Berta Klarsicht und Erni Grenzenweg - GrenzüberschreiterInnen aus Osnabrück und Berlin

Kapitalismus nachhaltig abschaffen

zu den Fussnoten

Formen der Selbst-Organisation auf allen Ebenen entwickeln, Konkurrenz thematisieren und bekämpfen.

Dieser Text basiert auf Erfahrungen zweier Gruppen, die zusammen hauptsächlich in Genf anlässlich des G8 Gipfels in Evian vom 1.-3. Juni 2003 waren. Er soll Anregung und Kritik sein. Es soll absichtlich kein Bericht der konkreten Ereignisse sein, sondern will diese in den Zusammenhang von radikaler Gesellschaftskritik und Perspektiven Sozialer Kämpfe stellen. Es geht uns darum, eine Diskussion weiterzuführen, die an die Notwendigkeit erinnert, über die »Großevents« hinaus eine revolutionäre Alltagspraxis gemeinsam zu entwickeln und diese Gesellschaft in die mögliche solidarische und kommune Assoziation zu verändern, worin die freie Entfaltung eines jeden die Bedingung für die freie Entfaltung aller ist .

[KOOPERATION]

Entgegen den überall zu findenden Ankündigungen, der G8-Gipfel solle blockiert oder gar verhindert werden, halten wir andere Ebenen für wichtiger (im Hinblick auf soziale Emanzipation, die wir hier als letztendliches Maß ansetzen), welche über bloßen Protest hinaus gehen. Zwar ist das Blockieren von Brücken eine (durchaus sinnvolle) Form von Widerstand, jedoch sollte es mehr darum gehen, sozialen Widerstand zu leisten, was bedeutet, nicht die gewöhnlichen, also normalen und damit funktionalen Verhaltensweisen zu reproduzieren, sondern durch eine Struktur von Kooperationen und freien Vereinbarungen ein solidarisches und kollektives[1] Handeln zu ermöglichen.

Die gemeinsame Vorbereitung, die Fahrt, die gemeinsamen Aktionen und Reaktionen sind immer wieder ein Versuch, Handlungsebenen zu finden, sich untereinander zu koordinieren und zusammen zu arbeiten. Der kapitalistischen totalen Konkurrenz müssen Kooperationsformen entgegengesetzt werden. Das wiederum setzt notwendigerweise Organisation im Allgemeinen, aber insbesondere die Selbstorganisation der Beteiligten –und zwar gerade auch im alltäglichen (Über-) Leben- voraus.

Hier jedoch entsteht der Eindruck, dass es bei den Gipfeln der Vergangenheit keine wirkliche Weiterentwicklung gab. Mensch hat das Gefühl, jedes Mal wieder bei Null anzufangen. Es zeichnen sich immer wieder die gleichen Diskussions- und Konfliktlinien ab (Gewaltfrage, Großdemo versus Kleinaktionen, Zusammenkommen und Spalten, das ewige Aufregen über das unerhörte Verhalten der diversen Repressionsorgane...). Hierzu trägt zum großen Teil auch der oft anzutreffende Mangel an Möglichkeiten, Kooperationsformen überhaupt erst entstehen zu lassen, bei.

Das hat zweierlei Ursachen. Zum einen die fehlende Motivation der verschiedenen AktivistInnen (weshalb sie auch AktivistInnen heißen?), sich vernünftig vorzubereiten, Kontakt mit anderen aufzunehmen, sich zusammenzuschließen, Inhalte zu diskutieren, also theoretische Grundlagen zu schaffen, und Unterschiede offen auszutragen, anstatt sich in das kleine, zugegebenermaßen gemütlichere, konfliktfreiere und gewohnte Szeneumfeld zurückzuziehen. Ein Beispiel hierfür soll das Agieren des schwarzen, vermummten Blockes auf der Großdemo in Genf sein: aus dem Block heraus sind teilweise Journalisten angemacht und körperlich bedrängt worden, andere fragende DemonstrantInnen angepöbelt worden, anstatt sich mit ihnen auseinanderzusetzen und den Sinn militanter Aktionsformen zu erklären. Oder eben diejenigen, die Praxisformen von vornherein ablehen und darüber ihre eigene Identität schaffen, doch sich damit auch gleichzeitig von jeder Veränderung dieser gesellschaftlichen Situation verabschiedet haben, indem sie ein Eingreifen für unmöglich erklären.

Das andere ist die Frage der geeigneten Strukturen, in denen sich Widerstand organisieren und artikulieren lässt. Für selbstorganisiertes und kreatives Handeln sind einfach bestimmte infrastrukturelle Vorraussetzungen unabdinglich.

Der Zugang zu meist monopolisierten Ressourcen muss für alle gleich frei sein; das schließt z.B. Zugriff auf Presseverteiler, Benutzung von Computern, Telefonen, Faxgeräten etc. ein. Aktionsmaterialien und Vorbereitungsräume, gute Transparenz- und Kommunikationssyteme, welche für alle verständlich und nutzbar sind, sollten genügend bereit gestellt sein. Offene und möglichst angstfreie Atmosphäre, um sich auszutauschen und um auch gegenüber etablierten und professionalisierten Gruppen keinen Nachteil zu haben. Für alle oben angesprochenen Punkte gilt: Hierfür sind nicht ausschließlich die lokalen Gruppen der Gipfelgegend verantwortlich! Überregionale/-nationale Vernetzung sind notwendig, denn das nachhaltige Gelingen eines solchen Events hängt von Allen ab.

Ausgeschlossen in solchen Konzepten wären dann z.B. zentrale, von wenigen getragene, aber Anspruch für Alle erhebende Pressekonferenzen von Wichtigorganisationen, Ausschlüsse und Rauswürfe bei Vorbereitungs- und Entscheidungsrunden und andere herrschaftsförmige Praxen.

[GRENZEN]

Auf einer solchen unalltäglichen Reise, die von starker Repression auf verschiedenen Ebenen gekennzeichnet ist, fallen dir ziemlich viele unterschiedliche und vielfältig wirkende Grenzen auf.

Am augenscheinlichsten sind natürlich zuerst die nationalstaatlichen Grenzen, welche bei solchen Aktivitäten für immer mehr Menschen zunehmend zu einer nur schwer überwindbaren Hürde werden. Sei es in Form von Ausreiseverboten mit Meldeauflagen bei der örtlichen Behörde, sei es die Abweisung an der Grenze, oder die schikanöse Behandlung bei der Durchsuchung und anschließenden Beschlagnahme von Aktionsmaterialien und anderen Dingen: immer zeigt sich die staatliche Repression mit dem erkennbaren Ziel, die kleinste Regung von Widerstand und selbstorganisiertes, unnorthodoxes Handeln im Keim zu ersticken. Es passt hervorragend zur Strategie der Einbindung und Umarmung, diese präventive »low itensity« Repression, die gerade auf Grund ihrer Vehemenz und unerträglichen, normal und unspektakulär erscheinenden Art und Weise so wirksam ist[2]. Die »Öffentlichkeit«, NGOs usw. interessieren sich nur wenig für sowas, fordern solche präventiven Maßnahmen sogar gelegentlich selber. Das hat zur Folge, dass einerseits »wir« mit dieser Repression allein zurechtkommen müssen und wir andererseits politisch isoliert stehen -da, wo uns der herrschende Diskurs (als Einheit aus kapitalistischen Verwaltern, Demokratiefetischisten und verschiedenen linksliberalen Parteien und Strömungen) am liebsten sieht: kriminalisiert und ausgepowert im gesellschaftlichen Abseits, entlang dem schmalen Grat am Rand der Bedeutungslosigkeit und gleichzeitig als Spielball der etablierten politischen Kräfte, meist in Form des Negativbeispiels dafür, wie »konstruktive Mitarbeit« an der kybernetischen Verwertungsmaschine nicht funktioniert: der extremistische Kriminelle.

 Dazu kommen noch unsere eigenen, im Subjekt begründeten, Grenzen. Aufgrund unserer Alltagsstruktur, den normalen gesellschaftlichen Zwängen und auch der fast überall vorherrschenden linken, subkulturellen Routine, fällt es uns schwer, neue Verbindungen einzugehen und kreativ und spontan auf unerwartete und ungewohnte Situationen zu reagieren, geschweige denn in dem Chaos von Ausnahmezustand, fremder und ungewisser Umgebung und psychischer Anspannung noch selber zu agieren.

Zusammen mit bewegungsstrukturellen Grenzen, die sich u.a. in unverbindlichen Strukturen, legalistischen Begrenztheiten, verregelten Entscheidungsfindungen und alteingesessenen Verhaltenscodes ausdrücken, ist unter diesen Vorraussetzungen schnell das Limit der eigenen Handlungsfähigkeit erreicht.

[NORMALITÄT/ALLTAG]

 Ein weiterer Aspekt der »Gipfelerfahrung« ist, dass so ein (mehr oder weniger) organisiertes Zusammentreffen einen Ausnahmezustand bedeutet; einen Gegensatz zu dem normalen Alltagsgeschehen, vielleicht sogar Frei-Raum sein kann. Genau wie z.B zu den Grenz/Aktions/CrossqueerSommerAnarchaCamps und Kongressen, etc. kommen wir aus der Normalität und kehren auch hinterher dorthin zurück. D.h. ja dass wir immer mitbringen was wir an normierten Verhaltensmustern und an »Alltags(un)bewußtsein« verinnerlicht haben. Und selbst wenn mensch es schafft, sein Leben hier in Ansätzen sehr widerständig und unangepasst zu leben, ist so ein Zusammentreffen eine temporäre Zone wirklicher Utopie, denn was dort an Formen zusammen zu sein, zu arbeiten, Inhalte zu entwickeln, von praktizierter Geschlechterdekonstruktion bis zu direct- action -workshops stattfinden kann, ist die Möglichkeit, Handlungsebenen gemeinsam zu entwickeln, und das sehr konkret (sozusagen zum anfassen) -ist eine Idee von  solidarischem Miteinander, das sonst überall nur in seiner Negation auftritt.

Trotz dem passiert es, dass einem dieser Zustand normal vorkommt, dass sowohl die Möglichkeiten verkannt werden, die so ein Raum bietet, als auch, dass wir durch unsere Realitätsmuster eine Normalität reproduzieren, die sich durch Nicht-Kommunikation und durch eine konsumistische, indifferente Haltung auszeichnet -oft rassistisch/ antisemitisch/ sexistisch, oder dieses duldend, nicht aufstehend und initiativ gegen den Zustand der kapitalistischen Verkehrung zu kämpfen.  

Und eine weitere Seite ist, dass eine Normalisierung im Sinne von Gewöhnung von Außen auftritt. Irgendwie kommen halt zu einem Gipfel die »Chaoten«, der Ablauf von Demonstrationen und »Zerstörung« scheint relativ voraussehbar. Das »Phänomen« der Gipfelproteste ist vielleicht gesellschaftlich schon so eingeordnet, dass sich eigentlich keine Gedanken mehr gemacht werden müssen. Die Widersprüche wurden erfolgreich ausgeblendet. Herzlichen Glückwunsch, Zivilgesellschaft!

Die militanten Widerstandsformen sind gründlich kriminalisiert, der Rest integriert. So kann seit Genua ein Bürgermeister vor so einem Treffen öffentlich verlauten lassen, dass er nicht ausschließt dass es Tote geben wird. Normal! Das ist die Normalität des Ausnahmezustandes. Und der Großteil der Bevölkerung schaut interessiert zu, liest vielleicht auch das eine oder andere Graffiti an den vielen verbarrikadierten Geschäften, freut sich aber, wenn wieder alles vorbei ist, was ja auch die ganze Zeit über abzusehen ist (anders als es in Genua vielleicht war..). Eine Perspektive oder klare Entwicklung gibt es kaum.

Unter diesen Bedingungen kann das gleiche Gefühl der Verlorenheit entstehen wie so häufig in einem Alltagsleben halt, das auf Vereinzelung und Gegeneinander beruht und in dem die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen programmatisch betrieben wird. Und diese Verlorenheit, Angst vor den Bullen, deren Sprache man nicht mal versteht, fehlende Informationen, kein offenes Miteinander, zu wenig Kooperation -löst Unsicherheit aus und die Frage »was mach ich hier eigentlich?«.

[UNKLARHEITEN]

Wenn mensch sich diese sogenannte globale Bewegung anguckt, ist es schwer überhaupt von Bewegung zu sprechen. Zu isoliert, zu vereinzelt, aber auch zu weit von einander entfernt wälzen sich fast schon regelmäßig die verschiedenen Grüppchen der Linken[3] auf Großdemos durch die Straßen. Viele von denen halten tags zuvor ihren eigenen Kongress, meist im Verbund mit gerade genehmen und ihnen wohlgesonnen Vertreterorganisationen der sog. Zivilgesellschaft, in der Uni der jeweiligen Stadt ab und reisen dann mit Busunternehmen oder Zügen wieder ab.

Nur einige wenige bleiben länger oder kommen früher, versuchen verschiedene Aktionen und Treffen zu organisieren und wollen anders als über Verwaltungs- und Führungsebenen mit anderen Gruppen und vor allem Menschen in Kontakt treten. Zum einen ist der Bezug der emanzipatorischen, antikapitalistischen Kräfte zu den reformistischen Gruppen und autoritären Linken unklar. Teile arbeiten in Bündnissen mit NGOs, Gewerkschaften, linken Parteien etc. zusammen. Fast immer ziehen sie dabei den kürzeren und erledigen die Drecksarbeit für die Lobbyisten, die dann in der Öffentlichkeit auftreten und die Aufmerksamkeit für ihre Zwecke ausnutzen. Zudem war vor allem in Genf die Informationsstruktur und »Checker-Hierarchie« total unklar.

Hier zeigt sich generell ein nur schwer überbrückbarer Widerspruch zwischen Anspruch und Realität. Soll es vorstrukturierte Abläufe, Entscheidungsfindungen und Formen geben oder soll der ganze Widerstand eine einzige OpenSpace-Werkstatt werden? Im Folgenden soll keine eindeutige Antwort gegeben werden, jedoch werden anhand einiger Beispiele (»Sozialforums-Reformismus«, Einbindungsstrategiern der Stadt, Überwachung...), Schwierigkeiten der Organisierung von Unten und Wahrnehmbarkeit radikalen Widerstands aufgezeigt.

Wie in fast jeder Stadt, in der Massenprotest anlässlich eines Treffens »globaler Herrscher« organisiert wird, bildet sich eben dafür ein Bündnis aus verschiedenen lokalen und regionalen Gruppen. Erklärtes Ziel ist meistens dem breiten Spektrum der »Bewegung« gerecht zu werden und ein Minimalkonsens zu formulieren und in die Öffentlichkeit zu tragen. Was inhaltlich an wichtiger Selbstverständigung und Diskussion zu führen wäre wird ausgeblendet. So beschränken sich die Konsensdebatten oft nur auf Fragen der Aktionsformen und des öffentlichen Auftretens, häufig entlang »der Gewaltfrage«. Und inhaltlich entstehen rein plakative und wenig einleuchtende Parolen, die von außen dann als Position der gesamten »Anti-Globalisierungsbewegung« wahrgenommen werden.

Das Sozial Forum in Genf, welches Räume einer Universität belegt hatte, versammelt verschiedene Gruppen unter dem Aufhänger: »G8 Illegal«![4] Was soll das, fragt mensch sich da unweigerlich. Erstens ist die G8, also das Treffen verschiedener Repräsentanten von wirtschaftlich starken Nationalstaaten zwecks Beratungen über möglicherweise gemeinsames Vorgehen und das Abschließen von Verträgen zwischen den kapitalistischen Verwaltern, nicht illegal. Zweitens ist die Vorstellung, alles müsse nur irgendwie legal ablaufen, also demokratisch legitimiert und transparent entschieden werden, völlig absurd und geht an den realen kapitalistischen Sachzwängen und Herrschaftsmechanismen vorbei (Kriege werden nicht humaner, wenn sie durch ein UN-Mandat legitimiert sind!).

Nationalstaaten sind dazu da, den nationalen Reichtum zu steigern, also dem Kapital in den jeweils »ihren« Gebieten die besten Verwertungsbedingungen zu stellen. Um das zu erreichen, sind die Staaten bei dem derzeitigen Stand der Produktivkräfte, der Kommunikationsfähigkeit, der hohen Mobilität und des globalen Vergleichens von Werten und Preisen (=Weltmarkt) gezwungen, international zu agieren und Verträge einzugehen; immer mit dem Ziel in der globalen Konkurrenz unterm Strich einen Vorteil zu erzielen.

 In Lausanne gab es zwei Camps. Das eine wurde von der Stadt für die eine Woche zur Verfügung gestellt. Die gesamte Infrastruktur des Camps stand bereits komplett aufgebaut. Mensch musste sich dort also nur noch ins gemachte Bett legen. Es gab super Duschen, gute sanitäre Anlagen, befestigte Wege, ausreichend Lichterketten, Kulturzelt usw.

Und allerdings auch nur einen kommerziellen Kiosk, Leute, die rumliefen und für irgendetwas Kommerzielles Werbung machten, es gab Security (!), die patroullierte und Überwachungskameras (!). Infozelte ohne Infos, die wirklich nützlich wären, standen natürlich zur Verfügung. Außerdem war das Gelände super von allen Seiten einsehbar und auch leicht angreifbar.

Es war deutlich zu erkennen, dass einerseits die AktivistInnen so untergebracht waren, dass sie jederzeit superschnell und einfach repressiv behandelt werden können ( was dann auch getan wurde) ; sie andererseits in Kulturangebote und Passivität gelockt werden sollten.

In Genf gab es u.a. das antiautoritäre, antikapitalistische Zaage-Camp, das ein herrschaftsfreier Raum sein sollte, jedoch in diffuser Unorganisation und mangelnder Bereitschaft der Teilnehmenden, das Camp und Aktionen gemeinsam zu gestalten, auseinanderfiel.

[VERMITTLUNG]

Trotz allem ist es ein wichtiger Unterschied ob wir da sind oder nicht, ob es einen Handlungsansatz gibt, Aufruf und Versuch, der eine Konfrontation bedeutet. Denn die Spuren sind nicht zu ignorieren! Graffities und Scherben sprechen für sich und auch unsere Anwesenheit, die schon eine teilweise Lahmlegung des kapitalistischen Alltagsbetriebes bedeutet. Und trotz aller Berechenbarkeit und gelungener Integration ist der unverstellte Blick auf den Repressions- und Verwaltungsapperat im besten Sinne des-illusionierend. Der ungeheure staatliche Aufwand, der betrieben wird gegen die militanten Aktionen, zerbrochenen Schaufenster, die nur »surface-damage« sind, (d.h. kleine Kratzer, für die es Glasbruchversicherungen gibt), macht einem noch einmal die Dimension und Tragweite deutlich, mit der die Ideologie des Kapitalismus umgesetzt -und das Eigentum geschützt wird.

Die Handlungen eines »black block« werfen auch viele Fragen auf. So stört immer wieder das mackrige, oft unreflektierte Verhalten und dass eine Vermittlung innerhalb der »Bewegung« nicht wirklich statt findet auf Grund ausbleibender Kommunikation. Und es ist auch oft nicht klar, ob überhaupt ein Wille zur Kooperation da ist, zur Weiterentwicklung. Dazu bedürfte es produktiver Streits und nicht der Konkurrenz zwischen den Organisationen.

Und immer wieder die Frage, ob die durchgeführten Aktionen eigentlich stattfinden, weil wir sie durchgesetzt haben (Blockaden etc.) oder weil sie zugelassen werden aus strategischen Gründen (die dann der jeweiligen ortsspezifischen Polizei-Politik entsprechen). Wie bedeutend ist der politische Druck den wir ausüben? Was heißt es überhaupt in Zeiten zu leben, in denen jeder weiß, dass etwas passieren muss und manche ahnen, dass etwas getan werden muss- aber keiner tatsächlich weiß was und wie. Und wie ist das Verhältnis von Wahrnehmbarkeit und Vermittlung solcher Ideen, die auf eine andere auf eine bessere (...) Wirklichkeit für alle abzielen?

[INHALT+FORM]

Wir denken, dass ein großer Teil der Vereinzelung und das Gefühl der Verlorenheit mit den reproduzierten gesellschaftlichen Rollenmustern und der Konsumhaltung, in der Form begründet liegt, die dem Ganzen seinen »Eventcharakter« gibt. Vieles davon können wir in der gegebenen gesamtgesellschaftlichen Situation nicht alleine- nicht mit unseren beschränkten Kräften- ändern. Aber einiges doch, und es gilt tendenziell das Spannungsfeld von Reaktion/Aktion in Richtung Aktion aufzulösen, wobei das hier keinen aktivistischen Schwerpunkt meint, Aktion ist in diesem Sinne vielmehr auch die der theoretischen, reflektiven Ebene - der radikalen Kritik.

In dem Zusammenhang von Inhalt und Form fällt auf, dass es immer noch eine Unterschätzung von Repression/ struktureller Herrschaft (Waffengewalt!) gibt. Das wäre Urlaub versus Revolution, wenn Leute mit Badelatschen, Manu Chao trällernd auf brennenden Barrikaden sind (und nicht verstehen warum andere das unvorsichtig und sehr problematisch finden) und sich aber in naiver Empörung über den Waffengebrauch der Polizei beklagen, als sei die nicht genau dafür da.

Wir wollen nicht das »Tanzen bei der Revolution« verbieten, fordern aber eine realistische Einschätzung der Kräfteverhältnisse und ausreichende Vorbereitung.

Und Schafherde versus Selbstorganisation heißt es auch, wenn auf der Großdemo keiner den überblick hat und die gesamte Kraft schon im Wohnviertel verpulvert wird. So geschehen auf der Großdemo in Genf: ein militanter Block zerstört scheinbar wahllos alles, was in die Queere kommt. Nach der Hälfte zerlegt der Block sich vermutlich aus Erschöpfung selber. Später an der schweizerisch-französichen Grenze waren so keine Aktionen möglich, da mensch vereinzelt von einem peacigen, rechts- und ordnungsfanatischen attac-Spektrum mit Ordern in Schach gehalten wurde und nicht mal ein Graffiti an die Grenzstation machen konnte. Es war wohl noch nie so einfach, eine komplette, große Grenzstation vollständig zu demontieren! Mensch hätte nur vorbereitet, gezielt und kooperativ handeln müssen, sogar der Vermittlungseffekt wäre riesig gewesen bei einem solch starken Symbol wie einem festen Grenzposten, nebem dem realen Behindern des Autoverkehrs auf dieser Strecke für vermutlich 1 bis 2 Tage.

Andere berichten aus Lausanne aber z.B. von gut organisierten riots; auch aus Annemasse haben viele Leute sehr positiv berichtet, über die gemeinsame Blockade dort, die den Gipfelbeginn um ein paar Stunden verzögern konnte, weil die Leute viele Stunden im Tränengasnebel ausgehalten haben und es gelungen war, die Blockade zu halten. Und zwar mit einem sehr breiten politischen Spektrum von attac, Gewerkschaften bis pink & silver, Radikalere etc.

Aber so wie mit der Form ist es auch mit den Inhalten; struktureller und latenter Antisemitismus ist unter anderem auch sehr in den Graffities verbreitet gewesen, die Genf zierten.

Sharon = aSSaSSini und Hakenkreuz mit Judenstern waren dort zu sehen, in dem eindimensionalen G8-Weltherrschaftsbild. Und eine Frage ist, warum immer und ausschließlich Palästina-Solidarität gefordert wird (übrigens in der nicht deutschen Linken anscheinend viel mehr), auf allen T-shirts und Transpis. Warum nicht internationale/antinationale/transnationale Solidarität? Was ist mit Kolumbien, Chiapas, Argentinien etc.?

Ein »wir« im antikapitalistischen, radikal- emanzipatorischen Verständnis kann sich nur auf sehr wenige beziehen, das muss klar sein. Die Annahmen, verkürzte Kapitalismuskritik werde sich nach erfolgter Agitation schon »verlängern”, gerade junge Leute würden bestimmt bald radiaklisiert werden und »eigentlich wollen wir doch alle das Gleiche«, erweisen sich, bei genauerer Betrachtung und Analyse der lebensweltlichen Realität der jeweiligen Subjekte, als vorschnell optimistisch. Diese Gesellschaft als hochmodernen Verwertungsapperat zu denken, die nur einem abstrakten Zweck folgt, daraus resultierend die totale Aufhebung zu wollen und radikal-utopisch nach neuer Gesellschaftlichkeit zu streben, ist nunmal nicht das Anliegen der allermeisten »GlobalisierungskritikerInnen« und so etwas stellt sich auch nicht quasi automatisch irgendwann so ein. Daher sind die inhaltsleeren, reformistischen Parolen tatsächlich so gewollt.

[REFLEKTION/DISKUSSION]

Anstatt der zentralen und schlechten (es gab nicht mal ein Infotelefon) Infrastruktur in Genf, wäre ein dezentrales, offen und transparentes Konzept besser gewesen.

Es hätte überall in der Stadt offene Räume und Orte für Versammlungen, spontane Workshops und Vorbereitungen und Lagerstätten für Aktionsmaterialien geben sollen. Der Austausch zwischen verschiedenen Menschen wäre so vielleicht mehr zustande gekommen. Große Tafeln und schwarze Bretter für Aushänge und News, für alle zugänglich, d.h. jederzeit les- und beschreibbar, sind sehr fördernd für Transparenz und Kommunikation.

Der 1. Summit of Interventionist Art (SoIA: mehr Infos unter http://www.forde.ch/) ist hierbei positiv herauszuheben. Es war der Versuch, den (vermeintlichen) Widerspruch zwischen Kunst/Ästhetik und Widerstand, eigenen Lebensäußerungen und politischer Aktion, also letztendlich den Widerspruch zwischen Theorie und Praxis aufzuheben.

An zwei Tagen stellten verschiedene KünstlerInnen und AktivistInnen ihre Arbeiten und ihr öffentliches Wirken vor. Die meiste Zeit stand für sogenannte »open working groups« zur Verfügung. Diskutiert wurde zwischen Leuten aus verschiedensten Szenen sowohl über gesamtgesellschaftliche Phänomene als auch über Möglichkeiten in der neoliberalen Postmoderne seine individuelle Reproduktion zu organisieren. Auffallend war jedoch mal wieder, wie wenige Menschen »der Bewegung« überhaupt Interesse hatten, an einer solchen Veranstaltung teilzunehmen. Es zeigt sich hier eine falsche Arbeitsteilung: einige wenige sind scheinbar für die Theoriebildung zuständig, während viele unreflektiert durch die Starßen ziehen.

Um diesen Widerspruch aufzulösen, schlagen wir vor, die geschaffenen inhaltlichen Räume offensiv nach Außen zu tragen: Lese-Sit Inns auf der Straße, Einbindung der BürgerInnen in alternative Diskurse (was teilweise in Annemasse geschah, wo viele Campis nach den Aktionen in die Stadt gegangen sind, um mit den Menschen direkt Kontakt aufzunehmen, um ihnen ihre Anliegen näher zu bringen), subversiv-kommunikative Aktionen, in denen die alltäglichen Zeichen und Codes entstellt und gestört werden.

 [UTOPIE]

 Wenn 200 000 nicht den Fronttranspis auf der Großdemo hinterherlatschen, um dann wieder in den fremdorganisierten Zug nach Hause zu steigen, sondern selbstorganisiert und frech in Kleingruppen versetzt und ergänzend agieren, ist z.B. Genf wirklich (im Gegensatz zu weil von den Herrschenden gewollt) unregierbar! Alle Kameras gezielt abzubauen, organisiert Plündern und »umverteilen« (denn auch Schaufensterscheiben sind Grenzen und Geld trennt die Menschen mit am wirkungsvollsten voneinander). Eine große Reclaim The City in allen Seitenstraßen kreuz und queer machen. So wird bürgerlich-öffentlich-privater Raum zurückerobert; was zwar symbolisch bleibt, aber auch temporär eine reale Wieder-Aneignung ist! Denn dann würde konkret, was verschwommen und halbherzig auf den vielen Schildern zu lesen ist, die alle so gerne mit-tragen (»eine andere Welt ist möglich« und »jetzt wird umverteilt«).

Dass das möglich wäre, ist wahrscheinlich nur wenigen klar, aber entscheidender noch ist, dass die meisten etwas anderes oder eben gar nichts vorhaben. Nicht »die Massen« (die es so nicht gibt) agitieren zu wollen, aber denen die suchen einen Ansatz zu bieten, eine Option aufzuzeigen, gemeinsam Gegenbewußtsein zu schaffen, darum geht es uns.

»Wir haben Sehnsucht und kurzes Wissen, aber wenig Tat und was deren Fehlen mit erklärt, keine Weite, keine Aussicht, keine Enden, keine innere Schwelle, geahnt überschritten, keinen utopisch prinzipiellen Begriff. Diesen zu finden, das Rechte zu finden, um dessentwillen es sich ziemt, zu leben, organisiert zu sein, Zeit zu haben, dazu gehen wir, hauen wir die phantastisch konstitutiven Wege, rufen was nicht ist, bauen ins Blaue hinein, bauen uns ins Blaue hinein und suchen dort das Wahre, Wirkliche, wo das bloß Tatsächliche verschwindet- incipit vita nova.« [Ernst Bloch in: Geist der Utopie, 1918]

»Nichts könnte tragischer sein, und lächerlicher, als ein Leben lang in Reichweite des Paradieses zu leben ohne jemals die Hand danach ausgestreckt zu haben.«

[PERSPEKTIVEN]

Perspektivisch lässt sich sagen, dass Aktivitäten bei sog. »Großevents” in Zukunft nur dann Sinn machen, wenn »wir« es schaffen, sie als Anknüpfungspunkt radikaler Gesellschaftskritik zu begreifen und als Ausdrucksform emanzipatorischer (Anti-) Politik wahrnehmen.

»den Menschen nicht nur als revolutionäres Subjekt sehen, sondern als Ort der Revolution selbst. Revolution ist einfach die Vorstellung davon, daß wir diese andere Welt betreten können und nie wieder zurückkehren müssen. Oder besser gesagt: Daß wir die alte niederbrennen können um die Welt darunter zum Vorschein zu bringen. Sie - und wir - wissen, daß dieses Gelangweilt-Sein der Beweis dafür ist, daß diese Politik nicht der Schlüssel zu einer wirklichen Umgestaltung des Lebens ist. Und das auch deshalb, weil unser Leben schon langweilig genug ist! Vielleicht ist es Zeit, einen neuen Begriff von »Politik« zu schaffen, weil ihr aus dem Alten ein solches Schimpfwort gemacht habt. Damit niemand davon abgeschreckt wird, wenn wir davon sprechen, gemeinsam dafür zu handeln, unseren Alltag zu verbessern.« (Zitat: interface)

Dazu ist eine enorme Weiterentwicklung vorhandener kooperativer Ansätze erforderlich, z.B. ist in Berlin ein >direct action Netzwerk< (Kontakt: paul@buntzel.de ) aus der gemeinsamen Evian-Erfahrung mehrerer Gruppen entstanden, die so ihr Zusammenwirken weiterführen wollen. Und darüber hinaus ist ein Verständnis von Solidarität notwendig, ohne dass wir uns hier nicht widerständig organisieren können/handeln können, in den (wieder einmal) verschärften Ausmaßen der Repression.

Der Zusammenhang dieser beiden Punkte besteht unter anderem darin, dass es für die Zukunft von solchen Protestzusammenkünften entscheidend ist ob wir uns überhaupt dorthin bewegen können. Und die horizontale Bewegungsfreiheit wird repressiv eingeschränkt, nicht nur durch (national)staatliche Grenzen, sondern vor allem auch durch ökonomische, da wir in unserer jeweiligen Lebenslage leider in der Regel jedeR allein unsere Ökonomie organisieren müssen. Außerdem wird ein Großteil der Repression zunehmend über hohe Geldstrafen durchgesetzt, die keineR von uns allein tragen kann. Das muss klar sein, bevor jemensch auf so eine Gipfelaktivität fährt.

[Kanonenkugeln gegen alle Außen+InnenministerInnen!]

Auf dem EU-Gipfel, in Thessaloniki /Griechenland wurde sehr deutlich, dass die angestrebte EU-Politik mit dem gemeinsamen Verfasssungsentwurf, Migration als ein Kernthema vorsieht. Das heißt: die Verhinderung von Einwanderung. Dass das mit der Diskussion um Innere Sicherheit und die Verschärfung der Lebens+Arbeitsbedingungen für die Leute die hier leben einhergeht, macht die Komplexität der politischen Situation deutlich. Die Thematisierung davon und die gemeinsame Organisation mit MigrantInnengruppen auf den Grenzcamps, in den Sozialforen, auf den Gegengipfeln etc. ist deswegen vielleicht noch akuter notwendig.

Ein Austausch über das Erfahrene ist u.a. auch darum wichtig, weil die Erfahrungen der Repression bedeuten, dass wir z.B. anderen sagen können: Wenn ihr glaubt, ein Ein- oder Ausreiseverbot zu bekommen, weil ihr auf den (internen) Listen auftaucht, dann geht doch lieber gleich zu Fuß über die Grenzen oder bewegt euch mit öffentlichen Verkehrsmitteln!

Dies ist ein Aufruf, kreativ und offensiv mit der Repression umzugehen, und nicht nur routinemäßig juristische Schritte einzuleiten und eine empörte Presseerklärung der Roten Hilfe zu veröffentlichen und in der Passivität zu bleiben. Wir wollen dazu anregen, sich nicht von der übermächtig erscheinenden Repression entmutigen zu lassen und nach Wegen der kreativen Umgehung repressiver Schranken zu suchen, sowie verschiedene Anlässe von Repression (z.B. Festnahmen, Prozesse etc.) als Vermittlungs- und Öffentlichkeitsplattform zu nutzen (vgl. hierzu als ein Vorschlag in der Debatte: http://www.projektwerkstatt.de/antirepression/ ).

Die Bedeutung dieser und anderer Erfahrungen für (noch) schlimmere Zeiten und auch die der Kollektivität für bessere, ist nicht zu unterschätzen, wenn wir eine ernstzunehmende gesellschaftliche Kraft sein wollen. Auch wenn vieles von dem hier schon gesagt und klar erscheint, war es uns wichtig, diese Gedanken zu veröffentlichen, auch eben fragmenthaft und in dieser unmittelbaren Form - sie sind als Beitrag zu einem (weiterzuführenden) Austausch zu verstehen...

Gegen diese kriegerisch warenförmigen Verhältnisse, die die Menschen töten, bevor sie anfangen können zu leben, indem sie sie in der Entfaltung ihrer Möglichkeiten so sehr beschränken, dass sie ihres Lebens beraubt sind, gilt es weiterhin gemeinsam zu kämpfen. Dabei dürfen Widerstand und Organisation niemals zum Selbstzweck werden, sondern sollten immer auf das gute und schöne Leben für Alle abzielen. Wir wünschen uns breite, bunte Formen von autonomen Assoziationen überall, die sowohl vernetzt im kontinuierlichen Austausch miteinander, aber auch unabhängig voneinander agieren, und damit:

Copyright (c) 2003 Erni Grenzenweg und Berta Klarsicht.

Kontakt: grenzenabschaffen@gmx.net


zum Seitenanfang

Fussnoten

1)mit kollektiv ist hier nicht zwangskollektiv und vereinheitlichend gemeint, sondern das bewusste zusammen, gegen Vereinzelung und Konkurrenz vorgehende, Handeln, was immer wieder kritisch reflektiert werden muss und nicht zu einem Selbstzweck werden darf

2)National- und vor allem staatliche Grenzen zeigen sich eben nicht nur an ihren geographischen Außengrenzen, sondern in der alltäglichen Zurichtung und der Normalität des Kontrolliertwerdens, der sozialen Konditionierungen. Ein Alltag, in dem es normal ist sich überall ausweisen zu müssen vor anderen Mitmenschen, die "befugt" [von: fügen, (sich oder andere) anpassen, unterordnen, anschließen] sind- in der Mensa, in der U-Bahn, im Zug etc., setzt die autoritäre Unterordnung und das ohnmächtige über- sich- ergehen-lassen fest in den Köpfen; und die Demo-Repressionen sind da nur ein kleiner Teil einer Wirklichkeit voller Kontrollmechanismen. Aber fast jedeR, der/die/das mal linkspolitisch behördlich aufgefallen ist, kann in bestimmten Listen auftauchen und an seiner/ihrer Bewegung, vor allem während solcher Großevents wie Regierungsgipfel, gehindert werden.

3)Vertreten auf der Straße sind meist wirklich nur VertreterInnen der Linken, Umwelt-, Entwicklungs-NGOs und Verbände, Kirchengruppen etc. machen lediglich ab und zu Einzelaktionen, aber dafür geben sie oft Presseerklärungen, Interviews oder stellen Experten usw.

4)Auch über den EU-Gipfel in Thessaloniki wurde von einem "EU- Gipfel ohne Legitimation" gesprochen.

2013 || theoriepraxislokal.org