Dienstag, 30. November, 20 Uhr:

Luthertum und Deutschtum - Protestation und Ausdruck einer Misere.

 

»Ein amerikanisch-deutscher Film über das Leben Martin Luthers stellt den berühmten Reformator nicht als Antisemiten und Vorbereiter des Holocaust dar, sondern als »Rebellen, Genie und Befreier«. Und als den Mann, der moderne Religionsfreiheit und Pluralismus durchzusetzen half. Dass die Deutschen heute auf diese neue Weise Anspruch auf die eigene Geschichte erheben, hat einen einfachen Grund: Keine Nation von Bedeutung kann ihre Angelegenheiten regeln, wenn sie ausschließlich in Sack und Asche geht.« (Zeit/22.07.04).

Viel Jubel für Luther, den Deutschen - damals wie heute. Dem wollen wir uns nicht anschließen. Über den LUTHER-FILM ist kein Wort zu verlieren. Er bleibt noch hinter dem zurück, was früher im Konfirmationsunterricht zu erfahren war. Wie steht es aber mit Luther selbst als historischer
Figur. Wir wollen einmal seiner berühmt-berüchtigten Arbeitsethik nachgehen, wie am stringentesten sie Max Weber nachgezeichnet hat. Stimmt dieses Bild wirklich? Und inwiefern ist der Kult der ARBEIT AN SICH typisch deutsch, wenn doch den skandinavischen Ländern, die den Lutheranismus zum Teil schneller annahmen als viele deutsche, dergleichen selten nachgesagt wurde. Und wie hängt der fanatische Antisemitismus, den Luther in seinen letzten Jahren entwickelte, mit seiner Verehrung der Arbeit zusammen? Zu überprüfen wäre dann vor allem Luthers Zwei-Reiche-Lehre, die ideale Möglichkeit, über den Dingen zu stehen und doch bei allem mitzumachen, Untertan und Rebell zugleich zu sein. Hat sie nicht tiefer gewirkt als jede andere seiner Aussagen? Grundsätzlich wäre zu untersuchen: wie kann die Lehre einer einzelnen Person für den »Charakter« eines ganzen Volkes (wenn es den geben sollte) so prägend bleiben, wie oft von links wie rechts behauptet wird? Verträgt sich eine solche Einflusslehre mit dem Anspruch eines historischen Materialismus, das Verhalten der Menschen aus den zu ihrer eigenen Lebenszeit herrschenden Verhältnissen zu erklären?

Religionskritik heute?

Die Kirchen stehen ziemlich leer, die PastorInnen verwalten soziales und psychisches Elend flächendeckend und führen auf Montagsdemonstrationen das große Wort, zur Domäne der moralisierenden deutschen Linken sind die Grenzen fliessender denn je ... Über die Grundfragen des Katechismus weiß kaum jemand Auskunft zu geben. Dennoch soll der religiöse Reformator und Religion überhaupt an so vielem schuld sein. Ist denn aber nicht »das religiöse Elend in einem der Ausdruck des wirklichen Elends und die Protestation gegen das wirkliche Elend«, ist nicht auch »die Kritik der Religion« selbst eine – wenn auch elende – Kritik (Karl Marx)?

Was könnte das heissen: »Negative Theologie« (Adorno, W.Benjamin)? Wie ist die Wirkungsmächtigkeit »des Reformators« zu erklären, der »die Pfaffen in Laien verwandelt, weil er die Laien in Pfaffen verwandelt hat« und der »die Religiosität zum inneren Menschen gemacht hat« (Marx), und hat er nicht -- ausgehend von »der radikalsten Tatsache der deutschen Geschichte« – dem Bauernkrieg um 1525 und der siegreichen Konterrevolution, mit der Luther paktierte – bei den »Deutschen« die Knechtschaft aus Devotion besiegt, weil er die Knechtschaft aus Überzeugung an ihre Stelle gesetzt hat«? Die Beschäftigung mit der Rolle Luthers in der deutschen Geschichte soll zugleich eine neuerliche Annäherung an Religionskritik überhaupt ermöglichen. »... , und die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik.« (Karl Marx)

TheoriePraxisLokal gibt an diesem Abend einen Problemaufriss als Anregung, wie eine kritisch-historische (anstatt bloß moralisierende) Bekämpfung der deutschen Ideologie möglich wäre.

2013 || theoriepraxislokal.org