Aus dem Zirkularbrief 1, Mai 2001
Theorie und Praxis in der Sozialistischen Studienvereinigung
Mit dem Bekanntwerden der Pläne faschistischer »Freier Kameradschaften«, den 1. Mai für einen Aufmarsch in Frankfurt zu nutzen, bildete sich im März ein Antifaschistisches Aktionsbündnis 1. Mai, an dem sich auch die Sozialistische Studienvereinigung beteiligt. Im Gegensatz zu den InitiatorInnen des Bündnisses jedoch setzen wir nicht auf eine reine Blockadeaktion, sondern versuchen, uns in unserer Arbeit auf die traditionellen gewerkschaftlichen Aktionen zum 1. Mai zu beziehen, schon deshalb, weil wir uns im Kern auf eine proletarische Klassenposition beziehen, aus der heraus der 1. Mai nicht irgendein Datum ist, sondern als Kampftag der internationalen Arbeiterklasse den Ein- flüssen der reformistischen Gewerkschaftsbürokratie entzogen werden muss und in dieser Dimension als Kulminationspunkt der symbolischen Kämpfe um die Autonomie der Arbeiterbvewegung per se auch ein Tag des Kampfes von RevolutionärInnen für internationale Klassensolidarität gegen Faschismus und nationale Integration ist. Deshalb versuchen wir, gemeinsam mit GenossInnen aus verschiedensten Strömungen und Organisationen, besonders aber gemeinsam mit den eingewanderten ArbeiterInnen, die heute den Kern der gewerkschaftlichen Demonstration stellen, vom Abmarschpunkt der DGB-Gewerkschaften aus den Zug zum Aufmarschort der Faschisten zu führen. Unsere Mitarbeit in diesem Bündnis war auch innerhalb unserer Struktur nicht unumstritten, was auch und vor allem darauf zurückzuführen ist, dass das Verhältnis zwischen Theorieaneignung und der Entwicklung politischer Praxis ein zwar oft diskutiertes, aber keineswegs abschließend geklärtes Problem ist. Sollte eine so erklärte Bildungsvereinigung nicht vielleicht besser auf »ihrem Terrain« verbleiben und die politische Praxis den »politischen« Organisationen überlassen?
Nein. Gerade weil wir ein Zusammenschluss von GenossInnen aus unterschiedlichsten Zusammenhängen sind, die ihre jeweiligen Erfahrungen mit organisierter politischer Praxis nicht ohne Weiteres an der Tür zum Seminarraum abgeben, weil eine nun anderthalbjährige Zusammenarbeit zumindest eines Kerns der Mitglieder der Studienvereinigung auf dem Gebiet der Theorieaneignung nicht ohne Folgen für die politische Praxis der Beteiligten sein kann und vor allem, weil unser Begriff von revolutionärer Theorie und ihrer Funktion im Klassenkampf zwar alles andere als einheitlich ist, aber in jedem Fall beinhaltet, dass wir nicht gewillt sind, Bildungsarbeit um ihrer selbst willen zu machen, sondern als wesentlichen Bestandteil einer zu entwickelnden Praxis, die auf die Überwindung des Kapitalverhältnisses und der aus ihm entspringenden Unterdrückungsverhältnisse abzielt, können wir uns nicht als Bildungsorganisation alten Stils à la MASCH oder August-Bebel-Gesellschaft verstehen.
Mit der Frage nach dem Theorie-Praxis-Verhältnis ist zugleich immer auch die Organisationsfrage gestellt. Sie ist, dessen bin ich mir sicher, in der momentanen Situation nicht eindeutig unter Beseitigung der real bestehenden Widersprüche zu beantworten. Wir befinden uns in einer Übergangsphase, in der das Proleariat als potentiell revolutionäre Klasse sich im Rahmen der gegebenen massiven kapitalistischen Modernisierungsschübe neu zusammensetzt und sich die künftigen Kampfformen der aus diesen Prozessen neu entstehenden Arbeiterbewegung erst heranreifen müssen. In diesem Gesamtzusammenhang stellt sich auch die Frage, welche Praxen, welche Organisationsformen, welche Spielräume sich entwickeln.
Wir können also zurzeit in erster Linie ein Dach für verschiedene Initiativen und Projekte sein, deren Beteiligte sich auf der Grundlage eines revolutionär-antikapitalistischen Grundkonsenses mit Bezug auf die nichtreformistischen Strömungen der Arbeiterbewegung frei assoziieren. In diesem Rahmen muss es möglich sein, daß GenossInnen sich an Antifa-Blockadeaktionen beteiligen und zwar nicht nur individuell, sondern offen als Mitglieder unserer Vereinigung, dass gleichzeitig GenossInnen gemeinsam das Kapital lesen, sich über mögliche Organisationsformen revolutionärer Gewerkschaftsarbeit inner- oder außerhalb des DGB Gedanken machen, kurz: dass die Sozialistische Studienvereinigung im Rhein-Main-Gebiet nicht nur zu einer Anlaufstelle für Bildungsarbeit und Theoriebildung wird, sondern sich zu einer Gärmasse für unterschiedliche Bedürfnisse und Initiativen einer in den zukünftigen sozialen Kämpfen wachsenden revolutinären Minderheit innerhalb des Proletariats entwickelt. Auf diese Weise leisten wir in der Region einen nicht zu unterschätzenden Beitrag bei der Vorbereitung dessen, was Marx als revolutionären Parteibildungsprozess[1] des Proletariats bezeichnete, eben die politische Neukonstituierung des Proletariats zur Klasse.
Die Widersprüchlichkeit, die in unserer organisierten Theorie und Praxis liegt, die Spannung, die zwischen den verschiedenen Anforderungen und Vorstellungen liegt (grob gesagt : sowohl Bildungsgesellschaft als auch kommunistische Basisinitiative, sowohl marxistischen Debattenforum als auch Scharnier zu Teilen sozialrevolutionärer, anarchistischer und rätekommunistischer Zusammenhänge zu sein, sowohl regional begrenzte Arbeitsstruktur zu sein, aber den Austausch und die Vernetzung mit Organisationen und Initiativen aus anderen Regionen zu benötigen wie die Luft zum Atmen, aus dem absterbenden Kosmos der »alten« Linken zu kommen, deren begrenzten Horizont aber notwendigerweise überschreiten zu müssen, um die heranreifenden Konstellationen neuer Klassenkämpfe überhaupt wahrnehmen zu können), lässt sich nicht administrativ auflösen oder abrupt in die eine oder andere Richtung hin entscheiden. Das Aushalten dieser Spannung erst macht unseren kleinen Organisierungsansatz produktiv und interessant.
LUTZ GETZSCHMANN
Fussnote
1)»…war die politische Parteibildung der Arbeiterschaft für Marx ohne Zweifel mit dem historischen Prozess identisch, den er als proletarische Klassenbildung bezeichnete, und an dessen Ende die soziale Revolution stehen sollte. Nach Auskunft des Kommunistischen Manifests sollte sich die Organisation des Proletariats zur Klasse, und damit zur politischen Partei aufgreund ökonomischer Gesetzmäßigkeiten gleichsam von selbst vollziehen. Die Partei wurde hiermit der sich formierenden Klasse des Proletariats gleichgesetzt… Hiermit stimmt die Aussage des Manifests überein, dass die Kommunisten ›keine von den Interesssen des ganzen Proletariats getrennten Interessen‹ hätten. Sie waren in dieser Hinsicht als Partei ein Teil der proletarischen Klassenbewegung. 1860 nannte Marx in einem Brief an Freiligrath die aus dieser sich herausbildende Partei die ›Partei im großen historischen Sinne‹. Sie bilde sich ›aus dem Boden der modernen Gesellschaft überall naturwüchsig heraus‹. Auch die Internationale war für Marx ein ›naturwüchsiges Gebilde der proletarischen Bewegung, die ihrerseits aus den normalen und unwiderstehlichen Tendenzen der modernen Gesellschaft‹ entspringe. Häufig sprach Marx auch von ›spontanen Bewegungen der Arbeiterklasse‹, um die selbsttätige Entstehung der proletarischen Parteibildung zu beschreiben. « (Wolfgang Schieder, Karl Marx als Politiker, München 1991, S. 132 f.)