aus »Die Aktion«, Heft152/156,1996, S.99

Maximilien Rubel

Marx als Theoretiker des Anarchismus

 

Vorwort

Dieser Essay, der für L‘Europe en formation geschrieben wurde, ist dort in der Nr.163-164, Oktober-November 1973, erschienen, die dem Thema Anarchismus und Föderalismus gewidmet war. Er wurde 1974 in der Essaysammlung Marx critique du marxisme (Paris, Payot, p.42-59) veröffentlicht. Für die vorliegende Neuveröffentlichung wurde er sowohl in der Form überarbeitet, als auch um ein Post-Scriptum erweitert, in dem einige wichtige Aspekte des im ursprünglichen Text vernachlässigten zentralen Problems untersucht werden konnten. Der Wahrheit gemäß wäre die Frage erst erschöpft, wenn sie nicht mehr gestellt werden müßte, anders gesagt, sobald die Menschheit dem Bild ähnelt, an dem alle revolutionären Geister des 19. Jahrhunderts ihre Träume genährt haben, wie widersprüchlich ihre theoretischen Anschauungen auch gewesen sein mögen.

Wir finden bei Littré zwei Definitionen des Wortes »Theorie«, die es verdienen, darüber nachzudenken, bevor wir die Lektüre unseres Essays angehen:

  1. Spekulation; Kenntnis, die bei der einfachen Spekulation stehenbleibt, ohne zur Praxis überzugehen. (...)
  2. In der gewöhnlichen Sprache, jede allgemeine Vorstellung, vergleichsweise einer wissenschaftlichen Theorie. (...) Humanitäre sozialistische Theorien, abenteuerliche Meinungen, die über die Zukunft der Gesellschaften, der Menschheit gemacht werden.

Pierre Leroux erinnerte in seinen Überlegungen über den Krieg und »das Recht des Krieges« an die Grenzen der politischen Philosophie von Bodin, Machiavelli, Hobbes, Grotius und Puffendorf. »Die Spekulationen der Philosophen haben immer ihre Wurzel in ihrem Jahrhundert; sie können sich wohl isolieren und abstrahieren, es ist immer die Welt ihrer Zeit, welche ihnen den Antrieb gibt«, schrieb er 1827. Indem er danach zum »Ursprung und zur Entwicklung des friedlichen Prinzips« übergeht, ändert er seine Meinung und bemerkt: »Ich irre mich, es gibt auch immer kühne Geister, die sich vollkommen von ihrem Jahrhundert lösen. Dank dieser Menschen des Paradoxes gab es vielleicht nie und wird es vielleicht niemals ein Prinzip geben, das sich nicht im menschlichen Verstand gestellt hat, bevor es als Fakt entstand.« Und um drei Autoren zu nennen, »deren Ruhm es ist, sich mit Eifer und Glauben dem Prinzip des Friedens angeschlossen, es als Gesetz der Gesellschaften gepredigt zu haben, wobei sie den Krieg nur als eine Übertretung der Ordnung ansahen: Thomas Moore, Fénélon und Abbé Samt Pierre.«

Wenn es auch schwierig ist, Marx unter diesen »Menschen des Paradoxes« im Sinne von Pierre Leroux einzuordnen, so ist es auf jeden Fall legitim, ihn heute, in den Zeiten der universellen Herrschaft der politisch-militärischen Paranoia in der Sphäre der staatlichen und kulturellen Oligarchien, als einen Pionier der Ätiologie dieser fatalen Entfremdung unserer Spezies anzusehen. (1983)

Marx‘ Schüler, die weder die Bilanz noch die Grenzen seiner Theorie und auch nicht deren Normen und Anwendungsmöglichkeiten bestimmen konnten, haben ihm einen schlechten Dienst erwiesen:
er hat durch sie die Gestalt eines mythologischen Giganten angenommen, Symbol des Allwissens und der Allmacht des homo faber, Schmied seines Schicksals.

Die Geschichte der Schule bleibt noch zu schreiben, aber man kennt zumindest ihre Genese: der Marxismus wurde als Kodifizierung eines mangelhaft bekannten und interpretierten Gedankens geboren und entwickelt, als Marx‘ Werk noch nicht vollständig zugänglich war und wichtige Teile noch unveröffentlicht geblieben waren. So ging der Triumph des Marxismus als Staatsdoktrin und Parteiideologie der Verbreitung derjenigen Schriften um Jahrzehnte voraus, worin Marx außerordentlich klar und vollständig die wissenschaftlichen Grundlagen und die ethischen Intentionen seiner sozialen Theorie darlegte. Die Tatsache, daß unter Berufung auf ein Denken, dessen Hauptprinzipien den Protagonisten des historischen Dramas unbekannt geblieben sind, folgenschwere Umwälzungen entstanden sind, würde bereits ausreichen, um zu zeigen, daß der Marxismus das größte, wenn nicht tragischste Mißverständnis des Jahrhunderts ist. Aber man kann in gleichem Maße die Tragweite der von Marx aufgestellten These ermessen, wonach weder die revolutionären Ideen noch die moralischen Prinzipien die Veränderung der Gesellschaften und die sozialen Transformationen hervorrufen, sondern die menschlichen und materiellen Kräfte; Ideen und Ideologien dienen nur zu oft dazu, die Interessen derjenigen Klasse zu verschleiern, zu deren Gunsten sich die Umwälzung vollzogen hat. Der politische Marxismus kann sich nicht auf die Wissenschaft von Marx berufen und gleichzeitig vorgeben, sich der kritischen Analyse entziehen zu können, aus der sie ihre Waffe gemacht hat, um die Ideologien der Macht und der Ausbeutung zu entlarven.

Als herrschende Ideologie einer Herrenklasse hat der Marxismus die Begriffe von Sozialismus und Kommunismus, wie Marx und seine Vorläufer sie verstanden, erfolgreich jeglichen originalen Inhalts entleert, indem er an seine Stelle ein Wirklichkeitsbild setzte, das die totale Negation jenes Inhalts ist. Obwohl eng mit den anderen beiden Konzeptionen verbunden, scheint eine dritte doch diesem Mystifizierungs-Schicksal entgangen zu sein: die Idee des Anarchismus. Wenn man weiß, daß Marx für gewisse Anarchisten wenig Sympathie gehabt hat, mißachtet man im allgemeinen, daß er nichts desto weniger das Ideal und das Ziel des Anarchismus geteilt hat: das Verschwinden des Staates. Es sei daran erinnert, daß Marx sich auf Anhieb eher in die Tradition des Anarchismus als in die des Sozialismus oder Kommunismus gestellt hat, als er die Sache der Arbeiter-Emanzipation zu seiner eigenen machte (wahrscheinlich unter Einfluß von Godwin und Proudhon). Und als er sich schließlich selbst Kommunist nannte, beinhaltete diese Bezeichnung in seinen Augen keine der damals existierenden Strömungen, sondern sie meinte einen Gang des Denkens und eine Handlungsweise, die es dadurch zu begründen galt, daß sie alle revolutionären Elemente ererbter Lehren und Kampferfahrungen vereinigte.

In den nachfolgenden Überlegungen versuchen wir zu zeigen, daß Marx unter dem Begriff Kommunismus eine Theorie der Anarchie entwickelt hat; besser noch, daß er in Wirklichkeit der erste war, der die rationalen Grundlagen der anarchistischen Utopie geliefert und einen Entwurf ihrer Verwirklichung aufgestellt hat. In Anbetracht der Grenzen des vorliegenden Aufsatzes präsentieren wir diese Thesen nur als Diskussionsgegenstand. Der Rückgriff auf literarischen Beweis in Form von Zitaten ist auf ein Minimum reduziert, dies aber, um das zentrale Argument besser hervortreten zu lassen: Marx als Theoretiker des Anarchismus.

I

Als Marx im Februar 1845 am Vorabend seines Aufbruchs ins Brüsseler Exil in Paris einen Vertrag mit einem deutschen Verleger unterzeichnete, verpflichtete er sich, in einigen Monaten ein Werk in zwei Bänden mit dem Titel »Kritik der Politik und der Nationalökonomie« zu liefern, ohne damals zu vermuten, daß er sich eine Aufgabe gestellt hatte, die sein ganzes Leben erfüllen und von der er im übrigen nur ein großes Fragment ausführen sollte.

Die Wahl des Gegenstandes war nicht zufällig. Da er jede Hoffnung auf eine akademische Karriere verloren hatte, übertrug Marx die Ergebnisse seiner Studien der Philosophie in politische Publizistik. Seine Artikel in der »Rheinischen Zeitung« von Köln führten den Kampf um die Pressefreiheit in Preußen im Namen einer Freiheit, die er als das Wesen des Menschen und als die Zierde der menschlichen Natur auffaßte; aber auch im Namen eines Staates als Verwirklichung der vernunftgemäßen Freiheit, als »dem großen Organismus, in welchem die rechtliche, sittliche und politische Freiheit ihre Verwirklichung zu erhalten hat und der einzelne Staatsbürger in den Staatsgesetzen nur den Naturgesetzen seiner eignen Vernunft, der menschlichen Vernunft gehorcht«. (Rheinische Zeitung, 14. Juli 1842. MEW, Bd. 1, 5. 98). Aber die preußische Zensur hatte den Philosoph-Journalisten schnell zum Schweigen gebracht, der sich bald darauf in der Einsamkeit fleißiger Zurückgezogenheit der Erforschung der wahren Natur und der rationalen und ethischen Tragweite der politischen Philosophie von Hegel hingab. Wir kennen die Frucht dieser durch das Studium der Geschichte der bürgerlichen Revolutionen in Frankreich, England und den Vereinigten Staaten von Amerika angereicherten Meditationen: es sind, außer einer unvollendeten und unveröffentlichten Arbeit, der »Kritik der Hegelschen Staatsphilosophie«, die beiden polemischen Aufsätze »Einführung in die Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie« und »Zur Judenfrage« (Paris 1845). Beide Aufsätze stellen eigentlich ein einziges Manifest dar, in dem Marx ein für alle Mal die beiden gesellschaftlichen Institutionen bestimmt und mit Einschränkung verurteilt, die er als Ursprung all der Übel und Makel ansieht, an denen die moderne Gesellschaft leidet und an denen sie so lange leiden wird, ehe nicht eine neue soziale Revolution sie abgeschafft haben wird: den Staat und das Geld. Gleichzeitig preist Marx die Kraft, die gestern noch Opfer beider Institutionen, ihrer wie jeder anderen Form von politischer und ökonomischer Klassenherrschaft ein Ende machen wird: das moderne Proletariat. Die Selbstbefreiung dieses Proletariats ist die universelle Befreiung des Menschen, sie ist nach dem totalen Untergang des Menschen der totale Sieg des Menschlichen.

Die Negation des Staates und des Geldes sowie die Bejahung des Proletariats als Befreier-Klasse gehen in Marx‘ intellektueller Entwicklung seinen Studien der politischen Ökonomie voraus; ebenso gehen sie seiner Entdeckung des »Leitfadens« voraus, der ihn in seinen späteren historischen Forschungen leiten wird, nämlich der materialistischen Geschichtsauffassung. Der Bruch mit Hegels juristischer und politischer Philosophie einerseits und das kritische Studium der Geschichte der bürgerlichen Revolutionen andererseits ermöglichten es ihm, endgültig die ethischen Postulate seiner zukünftigen Gesellschaftstheorie festzulegen, deren Kritik der politischen Ökonomie ihm die wissenschaftlichen Grundlagen liefern werden. Indem er die revolutionäre Rolle der Demokratie und der legislativen Gewalt in der Genese des bürgerlichen Staates und seiner Regierungsgewalt verstand, hat Marx die aufklärenden Analysen eines A. de Tocqueville und Thomas Hamilton, beide scharfsichtige Beobachter der revolutionären Auswirkungen der amerikanischen Demokratie, nutzbringend angewandt, um die rationalen Grundlagen einer anarchistischen Utopie als bewußtes Ziel derjenigen Klasse zu schaffen, die sein Meister Saint-Simon »die zahlreichste und ärmste« genannt hatte. Da ihn die Kritik des Staates dazu geführt hatte, die Möglichkeit einer von jeder politischen Autorität befreiten Gesellschaft ins Auge zu fassen, bedurfte es von nun an einer Kritik des ökonomischen Systems, das die materielle Basis des Staates sicherte. Die ethische Negation des Geldes betreffend, implizierte sie ebenfalls die Analyse der politischen Ökonomie, die Wissenschaft der Bereicherung der einen und des Elends der anderen. Später bezeichnete er die Untersuchung, die er unternehmen werde, als »Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft«, und in dieser Arbeit als soziologischer Anatom schuf er sich sein methodisches Instrument; danach half ihm die Wiederentdeckung der Hegelschen Dialektik dabei, den Plan der »Ökonomie« in sechs »Rubriken« oder »Büchern« aufzustellen: Kapital, Grundeigentum, Lohnarbeit; Staat, Außenhandel, Weltmarkt (vgl. dazu Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie, 1859, 5. 13).

Tatsächlich entspricht diese doppelte »Dreiheit« der Forschungsthemen den beiden Problemen, die er sich vierzehn Jahre zuvor in derjenigen Arbeit zu behandeln vorgenommen hatte, die die doppelte Kritik der Ökonomie und der Politik enthielt. Marx hat sein Werk mit der kritischen Analyse der kapitalistischen Produktion begonnen, aber er hoffte, lange genug zu leben und zu arbeiten, um nicht nur diese gut beenden, sondern auch die zweite Triade, die das Buch über den Staat eröffnen sollte, in Angriff nehmen zu können, nachdem die erste Triade der Rubriken einmal abgeschlossen war. Die Theorie des Anarchismus hätte so in Marx ihren ersten anerkannten Promotor gefunden, ohne daß es notwendig wäre, den indirekten Beweis zu führen. Das Mißverständnis des Jahrhunderts ist, daß der Marxismus als Staatsideologie wegen dieser Lücke geboren wurde, die es den Herrschern eines »sozialistisch« getauften Staatsapparates erlaubt hat, Marx unter den Anhängern eines Staatssozialismus oder Staatskommunismus, sogar eines »autoritären« Sozialismus zu plazieren.

Sicher ist Marx‘ Lehre wie jede andere nicht ohne Zweideutigkeiten; wenig skrupelhafte Schüler, die diese mit Geschick ausbeuteten und gewisse persönliche Verhaltensweisen von Marx rügten, haben es verstanden, sein Werk in den Dienst von Doktrinen und Handlungen zu stellen, die sowohl die totale Negation seiner grundlegenden Wahrheiten als auch seines offen proklamierten Zieles sind. In einer Epoche, in der sich alles – Theorien und Werte, Systeme und Entwürfe – durch jahrzehntelangen Rückschritt auf dem Gebiete der menschlichen Beziehungen in Frage gestellt sieht, kommt es darauf an, das geistige Erbe eines Autors anzutreten, der im Bewußtsein der Grenzen seiner Forschung aus den Postulaten der kritischen Selbsterziehung und der revolutionären Selbstbefreiung das permanente Prinzip der Arbeiterbewegung abgeleitet hat. Es kommt einer mit erdrückenden Verantwortlichkeiten beladenen Nachkommenschaft nicht zu, über einen Verstorbenen zu urteilen, der seine eigene Sache nicht mehr verteidigen kann; dagegen obliegt es uns, eine ganz auf die Zukunft gerichtete Lehre zu verantworten; eine Zukunft, die sicher unsere katastrophale Gegenwart geworden ist, die es aber von Grund auf noch zu schaffen gilt.

II

Wiederholen wir: das in dem Plan der »Ökonomie« vorgesehene, aber unverwirklicht gebliebene »Buch« über den Staat konnte nur die Theorie der vom Staat befreiten, der anarchistischen Gesellschaft enthalten. Ohne direkt für dieses Vorhaben bestimmt zu sein, erlauben die von Marx im Laufe seiner literarischen Tätigkeit vorbereiteten oder veröffentlichten Materialien und Arbeiten gleichzeitig diese die Substanz des geplanten Werks betreffende Hypothese zu erhärten und seine allgemeine Struktur zu bestimmen. Wenn die erste Triade der Rubriken die Kritik der politischen Ökonomie umfaßte, so sollte die zweite Triade im wesentlichen die Kritik der Politik ausführen. Als Folge der Kritik des Kapitals sollte die Kritik des Staates die Kausalität der politischen Evolution der modernen Gesellschaft liefern, wie der Gegenstand des »Kapital« (gefolgt von den Büchern über das »Grundeigentum« und die »Lohnarbeit«) es war, »das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen« (vgl. Vorwort zum »Kapital«, 1867. MEW, Bd. 23, 5. 15 f.). Und ebenso, wie man in den der »Kritik der politischen Ökonomie« (1859) vorhergehenden – veröffentlichten und unveröffentlichten – Schriften die Prinzipien und Postulate findet, deren Marx sich für die Kritik des Kapitals bedient hat, kann man dort die Thesen und Normen freilegen, die ihn darin angeleitet hätten, die Kritik des Staates zu entwickeln. Es wäre jedoch falsch zu unterstellen, daß Marx‘ Denken über die Politik damals vollkommen ausgeprägt war und keine Modifikation im Detail mehr zuließ, oder daß es jeder theoretischen Bereicherung verschlossen war. Wenn im Gegenteil das Problem des Staates Marx niemals zu beschäftigen aufgehört hat, so nicht nur deswegen, weil er an dem moralischen Engagement festhalten mußte, sein Hauptwerk zu beenden, sondern vor allem, weil ihn seine Teilnahme an der Arbeiter-Internationale seit September 1864, seine polemischen Auseinandersetzungen im Schoß dieser Organisation und die politischen Ereignisse im Europa dieser Epoche, besonders die hegemoniale Rivalität zwischen Frankreich und Preußen einerseits, Rußland und Österreich andererseits, ständig in Atem hielten. Das Europa der Wiener Verträge war nunmehr eine bloße Fiktion, während auf der historischen Bühne zwei bedeutende Geschehnisse sich ereignet hatten: der Kampf um die nationale Befreiung und die Arbeiterbewegung. Vom rein begrifflichen Standpunkt schwer zu versöhnen, stellten der Kampf der Nationen und der Klassenkampf Marx und Engels vor Probleme theoretischer Entscheidung, deren Lösung sie in Widerspruch zu ihren eigenen revolutionären Prinzipien bringen mußte. Engels hatte es sich zur Spezialität gemacht, die Völker und Nationen danach zu differenzieren, je nachdem sie in seinen Augen das historische Recht auf nationale Existenz beanspruchen konnten oder nicht. Ihr historischer Realitätssinn hinderte sie daran, Proudhon auf dem Weg eines Föderalismus zu folgen, der in der Situation dieser Epoche ihnen sowohl als reine Abstraktion als auch als unreine Utopie erscheinen mußte; aber das Risiko war groß, einem Nationalismus zu verfallen, der mit dem für das moderne Proletariat angenommenen Universalismus nicht mehr vereinbar war.

Wenn Proudhon auch durch seine föderalistischen Bestrebungen einer anarchistischen Position näher zu sein scheint als Marx, so ändert sich das Bild, wenn man seine globale Auffassung derjenigen Reformen betrachtet, die zur Abschaffung des Kapitals und des Staates führen sollten. Die fast übertriebene Lobrede, deren Gegenstand Proudhon in der »Heiligen Familie« (1845) ist, darf uns nicht täuschen. Schon zu dieser Zeit war die theoretische Divergenz zwischen den beiden Denkern sehr weitgehend, und diese Lobrede galt dem französischen Sozialisten nur mit einer schwerwiegenden Einschränkung: die Proudhonsche Kritik des Eigentums ist dem bürgerlichen ökonomischen System immanent; so gültig sie auch sein mag, so stellt sie doch die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse des kritisierten Systems nicht grundsätzlich in Frage. Die ökonomischen Kategorien in der Proudhonschen Lehre sind im Gegenteil alle als theoretischer Ausdruck der Institutionen des Kapitals systematisch erhalten. Das Verdienst Proudhons liegt darin, die der ökonomischen Wissenschaft inhärenten Widersprüche entschleiert und die Unmoral der Moral und des bürgerlichen Rechts bewiesen zu haben; seine Schwäche liegt darin, die Kategorien und Institutionen der kapitalistischen Ökonomie angenommen und in seinem Verbesserungs- und Reformprogramm alle Instrumente bürgerlicher Klassenherrschaft und politischer Gewalt geschont zu haben:

Lohn, Kredit, Bank, Tausch, Preis, Wert, Profit, Zins, Steuer, Konkurrenz, Monopol. Zwar hat er es verstanden, die Dialektik der Negation in der Analyse des Rechts und des juristischen Systems anzuwenden, ist aber dann auf halbem Weg stehen geblieben, indem er es unterließ, seine kritische Methode der Negation auf die kapitalistische Ökonomie anzuwenden. Proudhon hat diese Kritik möglich gemacht, aber es war Marx, der sich darum bemühte, aus dieser neuen kritischen Methode ein Instrument im Kampf der Arbeiter gegen das Kapital und seinen Staat zu machen.

Während Proudhon die Kritik der Ökonomie und des bürgerlichen Rechts im Namen der Moral unternahm, vollzog Marx die Kritik der kapitalistischen Produktionsweise im Namen der proletarischen Ethik, deren Urteilskriterien einer ganz anderen Vorstellung von der menschlichen Gesellschaft entliehen sind. Darum genügt es, das proudhonsche – besser: hegelsche – Prinzip in seiner ganzen logischen Strenge und bis zu seinen letzten Konsequenzen zu folgen: Die Gerechtigkeit, von der Proudhon träumt, wird nur durch die Negation des Rechts zu verwirklichen sein, ganz so wie auch die Philosophie nur durch die Negation der Philosophie verwirklicht werden kann, d.h. durch eine soziale Revolution, die es der Menschheit endlich erlaubt, gesellschaftlich zu werden, und der Gesellschaft, menschlich zu werden. Dies wird das Ende der Vorgeschichte der Menschheit und der Beginn des individuellen Lebens, die Geburt des völlig entfalteten Menschen mit universellen Fähigkeiten, die Ankunft des vielseitig entfalteten Menschen sein. Der realistischen Moral Proudhons, der die »gute Seite« der bürgerlichen Institution zu retten sucht, setzt Marx die Ethik einer Utopie entgegen, deren Forderungen von den Möglichkeiten abhängen, die die genügend entwickelte Wissenschaft und Technik bieten, um von nun an die materiellen Bedürfnisse der Menschengattung zu befriedigen. Einem Anarchismus, der die Pluralität der Klassen und sozialen Kategorien bejaht und die Arbeitsteilung ebenso preist wie er die von den Utopisten propagierte Assoziation befeindet, setzt Marx einen die sozialen Klassen und die Arbeitsteilung verneinenden Anarchismus entgegen, einen Kommunismus, der alles das zu seiner Sache macht, was im utopischen Sozialismus von einem modernen, seiner emanzipatorischen Rolle und seiner Rolle als Herr der Produktivkräfte bewußten Proletariat realisiert werden könnte. Und doch berufen sich diese beiden Typen des Anarchismus trotz der voneinander abweichenden Wege – besonders, wie wir sehen werden, in der unterschiedlichen Einschätzung der politischen Mittel –auf ein gemeinsames Ziel, wie das »Kommunistische Manifest« es in den folgenden Worten definiert:

»An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.« (MEW, Bd. 4, 5. 482)

III

Indem er sich weigerte, Küchenrezepte für die Kochtöpfe der Zukunft zu erfinden, hat Marx besseres getan – oder schlimmeres: Er wollte zeigen, daß eine historische Notwendigkeit, eine blinde Fatalität, die Menschheit in eine Krisensituation dränge, in der sie einem entscheidenden Dilemma die Stirn bieten müsse: entweder von den eigenen technischen Erfindungen vernichtet zu werden oder dank einer bewußten Praxis zu überleben, die sie dazu befähigt, mit all den Formen der Entfremdung und Knechtschaft zu brechen, die alle Phasen ihrer Geschichte gekennzeichnet haben. Allein dieses Dilemma ist verhängnisvoll, da die Wahl des Auswegs derjenigen sozialen Klasse überlassen bleibt, die jeden Grund hat, die bestehende Ordnung abzulehnen und eine von der alten Existenzweise vollkommen verschiedene zu begründen. Potentiell ist das Proletariat diese materielle und moralische Kraft, die fähig ist, diese heilsame und weltumspannende Aufgabe zu übernehmen. Diese potentielle Kraft kann sich jedoch erst verwirklichen, wenn die Zeit der Bourgeoisie reif ist, denn auch diese erfüllt eine historische Mission; wenn sie sich dessen nicht immer bewußt ist, nehmen es ihre Ideologen auf sich, sie an ihre zivilisatorische Rolle zu erinnern. Die Welt nach ihrer Vorstellung prägend, verbürgerlicht und proletarisiert die Bourgeoisie der industriell entwickelten Länder diejenigen Gesellschaften, die fortschreitend unter ihren politischen und ökonomischen Einfluß geraten. Vom Gesichtspunkt der proletarischen Interessen aus gesehen, sind ihre Eroberungsinstrumente, das Kapital und der Staat, ebenso sehr Knechtschafts- und Unterdrückungsmittel. Wenn die kapitalistischen Produktionsverhältnisse und demgemäß der kapitalistische Staat auf Weltebene effektiv etabliert sein werden, werden die internen Widersprüche des Weltmarktes die Grenzen der kapitalistischen Akkumulation enthüllen und denjenigen Zustand permanenter Krise hervorrufen, der die Grundlagen selbst der unterworfenen Gesellschaften gefährden und bedrohen wird bis hin zum puren Überleben der menschlichen Art. Die Stunde der proletarischen Revolution wird auf der ganzen Erde schlagen.

Eine wohl kaum verwegene Extrapolation hat uns genügt, um die letzte Konsequenz aus der von Marx im Hinblick auf die Enthüllung des ökonomischen Bewegungsgesetzes der modernen Gesellschaft benutzten dialektischen Methode ziehen zu können. Wir könnten diese abstrakte Übersicht durch Textverweise stützen, ausgehend von den methodischen Bemerkungen, die man in verschiedenen Marxschen Schriften aus verschiedenen Epochen entnehmen kann. Nichtsdestoweniger ist es richtig, daß die uns von Marx in seinen politischen Arbeiten am häufigsten angebotene Hypothese diejenige von der proletarischen Revolution in den Ländern ist, die eine lange Periode bürgerlicher Zivilisation und kapitalistischer Ökonomie hinter sich haben; sie soll den Anfang eines Entwicklungsprozesses anzeigen, der nach und nach den Rest der Welt umfaßt, nachdem die Beschleunigung des historischen Fortschritts dank den Wirkungen revolutionärer Osmose gesichert ist. Was die ins Auge gefaßte Hypothese auch sein mag, eines ist sicher: In Marx‘ Gesellschaftstheorie ist kein Platz für einen dritten revolutionären Weg derjenigen Länder, die, der historischen Erfahrung des entwickelten Kapitalismus und der bürgerlichen Demokratie beraubt, den Ländern mit langer kapitalistischer und bürgerlicher Vergangenheit den Weg der proletarischen Revolution zeigen würden.

Wir erinnern uns dieser elementaren Wahrheiten der sogenannten materialistischen Geschichtsauffassung mit ganz besonderer Dringlichkeit, weil die mit der russischen Revolution 1917 entstandene marxistische Mythologie wenig informierten Gemütern – und diese bilden die Legion – ein ganz anderes Bild des revolutionären Prozesses vermitteln konnte: die Menschheit sei in zwei Systeme der Ökonomie und Politik geteilt, nämlich in die von den ökonomisch entwickelten Ländern beherrschte Welt und in die sozialistische Welt, deren Modell UdSSR dank einer proletarischen Revolution den Rang einer großen industriellen Macht erreicht habe. In Wirklichkeit ist die Industrialisierung des Landes der Schaffung und Ausbeutung eines ungeheuren Proletariats zu danken und nicht dem Sieg und der Abschaffung desselben. Die Fiktion einer »Diktatur des Proletariats« ist Teil des Gedankenarsenals, welches die neuen Herren im Interesse ihrer eigenen Macht glaubhaft zu machen versuchten. Sechs Jahrzehnte nationalistischer und militärischer Barbarei lassen uns diese vergangenen und gegenwärtigen Mißgeschicke der universellen, marxistischen oder nicht-marxistischen Intelligenz verstehen, unter denen der Mythos der Oktoberrevolution großen Raum einnimmt.

Da wir diese Debatte hier nicht vertiefen können, beschränken wir uns darauf, unser Anliegen in Form einer Alternative zu präzisieren: entweder besitzt die materialistische Theorie der gesellschaftlichen Entwicklung eine gewisse wissenschaftliche Gültigkeit – wovon Marx selbst natürlich überzeugt war –‚ und in diesem Falle ist die »sozialistische« Welt ein Mythos; oder aber die sozialistische Welt existiert wirklich, dann bedeutet das die totale und eindeutige Entwertung dieser Theorie. Bei der ersten Hypothese kann der Mythos der sozialistischen Welt vollkommen erklärt werden: es handelt sich um die Frucht einer von dem »ersten Arbeiterstaat« geschickt geführten ideologischen Kampagne, um seine wahre Natur zu verbergen; bei der zweiten würde die materialistische Theorie der sozialistischen Weltrevolution sich gewiß finden, aber die ethischen und utopischen Anliegen der Marxschen Lehre würden sich als realisiert erweisen. Anders ausgedrückt: als Wissenschaftler von der Geschichte zurückgewiesen, hätte Marx als Revolutionär triumphiert.

Der Mythos des »Realsozialismus« wurde hervorgebracht, um moralisch eines der mächtigsten Modelle von Klassen- und Ausbeutergesellschaft zu rechtfertigen, die die Geschichte jemals gekannt hat. Das Problem der Natur dieser Gesellschaft hat die in den Theorien, Lehren und Begriffen unterrichtetsten Köpfe, die alle zusammen das intellektuelle Erbe des Sozialismus, Kommunismus und Anarchismus bilden, mit Erfolg in totale Verwirrung gestürzt. Aber von diesen drei Schulen – oder Orientierungen – der Bewegung der Ideen, die eine weitgehende Veränderung der menschlichen Gesellschaft anstreben, hat der Anarchismus diese Perversion am wenigsten erlitten: da er keine eigentliche Theorie der revolutionären Praxis entwickelt hat, hat er sich vor der politischen und ideologischen Pervertierung bewahren können, von der die anderen beiden Schulen betroffen sind.

Ebensosehr aus Träumen und Nostalgien entsprungen wie aus Verweigerung und Revolte, hat er sich als radikalste Kritik des Autoritätsprinzips in allen seinen Verhüllungen herausgebildet, und vor allem als solche ist er durch die materialistische Geschichtstheorie absorbiert worden. Diese beinhaltet im wesentlichen die Vorstellung von der historischen Evolution der Menschheit, die in progressiven Etappen von einem permanenten Zustand sozialer Antagonismen zu einer Existenzweise in sozialer Harmonie und individueller Entfaltung verläuft. Aber ebenso wie die von der anarchistischen Utopie überlieferte soziale Kritik ist das den radikalen und revolutionären vor-Marxschen Lehren gemeinsame Ziel wesentlicher Bestandteil des anarchistischen Kommunismus von Marx geworden. Mit ihm hat sich der utopische Anarchismus um eine neue Dimension bereichert: nämlich die des dialektischen Verständnisses der Arbeiterbewegung als die die ganze Menschheit umfassende ethische Selbstbefreiung. Es war unvermeidlich, daß die durch das dialektische Element in einer Theorie mit wissenschaftlichen, sogar mit naturwissenschaftlichen Ansprüchen hervorgerufene intellektuelle Spannung eine fundamentale Zweideutigkeit verursachen mußte, von der Marx‘ Lehre und Aktivität unauslöschlich geprägt sind. Ebenso Parteimann wie Theoretiker hat Marx in seiner politischen Tätigkeit nicht immer die Harmonie zwischen Zielen und Mitteln des anarchistischen Kommunismus erstrebt. Aber obwohl er als Kämpfer manchmal versagt hat, bleibt Marx dennoch der Theoretiker des Anarchismus. Man ist also berechtigt, auf seine eigene Theorie die ethische These anzuwenden, die er bezüglich Feuerbachs Materialismus formuliert hat (1845):

»Die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme, ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage. In der Praxis muß der Mensch die Wahrheit, das heißt die Wirklichkeit und Macht, die Diesseitigkeit seines Denkens beweisen.« (MEW, BD. 3, 5. 533)

IV

Die Negation des Staates und des Kapitalismus durch die zahlreichste und ärmste Klasse erscheint bei Marx als ethischer Imperativ, bevor sie dialektisch als eine historische Notwendigkeit nachgewiesen wird. Sein erster Schritt bei der kritischen Einschätzung der Ergebnisse der Französischen Revolution gleicht einer entscheidenden Wahl, die Wahl des Zieles, das jeder Mensch erstreben müsse: die menschliche Emanzipation als Aufhebung der politischen Emanzipation. Auch der freieste politische Staat – für den nur die Vereinigten Staaten von Amerika ein Beispiel sind – macht den Menschen zum Sklaven, da er sich als Vermittler zwischen den Menschen und seine Freiheit stellt, so wie Christus, dem der religiöse Mensch seine eigenen Divinität aufbürdet. Politisch emanzipiert, nimmt der Mensch illusionär an einer imaginären Souveränität teil; als souveränes Wesen im Genuß der Menschenrechte führt er eine doppelte Existenz, die des Staatsbürgers und Mitglieds der politischen Gemeinschaft und die des besonderen Mitglieds der bürgerlichen Gesellschaft, eine himmlische und eine weltliche Existenz. Als Staatsbürger ist er frei und souverän in den Himmeln der Politik, diesem universellen Königtum der Gleichheit; als Mensch ist er erniedrigt, und er entwürdigt sich selbst im wirklichen Leben, im bürgerlichen Leben. Er ist jetzt der Spielball fremder materieller und moralischer Mächte wie der Institutionen des Privateigentums, der Kultur, der Religion etc. Die vom politischen Staat getrennte bürgerliche Gesellschaft ist die Sphäre des Egoismus, des Krieges aller gegen alle, der Trennung des Menschen vom Menschen. Nicht durch die Sicherung der Religionsfreiheit befreit die politische Demokratie den Menschen von der Religion; sie befreit ihn ebenso wenig vom Eigentum durch die Garantie des Eigentumsrechts. Ebenso erhält sie die Sklaverei und den Berufsegoismus durch die Gewährung der Berufsfreiheit für alle. Denn die bürgerliche Gesellschaft ist die Welt des Handels und des Gewinns, die Herrschaft des Geldes, dieser universellen Macht, die sich die Politik, also den Staat, unterworfen hat.

Dies ist zusammengefaßt die Ausgangsthese von Marx: als Kritik des Staates und des Kapitals zeugt sie eher von einem anarchistischen Denken als von irgendeinem Sozialismus oder Kommunismus. Sie ist noch nicht wissenschaftlich, aber sie beruft sich implizit auf eine ethische Auffassung des menschlichen Schicksals und nährt sich von ihr, indem sie die Forderung nach Vollendung zur historisch gegebenen Zeit aufstellt. Deshalb bestimmt sie, ohne sich auf die Kritik der politischen Emanzipation zu beschränken – die den Menschen auf eine egoistische Monade und einen abstrakten Staatsbürger reduziert –‚ sowohl das zu erreichende Ziel als auch das Mittel zu seiner Verwirklichung:

»Erst wenn der wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt und als individueller Mensch in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen Gattungswesen geworden ist, erst wenn der Mensch seine 'forces propres' als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat und daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht.« (Zur Judenfrage, MEW, Bd. 1, S. 370)

Ausgehend vom »Contract Social« Rousseaus, des Theoretikers des abstrakten Staatsbürgers und Vorläufers von Hegel, hat Marx seinen eigenen Weg gefunden. Indem er die von beiden Denkern vertretene Art der politischen Entfremdung verwarf, gelangte er zur Vision einer menschlichen und gesellschaftlichen Emanzipation, die das Individuum in der Vollständigkeit seiner Fähigkeiten und der Totalität seines Wesens wiederherstellen sollte. Partielle Ablehnung deswegen, weil sie als historische Etappe nicht verschwinden oder durch einen Willensakt abgeschafft werden kann. Die politische Emanzipation ist ein »großer Fortschritt«, sie ist sogar die letzte Form der menschlichen Emanzipation innerhalb des bestehenden Systems, und als solche könnte sie als Mittel dienen, diese Ordnung umzuwälzen und die Etappe der wahren menschlichen Emanzipation einzuleiten. Dialektisch-antinomisch harmonisieren Ziel und Mittel ethisch in dem Bewußtsein des modernen Proletariats, das so der Träger und das historische Subjekt der Revolution wird. Als Klasse, die alle Übel der Gesellschaft in sich konzentriert und ihr notorisches Verbrechen verkörpert, besitzt das Proletariat einen universellen Charakter aufgrund seines universellen Elends. Es kann sich nicht emanzipieren, ohne alle Sphären der Gesellschaft zu emanzipieren, und indem es die Postulate dieser emanzipatorischen Ethik verwirklicht, schafft es sich als Proletariat ab.

Wo Marx die »Philosophie« als »Kopf« und intellektuelle Waffe der menschlichen Emanzipation beanspruchte, von der das Proletariat das »Herz« sei, ziehen wir es vor, von Ethik zu sprechen, um dadurch anzudeuten, daß es sich nicht um metaphysische Spekulation handelt, sondern um ein Existenzproblem: es kommt darauf an, die Welt zu verändern, indem man ihr urpsrünglich menschliches Gesicht wieder herstellt, nicht indem man ihre Karikatur interpretiert. Keine spekulative Philosophie bietet dem Menschen eine Lösung für seine Existenzprobleme, so daß Marx kraft einer normativen Ethik urteilte und nicht mit Bezug auf eine Geschichtsphilosophie oder soziologische Theorie, als er die Revolution in den Rang eines kategorischen Imperativs erhob. Nur eine einzige Wissenschaft konnte nun das Interesse von Marx wecken, der sich auf die rein ethische Forderung nach der Wiederherstellung der Menschen und Gesellschaften weder beschränken konnte noch wollte: die Wissenschaft von der Produktion der Existenzmittel nach dem Gesetz des Kapitals.

Marx unternahm also das Studium der politischen Ökonomie als Kampfmittel für die Sache, der er von nun an sein ganzes Leben widmete. Was bisher nur eine visionäre Intuition und eine ethische Entscheidung war, wurde nun zur Theorie der ökonomischen Entwicklung und zur Erforschung der sozialen Bedingtheiten. Aber es war ebenfalls aktive Teilnahme an der sozialen Bewegung, dazu berufen, die aus den Lebensbedingungen des industriellen Proletariats sich ergebenden Imperative und Normen in die Praxis umzusetzen. Die Theorie einer Gesellschaft ohne Staat, ohne Klassen, ohne Geld als Tauschmittel, ohne religiösen und intellektuellen Terror, bedingt eine kritische »Anatomie« der kapitalistischen Produktionsweise, ebenso wie es die enthüllende Analyse des Evolutionsprozesses implizierte, der in aufeinanderfolgenden Etappen in den kommunistischen und anarchistischen Gesellschaftstypen enden sollte. Er schrieb später: »Auch wenn eine Gesellschaft dem Naturgesetz ihrer Bewegung auf die Spur gekommen ist – (...) –‚ kann sie naturgemäße Entwicklungsphasen weder überspringen noch wegdekretieren. Aber sie kann die Geburtswehen abkürzen und mildern.« (Kapital – Vorwort, MEW, Bd. 23, S. 15f.)

Im ganzen gesehen verwandte Marx all seine Kraft darauf, das wissenschaftlich nachzuweisen, wovon er intuitiv bereits überzeugt war und was ihm ethisch notwendig erschien. Und schon im ersten Entwurf einer Kritik der politischen Ökonomie betrieb er die Analyse des Kapitals als Verfügungsgewalt über die Arbeit und ihre Produkte unter soziologischem Gesichtspunkt – der Kapitalist besitzt diese Macht nicht dank seiner persönlichen oder menschlichen Qualitäten, sondern als Kapitaleigentümer. Lohnarbeit ist Sklaverei, und jede autoritäre Lohnerhöhung ist nichts anderes als eine bessere Entlohnung von Sklaven. ‚Ja selbst die Gleichheit der Saläre, wie sie Proudhon fordert, verwandelt nur das Verhältnis des jetzigen Arbeiters zu seiner Arbeit in das Verhältnis aller Menschen zur Arbeit. Die Gesellschaft wird dann als abstrakter Kapitalist gefaßt.« (Pariser Manuskripte, S. 61)

Ökonomische Sklaverei und politische Knechtschaft gehen Hand in Hand. Die politische Emanzipation, die Anerkennung der Menschenrechte durch den modernen Staat haben dieselbe Bedeutung wie die Anerkennung der Sklaverei durch den antiken Staat (vgl. Heilige Familie, MEW, Bd. 2). Als Sklave einer Lohnarbeit ist der Arbeiter ebenso Sklave seines eigenen egoistischen Bedürfnisses wie Sklave fremder Bedürfnisse. Im demokratischen Repräsentativstaat entgehen die Menschen der politischen Knechtschaft nicht mehr als in der konstitutionellen Monarchie. »In der modernen Welt ist jeder gleichzeitig Mitglied der Sklaverei und der Gemeinschaft« (ebd.), obwohl dem Anschein nach die Knechtschaft der bürgerlichen Gesellschaft das Maximum an Freiheit ist. Allgemein als Garanten der individuellen Freiheit angesehen, sind Eigentum, Industrie, Religion in Wirklichkeit Institutionen, die diesen Zustand der Knechtschaft verewigen. Robespierre, Saint-Just und ihre Anhänger sind gescheitert, weil sie die antike, auf wirkliche Sklaverei aufgebaute Gesellschaft mit dem modernen Repräsentativstaat verwechselt haben, der auf der emanzipierten Sklaverei beruht, nämlich auf der bürgerlichen Gesellschaft mit ihrer universellen Konkurrenz, ihren entfesselten Privatinteressen, ihrem entfremdeten Individualismus. Napoleon, der die Natur des modernen Staates und die bürgerliche Gesellschaft vollkommen begriffen hat, hat sich darin gefallen, den Staat als Selbstzweck und das bürgerliche Leben als Instrument seiner politischen Ambitionen zu verstehen. Um den Egoismus der französischen Nation zu befriedigen, hat er den permanenten Krieg an die Stelle der permanenten Revolution gesetzt.

Seine Niederlage bedeutet den Sieg der liberalen Bourgeoisie, die 1830 endlich ihre Träume von 1789 verwirklichte, indem sie aus dem konstitutionellen Repräsentativstaat den offiziellen Ausdruck ihrer ausschließlichen Gewalt und ihrer besonderen Interessen machte.

Das Problem des Bonapartismus hat Marx als ständigen Beobachter der französischen Gesellschaft und ihrer politischen wie ökonomischen Entwicklung immer beschäftigt. Er war überzeugt, daß die Französische Revolution die klassische Periode des politischen Geistes darstellte und daß die bonapartistische Tradition sozusagen eine Konstante der Innen- und Außenpolitik Frankreichs war. Von hier aus ist er auch dazu gelangt, eine Theorie des modernen Caesarismus zu entwerfen, die seine anfängliche anarchistische Vorstellung nicht modifiziert, wenn sie zum Teil auch den methodischen Prinzipien seiner Staatstheorie zu widersprechen scheint. Denn gerade zu dem Zeitpunkt, zu dem er sich anschickte, die Grundlagen seiner materialistischen Geschichtstheorie zu legen, hat er diese Staatsauffassung formuliert, die ihn als Vertreter des radikalsten Anarchismus ausweist. »Die Existenz des Staates und die Existenz der Sklaverei sind unzertrennlich. (...) Je mächtiger der Staat ist, je politischer daher ein Land ist, um so weniger ist es geneigt, im Prinzip des Staates, also in der jetzigen Einrichtung der Gesellschaft, deren tätiger, selbstbewußter und offizieller Ausdruck der Staat ist, den Grund der sozialen Gebrechen zu suchen (...).« (Vorwärts 1844. MEW, Bd. 1, Kritische Randglossen zu dem Artikel eines Preußen, S. 401 f.)

Das Beispiel der Französischen Revolution schien ihm Beweis genug für die Ausführung einer These, die der politischen Soziologie, wie er sie bald in der »Deutschen Ideologie« sowie in seinen Reflexionen über das Zweite Kaiserreich und über die Kommune von 1871 umreissen sollte, nur teilweise entspricht. »Weit entfernt, im Prinzip des Staats die Quelle der sozialen Mängel zu erblicken, erblicken die Heroen der Französischen Revolution vielmehr in den sozialen Mängeln die Quellen politischer Übelstände. So sieht Robespierre in der großen Armut und dem großen Reichtum nur ein Hindernis der reinen Demokratie. Er wünscht daher eine allgemeine spartanische Frugalität zu etablieren. Das Prinzip der Politik ist der Wille.« (ebd.)

Als Marx 27 Jahre später aus Anlaß der Pariser Kommune zu den historischen Ursprüngen des durch den bonapartistischen Staat verkörperten politischen Absolutismus zurückkehrte, sah er in der Zentralisierungstendenz der Französischen Revolution die Fortführung der monarchistischen Traditionen: »Die zentralisierte Staatsmaschinerie, die mit ihren allgegenwärtigen und verwickelten militärischen, bürokratischen, geistlichen und gerichtlichen Organen die lebenskräftige bürgerliche Gesellschaft wie eine Boa constrictor umklammert (umstrickt), wurde zuerst in den Zeiten der absoluten Monarchie als Waffe der entstehenden modernen Gesellschaft in ihrem Kampf um die Emanzipation vom Feudalismus geschmiedet. (...) Die erste Französische Revolution mit ihrer Aufgabe, die nationale Einheit zu begründen (eine Nation zu schaffen), (...) war daher gezwungen, das zu entwickeln, was die absolute Monarchie begonnen hatte, die Zentralisation und Organisation der Staatsmacht, um den Umfang und die Attribute der Staatsmacht, die Zahl ihrer Werkzeuge, ihre Unabhängigkeit und ihre übernatürliche Gewalt über die wirkliche Gesellschaft auszudehnen (...). Jedes geringfügige Einzelinteresse, das aus den Beziehungen der sozialen Gruppen hervorging, wurde von der Gesellschaft selbst getrennt fixiert und von ihr unabhängig gemacht und ihr in der Form des Staatsinteresses, das von Staatspriestern mit genau bestimmten hierarchischen Funktionen verwaltet wird, entgegengesetzt.« (1. Entwurf zum »Bürgerkrieg«, MEW, Bd. 17, S. 539)

Diese leidenschaftliche Denunziation der Staatsmacht faßt die ganze Anstrengung der Untersuchung und der kritischen Reflexion zusammen, wie Marx sie in diesem Bereich seit der Auseinandersetzung mit der moralischen und politischen Philosophie Hegels über die Periode der Ausarbeitung der materialistischen Geschichtstheorie und die 15 Jahre des freien professionellen Journalismus unternahm, ohne die intensive Aktivität im Schoß der Arbeiter-Internationale zu vergessen. Die Kommune scheint für Marx die Gelegenheit gewesen zu sein, seine jüngste Meinung über das Problem zu äußern, dem er eines der sechs Bücher seiner »Ökonomie« vorbehalten hatte, und die Konturen jener freien Assoziation freier Menschen zu zeichnen, deren Ankunft das »Kommunistische Manifest« verkündet hatte: »Daher war die Kommune nicht eine Revolution gegen diese oder jene – legitimistische, konstitutionelle, republikanische oder kaiserliche – Form der Staatsmacht. Die Kommune war eine Revolution gegen den Staat selbst, gegen diese übernatürliche Fehlgeburt der Gesellschaft; sie war eine Wiederbelebung durch das Volk und des eigenen gesellschaftlichen Lebens des Volkes.« (ebd., 5. 541)

V

Im Vergleich der Art und Weise der Emanzipation der Leibeigenen unter dem Feudalregime mit der der modernen Arbeiter merkte Marx an, daß im Gegensatz zu den Proletariern die Leibeigenen von sich aus nur die dargebotenen Existenzbedingungen entwickeln konnten und deshalb nur zur »freien Arbeit« gelangen konnten; dagegen müßten die Proletarier ihre eigenen Lebensbedingungen abschaffen, um sich individuell zu bestätigen, und da diese mit der Lebensbedingung der ganzen Gesellschaft identisch seien, führe dies zur Abschaffung der Lohnarbeit. Und er fügte denjenigen Satz hinzu, der ihm von nun an sowohl in seiner literarischen Tätigkeit als auch in seiner Aktion als kämpferischer Kommunist als Leitmotiv dienen sollte: »Sie befinden sich daher auch im direkten Gegensatz zu der Form, in der die Individuen der Gesellschaft sich bisher einen Gesamtausdruck gaben, zum Staat, und müssen den Staat stürzen, um ihre Persönlichkeit durchzusetzen.« (Deutsche Ideologie, MEW, Bd. 3, S. 77)

Diese Formulierung, die dem Anarchismus von Bakunin viel näher ist als dem von Proudhon, ist weder die Frucht eines Augenblicks leidenschaftlicher Unüberlegtheit noch die Geste eines Politikers, der vor einer Arbeiterversammlung feierliche Reden hält. Sie ist als revolutionäres Postulat nur die logische Konklusion einer ganzen theoretischen Entwicklung, die darauf ausgerichtet war, die »historische Notwendigkeit« der anarchistischen Gemeinschaft zu beweisen. Das heißt, daß die Ankunft der »menschlichen Gesellschaft« sich nach der Marxschen Theorie in einem langen historischen Prozeß ankündigt. Schließlich entsteht eine soziale Klasse, die die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung der industriellen Gesellschaften darstellt und die als solche eine schöpferische revolutionäre Aufgabe übernehmen kann. Um die Logik dieser Entwicklung zu zeigen, hat Marx versucht, eine Kausalität zwischen wissenschaftlichem Fortschritt – vor allem der Naturwissenschaften – und den politischen und rechtlichen Institutionen einerseits und dem Zustand der antagonistischen sozialen Klassen andererseits herzustellen. Im Gegensatz zu Engels meinte Marx nicht, daß sich die revolutionäre Umwälzung nach dem Vorbild der vergangenen Revolutionen als eine Sintflut vollziehen würde, die Menschen, Dinge und Bewußtsein zermalmt. Mit dem Entstehen des modernen Arbeiters hat die menschliche Gattung den Zyklus ihrer wahren Geschichte begonnen; sie hat den Weg der Vernunft beschritten und ist dazu fähig geworden, ihre Träume zu realisieren und ihr Geschick ihren schöpferischen Fähigkeiten entsprechend zu gestalten. Die Errungenschaften der Wissenschaft und Technologie haben diesen Ausgang ermöglicht, aber das Proletariat mußte intervenieren, damit die Bourgeoisie und ihr Kapital diese sich vollziehende Evolution nicht in den Abgrund stürzten.

»Die Siege der Wissenschaft scheinen erkauft durch Verlust an Charakter. In dem Maße, wie die Menschheit die Natur bezwingt, scheint der Mensch durch andere Menschen oder durch seine eigene Niedertracht unterjocht.« (Rede auf der Jahresfeier des »People‘s Paper« am 14. April 1856 in London. MEW, Bd. 12, S. 3 f.)

Die proletarische Revolution hat also nichts von einem beschränkten Abenteuer an sich; sie wird ein universelles Unterfangen sein, das gemeinsam von der überwältigenden Mehrheit der Gesellschaft unternommen wird, die sich der Notwendigkeit und Möglichkeit einer vollkommenen Wiederherstellung der Menschheit bewußt geworden ist. Da die Geschichte Weltmaßstab angenommen hat, dehnt sich die Gefahr der Unterwerfung durch das Kapital und seinen Markt über die ganze Erde aus; als Gegenschlag müssen ein Massenbewußtsein und ein Massenwille auftreten, die ganz auf eine tiefe und universelle Veränderung der menschlichen Beziehungen und der sozialen Institutionen ausgerichtet sind. Seitdem die Gefahr einer Barbarei im Weltmaßstab das Überleben der Menschen bedroht, sind die kommunistischen und anarchistischen Träume und Utopien die geistige Quelle der vernünftigen Pläne und praktischen Reformen geworden, die dazu geeignet sind, der menschlichen Gattung den Geschmack am Leben nach Vernunftnormen und nach den Normen eines auch auf die Erneuerung des menschlichen Schicksals gerichteten Denkens zu vermitteln.

Man geht nicht vom Reich der Notwendigkeit ins Reich der Freiheit über, wie Engels meinte, und es wird keine direkte Umwandlung des Kapitalismus in den Anarchismus geben. Die von der kapitalistischen Produktionsweise verursachte ökonomische und soziale Barbarei kann nicht nach einer politischen Revolution verschwinden, die durch eine Elite von Berufsrevolutionären vorbereitet wurde, die vorgeben, im Namen und zugunsten der Mehrheit der Ausgebeuteten und Entfremdeten zu handeln und zu denken. Das Proletariat, das sich unter den Bedingungen der bürgerlichen Demokratie als Klasse und Partei konstituiert, befreit sich selbst, indem es diese Demokratie besiegt: es macht aus der allgemeinen Wahl, die gestern noch ein ‘,Täuschungsinstrument‘ war, ein Mittel der Emanzipation. Eine Klasse, die die ungeheure Mehrheit der modernen Gesellschaft darstellt, entfremdet sich politisch nur, um über die Politik zu triumphieren, und erobert die Staatsmacht nur, um sie gegen die ehemals herrschende Minderheit anzuwenden. Die Eroberung der politischen Macht ist von Natur aus ein bürgerlicher Akt; sie verwandelt sich nur durch die revolutionäre Zielsetzung, die ihr die Urheber dieser Umwälzung verleihen, in eine proletarische Aktion. Dies ist der Sinn dieser historischen Periode, die Marx sich nicht gescheut hat, »Diktatur des Proletariats« zu taufen, gerade um die Differenz zu der von einer Elite ausgeübten Diktatur genau zu kennzeichnen, nämlich zur Diktatur im jakobinischen Sinne des Ausdrucks. Sicher konnte Marx, der sich das Verdienst zusprach, das Geheimnis der historischen Entwicklung der Produktions- und Herrschaftsweisen entdeckt zu haben, nicht vorhersehen, daß seine Lehre von Berufsrevolutionären und anderen politischen Leuten usurpiert werden würde, die sich selbst das Recht verliehen, die Diktatur des Proletariats zu personifizieren. Denn Marx sah diese Form der Übergangsgesellschaft nur für die Länder vor, deren Proletariat in der Lage war, von der bürgerlichen Demokratie zu profitieren, um seine eigenen Institutionen zu schaffen und sich als herrschende Klasse der Gesellschaft zu konstituieren. Verglichen mit den zahlreichen Jahrhunderten von Gewalt und Korruption, die der Kapitalismus benötigte, um die ganze Erde zu beherrschen, sollte die Dauer des Übergangsprozesses vor der anarchistischen Gesellschaft umso kürzer sein und umso weniger Gewalt kennen, als die Akkumulation des Kapitals und die Konzentration staatlicher Macht die Masse des Proletariats der numerisch schwachen Bourgeoisie entgegensetzen würde:

»Die Verwandlung des auf eigener Arbeit der Individuen beruhenden, zersplitterten Privateigentums in kapitalistisches ist natürlich ein Prozeß, ungleich mehr langwierig, hart und schwierig als die Verwandlung des tatsächlichen bereits auf gesellschaftlichem Produktionsbetrieb beruhenden kapitalistischen Eigentums in gesellschaftliches. Dort handelte es sich um die Expropriation der Volksmasse durch wenige Usurpatoren, hier handelt es sich um die Expropriation weniger Usurpatoren durch die Volksmasse.« (Kapital. MEW, Bd. 23, 5. 791)

Marx hat keine detaillierte Theorie des Übergangs ausgearbeitet, und man stellt bemerkenswerte Unterschiede zwischen den verschiedenen theoretischen und praktischen Schritten fest, die in seinem ganzen Werk verstreut sind. Dennoch bleibt über diesen Unterschieden, besonders diesen widersprüchlichen Behauptungen, ein Grundlagenprinzip soweit intakt und konstant, daß es die kohärente Rekonstruktion einer solchen Theorie erlaubt. Und vielleicht enthüllt sich gerade an diesem Punkt der Mythos der Begründung des »Marxismus« durch Marx und Engels in seiner ganzen Naivität. Während der erste aus dem Postulat der proletarischen Selbsttätigkeit das Kriterium jeder wahrhaften Klassenaktion und jedes wahrhaften politischen Siegs machte, hat der zweite, besonders nach dem Tod seines Freundes, die beiden Elemente der Herausbildung der Arbeiterbewegung, die Klassenaktion – die Selbsttätigkeit – des Proletariats einerseits und die Politik der Partei andererseits schließlich getrennt. Marx meinte, daß mehr noch als jede isolierte politische Aktion die kommunistische und anarchistische Selbsterziehung integraler Bestandteil der revolutionären Aktivität der Arbeiter sei. Ihnen lastete er es auf, sich zur Eroberung und Ausübung der politischen Macht als Widerstandsmittel gegen die Versuche der Bourgeoisie, ihre Macht zurückzugewinnen, zu befähigen. Das Proletariat muß sich vorübergehend und bewußt als materielle Kraft konstituieren, um sein Recht und sein Vorhaben zu verteidigen, die Gesellschaft durch die fortschreitende Verwirklichung der menschlichen Gemeinschaft zu verändern. Im Kampf um die Behauptung als Kraft der Aufhebung und der Neuschaffung übernimmt die Arbeiterklasse – die »von allen Produktivkräften die größte produktive Macht« ist – das dialektische Vorhaben einer schöpferischen Negation; sie übernimmt das Risiko politischer Entfremdung, um die Politik überflüssig zu machen. Ein solches Vorhaben hat weder mit der zerstörerischen Leidenschaft eines Bakunin noch mit der anarchistischen Apokalypse eines Coeurderoy etwas gemein. Der revolutionäre Ästhetizismus hatte in diesem politischen Plan keinen Platz, der dazu berechnet war, die wirkungsvolle Oberhoheit der unterdrückten und ausgebeuteten Massen triumphieren zu lassen. In den Augen von Marx konnte die Arbeiter-Internationale diese Kampforganisation werden, die die Macht der Zahl und den revolutionären Geist vereinigte, was der Proudhonsche Anarchismus ganz anders verstand. Indem er sich der IAA anschloß, hatte Marx die Position nicht aufgegeben, die 1847 gegen Proudhon einnahm, als es darum ging, einen antipolitischen, von einer politischen Bewegung zu verwirklichenden Anarchismus zu definieren:

»Heißt dies, daß es nach dem Sturz der alten Gesellschaft eine neue Klassenherrschaft geben wird, die in einer neuen politische Gewalt gipfelt? Nein. (...) Die arbeitende Klasse wird im Laufe der Entwicklung an die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft eine Assoziation setzen, welche die Klassen und ihren Gegensatz ausschließt, und es wird keine eigentliche politische Gewalt mehr geben, weil gerade die politische Gewalt der offizielle Ausdruck des Klassengegensatzes innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft ist. Inzwischen ist der Gegensatz zwischen Proletariat und Bourgeoisie ein Kampf von Klasse gegen Klasse, ein Kampf, der, auf seine höchsten Ausdruck gebracht, eine totale Revolution bedeutet. (»... Man sage nicht, daß die gesellschaftliche Bewegung die politisch ausschließt. Es gibt keine politische Bewegung, die nicht gleichzeitig auch eine gesellschaftliche wäre. Nur bei einer Ordnung der Dinge, wo es keine Klassen und keinen Klassengegensatz gibt werden die gesellschaftlichen Evolutionen aufhören, politisch Revolutionen zu sein.« (Das Elend der Philosophie, MEW, Bd. 4, 5 181 f.)

Marx´Äußerung ist hier von einem gegen jede idealistische Interpretation gerichteten Realismus gekennzeichnet. Diese Abhandlung über die Zukunft muß man offensichtlich als die Formulierung eines normativen Entwurfs verstehen, der die Arbeiter dazu veranlassen soll, auch im politischen Kampf revolutionär zu handeln. »Das Proletariat ist revolutionär, oder es ist nicht.« Das ist die Sprache eines Denkers, dessen unerbittliche Dialektik es im Gegensatz zu der eines Proudhon oder eines Stirner ablehnt, durch den systematischen Rekurs auf das grundlose Paradoxon und verbale Hysterie zu verblenden. Und wenn in dieser demonstrativen Dialektik der Ziele und Mittel nicht alles festgelegt ist und es nicht sein kann, so ist ihr Verdienst zumindest, die Opfer der entfremdeten Arbeit angeregt zu haben, sich selbst zu begreifen und zu erziehen, um gemeinsam ein großes Werk kollektiver Kreation zu wagen. In diesem Sinn bleibt Marx‘ Appell aktuell trotz des triumphierenden Marxismus und sogar wegen dieses mythologischen Triumphes.

Aus diesen notwendig summarischen Bemerkungen folgt, daß Marx‘ Gesellschaftstheorie sich ausdrücklich als Versuch objektiver Analyse einer historischen Bewegung darstellt und nicht als der moralische oder politische Code einer revolutionären Praxis, die ein Ideal gesellschaftlichen Lebens verwirklichen will; als Enthüllung des Gegenstände und Individuen umfassenden Entwicklungsprozesses und nicht als Doktrin von Normen zum Gebrauch von Parteien und Eliten, die nach der Macht trachten. Dennoch ist dies nur der äußerliche und anerkannte Aspekt dieser Theorie, die einer doppelten konzeptionellen Bahn folgt. Die eine besitzt eine rigorose deterministische Orientierung, die andere richtet sich frei auf das imaginäre Ziel einer anarchistischen Gesellschaft.

»Die soziale Revolution des neunzehnten Jahrhunderts kann ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit schöpfen, sondern nur aus der Zukunft. Sie kann nicht mit sich selbst beginnen, bevor sie allen Aberglauben an die Vergangenheit abgestreift hat.« (Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. MEW, Bd. 8, S. 117)

Die Vergangenheit ist die unheilbare Notwendigkeit, und der mit allen Instrumenten der Analyse bewaffnete Beobachter ist in der Lage, die Verkettung der wahrgenommenen Phänomene zu erklären. Aber wenn es auch vergeblich ist, aus ihr die Erfüllung aller Träume zu erhoffen, so könnte die Zukunft den Menschen wenigstens das Ende der Institutionen bringen, die ihr Leben auf einen permanenten Zustand der Knechtschaft in allen sozialen Bereichen reduziert haben. Dies ist, grob skizziert, die Verbindung zwischen der Theorie und der Utopie in der Lehre von Marx, der sich förmlich Anarchist nannte, als er schrieb: »Alle Sozialisten verstehen unter Anarchie dieses: Ist einmal das Ziel der proletarischen Bewegung, die Abschaffung der Klassen erreicht, so verschwindet die Gewalt des Staates, (...) und die Regierungsfunktionen verwandeln sich in einfache Verwaltungsfunktionen.« (Die angeblichen Spaltungen in der Internationale. MEW, Bd. 18, S. 50)

Post-Scriptum

Im Jahr des 100. Todestages von Marx bedürfte der vorangegangene Essay, vor 10 Jahren veröffentlicht, eine Überarbeitung im Hinblick auf die Bekräftigung der zentralen These: der Begründung einer politischen Theorie des Anarchismus durch Marx.[1] Wenn man von der traditionellen Kritik rein phraseologischen Charakters abstrahiert, dessen Objekt diese Theorie von Seiten anarchistischer und libertärer Ideologen ist, muß man zugeben, daß die wirkliche Debatte über die Übergangsweisen der vom Kapital und Staat beherrschten Gesellschaften noch gar nicht angefangen hat. Am häufigsten ist der Verbalismus in den beiden Lagern – dem anarchistischen und dem marxistischen – angesiedelt, ohne daß die Lehre des Hauptbeteiligten wirklich in Betracht gezogen wird. Die alleinige Tatsache, daß fast alle »politischen« Resolutionen, die von Marx für die aufeinanderfolgenden Kongresse der Arbeiter-Internationalen abgefaßt worden waren, die volle Zustimmung aller Delegierten erhielten, genügt jedoch, um die Nichtigkeit der sogenannten antiautoritären Kritiken zu erkennen. In Wirklichkeit waren die »AntiAutoritären« nicht weniger »Marxisten« als ihre Gegner, denn, als sie für diese Resolutionen stimmten, deren Autor sie vielleicht nicht kannten, würdigten sie die »Autorität« des letzteren.[2] Und was soll man zur einstimmigen Annahme der Adresse über den Bürgerkrieg in Frankreich durch die Delegierten sagen, wo das »wahre Geheimnis der Natur der Kommune in folgenden Begriffen enthüllt wird:

»Sie war wesentlich eine Regierung der Arbeiterklasse, das Resultat des Kampfes der hervorbringenden gegen die aneignende Klasse, die endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte.«[3].

Wie soll man nicht über eine immer noch blühende »anti-autoritäre« Phraseologie erstaunt sein, wenn man weiß, daß diese Auffassung vom politischen Charakter der Kommune von den Adepten Proudhons wie denen Bakunins ohne Vorbehalt geteilt wurde. Letzterer gab sich kurze Zeit darauf alle Mühe, unter seinen Kampfgefährten Schmähschriften zu verbreiten, wo Marx als »Repräsentant des deutschen Denkens« behandelt wird, als »deutscher Jude«, als »Chef der autoritären Kommunisten Deutschlands« mit Allüren eines »Messias-Diktators« eines fanatischen Anhängers des »Pangermanismus«[4]. Was soll man sagen über diese »pièces justificatives«, wo Marx einerseits beschrieben wird als ein »tiefer Ökonom ...‚ der leidenschaftlich der Sache des Proletariats ergeben ist‚ als »Haupt-Initiator und -Inspirator der Gründung der Internationalen« und andererseits als ein Doktrinär, der »soweit gekommen ist, sich ernsthaft als Papst des Sozialismus oder eher des Kommunismus anzusehen«? Er ist »durch seine ganze Theorie hindurch ein autoritärer Kommunist, der wie Mazzini [...] die Emanzipation des Proletariats durch die zentralisierte Macht des Proletariats will.« Was soll man von einem »Anarchisten« oder einem »revolutionären Kommunisten« halten, der glaubt und behauptet, daß der Jude Marx von einer »Horde kleiner Juden« umgeben sei, daß »diese ganze jüdische Welt«, »ein Volk von Blutegeln«, »eng organisiert sei [...] über alle Unterschiede der politischen Meinungen hinweg«, daß es »zum Großteil zur Disposition von Marx auf der einen und Rothschild auf der anderen Seite«[5] sei? Wie soll man einen »Anarchismus« ernstnehmen, der – dem Wesen und dem Anspruch nach »anti-autoritär« – Marx selbst das glorreiche Verdienst zuschreibt, »die so schönen und so tiefen Beweggründe der Statuten« ausgearbeitet zu haben und »den instinktiven, einheitlichen Bestrebungen des Proletariats fast aller Länder Europas Gestalt verliehen zu haben, indem er in den Jahren 1863-1864 die Idee der Internationalen entworfen und deren Einrichtung vorgeschlagen hatte«, wobei sie vergaßen oder vorgaben zu vergessen, daß die Charta der Internationalen ohne weiteres ein politisches Dokument war, ein Manifest, das dem politischen Kampf der hervorbringenden Klasse den Charakter eines kategorischen Imperativs als absolute Bedingung und unzweifelhaftes Mittel der Emanzipation der Menschheit verlieh[6]?

Es war nicht Marx, es war Bakunin, der das Prinzip der Befreiung »von oben nach unten« praktizierte und die Bildung einer zentralisierten und geheimen Autorität anpries, einer Elite, die zur Aufgabe hatte, eine »kollektive und unsichtbare Diktatur« auszuüben, um die »wohl geführte Revolution« Siegen zu lassen[7]. Vertrauend auf die reale Bewegung der Arbeiter, betonte Marx die Bedeutung der Gewerkschaften, der Kooperativen und der politischen Parteien als Gründungen »von unten nach oben«, während Bakunin, der dabei meisterhaft genau die Karriere von Mazzini nachzeichnete, dem Held der Feldzüge am Rande des wirklichen Lebens der Massen, für die italienischen Revolutionäre, die dazu aufgerufen hatten, »eine große Volksrevolution« zu organisieren, einen Aktionsplan entwarf, um die »notwendigerweise« föderalistischen und sozialistischen Bauern aufzuwiegeln und zu revolutionieren. Das Programm sah die Schaffung einer »aktiven und mächtigen Partei« vor, die in Wirklichkeit nichts anderes sein sollte als eine Avantgarde, die parallel mit den Mazzinianern marschierte, sich aber wohl hütete, sich mit ihnen zu verbünden, und die darauf achtete, daß sie nicht in diese neue Partei eindrängen usw. Es war nicht Marx, der angesichts der Verfolgung durch Regierung und Polizei, deren Opfer die Internationale in allen europäischen Ländern war, die Schaffung von »Kernen inmitten der Sektionen« vorschlug, die aus den sichersten, den zuverlässigsten, den intelligentesten und den energischsten, in einem Wort, den vertrautesten Mitgliedern bestehen sollten und die die »doppelte Aufgabe« hatten, »die inspirative und lebendige Seele dieses immensen Körpers zu sein, den man die Internationale Assoziation der Arbeiter nennt, in Italien wie anderswo[...]. Sie werden die notwendige Brücke bilden zwischen der Propaganda der sozialistischen Theorien und der revolutionären Praxis«. Es war nicht Marx, der den so rekrutierten Italienern empfahl, eine »geheime Allianz« zu bilden, die »in ihrem Innern nur eine sehr kleine Anzahl von Individuen akzeptiert, die sichersten, die zuverlässigsten, die intelligentesten, die besten, denn in dieser Art von Organisationen ist es nicht die Quantität, es ist die Qualität, die man suchen muß«; man müßte nicht die Mazzinianer nachahmen und »Soldaten rekrutieren, um kleine Geheimarmeen zu bilden, die fähig sind, Überraschungsangriffe zu wagen«, denn für die Volksrevolution ist das Volk die Armee. Es war nicht Marx, der anregte, »Generalstäbe« zu bilden, »ein von den Chefs der Volksbewegung wohlorganisiertes und wohlinspiriertes Netz«, eine Organisation, für die »es überhaupt nicht notwendig ist, eine große Anzahl von Individuen in die geheime Organisation eingeweiht zu haben.«[8]

Kann man sich den Menschen vorstellen, der als die Personifizierung des »autoritären Kommunismus« denunziert wird, auf diese Weise ein geheimes Netz von Genossen zu kommandieren oder seine Talente als Wissenschaftler und Aktivist dafür einzusetzen, um »die Internationale in eine Art stark reglementierten, stark disziplinierten Staat zu verwandeln, die einer Einheitsregierung gehorcht und deren ganze Macht in den Händen von Marx konzentriert ist«?[9]

Wie erklärt man sich die Tatsache, daß die sogenannten Anarchisten, um ihr »anti-autoritäres« Dogma zu rechtfertigen, keine andere Zuflucht finden als die unaufhörlich wiederholte Anrufung einiger Passagen aus dem Kommunistischen Manifest oder dem Zitieren von Auszügen aus privaten Briefen sowie natürlich die Erinnerung an die zweifelhaften diplomatischen Manöver von Marx und Engels, um Bakunin und seine Getreuen aus der Internationalen auszuschließen? Wo es leicht ist, eine Anthologie jakobinischer und blanquistisch-babeufistischer Schriften aus dem Werk von Bakunin zusammenzustellen, so erweist sich ein ähnliches Wagnis zum Beweis des angeblich von Marx gepredigten »Staatskommunismus« als unmöglich.

Die Karriere von Marx reiht sich von einem zum anderen Ende in einen Prozeß von Aktivismus gegen die Autorität ein. Der Staat und die Kirche von Preußen waren das erste Hindernis, das der »Doktor der Philosophie« angehen mußte, um den Beruf als Lehrkraft an der Universität ausüben zu können: dies war der erste Rückschlag und auch der erste Anstoß zum Kampf gegen die politische Autorität. Von jetzt ab verschmilzt das Leben von Marx mit einem politischen Kampf, den er an allen Exilorten wie in seinem Heimatland führte, wohin er 1848 zurückkehren konnte, nicht als deutscher Staatsbürger, sondern als Staatenloser. Mit Ausnahme von England, einem Ort relativer Freiheit, setzten die Länder, in denen sich Marx aufgehalten hatte, die Polizei auf seine Fersen. Als er in Großbritannien das Recht der freien Meinungsäußerung genoß, hielt er sich nicht zurück, einen »anti-autoritären« Journalismus zu praktizieren und Kontakt im Milieu des Chartismus zu suchen, der damals noch ohne große politische Perspektiven war. In Köln, in Paris, in Brüssel und in London kämpfte er gemäß seinen sozialpolitischen Überzeugungen, nicht als Abenteurer, der wirkungslose Verschwörungen gegen die bestehende Ordnung förderte, sondern mit enthülltem Gesicht, dort, wo die bürgerlichen Freiheiten gesichert waren, und in der Klandestinität, wenn die Bourgeoisie noch gegen die Überreste des feudalen Absolutismus kämpfen mußte. Kurzgesagt, sein Kampf war immer gegen die reaktionären, also autoritären Regime gerichtet.

Eine Gesamtheit von Prinzipien verdient es erst dann, sich »Theorie« zu nennen, wenn sie empirisch überprüfbar entwickelt und die Normen rational erfaßbarer Verwirklichung bestimmt. Die Marxsche Theorie des Anarchismus vereinigt diese beiden Merkmale; sie analysiert einerseits die sozial-historischen Phänomene in ihrem Ablauf, festgehalten durch überprüfte und überprüfbare Zeugnisse, und formuliert andererseits relativ glaubwürdige Prognosen hinsichtlich menschlicher Verhaltensweisen, Tendenzen der Veränderung der sozialen Realität. Diese analytische und normative Theorie kann die Exaktheit der sogenannten Naturwissenschaften nicht erreichen, selbst wenn die moderne Epistemologie die deterministischen Voraussetzungen der sogenannten exakten Wissenschaften wieder in Frage stellt und so auf gewisse Weise den posthumen Triumph dieses »Zufalls«-Prinzips versichert, welches der Schlüssel des epikurischen Atomismus ist (dem Examensthema des Studenten Marx als Kandidat für das Doktorat in Philosophie). Aus Opposition gegen die Mehrheit der Denker, die sich auf den Anarchismus oder einen nihilistischen Individualismus (Max Stirner!) beriefen, aber wenig um die geeigneten praktischen Mittel bemüht waren, die zu Gemeinschaftsformen führen, die von Klasseninstitutionen befreit sind, welche die Ausbeutung und die Beherrschung des Menschen durch den Menschen fördern, suchte Marx danach, die Formen revolutionärer Übergänge der Gesellschaften in der Vergangenheit kennenzulernen, um aus diesen historischen Erfahrungen allgemeine Lehren zu ziehen. Als er beabsichtigte, seinen Recherchen das anspruchsvolle Ziel zuzuschreiben, »das ökonomische Gesetz der Bewegung der modernen Gesellschaft zu enthüllen«, hatte er bereits fast drei Jahrzehnte an Studien in verschiedenen Wissensbereichen hinter sich. Er trat also nicht als Spezialist der politischen Ökonomie auf, um mit Adam Smith oder David Ricardo zu konkurrieren. Die Originalität seiner Methode sollte sich in der Beobachtung der menschlichen Beziehungen ausbilden, welche die sogenannten ökonomischen Phänomene unterspannen, sowohl in ihrem theoretischen Ausdruck als auch in ihrer praktischen Äußerung. Die Kritik der politischen Ökonomie und den Theoretiker der revolutionären Politik zu trennen, heißt, sich dem Verständnis der tiefen Bedeutung seines Werkes zu verschließen, aber auch den gezwungenermaßen negativen Einfluß der »bürgerlichen« Einflüsse, genauer: der »bourgeoisen Misere« zu verkennen, die seine ganze Karriere als intellektueller Paria bestimmt hat.

Wir verfügen über zahlreiche Ansatzpunkte, die es erlauben zu behaupten, daß das Buch über den Staat, das im Plan der »Ökonomie« vorgesehen war, den Marx im Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie (1859) definiert hatte, eine Theorie des Anarchismus darstellen sollte. Als ein Chronist aus Anlaß des 100. Todestages von Marx bedauerte, daß der Ökonom den Sieg über den Theoretiker der Politik davongetragen hätte, scheint er sich auf diesen Plan zu stützen, den Marx nicht zur Ausführung bringen konnte.[10] Nun gibt der Autor der Kritik vor, über »Materialien« zu verfügen, die den fünf »Rubriken« oder »Büchern« bestimmt sind; er spricht sogar von »Monographien«, die geeignet sind, mit Hilfe der Umstände ausgearbeitete Schriften zu werden, getreu dem Schema der zwei Triaden, wo man leicht das Verhältnis zur dialektischen Methode eines vorher »umgedrehten«[11] Hegel errät.

Der Legendenschein, der das Werk von Marx umgibt, hat schließlich einen bisher nie dagewesenen Grad an Mystifikation erreicht, und man ist wohl gezwungen zuzugeben, daß »Libertäre« und »Anti-Autoritäre« hierzu einen nicht zu vernachlässigenden Teil beitrugen, indem sie sich auf diese Art – oft ungewollt – zu Komplizen der liberalen und demokratischen Ideologen machten, die im Dienst der Interessen des wirklichen Kapitalismus gegen den falschen Sozialismus stehen, der in den Farben des totalitären Dämons gemalt wurde.

In Wirklichkeit ist es »der Politiker«, der von einem zum anderen Ende die Gesamtheit des Werkes von Marx durchzieht, welches aus offensichtlichen Gründen fragmentarisch geblieben ist. Was die Monographie betrifft, die unter den teilweise als vorläufige Texte des »Buches« verfaßten Materialien erwähnt wurde, so könnte sie ausgehend von den zahlreichen verstreuten Elementen wiederhergestellt werden, die in fast allen veröffentlichten oder unveröffentlichten Schriften präsent sind, welche nun dank der von Engels initiierten Ausgaben und Neuveröffentlichungen zugänglich sind. Sie verteilen sich nach seinem Tod auf mehr als acht Jahrzehnte, an deren Ende die von Kautsky im April 1881 an Marx gestellte Frage endlich eine definitive Antwort zu erhalten schien, dank des jüngsten verlegerischen Unternehmens, der Marx-Engels-Gesamtausgabe.[12]

Man weiß also heute, daß Marx niemals aufgehört hat, für eine »Rubrik« zu arbeiten, die »Der Staat« tituliert war. Er hat seine Karriere als »engagierter« Wissenschaftler sogar mit einer Kritik der politischen Moral von Hegel begonnen, so wie er sie mit einer Arbeit über die revolutionären Perspektiven im zaristischen Rußland beendet hat. Man weiß vor allem, daß der erste Plan des »Buches über den Staat« von 1845 datiert, als er gerade den ersten Entwurf einer Kritik der politischen Ökonomie geschrieben hatte. Ein Thema wie das von »Marx als Theoretiker des Anarchismus« zu behandeln, ohne diesen Plan der Beurteilung der Leser zu unterwerfen, und besonders derjenigen unter ihnen, die sich nicht gegen den »Staatskommunisten« aufhetzen lassen, heißt, auf ein kapitales Argument zu verzichten. Hier also die elf Themen, die Marx in ein Heft geschrieben hatte, das er in den Jahren 1844-1847 benutzte und deren genaues Datum nie bestimmt wurde:

  1. Die Entstehungsgeschichte des Modernen Staats oder
    die französische Revolution. Die Selbstüberhebung des politischen
    Wesens – Verwechslung mit dem antiken Staat. Verhältnis der
    Revolutionäre zur bürgerlichen Gesellschaft. Verdoppelung aller
    Elemente in bürgerliche und Staatswesen.
  2. Die Proklamation der Menschenrechte und die Konstitution des Staats. Die individuelle Freiheit und die öffentliche Macht. Freiheit, Gleichheit und Einheit. Die Volkssouveränität.
  3. Der Staat und die bürgerliche Gesellschaft.
  4. Der Repräsentativstaat und die Charta.
    Der konstitutionelle Repräsentativstaat, der demokratische Repräsentativstaat.
  5. Die Teilung der Gewalten. Gesetzgebende und exekutive Gewalt.
  6. Die gesetzgebende Gewalt und die gesetzgebenden Körper. Politische Klubs.
  7. Die exekutive Gewalt. Zentralisation und Hierarchie. Zentralisation und politische Zivilisation. Föderativwesen und Industrialismus. Die Staatsverwaltung und Gemeindeverwaltung.
  8. Die richterliche Gewalt und das Recht.
  9. Die Nationalität und das Volk.
  10. Die politischen Parteien.
  11. Das Wahlrecht, der Kampf um die Aufhebung des Staats und der bürgerlichen Gesellschaft.[13]

Marx bemühte sich im Februar 1845, einem deutschen Verleger die Exklusivrechte eines zweibändigen Werkes zu überlassen, das den Titel hatte: »Kritik der politischen Ökonomie« (siehe oben). Wir können uns also erlauben zu behaupten, daß das obige Schema dem Autor als Bezugsrahmen für seine zu unternehmenden Studien dienen sollte. Mehrere der aufgezählten Themen waren bereits in den Schriften erörtert worden, die Marx vor dem Jahr 1845 abgefaßt hatte, andere würden im Laufe seiner Aktivitäten als Historiker, als politischer Chronist und Polemiker zum Objekt seiner Arbeiten werden. »Der Politiker« würde im Zentrum seiner Auseinandersetzungen mit den Anarchisten in der Arbeiter-Internationalen stehen.

Der Liste mit den bereits erwähnten Texten muß man noch eine polemische Schrift hinzufügen, eine Schrift mit einer solchen Prägnanz und Ironie, daß sie es verdient, vollständig zitiert zu werden als Abschlußdokument der politischen Theorie, die sich aus dem Gesamtwerk von Marx ergibt und dessen strategische Intention rechtfertigt, die der Sache der Anarchie untergeordnet ist. Marx leiht, unter dem Vorwand einer Nachahmung, einem Verteidiger des »politischen Indifferentismus« das Wort, auch wenn die zitierten Äußerungen, selbst unkommentiert die Nichtigkeit der sogenannten anarchistischen Überlegung enthüllen. Es genügt, den ironischen Charakter des fiktiven Diskurses zu verändern, um die positive Auffassung des angeblichen »Staatskommunismus« nachbilden zu können:

»Die Arbeiterklasse muß sich als politische Partei konstituieren, sie muß politische Aktionen unternehmen, auf die Gefahr hin, die »ewigen Prinzipien« zu verletzen, nach denen der Kampf gegen den Staat die Anerkennung des Staats ist. Sie müssen Streiks organisieren, für höhere Löhne kämpfen oder ihre Kürzung verhindern, auf die Gefahr hin, das System der Lohnarbeit anzuerkennen und die ewigen Prinzipien der Befreiung der Arbeiterklasse aufzugeben.

Die Arbeiter müssen sich in ihrem politischen Kampf gegen den bürgerlichen Staat vereinen, um Konzessionen zu erreichen, auf die Gefahr hin, die ewigen Prinzipien zu verletzen, indem sie Kompromisse eingehen. Es gibt keinen Grund, friedliche Bewegungen der englischen und amerikanischen Arbeiter zu verdammen, genauso wenig wie die Kämpfe für eine legale Grenze des Arbeitstages, also Kompromisse mit den Unternehmern einzugehen, die dann die Arbeiter nur noch 10 oder 12 Stunden statt 14 oder 16 ausbeuten könnten. Sie müssen sich bemühen, das gesetzliche Verbot der Fabrikarbeit von Mädchen unter zehn Jahren zu erreichen, auch wenn durch dieses Mittel die Ausbeutung der Knaben unter zehn Jahren noch nicht aufgehoben wird – also ein neuer Kompromiß, der gegen die Reinheit der ewigen Prinzipien verstößt!

Die Arbeiter müssen verlangen, daß der Staat – wie es in der amerikanischen Republik geschieht – verpflichtet werden soll, den Kindern der Arbeiter Grundschulbildung zu gewähren, auch wenn Grundschulbildung noch nicht Universalbildung ist. Da das Staatsbudget auf Kosten der Arbeiter aufgestellt wird, ist es normal, daß die Arbeiter und Arbeiterinnen durch den Unterricht von einem Lehrer einer staatlichen Schule lesen, schreiben und rechnen lernen – denn es ist besser, gegen die ewigen Prinzipien zu verstoßen, als unwissend und abgestumpft zu sein durch eine tägliche Arbeitszeit von 16 Stunden.

In den Augen der »Anti-Autoritären« begehen die Arbeiter das schreckliche Verbrechen der Prinzipienverletzung, wenn sie um der Befriedigung ihrer kläglichen profanen Tagesbedürfnisse willen und um der Brechung des Widerstands der Bourgeoisie willen den politischen Kampf führen, ohne vor gewaltsamen Mitteln zurückzuschrecken, und indem sie an die Stelle der Diktatur der Bourgeoisie ihre revolutionäre Diktatur stellen.«[14]

Marx fällt es überhaupt nicht ein, diese Arbeiterdiktatur »Staatskommunismus« zu nennen, obwohl er eine Formel benutzt, die der Zweideutigkeit nicht entbehrt, wenn er erklärt, daß die neue Macht, »statt die Waffen niederzulegen und den Staat abzuschaffen«, auf gewisse Weise den bestehenden Zwangsapparat aufrechterhält und »dem Staat eine revolutionäre und vorübergehende Form gibt«. Diese Zeilen, 18 Monate nach der Niederschlagung der Pariser Kommune geschrieben, beweisen uns in aller Offenheit, daß in der politischen Theorie von Marx die Ereignisse von 1871 in Frankreich nichts von einer brauchbaren Erfahrung hatten, die geltend gemacht werden kann, um das Konzept der »Diktatur des Proletariats« zu illustrieren. Wir haben an anderer Stelle auf den Fehler von Engels diesbezüglich hingewiesen und wir halten es für nützlich, in diesem Post-Scriptum durch einige Passagen aus einem 1971 veröffentlichten Text daran zu erinnern:

»Engels konnte nicht ignorieren, daß für Marx die Diktatur des Proletariats eine »notwendige« Übergangsphase – im historischen und ethischen Sinn – zwischen dem kapitalistischen System und der sozialistischen Produktionsweise war, der »Negation« der vorhergehenden. Die politische Theorie von Marx – die er zweifellos im Heft über den Staat entwickelt hätte, das im Plan der »Ökonomie« vorgesehen war – beruht auf dem Prinzip der fortschreitenden Entwicklung der »Produktionsweisen«, wobei jede von ihnen in ihrer Entwicklung die materiellen und moralischen Bedingungen ihrer Überwindung durch die nachfolgende schafft.

Der Kapitalismus bereitet aufgrund seiner eigenen gesellschaftlichen Antagonismen das ökonomische und gesellschaftliche Terrain seiner revolutionären Veränderung, die kein zufälliges Phänomen ist: damit die Diktatur des Proletariats realisiert werden kann, müssen die materiellen und intellektuellen Bedingungen ein Entwicklungsniveau erreicht haben, das jede Umkehr unmöglich macht. Mit anderen Worten, das Postulat der Diktatur des Proletariats schließt die Eventualität einer Niederlage aus. Eine Diktatur, die den Namen proletarisch verdient, muß in den Gesellschaftstyp münden, dem sie zur Geburt verholfen hat. Ihre Existenz kann nur a posteriori bewiesen werden. Deshalb beweist die Niederlage der Kommune, daß es keine Diktatur des Proletariats gab und daß es sie nicht geben konnte.«[15]

Um dem Werk von Marx einen herausragenden Platz unter den Beiträgen zu einer Theorie des Anarchismus zu gewähren, bemühen wir uns, das intellektuelle Erbe der revolutionären Denker des 19. Jahrhunderts zu bewahren. Die neue Theorie wird aus einer weltweiten revolutionären Bewegung entstehen, ohne die das »ökonomische Gesetz der Bewegung der modernen Gesellschaft« – die Marx behauptete enthüllt zu haben – über den Überlebensinstinkt und die Bewahrung unserer Art Siegen wird.

Da dieses »Gesetz« die wissenschaftliche Analyse der kapitalistischen Produktionsweise enthüllt – die weit davon entfernt scheint, ans Ende ihrer Entwicklung gekommen zu sein –‚ reiht sich der kategorische Imperativ der proletarischen Revolution in diese Ethik der Anarchie ein, deren Vorbemerkungen Kropotkin uns überlassen hat.                                                          

(Oktober 1983)


Fussnoten

1)siehe L. Janover und M. Rubel, "Materiaux pour un lexique de Marx. - Staat. Anarchismus". Etudes de marxologie (Cahiers de l'I.S.M.E.A.), Nr. 19-20, Januar-Februar 1978, S. 11-161.

2)M. Rubel, "La Charte de la Premiere Internationale. Essai sur le 'marxisme' dans l'Association internationale des travailleurs." In: Marx critique du marxisme, Paris, 1974, S. 25-41. Der Bericht des Zentralrats der IAA, von Marx für den Genfer Kongreß 1866 verfaßt, beinhaltete unter der Frage 4 ("Arbeit von Jugendlichen und Kindern beiderlei Geschlechts") einen Paragraphen, wo es u.a. heißt: "Der aufgeklärteste Teil der Arbeiterklassen versteht vollkommen, daß die Zukunft ihrer Klasse und folglich der menschlichen Spezies von der zunehmenden Bildung der Arbeiterklasse abhängt. Sie verstehen, daß vor allem die Kinder und die Jugendlichen vor den zerstörerischen Auswirkungen des gegenwärtigen Systems bewahrt werden müssen. Dies kann nur geschehen durch die Transformation der gesellschaftlichen Vernunft in eine gesellschaftliche Kraft, und unter den gegenwärtigen Umständen können wir nur das tun, was von den allgemeinen Gesetzen von der Staatsmacht in Kraft gesetzt wurde. Indem sie solche Gesetze schaffen, werden die Arbeiterklassen nicht die Regierungsmacht stärken. So wie es Gesetze gibt, um die Privilegien des Eigentums zu verteidigen, warum soll es nicht welche geben, um dessen Mißbrauch zu verhindern? Im Gegenteil, diese Gesetze würden die Macht verändern, welche gegen sie als eigene Kraft gerichtet ist. Das Proletariat wird also durch eine allgemeine Maßnahme das tun, was es durch eine Vielzahl von individuellen Bemühungen vergeblich versuchen würde." IAA. Rechenschaftsbericht des Genfer Kongresses, veröffentlicht im Courrier International, London 1867; vgl. La Premiere Internationale, unter der Leitung von J.Freymond, t.l, Genève, 1962, S. 32. Indem sie "mit großer Mehrheit" für diesen Bericht stimmten, haben es die Delegierten zweifellos nicht gemerkt, daß sie Anhänger der Theorie des "Staatskommunismus" wurden, die später von der hartnäckigen Propaganda von Bakunin und seinen Freunden erdichtet wurde.

3)Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, MEW 17, S. 342.

4)Wir verzichten darauf, hier eine Anthologie rassistischer und deutschfeindlicher Äußerungen zu erstellen, zu denen Bakunin durch die Figur von Marx angeregt wurde. Man findet sie, treu wiedergegeben, aber wenig kommentiert, in den Archives Bakounine, I, Michel Bakounine et L'ltalie I871-I872, 2.partie: La Premiere Internationale en Italic et le conflit avec Marx. Leiden 1963. Die "anti-autoritäre" Parteinahme des Verlegers, A. Lehning, erleichtert nicht eine ausgeglichene und erhellende Beurteilung auf dem theoretischen Hintergrund eines Konflikts, dessen Studium von Beginn an neuaufgenommen werden müßte, angesichts der Ratlosigkeit der Wortführer in den Lagern der "Marxisten" und der "Anti-Marxisten".

5)Bakunin, Rapports personnels avec Marx. Pièces justificative nr.2, op.cit. S. 124 ff. "Es mag seltsam erscheinen. (...) Oh! Der Kommunismus von Marx will die starke Zentralisierung des Staats, und da, wo es die Zentralisierung des Staats gibt, muß es notwendigerweise eine Zentralbank geben, und da wo eine solche Bank existiert, wird die parasitäre Natur der Juden, die auf die Arbeit des Volkes spekulieren, immer Mittel finden, um zu existieren... (ibid., S. 125).

6)siehe die "Lettre aux internationaux de la Romagne", datiert vom 23.Januar 1872, Archives Bakounine. I, 1963, op.cit., S. 207-228. Bakunin macht dort sein mea culpa dafür, daß er zur Erweiterung der Vollmachten des Generalrats der IAA beim Basler Kongreß 1869 beigetragen und auf diese Weise die Autorität der "Marxschen Sekte" verstärkt hat.

7)Bakunin an Albert Richard, 1.April 1870, Archives..., op.cit. S. XXXVI ff.. A.Lehning faßt in seinem Vorwort die Aktivitäten von Bakunin so zusammen, daß sie dazu tendieren, "den Massen eine wirklich revolutionäre Führung zu geben, indem man die Geheimorganisationen vervielfältigt.

8)Brief an Celso Ceretti, 13.-27.März 1872, Archives .... op.cit. S. 251 ff.

9)Brief an die Internationalen der Romagna..., op.cit. S. 220. Bevor Bakunin den Ausdruck "Marxisten" erdachte, um damit die Freunde von Marx zu bezeichnen, sprach er von "Marxianern" und dem "Marxschen Kern".

10)vgl. Jacques Julliard, "Marx mort et vif", Le Nouvel Observateur, 25-31 März 1983, S. 60: Marx hätte "zu unserem Unglück" "die politische Theorie" zugunsten einer "Theorie der ökonomischen Ausbeutungen" vernachlässigt.

11)Marx, Oeuvres, Pléiade, Bd.l.

12)Diese Ausgabe verdanken wir einer gemeinsamen Initiative des Instituts für Marxismus-Leninismus von Moskau und von Berlin (DDR). Bis 1975 sind 15 Ausgaben erschienen - von einer Gesamtzahl von mehr als hundert.

13)MEW 3, S. 537. Die Punkte VIII bis XI sind als 8', 8'', 9' und 9'' bezeichnet.

14)Marx, "Der politische Indifferentismus" (in Italien). MEW 18, S. 299 ff.

15)Einleitung zu Jules Andrieu, Notes pour servir à l´histoire de la Commune de Paris de 1871, Paris. Payot, 1971. Herausgegeben von M. Rubel und L. Janover. Der Band wurde später von Rene Lefevre, dem Verleger von Spartacus, übernommen.

16)Peter Kropotkin, l´Ethique. Übersetzung aus dem Russischen von Marie Goldsmith, Stock +Plus, Paris 1979. Ein zweiter Band liefert die unveröffentlichten Texte eines Entwurfs, deren Hauptdenkerin die Übersetzerin war. S. 8 ff. Es muß auf eine neu erschienene italienische Studie hingewiesen werden, wo die obengenannten Thesen zusätzliche Erhellung erfahren: Bruno Bongiovanni, L´Universale pregiudizio. Le interpretazioni della critica marxiana della politica, Milano, La Salamandra, 1981.

 

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