Zur Kritik der Deutung des Judentums bei Sigmund Freud

Otto Fenichel

Gedanken zu Sigmund Freud: ›Der Mann Moses und die monotheistische Religion‹[1]

zum Seitenende

Die »Geheimen Rundbriefe des Kreises um Otto Fenichel« aus den Jahren 1934-1946 sind erst seit 1998 zugänglich und nicht vielen bislang bekannt. Ihre Nutzung für eine emanzipatorische »Grundlagenforschung« soll mit diesem Text angeregt werden im Erkenntnisinteresse einer schon von MARX postulierten Psychologie, die »zur wirklichen inhaltvollen und reellen Wissenschaft werden« könnte (MEW Erg.Bd I:543),wenn »gerade der sinnlich gegenwärtigste, zugänglichste Teil der Geschichte« von ihr »unter der Form der Entfremdung« im modernen kapitalistischen Alltagsleben, Arbeitsleben, Alltagsbewusstsein und in den individuellen und gesellschaftlich-kulturellen Träumen analysiert werden kann. Zu lernen ist vor allem auch von der methodologischen Vorsicht und dem historisch-materialistischen Problembewusstsein des wohl bedeutendsten Kopfes bisheriger wissenschaftlich-communistischer Psychoanalyse.

Otto Fenichel: »119 Rundbriefe (1934-1945)«, Band I: Europa (1934-1938), Band II: Amerika (1938-1945),
hrsg. von Elke Mühlleitner und Joh. Reichmayr. 2000 Seiten, mit CD-ROM, Copyright 1998 by Verlag Stroemfeld/Roter Stern, Frankfurt aM, Basel. www.stroemfeld.com
Abdruck der Seiten 1131-1148 mit freundlicher Genehmigung durch den Verlag.

Geheimer Rundbrief N°58 vom 7. Juni 1939, Abschnitt 8 (Manuskript nur für den Hausgebrauch)

Es ist nicht leicht, über das neue Buch von Freud kritisch zu sprechen. Was an ihm vor allem imponiert, ist sein persönlicher Charakter. Bei der Lektüre dieses Alterswerks war ich wiederholt an sein Erstlingswerk erinnert: ›Die Traumdeutung‹, was die beiden Bücher gemeinsam haben, ist ihr außerordentlich persönlicher Charakter, der sich deutlich im Stil widerspiegelt. Der Eindruck ist der einer gewissen (die Schwierigkeit und den Ernst der Aufgabe widerspiegelnden) Schwerfälligkeit, die etwa Schuld daran ist, daß ich Psychoanalyse-Schülern, die die Traumtheorie lernen wollen, immer rate, zuerst den zweiten Teil der ›Vorlesungen zur Einführung‹ zu lesen, – und nur später einmal die ›Traumdeutung‹. Eine ähnliche Schwerfälligkeit, die die persönlichen Widerstände verrät, zeigt sich in der Darstellung und Kapitelanordnung des neuen Buches. Es ist so, wie wenn ein Widerstand an der klaren Herausarbeitung der Gedanken immer <1132>wieder hinderte, so daß wiederum ein neuer Ansatz nötig wird. Dieses gibt dem ganzen Buch einen so persönlichen Charakter, daß man seine Ideen als eine Respekt erheischende persönliche Phantasie empfinden möchte. Sie wollen aber Wissenschaft sein. Und deshalb dürfen wir uns nicht davon abhalten lassen, sie zu kritisieren.

Ich setze im folgenden voraus, daß man das Buch gelesen hat. Seine Hauptidee lautet: Aus den beiden vorausgegangenen Aufsätzen (›Moses, ein Ägypter‹, ›Wenn Moses ein Ägypter war …‹) ging hervor, daß die von Echnatons Schüler Moses den Juden gegebene monotheistische und ethische Religion, nachdem sie durch die Anbetung des Wüstengottes Jahve ersetzt worden war, – später doch wieder hoch kam und sich durchsetzte. Diese Annahme ist der Ausgangspunkt der ganzen Überlegungen Freuds. Er sucht für Analoga für diesen Vorgang, daß irgendeine psychische ›attitude‹, die völlig untergegangen war, nachher wieder erscheint.

Nach Verwerfung verschiedener anderer Analoga glaubt er, ein Vorbild eines solchen Ereignisses in der Neurosen-Psychologie, in der Wirkung der verdrängten Traumata zu finden. Auch die vergessenen Traumata scheinen völlig verschwunden, – aber nach einer gewissen ›Latenzzeit‹ treten sie plötzlich wieder in Erscheinung. – Der Einwand liegt nahe, daß diese Fälle darum nicht analog wären, weil zwar beim individuellen Neurotiker die Annahme unausweichlich ist, daß während der ›Latenz-Zeit‹ die Erinnerung an das ›Trauma‹ in seinem psychisch Unbewußten vorhanden war, während die ›latente‹ Erinnerung an die Moses-Religion im Volke durch bewußte Tradition erhalten sein könnte. Auch Freud übersieht das nicht, – aber er meint, daß eine solche Erklärung nicht ausreicht. Auch ›im jüdischen Volke‹ sei während der Latenz-Zeit die Moses-Religion, resp. die Erinnerung an die Moses-Ereignisse, unbewußt vorhanden gewesen.

Diese Annahme wird nun auf die religiösen Phänomene im allgemeinen erweitert. In den religiösen Erscheinungen kommen im allgemeinen historische Wahrheiten nach einer Latenz-Zeit in veränderter Form wieder aus dem Unbewußten hervor. Die Analogie zwischen Wahn und Religion würde dadurch eine vollständige. Wie im Wahn Kindheitstraumata nach einer Latenz- Zeit aus dem Unbewußten des Geisteskranken in veränderter Form wieder auftauchen, so in der Religion historische Ereignisse aus der Urzeit der Menschheit – aus dem Unbewußten der Menschheit. Der Monotheismus, der sich schließlich gegen den ›verdrängenden‹ Polytheismen dennoch wieder durchsetzt, ist eine Wiederkehr der unbewußten Erinnerung daran, daß es einmal einen einzigen Urvater gegeben habe, der die ganze <1133>Macht in Händen gehabt habe. Dieses Faktum war verdrängt, aber nie ganz vergessen gewesen.

Es mag in Ägypten die ›Widerspiegelung‹ des Weltreiches gewesen sein, was den Monotheismus wieder brachte (die Tatsache eines einzigen Weltherrschers mobilisierte die Erinnerung an den Urvater), bei den Juden versagt eine solche Erklärung. Sie haben niemals ein Weltreich beherrscht, – dennoch aber immer wieder an dem ihnen von Ägypten her übermittelten Glauben an einen einzigen Gott festgehalten. Warum hingen nun gerade die Juden so sehr am Monotheismus? Freuds Antwort lautet: weil sie in historischen Zeiten den ›Urvater-Mord‹ wiederholt haben, indem sie Moses erschlugen. Infolge dieses ›historischen Zufalles‹ ist das jüdische Schuldbewußtsein größer als das der anderen Völker, – und stehen dem ›Urtrauma‹ näher als alle anderen Völker; allerdings haben sie deshalb auch besonders Grund, andere Erinnerungsspuren wieder besonders zu verdrängen, weshalb sie den ›Fortschritt zum Christentum‹ nicht mitmachen konnten, – ›Fortschritt‹ insofern, als andere Züge des Vatermordes in der christlichen Religion wieder deutlicher hervortreten als in allen anderen Religionen:

Der Mord an Moses »war ein Fall von Agieren anstatt zu erinnern wie er sich häufig während der analytischen Arbeit am Neurotiker ereignet. Auf die Anregung zur Erinnerung, die ihnen die Lehre Moses brachte, reagierten sie aber auch mit der Verleugnung ihrer Aktion, blieben bei der Anerkennung des Gott-Vaters stehen und sperrten sich so den Zugang zur Stelle, an der später Paulus die Fortsetzung der Urgeschichte anknüpfen sollte.« (Es liegt nahe zu fragen, ob es sich denn wirklich in den frühen Zeiten der Historik nicht auch bei den anderen Völkern wiederholt ereignet haben sollte, daß ein ›Führer‹, der große Neuerungen gebracht hatte, erschlagen worden wäre).

Ich möchte nun dazu übergehen, zuerst zu den hier referierten Hauptgedanken des Buches, dann zu einigen Details Stellung zu nehmen. Als bloß die beiden Aufsätze ›Moses, ein Ägypter‹ und ›Wenn Moses ein Ägypter war …‹ publiziert waren, schrieb ich (siehe Rundbrief XLIV, Punkt 8) am 14. März 1938:

Freud verglich stets die Psychoanalyse gern mit der Archäologie. Jene ist sein Beruf, diese sein Steckenpferd. Auf beiden Gebieten tat er – von einer merkwürdigen schöpferischen Neugierde getrieben – das gleiche. Er versuchte, aus etwas Vergangenem, in dem Wahres mit Falschem vermengt und Ursprüngliches zerrissen, lückenhaft wiedergegeben und tendenziös entstellt ist, – Wahres von Falschem, Ursprüngliches von zu Entstellungszwecken Hinzugefügtem zu trennen und Lücken wieder auszufüllen.

Dieses <1134> Verfahren sollte das Ursprüngliche rekonstruieren und bei Gelegenheit der Rückgängigmachung der Entstellung auch Motive und Mechanismen klären. Die dumme Frage, ob die Psychoanalyse die Kindheitshistorik ermittle oder die Psychologie die entstellenden Phantasien studiere, – ist zu beantworten: indem sie jenes tut, leistet sie dieses. Was herauskommt, ist, daß der Mensch und seine Entstellungstendenzen aus dem, was mit ihm in seiner prähistorischen Zeit geschehen ist, verständlich wird. Auf die Erlebnisse kommt es an, – und sogar die Engländer entdecken ja heute die Realität.

Wie sehr das das Ziel ist, zeigt auch wieder die Arbeit über das ›Konstruieren in der Analyse‹: Was ist ein Wahn? Seine Voraussetzung ist der Zusammenbruch der Realitätsprüfung, sei es durch eine Regression bis in die Zeit vor Ausbildung derselben, sei es in einer anderen Art Abwehr (›Neurose und Psychose‹); dann wird der Wahn ›wie ein aufgesetzter Fleck‹ als Realitätsersatz dort ausgebildet, wo ein Bruch mit der Realität stattgehabt hat. Woher kommt aber das Material dieses Realitätsersatzes? Sicher aus den Trieben, teils aus Befriedigungsphantasien, teils aus Sicherungsphantasien gegen ihren Durchbruch; aber natürlich auch aus der Vergangenheit, die allerdings im Sinne der Triebe oder im Sinne der Triebabwehr entstellt ist.

Es kann gar nicht anders sein, als daß die Unzufriedenheit mit der Wirklichkeit zum Zurückdenken an eine Zeit führt, in der die Wirklichkeit befriedigender war. Der alte Satz ›der Patient hat immer recht‹ bekommt so auch für die Wahnbildung recht. – Sehr oft hat Freud von der Sagenbildung gesprochen, die jeder einzelne mit seiner prähistorischen Vergangenheit vornimmt. Historische Vorkommnisse werden wunschgemäß entstellt. Auch der Wahn ist eine Sage.

Dasselbe nimmt nun Freud auch von den religiösen und sonstigen Traditionen an. Seine Deutungen sind verblüffend. Die Wahrscheinlichkeit ihrer Richtigkeit ergibt sich nach den gleichen Kriterien, nach denen wir die Richtigkeit von Deutungen in der Analyse untersuchen. Man erlebt bei der Lektüre das Zusammensetzen eines Mosaikspiels, das schließlich so und nicht anders zusammenpaßt. Wie imposant ist in dieser Hinsicht etwa die Deutung des ›auserwählten Volkes‹ (Imago 1937, S. 413).

Die Merkwürdigkeit, daß nicht ein Volk sich seinen Gott, sondern ein Gott sich sein Volk aussucht, entspräche dem Umstand, daß ein Ägypter einmal wirklich dieses Volk sich für seine Zwecke ausgesucht habe. Besonders überzeugend und schön ist die [Stelle], wo solche Deutungen einen ausgesprochenen materialistischen Charakter tragen. Ich führe einige Beispiele an.

Über dem Monotheismus heißt es: »Durch die Waffentaten des Thothmes III. war <1135> Ägypten eine Weltmacht geworden.…Dieser Imperialismus spiegelte sich in der Religion als Universalismus und Monotheismus. Da die Fürsorge des Pharao jetzt außer Ägypten auch Nubien und Syrien umfassen mußte, hat die Gottheit ihre nationale Beschränkung aufgegeben, und wie der Pharao der einzige und unumschränkte Herrscher der dem Ägypter bekannten Welt war, so mußte also wohl auch die neue Gottheit der Ägypter werden.« – Und ausdrücklich versichert er, daß seine Konstruktion das Vorgehen jenes Ägypter-Moses ›aus den derzeitigen politischen Zuständen im Lande‹ ableite.

Um so mehr überrascht dann der exquisit antimaterialistische Schluß. Die betreffende Stelle lautet: »Worin die eigentliche Natur einer Tradition besteht und worauf ihre besondere Macht beruht, wie unmöglich es ist, den persönlichen Einfluß einzelner großer Männer auf die Weltgeschichte zu leugnen, welchen Frevel an der großartigen Mannigfaltigkeit des Menschenlebens man begeht, wenn man nur Motive aus materialistischen Bedürfnissen anerkennen will, aus welchen Quellen [manche], besonders die religiösen Ideen die Kraft schöpfen, mit der sie Menschen wie Völker unterjochen, all dies am Spezialfall der jüdischen Geschichte zu studieren, wäre eine verlockende Aufgabe.«

Eine Attacke gegen die materialistische Geschichtsauffassung, wie schon einmal in der ›Neuen Folge der Vorlesungen‹. Was haben wir dazu zu sagen? Ich meine, ungefähr folgendes:

Was sind die Traditionen, die großen Männer und die Kraftquellen der religiösen ›Liebes‹-, Monotheismusidee, die sich gegen rachsüchtige Vulkangötter durchsetzten? Wir können nach Freuds Ausführungen die Verhältnisse untersuchen 1. Echnaton, 2. dem ägyptischen Moses, 3. dem zweiten Moses, 4. die Leviten, 5. die Juden, die die levitische Lehre festhielten.

Mir scheint dann aus Freuds Ausführungen folgendes hervorzugehen – ich wäre dankbar für eine Diskussion darüber, ob ich richtig sehe:

ad 1. Die Voraussetzung für das Auftreten Echnatons war das, was Freud den ägyptischen ›Imperialismus‹ nennt. Die Vergrößerung der Welt und die Berührung mit allen anderen Denkweisen und Kulten (in erster Linie die handelspolitische Berührung?) brachte neue gesellschaftliche Kräfte in die Höhe, die sich gegen den überkommenen Konservatismus wandten. Warum der König zum Vertreter dieser neuen Kräfte wurde, weiß ich nicht, einige persönliche Voraussetzungen dazu kann man in Abrahams Arbeit nachlesen. Jedenfalls ist die neue Religion zunächst durchaus negativ bestimmt, und die wichtigsten Elemente der überkommenen Religion werden <1136> geleugnet. Es darf keine Magie mehr geben und nichts, was an Osiris erinnert. Osiris ist der Totengott; seine Leugnung bedeutet, daß man nicht auf ein Jenseits warten, sondern schon im Diesseits Macht erlangen will, reale Macht, nicht imaginäre. Dies mußte eine Kampfansage gegen die konservativen Kräfte (Priesterschaft) sein, was diese auch, wie aus ihrer Reaktion hervorgeht, verstanden.

ad 2. Der ägyptische Moses repräsentiert die gleichen gesellschaftlichen Kräfte wie Echnaton. Wenn er ein neues Reich gründen wollte, so war es gewiß gedacht als Angriff gegen die alten Kräfte und die Priesterschaft. Das Verhältnis scheint mir ähnlich wie wenn im Mittelalter sich der König mit dem Bürgertum zusammen gegen den Adel verband. Der König, bezw. sein Nachfolger Moses unterstützte Auflehnungsbestrebungen unterdrückter Völker gegen die Priesterschaft. Aus dieser gemeinsamen Gegnerschaft erklärt sich die Zuwendung des Moses zu den Semiten, denen er durch die Einführung der Beschneidung klar macht, daß sie dieselben Rechte haben wie ihre Unterdrücker. Von der ›Liebe‹, deren Einführung in die Religion von ihm ausgehen soll, ist in der Charakterisierung, die Freud von ihm entwirft, nichts zu merken. Er war leicht aufbrausend, wütend und hatte Schwierigkeiten mit den von ihm Befreiten, da er ›schwer von Sprache‹, fremdsprachig war.

ad 3. Obwohl der Gott des zweiten Moses als der Böse, Kleine geschildert wird, der das ›Mosaische‹ unterdrücken will, aber schließlich selbst unterdrückt wird, – wird dieser selbst als weich und liebevoll geschildert.

ad 4. Wenn Moses erschlagen wurde und ›seine Leute‹ sich durchsetzten, – so ist es nicht ausschließlich eine ›ideelle Tradition‹, sondern Ausdruck der Tatsache, daß auf eine Revolution eine Reaktion folgt. Moses war sicher nicht erschlagen worden, weil seine Lehren für das Volk zu ›subtil‹ waren; sondern weit eher, weil das König-Volk-Bündnis (gegen den Adel) infolge der widersprechenden Interessen von König und Volk wieder zerfiel, ie es auch im Mittelalter zerfiel oder wie das bürgerlich-proletarische Bündnis in der bürgerlichen Revolution zerfallen muß. – Nachher setzten sich die Leviten gegen das Volk wieder durch; die Vertreter des ersten Religionsstifters hatten sicher hinter All-Menschenliebe und Anti-Magie doch eine volksfeindliche aristokratische Haltung behalten oder wiedergekriegt.

ad 5. Warum Elemente dieser aristokratischen Haltung schließlich vom Volk doch angenommen und immer weiter tradiert wurden, läßt sich nach dem von Freud mitgeteilten Material nicht entscheiden. Ich denke aber <1137> diesbezgl. an Fromms Arbeit über das Christusdogma, in der dargestellt wird, wie dieselben religiösen Lehren durch veränderte gesellschaftliche Umstände eine entgegengesetzte gesellschaftliche Bedeutung erlangen können.

Wenn ein Bedeutungswandel von einer Erlösungshoffnung einer unterdrückten Schicht zu einem Machtinstrument der Unterdrücker möglich ist, so wohl auch der umgekehrte, von einer aristokratischen Esoterik zu einem Mittel, das Selbstgefühl des ganzen Volkes unter wichtigen Umständen hochzuhalten. – So scheint mir in den Freudschen bewundernswerten Gedankengängen kein Grund, an der materialistischen Geschichtsauffassung zu zweifeln.

Und nun, da das ganze Buch vorliegt, ist vor allem zu fragen: Wenn nach einer Latenz-Zeit der Jahve Religion die Moses-Religion wieder hoch kam, – was waren die historischen Bedingungen zur Zeit dieser Veränderung? Zur Beantwortung dieser Frage erfahren wir von Freud überhaupt nichts. Dieser Mangel ist es, der meinem Urteil nach die gesamten Schlüsse diese Buches zweifelhaft macht.

Beinahe so wie in der berühmten ›Dogma‹-Arbeit von Reik[2] wird ›das Volk‹ als eine Einheit genommen, die von der einen Religion zur anderen übergegangen sei. Die Möglichkeit wird gar nicht in Betracht gezogen, daß innerhalb dieses Volkes Gruppen oder Klassen im Gegensatz zueinander gestanden haben könnten, daß die beiden Religionen das ideologische Abbild widerstreitender Interessen innerhalb des Volkes darstellen könnten, daß der Übergang von einer Religion zur anderen den Übergang der Macht von einer Volksgruppe zur anderen widerspiegeln könnte. (War es nicht eine Priester-Aristokratie, die die ›vergessene‹ Moses-Religion repräsentierte?) – Wir können das alles zwar nicht behaupten, denn wir wissen überhaupt nichts über die historischen Umstände zur Zeit des Religionswechsels. Aber wir können behaupten, daß dies wahrscheinlich sei; wir können weiter behaupten, daß die völlige Außerachtlassung dieser Fragestellung ein schwerer Fehler Freuds sei, dessen Klarstellung seine folgernden Schlüsse fraglich macht.

Das ›phylogenetische Unbewußte‹ ist der zweite wesentliche Punkt, an dem wir Kritik üben müssen. Es hat uns so gut gefallen, daß seinerzeit Freud in der ›Massen-Psychologie und Ich-Analyse [3] folgendes schrieb: <1138>

»Man hat sich gewöhnt, wenn man von Sozial- oder Massen-Psychologie spricht, … die gleichzeitige Beeinflussung des Einzelnen durch eine große Anzahl von Personen, mit denen er durch irgend etwas verbunden ist, während sie ihm selbst in vieler Hinsicht fremd sein mögen, als Gegenstand der Untersuchung abzusondern. Die Massen-Psychologie behandelt also den einzelnen Menschen als Mitglied eines Stammes, eines Volkes, einer Kaste, eines Standes, einer Institution oder als Bestandteil eines Menschenhaufens...

...« ›Psychologie der Masse‹ hieß nun also ›Psychologie des Einzelnen, insofern er einer Masse angehört‹. Nun müssen wir allerdings zugeben, daß Freud diese Ansicht, derzufolge es also kein ›Unbewußtes der Masse‹, sondern nur ein ›Unbewußtes des Einzelnen in der Masse‹ gibt, in dem neuen Buch nicht ausdrücklich aufhebt. Er schreibt darüber ausdrücklich:

»Den Terminus ›das Verdrängte‹ gebrauchen wir hier im uneigentlichen Sinne. Es handelt sich um etwas Vergangenes, Verschollenes, Überwundenes im Völkerleben, das wir dem Verdrängtem im Seelenleben des Einzelnen gleichzustellen wagen. In welcher psychologischen Form dieses Vergangene während der Zeit seiner Verdunkelung vorhanden war, wissen wir zunächst nicht zu sagen. Es wird uns nicht leicht, die Begriffe der Einzel-Psychologie auf die Psychologie der Masse zu übertragen, und ich glaube nicht, daß wir etwas erreichen, wenn wir den Begriff eines kollektiven Unbewußten einführen. Der Inhalt des Unbewußten ist ja überhaupt kollektiv, allgemeiner Besitz der Menschen. Wir behelfen uns also vorläufig mit dem Gebrauch von Analogien … Wir entschließen uns zur Annahme, daß die psychischen Niederschläge jener Urzeiten Erbgut geworden waren, in jeder neuen Generation nur der Erweckung, nicht der Erwerbung bedürftig.«

Aber es sind doch Stellen, in denen Freud sich trotz dieser Bemerkungen einem ›kollektiven Unbewußten‹ nähert, indem er Vorgänge wie den Religionswechsel wie neurotische Vorgänge in einem Einzel-Individuum psychoanalysieren will. – Darüber hinaus meint er aber tatsächlich, daß ›der Einzelne in der Masse‹ Inhalte des von früheren Generationen Erlebten in seinem Unbewußten erhalten habe, – eine Annahme, die uns durch die Tatsache der Disposition etwa zum Sprechenlernen, die Symbolik oder die ›Urphantasien‹, denenzufolge etwa alle möglichen Drohungen, die keineswegs das Genitale betreffen, vom kleinen Knaben als Kastrationsdrohungen aufgefaßt werden – alles Phänomene, deren Existenz wir natürlich anerkennen –, nicht gerechtfertigt erscheint. Wenn, meint Freud, die Tradition der Geschehnisse um Moses in Priesterkreisen immer noch vorhanden gewesen sein mag, so »kann sie nur Wenigen <1139> bekannt gewesen sein, sie war nicht Volksgut. Reicht das aus, um ihre Wirkung zu erklären?

Kann man einem solchen Wissen von Wenigen die Macht zuschreiben, die Massen so nachhaltig zu ergreifen, wenn es zu ihrer Kenntnis kommt?« Nein, meinen wir, diese Macht kann man einem solchen Wissen nicht zuschreiben. Wohl aber können wir uns vorstellen, daß diese Wenigen, die das Wissen haben, eine politische Macht über die Massen in einem solchen Maße erreichen können, daß nunmehr ihr Wissen die ganze ›unwissende Masse‹ beeinflußt! Unter dieser Bedingung scheint es uns, daß wir hier mit der ›Tradition‹ unser Auslangen finden können, ohne eine mythologische ›unbewußte Erinnerung jedes einzelnen daran, daß seine Vorväter ihren Häuptling erschlagen haben‹ annehmen zu müssen. (Die Frage allerdings, warum diese Tradition, die in anderen Fällen zu Entstehung eines Volksepos geführt hat, hier eine Religion veranlaßt haben sollte, können wir nicht ohne weiteres beantworten).

Die Frage, warum dann das jüdische Volk den Monotheismus so leidenschaftlich angenommen hatte, obwohl sie nicht ein Weltreich regierten, die Freud mit dem Hinweis auf das phylogenetische Unbewußte beantwortet, weiß ich nicht zu beantworten. Aber ich fühle mich dieser Unfähigkeit wegen nicht beschämt. Ich meine, um diese Frage beantworten zu können, müßte man Geschichte studieren. Man muß die ›monotheistische Ideologie‹ ebenso auf ihre ›historisch- materialistische Basis‹ hin untersuchen wie andere Ideologien auch! –

Vielleicht klammerte sich gerade das jüdische Volk deshalb so stark an die Idee vom Monotheismus, weil es niemals eine Weltherrschaft hatte, vielleicht war diese weltumfassende Religion eine Art Ersatz für eine Weltherrschaft? Unter den ständigen schweren Schicksalsschlägen, die dieses Volk zu erdulden hatte, war vielleicht die Anklammerung an die monotheistische Idee das einzige Mittel, sich zu erhalten. Dabei können wir gern glauben, daß dieses Mittel seinerseits wieder ermöglicht wurde durch das Gefühl des Volkes ›wir sind das von Gott auserwählte Volk‹, – ein Glaube, der ganz gut auf historische Vorgänge wie die von Freud erratenen zurückgehen und meinen mag, wir sind das vom ägyptischen Prinzen auserwählte Volk. Von diesen historischen Vorgängen allerdings könnte es bewußte Tradition gegeben haben, und wir brauchen nicht auf ein phylogenetisch Unbewußtes zurückgreifen.

Überlegen wir uns nun noch einmal, wie wir uns überhaupt grundsätzlich dem merkwürdigen Phänomen ›Religion‹ wissenschaftlich anzunähern versuchen. Seine Voraussetzungen sind:

1. Die Hilflosigkeit des menschlichen Säuglings und die lange menschliche <1140> Kindheit bringen eine biologisch determinierte Zeit der Abhängigkeit des menschlichen Kindes vom Erwachsenen, zunächst von der Mutter, mit sich. Nur diejenigen Kinder bleiben am Leben, die die Erfahrung machen, daß Wesen, die unendlich mächtiger sind als sie selbst, ihnen zu Hilfe kamen, wenn sie sich in Not fühlten. Allerdings wurde schon seit Jahrtausenden, vielleicht noch viel länger, auf der Welt durch sog. ›Erziehungsmaßnahmen‹ diese Hilfeleistung in der späteren Kindheit an ›Bedingungen‹ geknüpft: ›Wir Erwachsenen schützen dich Kind, wenn Du brav bist!‹

2. Solche Bedingungen zwingen das Kind, sich in seinem Triebverhalten zu verändern, wenn es des Schutzes, den es lebensnotwendig braucht, teilhaftig werden will.

3. Wenn der Mensch als Erwachsener auf irgend welche Schwierigkeiten stößt, denen er sich nicht gewachsen fühlt, so hat er mit solcher Erinnerung eine Regressionsmöglichkeit; er gibt seine eigene Aktivität, seine Über-Ichund zum Teil Ich-Funktionen wieder auf und phantasiert sich wieder allmächtige Wesen, an deren Allmacht er partizipieren kann, die diese Funktionen für ihn erfüllen und ihn schützen; dafür ist er bereit, Bedingungen zu erfüllen, Triebverzichte zu leisten, etc.

4. Da dieses Bestreben in jeder autoritativen Gesellschaft erwünscht ist, wird es auf mannigfaltige Weise gefördert, vor allem durch tradierte Systeme, die von allmächtigen Wesen erzählen und illusionären Schutz versprechen, aber dafür sehr reale Erfüllung von Bedingungen verlangen. – Die Marxsche Lehre, Religion sei ›Opium für das Volk‹, womit gemeint war, daß illusionäre Entschädigungsversprechen gegeben werden, um die Tendenzen, sich reale Entschädigung zu holen, einzuschläfern, schien uns immer durch die Psychoanalyse auf das Trefflichste ergänzt: Die Marxsche Formel ließ die ungeheuere Mächtigkeit, mit der dieses ›Opium‹ seine ›einschläfernde‹ Wirkung wirklich ausübt, die Tiefe der Verankerung der religiösen Gefühle im einzelnen Menschen unerklärt.

Die psychoanalytische Erklärung, daß die Opium-Wirkung durch eine Regression in die frühe Kindheit erzielt wird, schien uns diese Lücke auszufüllen, so daß wir meinten, daß gerade hier sich Marx und Freud gegenseitig ergänzen: In der Not greift der Mensch auf bestimmte Illusionen zurück. Marx erklärte uns, woher die Not stammt, nämlich im Wesentlichen aus den Widersprüchen in der gesellschaftlichen Struktur, Freud erklärte uns, woher die Illusionen stammen und warum sie wirken, nämlich aus der unbewußten Beziehung des Einzelnen zu seinen Eltern.

– Diese ›onto-genetische‹ Religions-Theorie <1141> fand in ›Totem und Tabu‹[4] eine phylogenetische Ergänzung. Freud fügt in diesem Buch noch hinzu, daß sich der Einzelne, der um des Schutzes eines Allmächtigen willen auf seine eigene Aktivität verzichtet, nicht nur sich nach seiner Säuglingszeit zurücksehnt, sondern daß solche Sehnsucht uns das Wirken der Autorität überhaupt erklärt. Die Vorgänger der Götter sind die Seelen der verstorbenen Häuptlinge. Daß und wie die irdische Autorität auch noch über ihren Tod hinaus Furcht erweckt (und Schutz verspricht), ist das Geheimnis der Religion. Die Freudsche Hypothese nimmt an, daß diese irrationale Wirkungsweise der Autorität über ihren Tod hinaus durch die psychischen Veränderungen zu erklären ist, die im Einzelnen dadurch entstanden, daß dieser Tod der Autorität kein natürlicher war, sondern ein Mord. Wir können ohne Weiteres annehmen, daß es wirklich sehr oft zu solchen Morden gekommen sei. Wir können weiter annehmen, daß das magische Denken es mit sich brachte, daß, auch wenn ein Häuptling eines natürlichen Todes starb, sein Volk das Gefühl hatte, es hätte ihn erschlagen.

Die dabei entstehenden Schuldgefühle (Ambivalenz des Kannibalismus: Man setzt sich durch das Verzehren des erschlagenen Vaters an seine Stelle, aber man richtet ihn dadurch auch in sich selbst als eigene psychische Instanz wieder auf, siehe ›Trophäe und Triumph‹)[5]  erleichtern die gesellschaftlich notwendige ›Umstrukturierung‹, d.h. die Bereitschaft, sich für ein imaginäres Schutzversprechen einschläfern zu lassen. Solche Schuldgefühle würden uns dann auch den neurosen- bezw. wahnanalogen Charakter der Religion erklären.

Was uns an der Theorie von ›Totem und Tabu‹ aber gewagt erschien, das war die Selbstverständlichkeit, mit der eine Art patriarchalische Familien-Struktur als das ursprünglichste gesellschaftliche Organisationsprinzip anerkannt wurde, ferner die Nicht-Berücksichtigung der Produktionsverhältnisse in der primitiven Gesellschaft, wodurch uns unerklärt blieb, zu welcher Zeit und in welcher Weise der Vatermord plötzlich vollzogen wurde (abgesehen von dem vagen, aber durchaus materialistischen Hinweis auf die ›Erfindung der modernen Fernwaffe‹, aber was hat diese Erfindung veranlaßt?).

Im neuen Buch wird nun auf die Seite der Religion, daß in ihr die Erinnerung an die historische Wahrheit des Urvater-Mordes wiederkehre, besonderes Gewicht gelegt. Die Zweifel am ›inhaltlich bestimmten phylogenetisch <1142> Unbewußten‹ und die kritischen Überlegungen zur Totem und Tabu-Theorie werden dadurch nicht entkräftet. – Die in ›Totem und Tabu‹ vernachlässigte Frage nach der mutterrechtlichen Gesellschaft (siehe Weigert-Vowinckel ›Magna Mater‹) [6] findet mehrfach Erwähnung. Freud meint allerdings (und uns fehlt darin jedes Urteil, so daß wir diesen nicht bewiesenen Ansichten Freuds mit gewisser Skepsis gegenüber stehen), daß alle diese ›mutterrechtlichen‹ Organisationsformen nicht primär seien, sie werden als eine Art ›Flucht‹ aus der ursprünglichen patriarchalischen Form nach dem Morde am Urvater erklärt: »Ein gutes Stück der durch die Beseitigung des Vaters frei gewordenen Machtvollkommenheit ging auf die Frau über, es kam die Zeit des Matriarchats.« »An einer nicht leicht bestimmbaren Stelle der Entwicklung treten große Mutter-Gottheiten auf, wahrscheinlich noch vor den männlichen Göttern, die sich dann lange Zeit neben diesen erhalten. Unterdessen hat sich eine große soziale Umwälzung vollzogen. Das Mutterrecht wurde durch eine wiederhergestellte patriarchalische Ordnung abgelöst. Die neuen Väter erreichen freilich nie die Allmacht des Urvaters.

… Wahrscheinlich entstand die Mutter-Gottheit zur Zeit der Einschränkung des Matriarchats zur Entschädigung der zurückgesetzten Mütter.« »Der Vater wird wiederum das Oberhaupt der Familie, nur längst nicht so unbeschränkt wie die Hauptväter der Urgesellschaft gewesen waren. Das Totem-Tier weicht dem Gott in noch sehr deutlichen Übergängen.« – So hält Freud weiter daran fest, daß der Ödipus-Komplex, wie wir ihn in der heutigen patriarchalischen Gesellschaft finden, ›fons et origo‹ sei, daß alle nicht-patriarchalischen Gesellschaften nur eine sekundäre Bildung mit der Absicht der Verdrängung des Urpatriarchats seien. Die Bedenken, die wir von je gegen diese Auffassung hatten und wiederholt äußerten, sind dadurch nicht entkräftet.

Nach dieser allgemeinen Kritik des Freudschen Buches möchte ich nun einige Einzelheiten herausheben, teils kritisch, teils nur kommentierend:

Aus den ›Vorbemerkungen‹ möchte ich den echt Freudschen Satz über die jüngsten Vorgänge in Deutschland hervorheben: »Man empfindet es als Erleichterung von einer bedrückenden Sorge, wenn man im Falle des deutschen Volkes sieht, daß der Rückfall in nahezu vorgeschichtliche Barbarei auch ohne Anlehnung an irgend eine fortschrittliche Idee vor sich gehen kann.« Man erinnert sich an den Ausspruch anläßlich des Besuches von <1143> Boehm. »Ich glaube nicht, daß die Psychoanalyse in Deutschland eine Zukunft hat. Die Deutschen sind ein barbarisches Volk.«

– Aber woher kommt dieser ›Rückfall in nahezu vorgeschichtliche Barbarei‹? Nur aus dem ›deutschen National-Charakter‹? Aus dem Destruktionstrieb? – Gewiß liegt es mir fern, von Freud zu verlangen, daß er an solcher Stelle einer ›Vorbemerkung‹ lange Erklärungen darüber abgeben sollte, daß die Widersprüche unserer Produktionsformen zusammen mit dem Abwehrkampf gegen den Sozialismus diesen Rückfall verschulden. Ich erwähne dies nur, weil der völlige Mangel an soziologischen Fragestellungen im ganzen Buche so auffällt. – Die staunenswerte Rücksichtnahme auf die katholische Kirche, zu der der religionsfeindliche Freud sich in der ersten Vorbemerkung bekennt, wird durch die zweite Vorbemerkung so weit aufgehoben, daß wir dazu nichts zu sagen brauchen. In diesem Zusammenhang ist übrigens besonders hübsch der Satz: »Jene gewalttätigen Methoden der Unterdrückung sind der Kirche ja keineswegs fremd; sie empfindet es vielmehr als Einbruch in ihre Vormacht, wenn nun auch andere sich ihrer bedienen.«

– Endlich noch ein Satz der Freudschen Selbstkritik aus diesen ›Vorbemerkungen‹, der zeigt, daß er selbst den gleichen kritischen Eindruck, den wir äußerten, empfand: »Meiner Kritik erscheint diese vom Manne Moses ausgehende Arbeit wie eine Tänzerin, die auf einer Zehenspitze balanciert. Wenn ich mich nicht auf die eine analytische Deutung des Aussetzungs- Mythos stützen und von da aus zur Selinschen Vermutung über den Ausgang des Moses übergreifen könnte, hätte das Ganze ungeschrieben bleiben müssen.«

Rein analytisch scheint uns die Darstellung der doppelten und widerspruchsvollen Wirkung der Traumen – eine Tendenz will sie verdrängen, sie selbst aber wollen zum Bewußtsein durchbrechen – auf Seite 135ff besonders gut. Sie bringt ja nicht Neues, denn schließlich ist die Erkenntnis, daß es sich immer wieder um Konflikte zwischen zum Bewußtsein hinstrebenden und davon abhaltenden Kräften handelt, die Grundlehre der psychoanalytischen Psychologie. Aber es wird diesmal besonders prägnant dargestellt. – Eine kritische Bemerkung würde nur hinzufügen, daß vielleicht nicht genug betont ist, daß, wenn ›vergessene Tatsachen wieder bewußt werden wollen‹, dies deshalb geschieht, weil diese Vorstellungen Triebe repräsentieren, wir kommen darauf zurück.

Wenn Freud sodann daran geht, die Wiederkehr des Monotheismus der Wiederkehr einer verdrängten Erinnerung aus der Verdrängung zu vergleichen, so gibt er Anlaß zu all den Einwänden, die wir vorher im allgemeinen <1144> Teile formuliert haben:

Nach einer Latenz-Zeit ›drängte‹ ›die prähistorische Tragödie‹ aus der Verdrängung heraus wieder ›nach Anerkennung‹. »Was diesen Prozeß in Gang brachte, ist nicht leicht zu erraten. Es scheint, daß ein wachsendes Schuldbewußtsein sich des jüdischen Volkes, vielleicht der ganzen damaligen Kulturwelt bemächtigt hatte als Vorläufer der Wiederkehr des verdrängten Inhaltes.« Stellen wie diese scheinen uns besonders ungenügend. Woher kam das ›wachsende Schuldbewußtsein‹?

– Sogar wenn man den Ausbruch der Neurosen eines einzelnen Individuums untersucht, findet man immer wieder Anlässe, die die Mobilisierung der verdrängten Inhalte verschuldeten. Es muß eine Störung des Gleichgewichtes zwischen verdrängenden und verdrängten Kräften stattgefunden haben, sei es durch eine Verstärkung der verdrängten infantilen Triebe (was wieder sowohl direkt durch eine Mobilisierung dieser Triebe als auch indirekt durch eine Versagung im Bereich der erwachsenden Triebe verursacht sein kann), sei es, daß die den verdrängten Trieben entgegenstehende Angst vergrößert wurde. Aber nicht einmal in diesem Sinne sucht Freud eine Antwort auf die Frage zu geben, warum der Moses-Mord und hinter ihm der Urvater-Mord gerade zur Zeit der Jahve-Überwindung und nachher wieder gerade zur Zeit von Christus ›im Unbewußten der Masse‹ mobilisiert worden sein sollte. Von der realen Situation der damals lebenden Menschen ist überhaupt keine Rede!! Daß die ›Erlöser-Phantasie‹ nicht zur Mobilisierung von Unbewußten ist, sondern Flucht aus einer realen Not, aus der man sich nicht selbst zu befreien im Stande ist, wird nicht erwähnt. Deshalb möchte ich fast sagen, daß über die Psychologie des Urchristentums in der diesbezüglichen Arbeit von Fromm[7]   mehr gesagt ist als in dem betreffenden Kapitel im neuen Buche Freuds.

– Aber auch im rein psychologischen Bereich scheint mir hier etwas zu fehlen: Freud spricht immer davon, daß ›Traumen‹, Erinnerungsspuren an eindrucksvolle Erlebnisse, die verdrängt worden waren, eine Tendenz haben, wieder aufzutauchen. Aber er spricht nicht davon, was in seinen rein psychoanalytischen Werken die Hauptrolle spielt, daß sie diese Tendenz nur deshalb haben, weil die verdrängten Eindrücke Repräsentanten bestimmter Triebansprüche sind. Es ist doch der aktuelle Impuls, ›den Vater zu töten‹, d.h. gegen die heute aktuelle Autorität aufzutreten und die positive Abhängigkeit von dieser <1145> aktuellen Autorität, die evtl. Erinnerungen mobilisiert an das, was seinerzeit geschehen war, als man sich schon einmal in der Auflehnung gegen eine Autorität, die man gleichzeitig liebte, versucht hatte. – Bei allem wird ›das Volk‹ als Einheit betrachtet, während es in Wahrheit aus einander feindlichen Gruppen mit entgegengesetzten Interessen und Tendenzen zusammengesetzt ist.

Auf den Seiten 162ff finden wir eine Psychologie des Antisemitismus. Auch hier wird nur die tiefen-psychologische Voraussetzung des Antisemitismus besprochen, nicht aber, was ihn akut zur Wirklichkeit macht. Was hier fehlt, ist die Erklärung der ›Sündenbock‹-Theorie, der Notwendigkeit, in den unterdrückten Minoritäten jemanden zu finden, gegen den akute berechtigte Auflehnungstendenzen der Masse abgelenkt werden können! – Die Erklärung der tiefen-psychologischen Voraussetzungen deckt sich weitgehend mit der, die ich in meiner Arbeit über Antisemitismus auseinandergesetzt habe, darüber hinaus werden zwei Momente erwähnt, an die ich nicht gedacht habe und die wahrscheinlich wesentlich sind: 1. daß die ›Wirtsvölker‹ eine Art Geschwister-Eifersucht gegen das ›vom Vater bevorzugte Kind‹ empfinden, 2. daß der Judenhaß eigentlich ein Christenhaß sei.

Warum kam die innere Entwicklung des Mohammedanismus so rasch zum Stillstand? Freud schreibt: »Vielleicht, weil es an der Vertiefung fehlte, die im jüdischen Falle den Mord am Religionsstifter verursacht hatte.« Ich weiß nicht, warum es geschah. Aber den Freudschen Vorschlag möchte ich keinesfalls akzeptieren. Auch da die merkwürdige Außerachtlassung aller historischen Faktoren! – Wenn man, über die speziellen historischen Faktoren hinausgreifend, nach einer allgemeinen Ursache Ausschau halten würde, so würde ich eher an das Klima als an den unterlassenen Mord an Mohammed denken.

Auf Seite 178 und 179 führt Freud die Existenz von bestimmten ›Volks- Charakteren‹ als Beweis für die Existenz der »Vererbung von Erinnerungsspuren an das von Voreltern Erlebte, unabhängig von direkter Mitteilung und von dem Einfluß der Erziehung durch Beispiele« an. Ich verstand nicht, warum. Ich erinnere daran, daß wir über die Entstehung von Volks-Charakteren eine prinzipielle Diskussion hatten, wo es uns ganz klar erschien, daß teils direkte, teils indirekte Tradition (Erziehungsinhalt und Erziehungsmethoden) sie formen; was vererbt sein mag, sind dann nicht die Inhalte, sondern bestimmte Dispositionen. »Wenn wir den Fortbestand solcher Erinnerungsspuren in der archaischen Erbschaft annehmen, haben <1146> wir die Kluft zwischen Individual- und Massenpsychologie überbrückt, können die Völker behandeln wie den einzelnen Neurotiker«, sagt Freud. Aber gerade sowohl die Kondition als auch den Hauptsatz bezweifeln wir; ich erinnere an die erwähnte Arbeit von Fromm, die uns besonders klar darlegte, warum wir ›die Völker‹ nicht ›behandeln können wie den einzelnen Neurotiker‹.

Das Argument, daß nur, was aus der Verdrängung wiederkehrt, derartig dynamische Wirkungen erzielen kann, wie es die Religion tut, hat gewiß Recht. Die Frage ist nur, was eigentlich verdrängt worden war und wann das geschah. Wir hatten bisher den Umstand, daß gewisse Konflikte um den ›unter Bedingungen gewährten Schutz eines allmächtigen Wesens‹ bestehen, in die individuelle Kindheit jedes Einzelnen gerückt, um die Explosionskraft der späteren religiösen Erscheinungen als ›regressiv‹ zu erklären.

Im Kapitel ›Der große Mann‹ diskutiert Freud eine Fragestellung, die wir schon so oft diskutiert haben. Allerdings scheinen mir seine Ausführungen widerspruchsvoll. Zuerst formuliert er den ›historisch-materialistischen‹ Standpunkt: »Die Neigung der Neuzeit geht dahin, die Vorgänge der Menschheitsgeschichte auf verstecktere allgemeine und unpersönliche Momente zurückzuführen, auf den zwingenden Einfluß der ökonomischen Verhältnisse, den Wechsel der Ernährungsweise, die Fortschritte im Gebrauch von Materialien und Werkzeugen, auf Wandlungen, die durch Volksvermehrung und Veränderung des Klimas veranlaßt werden; den einzelnen Personen fällt dabei keine andere Rolle zu, als die von Exponenten oder Repräsentanten von Massenstrebungen«, nur um ihm zu widersprechen und zu sagen, daß dank der ›Überdeterminierung‹ neben dem Einfluß dieser Faktoren auch der determinierende Einfluß ›großer Männer‹ in Betracht kommen könne.

Trotzdem führt die folgende Untersuchung, was denn ein ›großer Mann‹ sei, dazu, daß die Sehnsucht der Massen, einen großen Mann zu haben, ihn zu einem solchen macht, – daß es also das Bedürfnis nach einer ›Vater-Figur‹ ist, das den ›großen Mann‹ schafft. Damit können wir gewiß einverstanden sein. Wir werden nur hinzufügen, daß dieses Bedürfnis zu verschiedenen Zeiten in sehr verschiedenem Grade und sehr verschiedenen Formen wirksam ist und daß diese Verschiedenheit wieder von ›materiellen Bedingungen‹ abhängt. Bei der Schilderung des großen Mannes werden wir wieder einmal daran erinnert, wie alle Autorität auf das berühmte ›Schutzversprechen‹ durch Partizipation bei Einhaltung gewisser ›Gehorsams‹-Bedingungen zurückgeht. Die Frage, die Freud am Ende dieses Kapitels stellt, warum ein Volk »so viele Personen hervorbringen <1147> konnte, die bereit waren, die Beschwerden der Moses-Religion auf sich zu nehmen für den Lohn des Auserwähltseins und vielleicht noch andere Prämien von ähnlichem Range« (also: die bereit waren, auf eigene Aktivität zu verzichten für den Lohn der Partizipation), – müßte sich historisch- materialistisch beantworten lassen!

Das folgende Kapitel ›Der Fortschritt in der Geistigkeit‹ scheint mir sehr beachtenswert. Es ist ja geradezu ein Spezial-Beispiel für das allgemeine Prinzip ›Umstrukturierung der Massen durch Partizipation‹. Der Narzißmus der ›großartigeren Gottesvorstellung‹ ist ja nichts anderes als die Partizipation an einer größeren Allmacht! – Ein Einwand, der sich mir bei der Lektüre aufdrängte, von dem ich aber nicht sicher weiß, wieweit er berechtigt ist: Ist das Verbot, sich ein Bild von Gott zu machen, nicht vielleicht universeller und nicht speziell jüdisch? – Aber selbst wenn dies nicht der Fall wäre, ist es kein Zweifel, daß das Gefühl einer ›Partizipation am Großartigeren‹ den jüdischen Stolz ausmacht. Es ist nichts anderes als das Bewußtsein, an einem höheren Geiste teilzuhaben, das dem armen, getretenen und angespuckten Juden der ›jiddischen Stettel‹ doch das Gefühl gibt, den ›Gojim‹ unendlich überlegen zu sein! – Daß auch der Übergang zum Patriarchat ein ›Fortschritt in der Geistigkeit‹ ist, leuchtet ebenfalls ein. Es drängt sich aber die Frage auf, was diesen ›Fortschritt‹ veranlaßte.

Immerhin kann man hier Freud nicht den Vorwurf machen, daß er alle diese Veränderungen auf irgend welche spontane ›Rückkehr des phylogenetisch Verdrängten‹ zurückführen will, da er ausdrücklich schreibt: »Es geschah unter dem Einfluß äußerer Momente, die wir hier nicht zu verfolgen brauchen, die zum Teil auch nicht genügend bekannt sind.«

Im folgenden Kapitel ›Der Triebverzicht‹ wird zwar klar, daß die hohe Wertung des ›Triebverzichtes‹ von Außen aufgezwungen wird; wobei es interessant wäre, genauer zu verfolgen, wie sich die Über-Ich-Prämien, die man für den Triebverzicht erhält und die die seinerzeitigen Prämierungen durch den Vater widerspiegeln, mit einer Genugtuung vom Charakter der ›Funktionslust‹ verdichten, d.h. mit der Lust ›ich brauche mich nicht mehr zu fürchten‹; trotzdem scheint mir auch in diesem Kapitel die alte Meinung von Freud, Triebverzichte wären für die Kultur schlechthin notwendig, erhalten zu sein. – Wie im Verlauf der Entwicklung der Religion die ›Bedingungen‹, die erfüllt sein müssen, wenn man der Liebe Gottes versichert sein will, immer mehr den Charakter von ›Triebverzichten‹ annehmen, ist auf Seite 210 und den folgenden Seiten sehr gut geschildert. Es fehlt leider die soziologische Untersuchung, warum dem so ist. Die Schlußworte, daß das, <1148> was uns an der Ethik »großartig, geheimnisvoll, in mystischer Weise selbstverständlich erscheint«, »diese Annahme im Zusammenhang mit der Religion ihre Herkunft aus dem Willen des Vaters verdankt«, sind gewiß richtig. Aber was bestimmt den ›Willen des Vaters‹?

Im Kapitel ›Die Wiederkehr des Verdrängten‹ drängt sich vor allem die Frage auf, die wir schon im allgemeinen Teil besprochen haben: Wir stellen uns vor, daß die ›Wiederkehr des Verdrängten‹ in der einzelnen Seele daher kommt, daß die verdrängten Inhalte Triebansprüche repräsentieren, die kein anderes Interesse haben, als zum Bewußtsein durchzubrechen; die Beziehung der ›Erinnerung an verdrängte Traumen‹ mit ›Triebansprüchen‹ wird zwar auf Seite 224 ausdrücklich erwähnt, ihre Anwendung auf das angeblich ›phylogenetisch Verdrängte‹ dürfte aber neue Schwierigkeiten ergeben.

Der Schluß dieses interessanten Buches offenbart gleichzeitig auch wieder ganz seine Schwäche. In der Besprechung der Entwicklung des Christentums heißt es da: »Die weitere Entwicklung geht über das Judentum hinaus. Das übrige, was von der Urvater-Tragödie wiederkehrte, war mit der Moses-Religion in keiner Art mehr vereinbar. Das Schuldbewußtsein jener Zeit war längst nicht mehr auf das jüdische Volk beschränkt, es hatte als ein dumpfes Unbehagen, als eine Art Unheilsahnung, deren Grund niemand anzugeben wußte, alle Mittelmeervölker ergriffen. … Ich vermute, die Geschichtsschreibung unserer Tage hat nur Gelegenheitsursachen und Beihilfen zu jener Völkerverstimmung erfaßt. … Mit der Kraft, die ihm aus der Quelle historischer Wahrheit (des Urvater-Mordes) zufloß, wirft der neue Glaube alle Hindernisse nieder.« – Es scheint mir, als ob die ›Gelegenheitsursachen und Beihilfen‹, d.h. die historischen Bedingungen, die Ursprung, Verbreitung und Schicksalsveränderung des Christentums zur Folge hatten, (siehe andeutungsweise bei Fromm), doch unvergleichlich größere Bedeutung hätten!


Fussnoten

zum Seitenanfang

1)Freud, Sigmund (1939a): Der Mann Moses und die monotheistische Religion: Drei Abhandlungen. G.W., Bd. 16, 103-246.

2)Reik, Theodor: Dogma und Zwangsidee. Eine psychoanalytische Studie zur Entwicklung der Religion. Leipzig, Wien, Zürich 1927 (Int P V).

3)Freud, Sigmund (1921c): Massenpsychologie und Ich-Analyse. G.W., Bd. 13, 71-161.

4)Freud, Sigmund (1912-13a): Totem und Tabu. G.W., Bd. 9.

5)Fenichel, Otto:ÜberTrophäe und Triumph. Z 24, 1939, 258-280. OF-A II, 159-182; Trophy and Triumph. OF-CP 2, 141-162.

6)Vgl. RB 56, Punkt 12.

7)Fromm, Erich: Die Entwicklung des Christdogmas. Eine psychoanalytische Studie zur sozialpsychologischen Funktion der Religion. Wien 1931. (Int P V).

2013 || theoriepraxislokal.org