die Albträume der Linken. Stellungnahme zum Austritt von Henning Böke.
1.
Henning Böke spricht einige echte grundsätzliche Probleme an, die nicht allein die sozialistischeStudienVereinigung hat: die Situation ist in der Tat grotesk. Während die Ausweglosigkeit und Katastrophenhaftigkeit des Kapitalismus gegenwärtig geradezu nach einer Aufhebung durch die kommunistische Revolution des Weltproletariats schreit, scheint diese Gesellschaftsklasse, als deren halbwegs bewusstes Element wir uns sehen, »am Boden zerstört«, ganz und gar zerstreut, atomisiert, handlungsunfähig, ja inexistent zu sein. Die meisten Linken – dieser traurige Rest aus dem vergangenen Jahrhundert – empfinden heute schon die bloße Erwähnung der Kategorien »Proletariat, Klassenkampf, Kapital und Lohnarbeit« als obsolet, unangebracht, ja als anstößig und absurd.
Die ideologische Konterrevolution des »Postmodernismus«, die als Reaktion auf »1968« ihren nahezu perfekten Siegeszug antrat, hat jegliche Unterscheidung von objektiv ansichseiender Realität des gesellschaftlichen Seins und subjektiven Reproduktionsformen des Bewusstseins als »naiven Realismus« diskriminiert und im Alltagsbewusstsein sehr weitgehend ein Rollback des dialektischen kritischen Denkvermögens sowie materialistischen Geschichtsbewusstseins, des approximativen Totalitätsanspruchs von Erkenntnis auf Seiten von uns Lohnabhängigen angerichtet. Kein Wunder, dass die grundlegende Unterscheidung von Klasse-an-sich als empirischem Aggregatzustand und Klasse-an-und-für-sich als wirklich daseiende Möglichkeit (nicht: leere Utopie) fast ganz aus dem Durchschnittsdenken herausgedrängt worden ist.
Man hält sich empiristisch-pragmatistisch »positiv« an das, was gerade mal da ist, und wehrt jeden Gedanken, jede Anstrengung und Arbeit des Begriffs, jede Theorie-Bildung mit langem Atem (die womöglich nicht am Gängelband der positivistischen, kathedersozialistischen linken Professorenwissenschaften läuft), als »unprofessionelle« /wilde und »abgehoben«-weltfremde, unpraktisch-spekulative »Pseudopraxis« ab.
Die wenigen selbständigen Versuche von Lohnabhängigen, wissenschaftlichen Sozialismus und Kommunismus nicht nur erst wieder als solchen zu rekonstruieren und zwar »auf der Höhe der Zeit«, sondern damit zugleich schon politisch zu intervenieren – im Sinne des Kommunistischen Manifests also keinen Augenblick zu unterlassen, unter uns Lohnabhängigen »ein möglichst klares Bewusstsein über den feindlichen Gegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat herauszuarbeiten«, »die Eigentumsfrage, welche mehr oder minder entwickelte Form sie auch angenommen haben möge, als die Grundfrage« in jeder Bewegung hervorzuheben, besonders die »von der Nationalität unabhängigen Interessen des gesamten Proletariats zur Geltung zu bringen« und in allen Einpunkt- und Teilbereichsbewegungen »stets das Interesse der Gesamtbewegung zu vertreten« - alle derartigen Ansprüche und Anläufe Weniger laufen Gefahr, heute abstrakt zu klingen, sie werden gerne als Belehrungsgestus abgetan, dessen niemand bedürfe, denn gegen »den Kapitalismus« seien »wir« ja schliesslich irgendwo alle. Man verbittet sich »Verlautbarungen«! Nein: fertige, praktikable Patentrezepte von Managern und Experten müssten es schon sein, damit wir die Menschen des Alltags »abholen« könnten, mit denen wiederum angeblich über pragmatistische Anweisungen hinaus nicht zu reden sei.
In der Tat stellt sich dieses grundlegende Dilemma von Klasse-an-sich und Klasse-für-sich auf allen Ebenen praktisch dar: als ständige Kluft zwischen zu großer Abstraktheit und zu wenig Konkretion, als Diskrepanz zwischen der Sprache der Linken und revolutionären Sozialistinnen einerseits und »den Leuten« andererseits: den Generationen der heutigen medial geprägten Konkurrenz-, Mobbing-, Prestigekonsumtions- und Trallalla-Gesellschaft, die dem Selbstbild nach ausschliesslich aus »Bürgerinnen«, aus Sub-Unternehmerlnnen und »Managerinnen ihrer Arbeitskraft« zu bestehen scheint, kurz: aus Karrieristinnen. Dieses echte Dilemma aber ist nicht auf einer Ebene allein aufhebbar. Gewiss nicht aufgrund ausschliesslich »Diskurstheorie« und als Praxis der Vermittlung von »Diskursen« als solchen. Schon gar nicht durch opportunen Verzicht auf Kategorien, Begrifflichkeiten und methodologische Essentials vorab, die nun mal den Grundbestand der »Alten Schule« der Marxschen Theorie und damit des wissenschaftlichen Sozialismus bilden, deren kritische, materialistisch historisierende Rekonstruktion und »Dekonstruktion« wir uns ja gerade angelegentlich sein lassen wollen, wozu wir gerade diese Studienvereinigung gegründet haben.
2.
Es ist nun eine eigentümliche und unredliche Verdrehung - in der Geschichte des ideologischen Klassenkampfes allerdings alles andere als neu - , diese Bemühung, dieses Anliegen per se als »Orthodoxie«, Traditionalismus, Doktrinarismus und Dogmatismus zu diskriminieren, kurz: als old-school abzutun, Rekonstruktion und kritische Dekonstruktion vorab gegeneinander auszuspielen, »Diskurstheorie« und Sprachparadigma gegen Historischen Materialismus, Dialektik und Produktionsparadigma einseitig-hegemonistisch einzuklagen und den »guten alten Marx« in sein 19. Jahrhundert zurückzuscheuchen, seinen Theorieansatz zum schlechten Alten zu erklären, der endlich und ein für allemal durch das gute Neue ersetzt werden muss! So billig und töricht dieser Affekt auch offensichtlich ist (das Neue ist nicht besser, nur weil es in ist und das Alte out), so schlägt er doch immer wieder regelmäßig um so heftiger allen Versuchen entgegen, die sich dem Verschütteten, Übergangenen, Vergessenen, Verdrängten, Verkannten, zu Rettenden und damit erst Neuen, Brauchbaren im Schutt des Trümmerfelds der Klassenkämpfe zuwenden, es erforschen, sichtbar machen, zugänglich machen und davon allererst selbst lernen möchten (docta spes).
Die Maxime von Marx - wie von jeglicher Wissenschaftlichkeit! -, dass an allem und jedem zu zweifeln ist, sollte in diesem Sinne genau unsere Devise sein: allererst an den uns begegnenden, so »selbstverständlichen« und akademisch-mächtigen, von den rechten Feuilletons und im linken Blätterwald so einhellig abgesegneten und kolportierten Gewissheiten radikalen Zweifel anzumelden - das Bewusstsein zu schüren, dass noch immer und mehr denn je in der Gesellschaft des kapitalistisch-medialen Spektakels »die herrschende Ideologie die Ideologie der herrschenden Klasse ist«. Und das gilt für die »Denk«-Moden und Sprachregelungen der glorreichen Linken um so grausamgründlicher, als wir deren Teil sind ob wir wollen oder nicht. Theoretische Praxis müssen wir begreifen als rettende gegenüber dem Fundus revolutionärer Wissenschaft, der von den heutigen Siegern der Geschichte endgültig vernichtet werden soll. Da müssen wir es auszuhalten lernen, für die Pop-, Mode- und akademische Linke, der die kohärente Theorie- und Praxisbildung eh am Arsch vorbeigeht, was auch immer wir machen und anbieten, »die Konservativen«, die old-school-Marxisten, die »Traditionalisten und »Orthodoxen« vom Dienst zu sein. Wollen doch mal sehen, wer auf Dauer kritischer, radikaler und offener ist, wer hier die besseren und hartnäckigeren ZweiflerInnen sind! Genau in dieser Linie hat die Studienvereinigung bereits einen Reflektionsspielraum eröffnet, der in dieser Stadt und darüber hinaus in solcher Bandbreite und strömungsübergreifenden Offenheit, zugleich in einer gewissen Systematik der ideengeschichtlichen und bewegungsgeschichtlichen Aufarbeitung, bisher wohl selten organisiert worden war.
3.
Niemand weiss das besser als HB, weil er sich engagiert daran beteiligt hat. Sein plötzlicher Vorwurf, seine Klage, dass »ein mehr und mehr reflexionsfeindliches Klima entstanden« sei, ist ebenso unzutreffend und ungerecht, wie die Tatsache und der Zeitpunkt solchen Geredes uns allerdings alarmiert und sehr nachdenklich macht.
Was aber ist der Kern seines Unmuts, warum lässt er uns genau »in einer Zeit dramatischer Umbrüche«, erschwerter Kampfbedingungen im Stich? Er sagt es selbst: ihm geht es »nicht um ,Theorie' und ,Praxis', sondern um die Frage: Welche Theorie? Welche Praxis?« Hier ist allerdings schon eine grundlegende Divergenz. Denn nie - schon gar nicht in unserer »Grundsatzerklärung« – hat die Sozialistische Studien Vereinigung jemanden im Unklaren darüber gelassen, dass es hier um die Theorie nicht bloß als Selbstzweck geht. Als Mitglieder bemühen wir uns um die Befähigung zur »Anwendung«, zur Fruchtbarmachung unserer theoretischen Studien und Erkenntnisse, welche gerade als Befähigung zum Zweifeln, Überprüfen des angeblich doktrinär »gesicherten« Theoriekorpus, in der Kritik der Praxis notwendig ist. So ist Problembewusstsein, wenn wir gut sind in der Theorievermittlung, Resultat, und das Bewusstsein der Problematik des Verhältnisses von Theorie und Praxis selbst, nämlich wie sich ihre dialektische Dualität und Spannung jeweils in konkrete revolutionäre Praxis aufheben lässt, ist doch die Grundfragestellung, der Ariadnefaden, der sich durch alles zieht, was wir hier tun. Darin erst, entlang dieser permanenten (In)Fragestellung in all unseren Theoriefragmenten und der ganzen Studienbetriebsamkeit, schaffen wir doch erst die Reflexionsspielräume und haben tatsächlich einige geschaffen und geöffnet. Ein reflexionsfeindliches Klima entsteht immer dadurch, dass die Fragestellung des Theorie/Praxis-Verhältnisses als solche, als kategoriale Klärung und Streit um die Bestimmung ihres Wie in dieser konkret-historischen Situation, ersetzt und verdrängt wird durch die pragmatisch-machtpolitische Frage, »welche Theorie« und gleich auch »welche Praxis« sich gefälligst durchzusetzen habe, kurz: welche »Politik« unmittelbar zu machen sei.
4.
HBs »Finale Erklärung« schleppt das für die Restlinke typische narzisstische Missverständnis fort, es ginge um »die Linke« (d.h. darum, dass das Projekt Studienvereinigung »der Diversität der Diskurse und Paradigmen innerhalb der Linken Rechnung trägt und in erster Linie Reflexionsräume für eine Selbsterkenntnis der Linken ... erfordert«). Dieser eingebürgerte Selbstbezug »der Linken«, der sich für diese von selbst zu verstehen scheint, verkennt, dass in Wirklichkeit die subjektiv linken Individuen und Scenes nur ein Bruchteil der riesigen, objektiv daseienden Gesellschaftsklasse des Proletariats sind und dabei keineswegs sowas wie »Avantgarde« dieses gesellschaftlichen Lagers, eher im Gegenteil. Die Bruchteile innerhalb der Linken, die sich wiederum als revolutionär und gar sozialistisch/kommunistisch verstehen (statt lediglich diffus utopisch), bestehen derzeit fast ausschliesslich aus fossilen Resten der Alten Linken, sei es aus den geologischen Ablagerungen der Internationalen der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, sei es aus Residuen der Neuen Linken aus der zweiten Hälfte. Nichts gegen die weiteren Bemühungen um eine »Selbsterkenntnis der Linken«, aber in erster Linie und vom Ansatz her kann es nur um die Selbstverständigung der Klasse, der Proletarisierten und Pauperisierten, für ihre eigenen Zwecke und zur Aneignung ihrer wissenschaftlichen und praktischen kollektiven Arbeitsvermögen gehen, damit wir uns endlich als Proletariat selbst aufheben können. Die Linke in ihrem gegenwärtigen residualen Aggregatzustand dagegen ist mit nicht viel mehr als dem verbissenen »Abschied vom Proletariat« beschäftigt, dessen perennierende Geschäftsgrundlage folgerichtig die geradezu hysterische Abwehr »des Marxismus« und vor allem jeden dialektischen Denkanspruchs darstellt. Für den Parteibildungsprozess (wie Marx das »im großen historischen Sinne« nannte) des Proletariats heute gehört die Linke unübersehbar zum Rückständigsten, was die bestehenden Zustände gegen die weitere, kommunistische Vergesellschaftung aufzubieten haben; in erster Linie als ideologisches Reservoir nachrückender Führungskräfte-in-spe. (Eine »Kapitalschulung« irgendwann auch mal gemacht zu haben gehört heute ebenso zur Selbstqualifizierung dieser managerialen linken jungen Leute, wie sie zur radikalen Selbstschulung der Joschka, Joschka und Gerhard S. gehört hat.) Übrigens hat »die Linke« gute Gründe, sich niemals selber zu definieren: war sie doch immer nur der linke Ausleger des bürgerlichen Lagers (die Bezeichnung selbst entstand im Konvent der Französischen Revolution), und die bürgerliche »Demokratie bis ans Ende«, die »politische Revolution«, so hat schon Marx gezeigt, ist ihre wahre »soziale Seele«, die nun in der Tat ans Ende der linken Fahnenstange gekommen ist. Die Linke ist seit ihrem Versagen gegenüber dem deutschen NATOkrieg 1999 endgültig ein stinkender Leichnam, und mag sich auf ihre »Diskurse und Paradigmen« beziehen wer will.
5.
Die Grundsatzerklärung der Studienvereinigung hütet sich wohlweislich vor jedem emphatischen Bezug auf »die Linke« und begreift sich stattdessen ausdrücklich als Initiative der Selbstverständigung des Proletariats. Entscheidend ist hierbei vielmehr der Anspruch auf Aneignung theoretischer Wissenschaftlichkeit (Rekonstruktion des wissenschaftlichen Kommunismus ab Marx) und zugleich, untrennbar davon, die Anstrengung des Praxisbezugs. In Abwandlung des Karl-Liebknecht-Wortes (»Eure Moral ist nicht unsere Moral!«): unsere Wissenschaftlichkeit ist nicht die akademische (im gravierenden Gegensatz zur Linken, die von den Regulationsstrebern über die bürgerliche Antifa bis zur Poplinken sklavisch am Tropf der linken Professorenwissenschaften hängt).
Schon gleich nach seinem Eintritt in die sSV hat ja HB mit sicherem Instinkt in diese Kerbe gehauen, als er sich gegen »proletarisierte Intellektuelle«, die es nicht zum Professor geschafft hätten, entschieden-taktlos abgrenzen zu müssen meinte (und er hat mit dieser Selbstentblödung nicht aufgehört, die auch in seinen unablässigen sozialdemagogischen Anspielungen auf die soziale Prekarität der von ihm zu ideologisch-politischen »Antipoden« und Schädlingen projizierten Mitglieder der Vereinigung zugespitzt wird. Er spricht damit nur aus, was in Parteikreisen seit Wilhelms Zeiten immer so gedacht und geraunt wird: dass »Linksradikale« ja nur »Lumpenproleten« und kindische anarchistische«Literaten« sind, von denen es sich im Dienste des ehrbaren Facharbeitertums schleunigst abzugrenzen gilt. So schafft man wirklich ein außerordentlich günstiges Reflexionsklima!.. Wir halten es dagegen gerne mit dem Lumpenintellektuellen Karl Marx, der an seinen Freund schrieb: »Morgen werde ich fünfzig, und immer noch Pauper. Wie Recht (hatte) meine Mutter: De Karl hätte sollen machen Kapital!«, und der das auch nicht »gemacht« hätte, hätte er nicht nach der Devise gelebt: »Geh deinen Weg, und lass die Leute reden«. Wissenschaftlicher Sozialismus hatte sein Standbein von Anbeginn eher in der »splendid isolation« (Engels) gesellschaftlich Marginalisierter als im sado-masochistischen Dauergezänk des ach so realpolitischen Führungskräfte-Milieus »der Linken«.)
6.
Die Tatsache, dass heute nach wie vor die revolutionären und wissenschaftlich-sozialistischen Elemente des Parteibildungsprozesses des Proletariats aus den verschiedensten Strömungen der Linken kommen - woher denn sonst?! -, stellt uns nur vor eine praktische und allererst theoriepraktische Alternative: entweder im Schoße dieser großen Mutter verbleiben und mit dieser zugrundegehen (das ist das Schicksal der meisten »Neuen Linken« der 1960er und `70er gewesen) – oder uns endlich von ihr abnabeln und zur bewussten, aufhebenden Proletarität, d.h. zum wissenschaftlichen Kommunismus hin emanzipieren, etwas anderes bleibt uns garnicht übrig als diese Flucht nach vorn. Auch hier bringt der Mittelweg den Tod, weshalb jeglicher Opportunismus gegenüber dem linken und noch nicht einmal linken Mainstream die Hauptgefahr ist.
Wir suchen also die revolutionär gesinnten, wirklich radikal handelnden Elemente aus all den Strömungen zusammen, denen es um die Rekonstruktion einer theoretischen und praktischen Klassenposition geht statt um »linke Diskurse« um ihrer selbst und ihrer Angesagtheit willen. Unser Appeal kann lediglich in dem schlichten Wahrheits-, Wirklichkeitsgehalt unserer dokumentierten Anstrengungen begründet werden, den echten Dialog aller dieser Elemente zu organisieren, nicht mehr und nicht weniger. Dieser Dialog muss sich überhaupt erst Orte und Räume schaffen, eben für Reflexion, aber von vornherein zugleich Reflexion von eigener Praxis in Alltagsleben und Tagespolitik. Davon sind wir noch sehr weit entfernt.
Wir sind eine winzige, experimentelle lokale Initiative unter einigen anderen anderswo, die seit ein - zwei Jahren damit angefangen hat; deswegen ist die Weichenstellung so entscheidend, geht es um Sein oder Nichtsein gegenüber den Apparaten und den Scenes, die jeden Tag opportunistischer, panischer werden und sich von unabhängigen Elementen nicht kompromittieren, nicht die »Diskurs »-Hegemonie, die »Bildungsarbeit« und »Schulung« aus der Hand nehmen lassen wollen. Ihre stillschweigende Alternative heisst allemal: akademische Marxtöterei oder staatsparteilich-funktionale »marxistische Orthodoxie«, was darüber ist, ist vom Übel. Als genau dieses Übel zur Kenntlichkeit gelangt in den knapp zwei Jahren unseres Experiments, geht es jetzt in dieser Stadt und in dieser Situation ganz offensichtlich darum, uns nicht nur -wie bisher von Seiten der »linken Scene« möglichst unter Quarantäne zu stellen und die Berührungsangst und Dialogvermeidung mit den angeblich traditionalistischen »Altmarxisten« zu kultivieren, sondern von Seiten der tatsächlichen Apparate-Orthodoxie die Luft abzudrücken, als »Linkskommunisten« auszumachen und zu isolieren.
Beide Etikettierungstaktiken werden zwar durch unsere echte Pluralität, durch unsere Dialogfähigkeit und unser Programm fortgesetzt Lügen gestraft, aber der Bezug auf einen offenherzigen revolutionären Klassenkampf Standpunkt sowie unser anstoßerregendes Aussprechen der alten Devise: wir machen aus unseren antikapitalistischen Absichten kein Hehl – genügt einem peinlich berührten linken juste-milieu, sich augenzwinkernd über die »Unmöglichkeit« und »Politikunfähigkeit« von sowas längst einig zu sein. Gilt es doch immer nur »die Leute abzuholen« – man weiss zwar nicht woher und wohin und will darüber auch nicht sprechen, aber jedenfalls dürfen wir alle unter keinen Umständen aussprechen, »daß wir alle katholisch sind« (Thomas Seibert).
So stellt sich das ganze theoretische Selbstverständnis und das ganze praktische Dilemma »der Linken« - auf ihrem rechtesten wie »radikalsten« Flügel - gegenwärtig dar! Dementgegen können und müssen wir unweigerlich das enfant terrible sein. Wir suchen Streit! Und sonst gibt es für uns derzeit auch garnichts besseres, nützlicheres, dringenderes zu organisieren – mit möglichst vielen Mitstreiterinnen, in größtmöglicher Bandbreite und auf möglichst hohem wissenschaftlich-revolutionärem Niveau! HB dagegen klagt vorab »Konsens« ein, (er, der stets ohne Bandagen, im maoistischen Freistil »den ideologischen Klassenkampf exekutierend, wiederholt die inkrimimerten Genossen in der Vereinigung persönlich ebenso wie die von ihnen vorgebrachten Argumentationen als »hirnlose Wichser(ei)« behandelt hat), »Konsensfähigkeit«, die doch gerade erst hergestellt, im Dialog organisiert werden muss und niemals - behüte Gott - vorausgesetzt werden kann.
Dagegen weiss HB schon ganz genau, dass bestimmte, ihm missliebige »Positionen, die weder bei mir noch bei anderen Mitgliedern konsensfähig sind«, (was uns leid tut), aber angeblich »Konsensfähigkeit auch gar-nicht anstreben«, und er diffamiert die von ihm Ausgemachten als nichtarbeitende politikasternde Gschaftlhuber, die ihre abgedrehten linksradikalistischen Auffassungen hinterm Rücken des wehrlosen, hart arbeitenden Vereinspublikums »als repräsentativ durchzusetzen« versuchen; ja er phantasiert sogar in maoistischer Paranoia eine »faktische Fraktionsbildung« herbei, in der er »die Formierung einer neolinkskommunistischen Plattform« zu erkennen glaubt.
Henning Böke, statt weiter und redlich in der Vereinigung für seine Auffassungen zu kämpfen, verfällt damit in üble Demagogie. Wer politikastert nun hier, wer hetzt und intrigiert parteipolitisch in der Gegend herum? Die Frage sei gestattet. Die Antwort kann sich jede/r selber geben, die/der unser Engagement in Wort, Schrift und Tat überprüft. In Zugzwang gesetzt wurden wir durch die politischen Eskalationen dieses Jahres einerseits, auf die wir, da es niemand anderes aus der Vereinigung tat, prompt und jedesmal überstürzt-ungeschliffen durch Einschätzungen und Statements reagierten, die nur böswillig als »repräsentativ« für die Mitgliedschaft sich darstellend auszulegen waren, traten sie doch jedesmal explizit als »Diskussionsbeiträge aus/in der sSV« an die Öffentlichkeit und wurden durch die Dokumentation – gerade auch von HBs Kritiken daran! - regelmäßig fortgesetzt.
Daß die Vereinigung allerdings in dieses ihr Theorie/Praxis-Verhältnis (wie alle anderen auch) hineingestolpert ist, mit allen Mängeln, Fehlern und Klotzigkeiten, die den »Verlautbarungen«, die besser waren als stumme Betrachterinnen geblieben zu sein, anhaften mussten, ist nur nach vorne hin zu lösen: genau durch die endlich aufzunehmende Debatte um das heute zu realisierende, mögliche und zeitgemäße Theorie/Praxis-Verhältnis selbst, das heisst aber endlich auch der Organisationsfrage selbst – beides grundsätzlich-kategorial und historisch ausholend, wie es sich für wissenschaftlich sozialistische Theorie-Bildung gehört – und damit auch näher zur Einlösung einer »inhaltlichen Grundlinie« unserer politischen Erklärung zu kommen: »zur Strategie einer sozialistischen Klassenpolitik«.
Diese »inhaltliche Grundlinie« erweist sich indes bei HB als reformistisch im Kern. Er bringt es selbst am klarsten auf den Punkt: wenn er eingangs in linker Konsensgewissheit von »der praktisch zurzeit undurchführbaren Überwindung kapitalistischer Vergesellschaftungszwänge« spricht, schliesslich denen in der Vereinigung, die einer illusionsbesoffenen linken Öffentlichkeit gegenüber einmal hinzuweisen wagten auf die Erkenntnis seit Marx »Kapital«, dass der Kapitalismus keine bloße Geld-und Bankenmacht, sondern ein von uns selbstgemachtes System der »Produktion um der Produktion (von Tauschwer) willen« ist und nicht so einfach wegzureformieren oder -demokratisieren – unterstellt, sie würden »die Reinheit ihrer Gesinnung für wichtiger halten als das reale Los der Opfer des kapitalistischen Weltsystems«. Warum wirft HB das nicht direkt dem Karl Marx vor, der hier (wohl besonders »dogmatisch«!) zitiert wurde, dass er noch kein »radikaler Reformist« war wie die gutmenschlichen marktwirtschaftssozialistischen Professoren, die Lipietz,, Altväter und Michael Heinrich von heute mit ihren ewigen »Regulatoren« Geld und Staat, die im toten Marx nicht nur einen »Bruch«, sondern eine Kastration und Vierteilung bewerkstelligt haben? Weil er Marx nicht unterschieben kann, was er uns hier unterschiebt: nämlich Reformen und Revolution gegeneinander auszuspielen. Wenn wir aber ebenso wie Marx (MEW 23,320) die Dialektik von Staatlichkeit und Klassenkampf gegen den Staat des Kapitals so sehen, dass die Proletarisierten genau in diesem Kampf gezwungen sind, »gegen die Schlange ihrer Qualen« gesetzliche Schranken und Zwangsregelungen durchzusetzen, um sich nicht mit Haut und Haaren, Kind und Kindeskind dem »freien Kontrakt des einzelnen Kapitals auszuliefern, woher nimmt HB dann das theoretische Recht, uns im selben Atemzug des menschenverachtenden und arbeiterinnenfeindlichen Doktrinarismus zu zeihen, wie er unseren Marxbezug pauschal als »den wahren Jakob« verhöhnt?
Von Marx ist in der Tat besseres zu lernen als das undialektische Zerreissen und Gegenübersetzen von Reform und Revolution, wobei der historische Dialektiker den Akzent allerdings auf die Revolution-in-Permanenz (schon zu seiner Zeit!) legt, der »radikale« Reformist dagegen immer nur auf die Reformbewegungen, denen das Ziel nichts ist, »der Kampf ums Teewasser und (vor allem) die Macht im (!) Staat« alles (pardon Brecht!), und er deshalb diskursiv auch schon die Rede, ja den Gedanken an Revolution und Totalität als leeres »linksradikales, kindisches« Getöne und ausgesprochene Peinlichkeit empfinden muss
7.
Hier geht es nur um einige Richtigstellungen und Ausräumen von Unterstellungen; den Streit selbst , die wissenschaftliche Reflexion dieser Fragen, organisieren wir ja. Das »diskursive Zelebrieren von corporate identity«, dessen uns HB bezichtigt, ist pure Projektion. Soweit kommt es noch, dass die paar Leute, die sich in der Vereinigung am meisten engagieren, dafür noch geprügelt werden. Dann lassen wir es halt, und dann gibt es demnächst eben in der Region keine sozialistischen Studien mehr. Wir können uns des Gefühls nicht erwehren, das sei genau HBs Ziel. Entweder auf der von ihm gewünschten, entmarxten und praxisreduzierten informellen »Grundkonsens«-Identity, die mit den Essentials unserer Grundsatzerklärung nicht mehr viel zu schaffen hat – oder eben garkeine Theoriepraxis und politische Praxis mehr. Für letzteres sind schliesslich die diversen »Parteien« da, nicht wahr? Und wer nicht dort seine »politische Praxis« verorten mag, soll »Unorganisierte/r« bleiben, klingt wie »Amputierte/r« oder »Behinderte/r«. Eine sSV womöglich als harmloser Bildungsverein, als Anhängsel, bestenfalls Luxusgegenstand »ordentlicher«, »professioneller« Parteipolitik .-- eine klare Aufgabenteilung von »Theorie« und »Praxis« wie gehabt. Da soll es bloß noch um die Bestimmung gehen: »welche Theorie« hier durchgesetzt wird, wer - wen !
Diese althergebrachte Arbeitsteilung aber kündigen wir auf. - bei Strafe des Untergangs, wie Marx zu sagen pflegte. Uns geht es nämlich keineswegs um die »Überwindung kapitalistischer Vergesellschaftungszwänge« als stofflich-menschlich-inhaltlicher weitertreibender Vergesellschaftung! Sondern diese »Zwänge« aufzuheben, revolutionär-gesamtgesellschaftlich zu sprengen als die bloße Form der Produktionsverhältnisse, um unsere Gesellschaftlichkeit, unsere immensen Produktivkräfte endlich freizusetzen und selber transparent zu machen, unser Leben selbst zu produzieren, unsere Kommunikation selbst in die Hand zu nehmen – das fängt eben mit der Aneignung einer neuen Theorie/Praxis-Beziehung an, und die muss heute erst selber reflektiert, diskutiert und ausprobiert werden. Das ist unser Versuch, und wir finden es sehr schade, dass HB sich vorerst soweit daraus zurückgezogen hat.
10. Oktober 2001