Zur Diskussion. Aus dem Zirkularbrief 3 von Oktober 2001

Lutz Getzschmann

Bemerkungen über Arbeiterklasse und »Lumpenproletariat«

 

Wal Buchenberg hat im Juni dieses Jahres einen Text »Die Klassentheorie von Karl Marx« vorgelegt, der in der letzten Ausgabe unseres Zirkularbriefs veröffentlicht wurde. Ungeachtet der Tatsache, dass seine Zusammenstellung prinzipiell verdienstvoll ist, kann darin doch eine Diskussionsgrundlage für die Erörterung der Aktualität des Marxschen Klassenbegriffs gesehen werden, ist sie andererseits jedoch auch aufschlussreich in negativer Hinsicht. Die »Buchgläubigkeit«, die darin streckenweise aufscheint, interessiert sich eben zunächst nur für das von den »Klassikern« gesetzte, nicht so sehr für die reale Verfasstheit der gesellschaftlichen Klassen. Entsprechend bleibt seine Darstellung statisch und abstrakt, sie berücksichtigt kaum die Prozeßhaftigkeit, die der Klassenstruktur innewohnt und ist somit auch nicht in der Lage, die Neuzusammnsetzung der Klassen, die in jedem Modernisierungssschub des Kapitalismus mit der Umwälzung der Produktionsweise und der Arbeitsmethoden unmittelbar einhergeht, adäquat zu erfassen.

Es kann an dieser Stelle nicht auf den gesamten Text eingegangen werden, der einiges an brisanten Stellen enthält. Stattdessen will ich mich auf einen Aspekt beziehen, der mir besonders prekär erscheint, schon deshalb weil die Missverständnisse und Ressentiments die damit verbunden sind, innerhalb der marxistischen Teile der Arbeiterbewegung sehr tief verwurzelt sind: die Einschätzung des »Lumpenproletariats«.

Buchenberg schreibt: »Nicht zur Arbeiterklasse rechnete Marx außerdem das Lumpenproletariat, das nicht arbeiten kann oder nicht arbeiten will: »der Spitzbube, Gauner, Bettler, der Unbeschäftigte, der verhungernde, der elende und verbrecherische Arbeitsmensch« (K.Marx, MEW Bd. 40, S. 523), »die alle auf Kosten der arbeitenden Nation leben« (MEW 8, 161). Als Anhaltspunkte für die heutige Größe dieses Lumpenproletariats kann man die erwachsenen Tatverdächtigen im Jahr 2000 für Raub- und Einbruchsdiebstahl, der illegalen Eigentumsübertragung in Handarbeit, von rund 55.000 nehmen, plus die Zahl der erwchsenen Tatverdächtigen für Betrug der illegalen Eigentumsübertragung in Kopfarbeit, von rund 240.000. Das macht für das Lumpenproletariat einen Anteil an der deutschen Erwerbsbevölkerung von rund 1 Prozent.«[1]

Allein aus diesen lakonischen Anmerkungen geht bereits hervor, dass sich Buchenberg kommentarlos in eine Tradition stellt, deren Blick auf den Pauperismus mehr von Ressentiment und Unverständnis geprägt ist als von einer wirklichen Analyse sozialer Verelendungsprozesse. Dieses Ressentiment ist umso problematischer als es eine lange Tradition der Bekämpfung von "Müßiggängern", "Vagabunden" und "Asozialen" gibt, die ihren Anfang hat in der Zeit der Krise des Feudalsystems und in England seit den Zeiten der ursprünglichen Akkumulation. Die Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise war nur möglich durch die Etablierung eines Systems sozialer Kontrolle und Disziplinierung, mittels dessen aus der Masse der von Haus und Hof vertriebenen Bauern und Pächter, den Menschen, die aus sozialen Verbänden und Dorfgemeinschaften herausgerissen worden waren, ruinierten Handwerkern und Gewerbetreibenden, den Kern einer Klasse von Lohnarbeiterinnen zu formieren, die kein anderes Mittel zum Überleben mehr in der Hand hatten als den Verkauf ihrer Arbeitskraft. Einhergehend damit wurde in einem bis dato unbekannten Ausmaß eine Scheidelinie zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit gezogen. War Arbeit bisher größtenteils, ob als Lohnarbeit oder in anderen Formen, eine eher sporadische Tätigkeit gewesen, abhängig von Witterung und Jahreszeit, wechselndem Arbeitsanfall und Bedürfnissen, so verlangte die kapitalistische Produktionsweise nach einer völlig neuartigen Durchstrukturierung des Tagesablaufes und der Etablierung der Manufaktur, später der Fabrik als zentralem Produktionsort.

Die Geschichte dieser beispiellosen Disziplinierung ist eine Geschichte der Gewalt und verläuft parallel zur Entwicklung von modernen Instanzen bürgerlicher Staatlichkeit. Beginnend mit dem ersten Gesetz über die Arbeitspflicht im England des Jahres 1349 über die Bettelordnungen, mit denen im Laufe des 15. und 16. Jahrhunderts flächendeckend in Europa definiert wurde, wer arbeitsunfähig und somit zu NichtArbeit und Bettelei berechtigt sei und wer nicht, den ersten Ansätzen einer Erfassung der Arbeitsunfähigen worin die Wurzeln der modernen Ausweispflicht zu sehen sind, der Errichtung von Zucht- und Arbeitshäusern (in Frankreich etwa flächendeckend per Erlaß seit 1659), worin die Anfänge eines modernen Gefängnissystems sichtbar werden, bis zu den drakonischen Massnahmen gegen "Vagabunden" und "Landstreichern" im 19. Jahrhundert zieht sich diese Auseinandersetzung hin.

Immer geht es im Kern um die Zurichtung und Verfügbarkeit der Ware Arbeitskraft und immer geht es darum, mit den Mitteln der Repression oder der durch die Kirche vermittelten bürgerlichen Moral, den "Ciaasses dangereuses" Herr zu werden. Aus der Sicht kapitalistischer Verwertungsinteressen war dies unabdingbar, denn die Verluste durch Alkoholismus am Arbeitsplatz, Fernbleiben von der Arbeit und andere bewussten oder unbewussten Strategien der Arbeitsvermeideung waren hoch, so hoch, dass etwa noch in den Bergbaugebieten von Südwales um 1850 jede vierte Arbeitsstunde entfiel. Wer nicht in das Fabriksystem integrierbar war und sich, sei es durch Arbeitsunfähigkeit oder Arbeitsverweigerung der kapitalistischen Arbeitsdisziplin entzog, hatte in der Regel mit Strafmassnahmen zu rechnen. "Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen", dieses Prinzip ist wesentlich älter als Kochs und Scharpings Hetze gegen Sozialhilfeempfängerinnen.

Aber auch innerhalb der LohnarbeiterKlasse vollzog sich ab der Mitte des 19. Jahrhunderts ein Bewusstseinswandel. War vdas Proletariat des vor- und frühindustriellen Kapitalismus noch ein Amalgam aus unterschiedlichsten Lebenslagen und Beschäftigungsstrukturen gewesen, das aus Handwerkern und kleinen Meistern, Fabrikarbeitern, Wäscherinnen und Verlagswebern, Gelegenheitsarbeitern und ehemaligen Bauern bestanden hatte, so schälte sich in der industriellen Neuformierung der kapitalistischen Produktionsweise ein "Kern" von Facharbeitern heraus, um den sich die, lange zeit kaum gewerkschaftlich organisierten Angelernten gruppierten und von dem die Gelegenheits- und Nichtarbeiter mehr und mehr abgetrennt wurden. Bösartig formuliert: Auf der Grundlage der Disziplinierung durch die Fabrikarbeit entstand als Gemeinschaftswerk von Kirche Staat und moderner Gewerkschaftsbewegung ein Arbeiterbewusstsein, dass von Identifikation mit dem Arbeitsplatz und Stolz auf die Arbeitsleistung geprägt war, dass in seinen stärksten Ausprägungen auf die Übernahmne der Betriebe durch die Produzenten drängte und den Müßiggang, sowohl den der Kapitalisten als auch den anderer proletarischer und "lumpenproletarischer" Klassensegmente denunzierte.

Diese Form des Klassenbewusstseins ist mit dem Ende des Fordismus im Zerfall begriffen, war aber niemals charakteristisch für das Verhältnis der gesamten Klasse zur Lohnarbeit. Die davon ausgeschlossenen Teile des Proletariats haben zu bestimmten Zeiten andere Kampf- und Bewusstseinsformen entwickelt, für die die operaistische Losung vom "Kampf gegen die Arbeit" wohl eines der extremsten, aber durchaus kein völlig uncharakteristisches Beispiel ist. Die von den dominierenden Teilen der Arbeiterbewegung verinnerlichte Arbeitsideologie jedoch mündete nicht selten in offenen Terror gegen "Asoziale". So konnten etwa die von sozialdemokratischen Innenministern in Hessen-Darmstadt entwickelten Gesetze gegen "Landstreicher" und "Vagabunden" problemlos 1933 von den Nazis übernommen und ausgebaut werden. Diese Denunziation der Nicht-Integrierbaren wurde aber auch im sich als revolutionär verstehenden Teil der marxistischen Linken betrieben, wobei der Gebrauch des Begriffs "Lumpenproletariat" offensichtlich keiner systematischen Definition folgt und mitunter widersrüchlich ist. Bezeichnend dafür ist die folgende Aussage von Friedrich Engels:

"Das Lumpenproletariat, dieser Abhub der verkommenen Subjekte aller Klassen, der sein Hauptquartier in den großen Städten aufschlägt, ist von allen möglichen Bundesgenossen der schlimmste. Dies Gesindel ist absolut käuflich und absolut zudringlich. Wenn die französischen Alheiter bei jeder Revolution an die Häuser schrieben: Mori auxvaleurs! Tod den Dieben und auch manche erschossen, so geschah das nicht aus Begeisterung für das Eigentum, sondern in der richtigen Erkenntnis, dass man vor allem sich diese Bande vom Hals halten müsse. Jeder Arbeiterführer der diese Lumpen als Garde verwendet oder sich auf sie stützt, beweist sich schon dadurch als Verräter an der Bewegung."[2] Soweit die Ausrottungsfantasien des Fabrikantensohns aus Wuppertal. Viel systematischere Definitionen haben die "Klassiker" des wissenschaftlichen Kommunismus kaum zu bieten. Bei Marx heißt es z.B. über die Soldaten der provisorischen Regierung von 1848 eher literarisch:

"Sie gehörten größtenteils dem Lumpenproletariat an, dass in allen großen Städten eine vom industriellen Proletariat genau unterschiedene Masse darstellt, ein Rekrutierplatz für Diebe und Verbrecher aller Art, von den Abfällen der Gesellschaft lebend, Leute ohne bestimmten Arbeitszweig, Herumtreiber, gens sans feu et sans aveu, verschieden nach dem Bildungsgrade der Nation der sie angehören, nie den Lazzaronicharakter verleugnend, in dem jugendlichen Alier, worin die provisorische Regierung sie rekrutierte durchaus bestimmbar, der größten heldentaten und der exaltiertesten Aufopferung fähig, wie der gemeinsten Banditenstreiche und der schmutzigsten Bestechlichkeit."[3]

Man spürt förmlich den wohligen Schauer der Marx beim Schreiben dieser Zeilen überfallen haben muß, diese Mischung aus Ekel vor dem Abschaum und kaum eingestandener Bewunderung für den bindungslosen, außerhalb der Gesellschaft stehenden Abenteurer. Und solche, im Nebenbei dahingeworfene Bemerkungen begründeten eine tradition im Marxismus, die ihre groteskesten Ausdrucksformen u.a. darin fand, dass in den siebziger Jahren verschiedene maoistische Organisationen Genossinnen die erwerbslos wurden als "lumpenproletarisiert" ausschlössen! Offensichtlich handelt es sich bei der landläufigen Beschreibung des "Lumpenproletariers" mehr um einen nebulösen Sozialcharakter als um ein Element von Klassenanalyse. Dafür spricht auch Wal Buchenbergs geradezu irrer Vorschlag, zur Bestimmung dessen was heute das "Lumpenproletariat" sei, die Kriminalitätsstatistiken zu Hilfe zu nehmen und sich dann aus den Tatverdächtigenzahlen von Eigentumsdelikten einen Prozentsatz von 1% an der Erwerbsbevölkerung zusammenzurechnen. Das Eigentumsdelikte kein Markenzeichen des Lumpenproletariats sind, dass es vielmehr auch in Kernbereichen der Lohnbasrbeiterklasse immer schon bestimmte Formen von als legitim angesehenen Diebstählen gab, die staatlicherseits lange zeit kaum wirksam vom Ansehen her zu delegitimieren waren, müsste sich eigentlich spätestens seit den bereits vor Jahrzehnten veröffentlichten Untersuchungen über Frachtberaubungen unter Unterschlagungen am Arbeitsplatz im Hamburger Hafen (zwischen 1850 und 1950) herumgesprochen haben.

Ich möchte einen Gegenvorschlag machen: wir sollten auf die Verwendung dieser höchst unbestimmten und eher denunziatorisch als analytisch gemeinten Bezeichnung einfach verzichten. Stattdessen wäre es sinnvoll, einen Blick auf die realen Neuzusammensetzungsprozesse der Lohnarbeiterklasse zu werfen, auf den Niedergang alter Industrien und die Deklassierung bisher privelegierter Arbeitergruppen, die Formen von Klassenbewusstsein, die aus unterschiedlichen Arbeits- und Lebensverhältnissen resultieren, um ein Bild von den Widersprüchen innerhalb der Klasse zu bekommen. Vom illegalen Billiglohnarbeiter über die Supermarktkassiererin und den Facharbeiter bei VW bis zum Softwareentwickler reicht heute das Spektrum, dass die Klasse umfasst und die Verelendungsprozesse, die sich in ihren unteren Segmenten abspielen sind genauso ein Bestandteil der ökomoischen Dimension der Proletarität wie die Aufstiegsillusionen der Modernisierungsgewinner.

Wenn wir aber unbedingt den Umfang der Verelendung bestimmen wollen, eine statistische Einordnung der subproletarischen Segmente, also der unterdrücktesten und verelendetsten Teile der Lohnarbeiterklasse vornehmen wollen so sei hierzu gesagt:

Es gibt in der BRD nach verschiedenen Schätzungen zwischen 500.000 und 2 Millionen illegal hier lebende Migrantinnen, die wenn sie nicht gerade von Familienangehörigen versteckt werden, gezwungen sind, jeden noch so schlecht bezahlten Job anzunehmen; es gibt etwa 2 Millionen arbeitsunfähige Sozialhilfeempfängerinnen, die kein noch so rigides

Arbeitsbeschaffungsprogramm in ein "Normalarbeitsverhältnis" bringen wird; es gibt darüber hinaus zwischen 1 und 2 Millionen Menschen, die auf einem ähnlichen Lebensstandard leben und entweder aus unterschiedlichsten Gründen keinen Sozialhilfeanspruch haben oder diesen nicht wahrnehmen; es gibt etwa 1 Million Menschen die akut von Wohnungsnot bedroht sind, davon ca. 500.000 die ganz oder teilweise auf der Straße leben. Nimmt man diese Zahlen zu Hilfe, kommt man der gesellschaftlichen Realität wohl etwas näher als Buchenberg mit seinen Kriminalitätsstatistiken und wird zum Ergebnis kommen, dass etwa 6-8% der Gesamtbevölkerung (nicht etwa nur der Erwerbstätigen) ökonomisch gesehen zum Subproletariat gehören, also jenem Teil der Lohnarbeiterklasse, dessen Angehörige am Rande oder unterhalb des Existenzminimums leben, elementarer sozialer Rechte beraubt sind und buchstäblich nichts anderes besitzen außer ihrer Arbeitskraft und teilweise nicht einmal diese. Abgesehen vom ganz individuellen Kampf gegen die psychosozialen Defekte, die eine solche Situation der Deklassierung nicht selten hervorruft, ist der politisch und ökonomisch zu führende Kampf dieses Teils der Klasse: ein Kampf für einen gesicherten Aufenthaltsstatus, für einen garantierten sozialen Mindeststandard, gegen die Zwangsarbeits- und Aushungerungsprogramme der Kochs, Schröders und Scharpings, gegen Hungerlöhne und "gemeinnützige Arbeit", für menschenwürdigen Wohnraum, ein notwendiger Bestandteil des Kampfes um die Gesamtinteresse des Proletariats.


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Fussnoten

1)Wal Buchenberg: Die Klassentheorie von Karl Marx, in: Zirkularbrief der Sozialistischen Studienvereinigung Juli/August 2000 S. 4

2)Friedrich Engels: Der deutsche Bauernkrieg, Vorbemerkung, MEW 7, S. 536f

3)Karl Marx: Die Klassenkämpfe in Frankreich, MEW 7, S. 26f

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