aus dem Zirkularbrief Nr. 7, Juni 2002

Der präventive Sicherheitsstaat und die Funktion des bürgerlichen Staates  

Bericht von der Veranstaltung am 13.3. mit Henning Mächerle von der Roten Hilfe Giessen  

{zum Ankündigungs-Text →}

Der Vortrag skizzierte die Herausbildung schöner neuer Erscheinungsformen des altbösen »Leviathan«, sprich: bürgerlichen Staatswesens, im Prozess der europäischen Integration um die Jahrhundertwende, und stellte dessen plastische und erschreckende Physiognomie vor Augen mit einer Tiefenschärfe, die aus der Rückführung der beschriebenen Repressionsformen auf die Basiskategorien der bürgerlichen Gesellschaft herausgearbeitet war.  

Diese historisch analytische (statt wie üblich angesichts dieses Gegenstandes demokratisch-moralisierend lamentierende) Herangehensweise kennzeichnete zum Glück auch die ganze Diskussion, so dass der Abend eine der selteneren Gelegenheiten war, einmal die eigenen, bedrückenden und alarmierenden Beobachtungen und Erfahrungen der aktuellen Staatlichkeit auf ganz konkreter Ebene mit der Wiederannäherung an die verschüttete theoretische »Staatsableitungsdebatte« zu verbinden - in Aktualisierung der Gretchenfrage: »Wozu Staat?«.  

Wir hoffen, demnächst auch dieses Referat ausgearbeitet ins Netz stellen zu dürfen, und geben hier nur einige Stichworte aus Vortrag und Diskussion wieder.  

Von der idealistisch-voluntaristischen Staatskritik der Anarchismen abgesehen, war für die überkommene Linke im vergangenen Jahrhundert weniger die Marxsche als vielmehr die Leninsche Staatsbestimmung (»Staat und Revolution«,1917) besonders prägend; diese schob als das Wesentliche die Repressionsfunktion aller staatlichen Formationen in den Vordergrund, basierend auf der historischen Notwendigkeit von Klassen(kampf)-Unterdrückung.

Später fragte Gramsci, warum die historische Stabilität des Staates über die Summe seiner Repressionsfunktionen hinaus die historisch-kulturelle Differenzierung in »Zivilgesellschaft« und »staatliche Gesellschaft« hervorgetrieben habe, und beantwortete diese Frage mit politisch-kulturell-ideologiekritischen Reflexionen zu einer strategischen »Hegemonie«-Möglichkeit des Proletariats innerhalb dieses letztinstanzlich in den Sozialismus aufzuhebenden Gebildes. (Nach dem Tode Gramscis: in Italien neo-revisionistischer KPI-Reformismus eines »historischen Kompromiss«, in Südwesteuropa »Eurokommunismus« und in BRD links akademische und semi-akademisch apparate-orientierte Konjunktur eines »radikalen Reformismus«, »linksradikalen« Kulturalismus und allseitiger »Sozialpakte« versuchten hieran anzusetzen.) In der sogenannten »Staatsableitungsdebatte« der 1970er Jahre in Westdeutschland ging es erstmals um die Frage des »repressiven Sicherheitsstaats«.

Vom strukturalistischen Theoretiker N. Poulantzas wurde die Frage nach dem Verhältnis von Staat - Macht - Produktionsverhältnissen neu aufgeworfen mit dem Akzent, dass es nicht einfach um das feste Institutionengefüge als politischem, juristischem usw. Überbau gegenüber der ökonomischen Basis gehe, sondern dass der Staat selber Teil der Produktionsverhältnisse sei, indem er Ideologie im Sinne von »Diskursen« produziere und reproduziere, d.h. gerade die Ideologie der herrschenden Klasse(n) mit der Funktion, ihre Taktik, weit über ihre think-tanks und eingefahrenen Diskurs-Strategien usw. hinaus, stets wieder neu zu bestimmen habe.

Diese Staatsauffassung geht allererst auf den Strukturalisten L.Althusser zurück (sein Theorem von »den ideologischen Staatsapparaten«). Der Referent erblickt darin »eine zutiefst materialistische Vorstellung davon, dass und wie auch Ideologie ein materielles Substrat braucht«.

Von dieser Fragestellung nach der Funktion von Ideologie her bestimmt sich aber »Staat«, seine Institutionen und Apparate - gerade sichtbar an den Funktionen des »Sozialstaats«. So wäre auch zu begreifen, dass und wie er Kämpfe auf dem Level von zu beherrschenden Gruppen bis zu regelrechten offenen Klassenkämpfen umdrehen kann, rekuperieren und sich einverleiben kann usw., Kämpfe und Widerstandsformen, die sich im Ansatz gegen seine Institutionen etc. richten. Von daher ist es wieder zwingend, zu untersuchen: wie haben sich die so gefassten Produktionsverhältnisse verändert.  

Die Repression im Innern ist zwar stets zugleich eine Funktion der Expansion nach aussen, aber darüberhinaus ist zu fragen, wie funktional diese Expansion ihrerseits fürs Innere als Organisationsform ist.  

Beispiel: das »Schengener Informationssystem« in der jetzigen Übergangszeit, in der sich aus der Dynamik der kapitalistischen Akkumulation die Organisationsform »Europäische Union« als  materielle Verschmelzung völlig unterschiedlicher  Reproduktionsformen der Ideologie (sprich: des Rechts etc.) herausentwickelt...  

Damit zusammenhängend die Frage, wie sich der Staat als »ideeller  Gesamtkapitalist« (Marx) darstellt: indem er das benötigte gesellschaftliche Medium »der ideologischen Staatsapparate« in ihrem Zusammenspiel ist, mittels derer die Bourgeoisie herrscht.

Das hiesse in der gegenwärtigen Übergangsphase des kapitalistischen Raumes der »europäischen Integration« also die nötige Schaffung einer präventiven Organisationsform. Tatsächlich ist zur Zeit bei allen europäischen Staaten eine ähnliche Struktur der Sicherheitsgesetzgebung zu beobachten. (...)  

Angesichts dieser Formierung wäre ja auch zu fragen, ob nicht so etwas wie ein Bündnis herzustellen sei zur Aufrechterhaltung der »bürgerlich-demokratischen Traditionen«. Um gegen die Bedrohung und Hinterschreitung bereits erreichter demokratischer Standards handeln zu können, müssten wir noch viel genauer nach Krisenentwicklungen, krisenhaften Verwerfungen schauen, die dieser Erosion und »Transformation der Demokratie« zugrundeliegen ... Zumal Analyse und organisierendes Handeln erschwert sind angesichts des Zustands der noch immer so »national konstituierten« Arbeiterklassen.

Demgegenüber verbreitert sich das Feld, auf dem wir uns bewegen, um so rasanter i.S.v. supra-, trans-nationalen Krisenerscheinungen. Aber offensichtlich ist zunächst ein dementsprechendes Bewusstsein am wenigsten bei »der« Arbeiterklasse »da«. An den derzeitigen Debatten der Herrschenden wird die enorme Reichweite und Intensität ihrer Krisenprognostik und -planung (i.S.v. Prävention gegen systemsprengende Revoltemöglichkeiten schon in jedem erdenklichen Ansatz und Vorfeld) deutlich.  

Beispiel: DST (Department for Surveillance of Territiories); Britisches Pendant zum BND: MI 6 und MI 5, von der klassisch-bürgerlichen »Mutter der Demokratie« in keiner Weise überprüft. Ohnehin kennt die immer als vorbildlich hingestellte bürgerliche Demokratie Großbritannens  1. keine geschriebene Verfassung, 2. gar keine »Bürger«, sondern nur »Untertanen«, 3. dafür das Vorbehaltsrecht der Krone: crown's prerogative, deren Ankläger willkürlich Beweismittel zurückhalten darf.

(Übrigens ist GB - verfolgt man den Nordirlandkonflikt - das einzige westeuropäische Land mit Todesschwadronen und Killerkommandos. Siehe auch Gibraltar in den 1980ern.) Zum »Secret Power Act«: In GB ist derzeit eine »terrorism bill« in Vorbereitung, in welcher das Wort »Terrorist« zur endgültigen und absoluten Kaugummibezeichnung geworden ist: danach kann sie sich z.B. auch gegen TierschützerInnen richten, aber vor allem gegen Leute, denen irgendwelche geschäftliche, wirtschaftliche »Interessenschädigung« von irgendwem zum Vorwurf gemacht wird. Zweitens zur »Regelung der Ermittlungsgewalt«: d.h., ob Polizei oder Geheimdienst oder Gerichte die Ermittlungen führen sollen /dürfen. (Erstere sitzen bereits längst an den internationalen Knotenpunkten der Internet- und E-mail-Überwachung.)

Noch ein Beispiel: Die US-Debatte in den 1990er Jahren über »titty-tainment« liess tief blicken. Dort wird schon lange, ausgehend von nüchternster Prognostik einer rasanten Krisenentwicklung in der sozio-ökonomischen Totalität, so etwas wie ein »Polizei-Rechtsstaat« als  »Brot & Spiele«-Konzept diskutiert.

Man kann inzwischen zu der Einschätzung gelangen:

Rekuperativ wird heute aufgrund der akkumulierten historischen Erfahrung so etwas wie eine ideologisch-staatliche »Strategie der Prävention« ausgearbeitet, und zwar ausgehend auf - »Perspektiven und Möglichkeiten von Selbstorganisation«.

Auf dieses Fazit bezogen sich in der Diskussion Hinweise aufs derzeitige Staats- und Herrschafts-Selbstverständnis als hauptsächlich tendenziell fast nur noch »Krisenmanagement« (E.Altvater paradigmatisch 1988 angesichts Schulden-,Weltwährungs- und Finanzkrisenentwicklung: »Der Crash wird kommen, aber wir werden das irgendwie schon hinkriegen (müssen).«) Also zunehmend die Herrschaftsform, Staatstransformation in »Krisenstäbe« auf allen Ebenen.

Zur »Selbstorganisation« der Ausbeutung der LohnarbeiterInnen durch ihre eigenen Teams etc.: Stichworte: »kommunitaristische Ideologie«, Tendenzen zum »Faschismus mit menschlichem Antlitz«. Stelle des gigantischen Hochleistungsbetriebs der Ideologieproduktion und des Herrschafts-Designs: Universität, immer bedeutendere Stelle dieses »ideologischen Staatsapparats«, dort trend-scout-mäßiges Aufspüren und Rekuperation von Subversions- und Rebellionspotenzial in der Gesellschaft durch insbesondere die »gewendeten Linken« (gebrochene »Achtundsechziger« und ihr karrieristischer Nachwuchs).

Forschungsauftrag »Krise & Gewaltprävention« oben, subaltern-verinnerlichtes »Krisenbewusstsein« unten: als verkehrtes »Wir-Gefühl«, Zerstreuung in der Partikularität. Monopolisierung und Selektion des historischen Wissens oben, »Brot & Spiele«-Totalitarismus unten. Gemeinsamer Nenner: der Rechts- und Staats-Fetischismus (Staatsgläubigkeit, Staat/Recht/Politik als Großer Mittler zwischen einzelnem homme bourgeois/homme citoyen und abstrakter Gesamtgesellschaft), wie erstmals von Marx aufgewiesen als Kehrseite des allgemeinen Warenfetischismus der politisch vollendeten bürgerlichen Gesellschaft.

A-historische Verklärung der Demokratie, als könnte diese nicht sich selbst hinterschreiten wie auch überschreiten, ist idealistische linke Tradition, wogegen schon Marx materialistisch nüchtern historisierend: »Das Recht ist die Anerkennung der Tatsache.« Nämlich wie die ökonomisch-politisch-ideologisch herrschenden Klassen sie gerade brauchen und/oder die kämpfenden Klassen sie durchsetzen.  

Zur Partikularität und Schizophrenie der lohnabhängigen Subjekte (auch: Beamten) in der staatlichen Verwaltung, unaufhebbaren Trägheit und Schwerfälligkeit der Bürokratie wurden verschiedene Beispiele aus der Alltagserfahrung diskutiert. »Fetisch« hier analog Geld, so auch hier direkt Gesetz, Recht, Staat usw., d.h. »der Funktionswille ist zugleich Funktion, Anpassung meiner narzisstischen Eigenliebe«.

Leitsatz von Max Weber: »Das, was die Kontinuität von Herrschaft garantiert, ist: die bürokratische Verwaltung.« Es gibt eine »Ästhetik der Bürokratie«, wie der passive innere Widerstand dagegen unausrottbar ist. Die idealistische Kurzsichtigkeit/Selbstverblendung in der Partikularität (»Ich gegen alle«, »Wir alle gemeinsam«als Firma, Nation usw. gegen die anderen, die Konkurenz), von Adorno als »Verlurchung« bezeichnet, ist also zugleich unvermeidlich spontan »materialistisch« motiviert und durchbrochen.

Hinweis auf die Einschätzung der sonst sehr »pessimistischen«, fast paranoid anmutenden situationistischen Analyse des späten Guy Debord (»Commentaires...«1988), wonach inzwischen zwangsläufig »die Geheimagenten Revolutionäre und die Revolutionäre Geheimagenten« sind: dennoch könnten die Herrschenden bei all ihren (staats-kapitalistisch so hochintegrierten) Anstrengungen um konterrevolutionäre Prävention nicht wirklich eine Strategie zustandebringen, weil diese dialektisches Denken voraussetzt, zur Aneignung und Entwicklung von Dialektik seien aber höchstens die Elemente der proletarischen Revolution noch fähig (aufgrund ihrer Lebenssituation, Motivation und historischen Lernfähigkeit in der Raum-Zeit-Organisation) ...  

zum Seitenanfang {zum Ankündigungs-Text →}

2013 || theoriepraxislokal.org