Vortrag am Mittwoch, 11.6.2003 um 19.30 Uhr

Der Terror der Normalität. Zum Untergang des (Anti-)Ödipus. Vortrag von Peter Christoph.

Diese Darstellung versucht den Faden wiederaufzunehmen, den die Sozialistische StudienVereinigung in 2000 und 2001 mit dem Vortrag zu dem marxistischen PsychoanalytikerInnen-Kreis um O.Fenichel (1934-46) und den Lektürekursen zur »Freudschen Linken« geknüpft hatte: mit dem Ziel einer längerfristigen Wieder(?)aneignung der vielversprechenden aber verschütteten Ansätze zu einer wissenschaftlich-kommunistischen Rettung des revolutionären Kerns der Psychoanalyse für eine Subjekttheorie, die als »Kritik der libidinösen Ökonomie«, ohne Gesellschaftliches und Politisches zu psychologisieren, der »Kritik der politischen Ökonomie« zuarbeiten könnte.

Mit unserer Veranstaltung »Trendy Transgender« (Winter 2000) wurde die Frage der Möglichkeit einer Geschlechter-Aufhebung - und so auch des »Ödipus«-Modells als konstitutiv, relevant oder nicht - vom Blickwinkel aktueller gesellschaftlicher Strömungen aufgeworfen ~ d.h. letztlich die Frage: sind die Geschlechter biologisch festgelegt oder gesellschaftlich konstruiert? Eine Scheinfrage? Definitions(macht)frage, was unter »Geschlecht« verstanden werden soll? Die Kontroverse könnte kaum heftiger sein: seit Foucault, Deleuze und Judith Butler e.a. sieht sich der progressiv-subversive Ansatz der linken Psychoanalyse selbst als geschlechterrollen-stabilisierendes, biologistisch-pathologisierendes Machtdispositiv, als von jeher nur besonders übles Herrschaftswissen in der Wurzel denunziert.

Jene Nietzscheaner indessen, selbst von S.Freud, W.Reich, J.Lacan und negativ-fixiert von der »marxistischen« Linken geprägt, haben sich ihrerseits als akademische IdeologInnen der Anpassung blamiert: lieferten sie doch nolens volens die neuen Normen der Selbstzurichtung der Subjekte (die es als solche garnicht mehr geben dürfte) an die postmodernisierten Erfordernisse des Turbo-Trallalla, flexibelster »environmentaler Vernetzung« in der Selbstausbeutung der ichmanagerialen teams, Standards der repressiven Entnormativisierung von queerness bis gender-hopping als Konkurrenz in der Arbeit an den lifestyles, wie sie verschiedene DekonstruktivistInnen, die »konformistischen Nonkonformisten« (Lukács) des ausgehenden 20.Jahrhunderts, radikal sich anzukonstruieren postuliert haben... Offensichtlich haben beide Lager gegeneinander mit ihren Anpassungsvorwürfen nur allzu recht; es fällt nur auf, dass sie sich in der Relativierung bzw. abstrakten Negierung des »Ödipus«-Modells fast einig geworden sind.

Gegen diese herrschende Konvergenz soll hier die »Ödipus«-Geschichte in ihrer gern vergessenen, wenn man so will: verdrängten Tragweite für die bürgerliche »Normalität« ausgegraben, in ihren vieldeutigen Folgen gesichtet und »jetzt erst recht« scharfgemacht werden. Zentrale These kann für historische MaterialistInnen nur sein: Er ist NICHT universal, der Ödipus-Komplex, wiewohl er die libidinöse Ökonomie der Bürger als Geschlechter- und Generationenrollenträger in der Kerngestalt (Familie: VaterMutterKind) nur um so pathogenisierender konstituiert, je zäher, panischer sich seine Subjekte/Objekte seinem unaufhaltsamen Untergang entgegensträuben. »Ordentlich« muss er untergehen, der Ödipus!

These: Besonders tragisch wirkt sich diese Abwehr für diejenigen BürgerInnen aus, die kein Eigentum, keine Ware hüten können als ihre Arbeitskraft, und die sich gegeneinander tagtäglich in immer blendenderem Rollenspiel meistbietend verkaufen müssen in der allseitigen Konkurrenz ...
Kein » Anti-Ödipus« kommt am Ödipuskonflikt vorbei, und kein (De-)Konstruktivismus schafft die daraus hervorgehende sexes/gender-Spannung aus der Welt, die in der »ewigen« Kind-Elter-Basis als gesellschaftliches Naturverhältnis scheinbar unabänderlich wurzelt und entspringt. Diese augenscheinliche fatalistische »Wiederkehr des Immergleichen« von Familialismus und vErwachsenwerden prägt sämtliche Formen der herrschenden Normalität: die Norm des bürgerlichen ›pursuit of happiness‹ erweist sich den zu individuierenden Subjekten jeweils als persönlichster Triebschicksals-Terror der Akkomodation ans herrschende Wertesystem - der wie ein Virus weitergegeben wird.

Zugleich erleben wir global, wie von der »ewig«-naturwüchsigen Familienform und Geschlechterrollenteilung im Turbo-Kapitalismus kaum noch etwas übrigbleibt: Je heftiger sich die Subjekte/Objekte des Monopols »Kapital/Staat/Patriarchat/HöchstesWesen« gegen dessen eigene Selbstzerstörung sträuben, weil ihre persönlichste Identität mithineingerissen ist, und am »ordentlichen Untergang des Ödipuskomplexes« (S.Freud) als Norm - positiv oder negativ-fixiert - sich festklammern, um so terroristischer, kastratorischer fügen sie dem gesellschaftlichen Ende-mit-Schrecken nurmehr den individualistischen Schrecken-ohne-Ende hinzu ... Inmitten der unaufhaltsamen Auflösung der verbürg(erlich)ten Identitäten in ›role models‹ feiern BARBIE & KEN grausig regressive Urständ. Längst ist auch das ironisch-parodistische gendering-Spiel der Subversion ins pop-linke Pastiche karrieristischer Rollenkonkurrenz umgeschlagen. Was einst als »Anti-Ödipus« die Umkehrung der Identität von Kapitalismus und Schizophrenie in das Nichtidentische schlechthin proklamierte, dem »ödipalen paranoischen Apparat« lediglich abstrakt »die Schizo-Wunschmaschine« entgegenstellte, den antidialektischen Deleuze-Blätterteig und das Foucaultsche Credo des repressiv-entsublimierten Nomadentums, hat sich seit nunmehr einem Vierteljahrhundert als nichts weiter denn brauchbarste Zugabe für »das fröhliche Delirium des Kapitalismus« (J.F.Lyotard) herausgestellt.

Wie beide - ödipale und anti-ödipale Situation -  bewusst-gesellschaftlich aufhebbar wären durch Assoziierung zu freien selbstbestimmten Individuen in der heute möglichen weltgesellschaftlichen Produktion und Bedürfnisbefriedigung, wird interdisziplinärer Forschungsgegenstand jenseits der Normativität »seriöser« fachidiotischer, staatlich bezahlter, kapitalistischer Arbeitsteilung werden müssen. Die eigenständige Erforschung beginnt notwendig mit einer grausam-gründlichen Überprüfung der Geschichten über »Ödipus«: der Genesis der Normalität dieses »Helden der westlichen Welt« (H.Kurnitzky), seiner Naturgewalt und Tragödie als mystifiziertes Gesellschaftsindividuum.

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