Fetisch – Spektakel – Entwendung: 
Zur praktischen Aktualität der situationistischen Kritik. Referent: Claus Baumann, S.I.-Archiv Stuttgart

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Veranstaltungs-Ankündigung zum 10.4.2002

Heutzutage scheint die reale Möglichkeit einer bewussten revolutionären Umgestaltung der Weltgesellschaft – vor allem in den Metropolen des Kapitals – hin zu einer Gesellschaft der »generalisierten Selbstverwaltung« (Ausdruck der Situationistischen Internationale 1968) ferner denn je, obgleich es um die objektiven Möglichkeiten für ihre Verwirklichung noch nie so gut bestellt war. Diese Situation wirft die Frage auf, wie aus dem Hier-und-Jetzt die Perspektive einer »Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden Individuums die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist« zur gesellschaftlichen Wirksamkeit gebracht werden kann.

Aktuelle Bezugnahmen auf die Situationistische Internationale (S.I.,1958-72) sind nun mittlerweile wieder groß im Kommen. Das Spektrum der Sichtweisen reicht vom Bild der S.I. als einer sich politisch inszenierenden Kunstavantgarde, als Vorläuferin der Spontibewegung und Modell einer Spaßguerilla, über die Stichwortgeberin der Postmodernen bis zum untergründigen Faktor für die Punkbewegung ... All diesen Aktualisierungsmotivationen ist die Unterbelichtung bzw. Ausblendung entscheidender Momente der situationistischen Theorie und Praxis gemeinsam: radikalste Kritik der dem Kapitalismus zugrunde liegenden Wert- und Warenform; von da aus sowohl Kritik des kapitalistischen Alltagslebens wie der Kunst, Kultur, Wissenschaft und aller sonstigen, bürokratischen Spezialisierungen; radikalste Desillusionierung der linken Praxis- und Organisationsvorstellungen (stalinistischer, trotzkistischer, maoistischer, reformistischer oder anarchistischer ... Spielart), ohne sich jedoch auf eine praxisfeindliche, kontemplativ-theoretisierende »kritische Kritik« (Marx) zurückzuziehen. Im Gegenteil ist beeindruckend, wie es der S.I. gelang, in ihrer konsequenten Suche nach den modernen Möglichkeitsbedingungen kommunistischer Revolution als »Theoretiker- und ExperimentatorInnengruppe« Daseinsformen und Existenzbestimmungen revolutionärer Praxen kategoriell-begrifflich auszudrücken, die eine defetischisierende Kritik aller bestehenden Verhältnisse in Richtung ihrer praktischen Negation treiben.

Entgegen dem vorherrschenden, »prosituationistischen« Trend der aktuellen Bezugnahmen auf »den Situationismus« wird im Rahmen dieser Diskussionsveranstaltung der Begriff und die Theorie des »Spektakels« herausgearbeitet, womit es der S.I. gelang, die Marxsche Verdinglichungskritik vom »Waren-und Kapitalfetischismus« auf die Höhe der Zeit zu bringen: wie verhalten sich »Fetischcharakter« und »spektakuläre Warenproduktion« zueinander? Von dieser nur scheinbar rein-theoretischen Grundlage kann der Fragehorizont nach den Möglichkeiten einer organisierten revolutionären Praxis mittels des Begriffs der »Entwendung« in angemessener Weise eröffnet und davon ausgehend auch die Aktualität der situationistischen Kritik sowie ihre Praxisrelevanz in unserer heutigen Situation diskutiert werden. Eine wenigstens oberflächliche Kenntnis der Marxschen Wertformanalyse und Fetischkritik wird allerdings vorausgesetzt.

 
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Bericht über die Veranstaltung (Diskussionsprotokoll, nach den Aufzeichnungen von P.C.)

Da die Veranstaltung einschliesslich Diskussionsteil mitgeschnitten wurde und in dieser Sommerpause auf unserer web site in überarbeiteter Fassung zusammen mit weiteren uns vorliegenden Gesamtdarstellungen der Situationistischen Internationalen (1958-72) aus der neuesten Zeit zur Verfügung stehen wird, beschränken wir uns hier im wesentlichen auf ein Resümee der Diskussion.

Der Vortrag war ausserordentlich abendfüllend, systematisch, philosophisch einigermaßen anspruchsvoll (d.h.: er bewegte sich streng entlang den Schlüsselkategorien revolutionärer Theoriebildung in der dialektischen Hegel-Marx-Benjamin-Debord-Linie) und stellte einen der raren Versuche einer Gesamtdarstellung der situationistischen Theoriebildung dar. Anknüpfend an unseren ersten, hinführenden Vortrag zur SI-Geschichte und Theorie/Praxis vom Mai 2000, wurde im Vortrag, konkreter dann in der Diskussion, eine weitere, nähere Fokussierung der Praxis-Auffassung der SituationistInnen sowie eine Heranführung an aktuelle Probleme der »Rekuperation« (d.h.soviel wie »Besetzung und Beschlagnahmung durch den Feind«, sprich: Aneignung rebellischer Gesten durchs Kapital, mittels Kulturindustrie/Werbung, Kunstbetrieb/ »Avantgarde«/ Pop, brave-new-world der »repressiven Entsublimierung«, Selbstausbeutungstechniken à la team-Arbeitswelt etc.) versucht.

Der Vortrag hob sich angenehm ab von den gängigen, oberflächlich-anekdotenhaften »Situ«-Schwärmereien, aber auch von den re-ästhetisierenden high-brow-Vereinnahmungsversuchen durch eine kulturalistisch-akkomodierte (Ex-)Linke. Er ging nüchtern, durchaus SI-kritisch aus von dem »auf den ersten Blick anscheinend widerspruchsvollen Spannungsverhältnis eines Optimismus revolutionärer Möglichkeiten in einem durch Wert- & Warenformen vorgegebenen Möglichkeitsspielraum einerseits - und andererseits theoretischer Desillusionierung und Kritik von dahergebrachten Revolutionsvorstellungen, seien sie romantisch-anarchistisch oder parteizentriert (..)«. Die »Kategorie objektive Möglichkeit« erwies sich überhaupt als der rote Faden in dem gesamten Problemaufriss. Folgerichtig beherrschte der Streit um die Möglichkeiten der Subjektivität, um die Stelle der »Subjekte« (wer sollen die allererst sein oder werden?!) die Diskussion.

Drei Komplexe seien hier herausgegriffen:

1. Proletarität und Abwehr

2. Glücksanspruch und -vorstellungen, radikale Bedürfnisse

3. Langeweile und Kunstreligion

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Zum ersten Streitpunkt:

- wieso macht die SI gerade in ihrer Zeit den allgemeinen Abschied-vom-Proletariat nicht mit, wie lässt sich das ausgerechnet mit ihrer unbedingten Modernität und unserer »condition postmoderne« heute vereinbaren? - teilten sich die Diskutierenden wie üblich in zwei Lager: während die einen vom gerade unmittelbar gegebenen und augenscheinlichen Bewusstseinszustand der Lohnabhängigen ausgehen (als läge der so klar zutage und als überblickten und durchschauten »wir« ihn überhaupt in phänomenologischer Exaktheit schon) und von daher aufs quasi Nicht(mehr)vorhandensein eines Proletariats als Klasse und gar mögliches revolutionäres Subjekt sich berufen, bringen die anderen den objektiv-historischen Übergangscharakter der Kategorie »Proletariat« und der Klassentheorie von Marx in Anschlag, die zwischen der durchs Kapitalverhältnis nun einmal nach wie vor gegebenen »Klasse an sich« und dem vielfältigen, kompliziert-bewegten Auf und Ab zu den Aggregatzuständen einer »Klasse an- und fürsich« zu unterscheiden versucht, wo keine Große Mauer zwischen Objektivem und Subjektivem bestehen kann.

In Zitaten ausgedrückt: wenn die einen mit Adorno kommen: »Soziologen aber sehen der grimmigen Scherzfrage sich gegenüber: Wo ist das Proletariat?« - kommen die anderen immer wieder mit Marx: »Die Arbeiterklasse ist revolutionär, oder sie ist nichts.« Die Situationisten stellten zwar die Frage ihres Zeitgenossen Adorno ebenso eindringlich, mochten jedoch nicht bei ihrer zynischen Selbstbeantwortung als rhetorischer »Frage« stehenbleiben und versuchten die Spannung des Marxschen »Oder« gegen die soziologische Konstatierung eines historischen und regionalen Ist-Zustandes zur Geltung zu bringen. Zu diesem Zweck experimentierten sie praktisch (dérive, psychogéographie, détournement, ...) und theoriepraktisch (statt akademisch) mit Möglichkeitsspielräumen zwischen waren - & kapitalfetischistischen Bewusstseinszuständen und Defetischisierungsformen (spektakuläre Warenproduktion - antispektakuläre Entwendung in Kämpfen und Kritik).

Hier verwies der Referent noch einmal strikt und nüchtern auf die dialektische Grundlage für solches Tun: ab Hegel bezeichnet die Kategorien-Triade vom »Ansich(sein)« lediglich den Möglichkeitsraum, vom »Fürsich(sein)« dessen zu erschliessende Vielfältigkeit, vom »An- und Fürsich(sein)« dann erst die Reflexion dieser Vielfältigkeit auf den Möglichkeitsraum. Von der augenfälligen zeitweiligen »Abwesenheit« und »Zerstreuung« (S.I.) eines neuzusammengesetzten und neugezüchteten Weltproletariats als zu Kämpfen genötigter Klasse-an-sich bis zur Bewusstheit als möglichem Subjekt der überfälligen Umwälzung finden sich die immer neu und immer weiter Proletarisierten zunächst passiv in Situationen gestellt und zugleich in eine immer explosivere Bedürfnislage, Anspruchsmentalität, Glücksverheissung durchs spektakuläre Kapital gebracht, so dass die aktive »Konstruktion von Situationen« in Sicht- und Greifweite gerät, wo die Aneignung der enteigneten »gesellschaftlichen Raum-Zeit« aus Lohnarbeits- und »Frei«zeit-Alltag heraus punktuell bis revolutionär gelingen kann (staatsmonopolistisch kann sie ebensowenig gelingen wie spontaneistisch-unorganisiert): »bis die Situation geschaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht« (Marx über die proletarische Revolution)

Von der Marxschen Offenheit der Proletariatsbestimmung zwischen ökonomisch-objektivem und revolutionär-subjektivem Pol zwar ausgehend, versuchten jedoch die SituationistInnen eine konzentriertere Zuspitzung zu formulieren, indem sie als proletarisierte Menschen zunächst graduell alle diejenigen definierten, »denen es ganz und gar unmöglich ist, die gesellschaftliche Raum-Zeit zu verändern, die die Gesellschaft ihnen zum Konsum zuteilt (auf den verschiedenen Stufen des erlaubten Überflusses und Aufstiegs)« (SI-RevueN°8, dt.Bd.II,S.18), indem sie aber später noch das Subjektivitätskriterium hinzusetzten: »Proletarier ist der, der keine Macht über den Gebrauch seines Lebens hat und der das weiss«.

In dieser kühnen Engführung von objektivem und subjektivem Kriterium lauert allerdings eine Verengung und Verschiebungsgefahr auf die bereits revolutionär Bewussteren, womöglich subjektiv kommunistischen Elemente, dieses Risiko ist allerdings höchst anregend-anspruchsvoll. Schliesslich kommt der organisierten Reflexion auf die Möglichkeitsspielräume durch die bewussten Elemente im Proletariat die entscheidende Rolle zu, ohne dass diese zu einer »Repräsentation« (»Partei des« Proletariats, »Avantgarde« etc.), zum spektakulären Bild der Revolution erstarren darf. So bezeichneten sich die SituationistInnen einfach als Experimentatoren- und TheoretikerInnen-Gruppe: »Die Revolution ist aufs neue zu erfinden -das ist alles.« Für diese Arbeit entwarfen sie auch eine »Minimale Definition der Revolutionären Organisation«. Als solche »Organisation im Werden« (Lukács) gaben sie entscheidende Impulse für den proletarischen Revolutionsanlauf in Frankreich 1968 und lösten sich 1972 auf, als sie feststellten, dass sie in dieser Form nicht nur das Optimum für »die S.I. in ihrer Zeit« zustandegebracht hatten, sondern daraufhin selber auch schon zu einem spektakulären Bild, dem »prosituationistischen« label (»die Situs«) für gewisse Linke-Führungskräfte-Ambitionierte geworden waren.

Der Referent kennzeichnete abschliessend als »Leistung und Grenzen der S.I.« aus heutiger Perspektive, u.a.: »Blinde Flecken: Kritik am Antisemitismus; Kritik des Geschlechterverhältnisses; aber auch Weiterentwicklung bestimmter Kategorien der Kritik der politischen Ökonomie« und schloss: »Heutzutage muss man noch skeptischer sein, was die angenommene systemsprengende Kraft radikaler Bedürfnisse betrifft.« Aber: »Wichtiger Anschluss, der heutzutage verschüttet scheint: Negation und objektive Möglichkeit: Neugewinnung der Kategorie 'Negation' sowohl in theoretischer als auch in praktischer Verwendung ('das Verdrängte der proletarischen Kritik' - S.I.). Theorie nicht Selbstzweck (wie im Akademismus), sondern Teil und Mittel einer revolutionären Praxis«.

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Damit zum zweiten Streitpunkt:

Was Marx die »radikalen« und »enormen Bedürfnisse« nennt und als revolutionären Sprengsatz »einer Welt produktiver Triebe und Anlagen« im »gesellschaftlichen Individuum« bestimmt, wurde in der Diskussion als skeptische Frage nach den aktuell vorhandenen Glücksvorstellungen aufgeworfen.

Wie Fourier, Marx, Benjamin e.a., setzten auch die SI auf diese mit der kapitalistischen Reichtumsproduktion sowohl hervorgetriebene als auch verstümmelte, enteignete und verkehrte Vielfalt der Bedürfnisse, »Begierden«, Leidenschaften, Glücksansprüche etc. Auch in dieser Diskussion blieb das Scheinproblem der »falschen« Bedürfnisse nicht aus.

Die SI nahm die existierende Bedürfnislage aber ebenso nichtwertend als solche, eben materialistisch zur Kenntnis und setzte auf sie entfremdungstheoretisch-historisch so, wie es Marx in seiner subjektivitätszentrierten Klassenbestimmung tat: »Die besitzende Klasse und die Klasse des Proletariats stellen dieselbe menschliche Selbstentfremdung dar. Aber die erste Klasse fühlt sich in dieser Selbstentfremdung wohl und bestätigt, weiss die Entfremdung als ihre eigne Macht und besitzt in ihr den Schein einer menschlichen Existenz; die zweite fühlt sich in der Entfremdung vernichtet, erblickt in ihr ihre Ohnmacht und die Wirklichkeit einer unmenschlichen Existenz. Sie ist, um einen Ausdruck von Hegel zu gebrauchen, in der Verworfenheit die Empörung über diese Verworfenheit, eine Empörung, zu der sie notwendig durch den Widerspruch ihrer menschlichen Natur mit ihrer Lebenssituation, welche die offenherzige, entschiedene, umfassende Verneinung dieser Natur ist, getrieben wird.« (MEW 2,S.37).

Die Situationisten klagten diesen radikal historisch-«anthropologischen« Ansatz vom menschlichen Bedürfniswesen gerade erneut im consumer-capitalism provokativ gegen die damals auf breiter Front einsetzende »antihumanistische« Mode der linken Strukturalisten, kommenden poststrukturalistischen Professoren und Marxbelächler/Marx-Aufspalter (wie Althusser, Castoriadis e tutti quanti mit ihrem »Bruch« im Marx-Ansatz) energisch ein, um über die Ideologie des ur-bürgerlichen, beliebigen (in der Folge dann auch postmodernistisch zu-sich-gekommenen) »pursuit ofhappiness« hinaustreibend den Glücksanspruch des kommunistischen Gesellschaftsindividuums, die wissenschaftlich-kommunistische Richtung auf »Resurrektion der Natur«, »Humanisierung der Natur und Naturalisierung des Menschen« usw. (Marx) in Anschlag zu bringen.

Wie in der Diskussion nachgetragen wurde, hatte schon Marx die klassisch-bürgerliche Vorstellung bei Adam Smith auseinandergenommen, nach der »Freiheit und Glück« nur jenseits der Arbeit (da diese nur vorstellbar als Erwerbsarbeit) im Sinne von Opfer-Verdienst zu haben sind, nämlich jenseits »der« Arbeit in der Sphäre der »bloßen Ruhe«, sprich »Freizeit« (in der Folge dann spiegel verkehrt als »Lob der Faulheit« etc.). Diesem bürgerlichen Dualismus hat schon Marx die dialektische Entfaltung der Individualität in ihrer Gesellschaftlichkeit, wie bei Fourier entworfen, gegenübergestellt: in der selbstbestimmt-assoziierten Arbeit als zu befreiendem ersten Lebensbedürfnis (travail attractif) kann sich erst kommunistisch die Dualität und das Ineinanderübergehen von gesellschaftlich notwendiger anstrengender Arbeit einerseits, Spiel andererseits und Muße als »disponible Zeit« für die Individualitätsentwicklung-als-Selbstzweck entfalten, in einer Sinnhaftigkeit, wo die Aneignung der gesellschaftlichen »power«, das Selbermachen der menschlichen Geschichte durch die bewusst kooperierenden Individuen als Abenteuer aus der blinden Vorgeschichte entfremdeter Produktionsweise heraustreten kann. Dieser historisch greifbaren Möglichkeit, so betonen erneut die Situationisten (z.B. »Die Gesellschaft des Spektakels« Thesen 178, 221), steht der Stillstand, die Fetischisierung der spektakulären Bilderproduktion vom Schein des Glücks (Familie, Urlaub, Weekend, Party etc.etc.) in der »Freizeit« und »beruflichen Karriere« etc., diese Wiederkehr des Immergleichen und modefixierter Re-volution (Zurückwälzung) innerhalb der Entfremdung, blockierend und destruktiv entgegen.

Die Situationisten machten hier den Widerspruch von »Leben« und bloßem »Überleben« auf, indem »die Gesellschaft des Spektakels« alles Erlebte und Lebensmögliche in die an die Warenproduktion »angeklebte« (Marx) »gespenstische« Bilderwelt-vom-Leben verkehrt. In der enormen kapitalistischen Reichtumsproduktion erleben wir so nur »die Armut im Reichtum« und »den immer reicher werdenden Entzug«, erfahren im lohnarbeitenden Überleben in der bürgerlichen Freiheit & democracy im allgemeinen kein besonderes Unrecht, »sondern das Unrecht schlechthin, an den Rand des Lebens gedrängt zu sein« (Marx, Debord). Von daher kann auch der situationistische Glücksbegriff kein naiv-kitschiger, lebensphilosophischer oder poplinker repressiv-entsublimierender, sondern immer nur ein kritisch-negatorischer »der destruktiven Partei« (Marx), »des destruktiven Charakters« und »des Missvergnügten« (Benjamin) in und gegenüber allen spektakulären Glücksauslagen sein. (Nicht mit asketischer oder kulturpessimistischer Attitüde zu verwechseln.)

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Damit stand, drittens, die Funktion und Möglichkeit von Kunst zur Disposition.

Hier besonders prallen damals wie heute die Stellungnahmen zur S.I. unversöhnlich aufeinander. Viele sehnen sich inbrünstig nach der Anfangsphase der S.I. (ca. 1957 - 62) zurück, in der dort Künstler eine Heimat und Wirkungsstätte gefunden zu haben glaubten, mit der sie die Welt »avantgardistisch« aufrollen und zwischen »Technik des Welt-Coups« und staatlich subventioniertem alternativem Städtebau, durch Happening oder einfach qua übermaltem Tafelbild etcpp. in ihrem Sinne neukonstruieren könnten.

Das Proletariat (oder auch eher lieber nicht) als Resonanzboden fürs kreative Spiel Einiger und deren »große Gelegenheiten, sich in der bestehenden Kulturpolitik durchzusetzen«, wie es der damals mit den Nur-Künstlern , den Schwabingern, Kunzelmann e.a. hinausgeworfene Heimrad Prem so klassisch formuliert hat (nachzulesen in: SI-RevueN°7,dt.Bd.I,280ff), denn was die Lohnabhängigen betrifft, so »will die Mehrheit immer noch nur den Komfort«, und parallel dazu sind diese Avantgardisten der Praxis damals wie heute ohnehin der Auffassung, dass »die theoretische Macht in der heutigen Zeit unfruchtbar und unfähig ist, die Dinge praktisch zu modifizieren«, »dass die situationistischen Theorien zumindest wenig verständlich seien«, während das Intervenieren in Kulturpolitik und Kunstbetrieb die einzige Macht der »situationistischen Künstler« sei: »diese aber uns greifbar nahe liegende Macht könne sehr groß sein. Die S.I.-Mehrheit sabotiere die Chancen einer wirksamen Aktion auf dem Gebiet des Möglichen. Sie schikaniere die Künstler, denen es gelingen könnte, etwas zu tun; sie werfe sie in dem Augenblick hinaus, wo sie anfangen, eine gewisse Macht zu haben.« - so die stets die Situationisten einst und jetzt begleitende künstler-»avantgardistische« Weheklag.

Die S.I.-Konferenz von Göteborg stellte demgegenüber schon damals fest, »dass in einigen Ländern der S.I. fremde und sich avantgardistisch nennende Künstler zu erscheinen beginnen, die sich auf 'den Situationismus' berufen bzw. ihre Werke als mehr oder weniger situationistisch bezeichnen. Diese Tendenz wird natürlich zunehmen, die S.I. braucht sich darum nicht zu bemühen. Zur selben Zeit, in der sich verschiedene konfuse Fälle von Sehnsucht nach einer positiven Kunst situationistisch nennen,« - klärte die S.I. ihren Begriff und ihre Zweckentfremdung von Kunst und Kultur-Objektivationen ein für allemal: Die Kunst, insbesondere als »Avantgarde«, kann im modernen Kapitalismus nur als musealisierter, konterrevolutionärer stinkender Leichnam »überleben«, als »radioaktiver Kadaver« (Vaneigem) von Gnaden des Staats und des Kapitals selbst. Sie ist nicht zu »retten«, »revolutionieren« oder avantgardisieren ad infinitum, sondern so radikal zu kritisieren und praktisch zu negieren, wie Feuerbach das entfremdende Wesen der Religion und Marx den religiösen Opiumkrieg der bürgerlichen Entfremdung kritisiert.

In der revolutionären situationistischen Analyse ist die Kunst heute unwiderruflich spektakuläre Form der Religiosität, untrennbar von der Wert- und Warenform, ja deren Apotheose selbst. Sie kann nicht mehr wirklich kritisch sein noch werden. Ihre radikale Negation aber kann nur ihre Aufhebung in die kommunistische Revolution, die Verwirklichung ihrer ästhetischen Inhalte in der proletarischen Revolution sein, in der das Proletariat sich selbst aufhebt und die Sphärentrennungen (Ökonomie, Politik, Ästhetik etc.) gleich mit. »In einer kommunistischen Gesellschaft gibt es keine Maler, sondern höchstens Menschen, die unter anderm auch malen« (Marx, MEW 3,378f). Die ästhetische Substanz (aisthesis = sinnliche Erkenntnis) kann aber auch nur durch ihre Entwendung und Umsetzung in revolutionäre Aktionsformen befreit, gerettet werden (ist also das Gegenteil von Ikonoklasmus). Die Lettristen und Situationisten kritisierten von Anbeginn die Surrealisten als ihre Vorläufer, weil diese das revolutionäre Programm der Verwirklichung und Freisetzung der Kunst ins Alltagsleben nicht eingelöst, sondern ihre Produktion musealisiert hatten.

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Damit hängt das Problem der Langeweile zusammen,

das die Situationisten in die Leitformel fassten: »Die Langeweile ist konterrevolutionär.« In unserer kontroversen Diskussion wurde das von einigen wieder an der Kunstsphäre festgemacht: Die »avantgardistische« Kunst mehr noch als die Werbung sei besonders langweilig, gerade weil sie den modehaften Wechsel von archaischen, mythischen Bildern und Klischees in der Wiederkehr des Immergleichen - als zyklisches Revival - reproduziert (dafür sorgen nicht nur in erster Linie die Einfallslosigkeit, der konventionelle schlechte Geschmack und die Begriffslosigkeit, die theorielose, geschichtsbewusstlose und phantasielose Borniertheit der KünstlerInnen selber, die in erster Linie unübersehbar peinlich sich verkaufen und distinktionsgewinnlerisch absetzen wollen als »etwas einzigartig Besonderes« gegens Proletariat, dessen Teil sie objektiv de facto sind, sondern in letzter Instanz die kapitalistische Warenform und Kulturindustrie insgesamt, die sich ihre künstlerischen Ausdrucksformen ideologisch und marktgängig herrichtet, wie sie diese konjunkturbedingt gerade braucht.

Auf »Situationismus«-Spektakel-Effekte ist sie dabei besonders scharf und auf pro-situ-»AvantgardistInnen«, MuseumskuratorInnen, Kunsthochschulindoktrinäre, spextakelkonformistische Pop-& Kulturpolitmagazine, »libertäre« Verlagskartelle und die ModemacherInnen der poplinken frontline etc. besonders angewiesen...). Zum andern wurde die Langeweile als psychomentales Syndrom analysiert, das fürs moderne kapitalistische Alltagsleben kennzeichnend ist. So wurde daraufhingewiesen, dass schon S.Freud »die Nervosität« in der modernen bürgerlichen Kultur als typisches neurotisches »Unbehagen« erkannt hat und dann z.B. der kommunistische Psychoanalytiker Otto Fenichel (»Zur Psychologie der Langeweile«, 1934) »das merkwürdige Erscheinungsgebiet der Langeweile« als durch besondere libidinöse Stauung bedingte Situation untersucht hat und versuchte, den teils neurotischen, teils »berechtigten« Sinn dieser Reaktionsweise schematisch etwa folgendermaßen zu formulieren: »Ich bin erregt. Lasse ich die Erregung weiter zu, so bekomme ich Angst. Deshalb sage ich mir: ich bin gar nicht erregt, ich will gar nichts tun. Gleichzeitig spüre ich aber, dass ich dennoch etwas tun will; da ich aber mein ursprüngliches Ziel vergessen habe, weiss ich nicht was. Die Aussenwelt muss etwas tun, was mich aus meiner Spannung befreit und mir doch nicht Angst macht. Sie muss machen, dass ich handle, dann bin ich der Verantwortung enthoben. Sie muss mich 'ablenken', 'zerstreuen', damit das, was ich tue, von meinem ursprünglichen Ziel weit genug entfernt ist. Sie soll das Unmögliche möglich machen: mir Entspannung ohne Triebhandlung verschaffen.« (O. Fenichel: Aufsätze I,302).

Die SituationistInnen waren offen revolutionär-psychoanalytisch orientiert. Dass sie sowohl die berechtigte Langeweile an den Befriedigungsangeboten der spektakulären Warengesellschaft artikulierten als auch vor allem die schärfste Kritik an der »blasierten« Attitüde, sich mit dem bloßen Anschauen des kapitalistisch produzierten Scheins (von Lebensmöglichkeiten) abspeisen zu lassen und in der Kontemplation und Passivität auf ein spektakuläres Wunder oder eine Zerstreuung von aussen zu warten und diese Zeit sich mit den faden, monotonen Ersatzbefriedigungen des Angebots zu vertreiben, war für die SituationistInnen »Reaktion auf der ganzen Linie« (Lenin), denn »wie die Passivität sich bettet, so liegt sie auch.« (Debord)

Insgesamt wurde in Vortrag und Diskussion eine Rekonstruktion der Theorie von der kapitalistischen »Gesellschaft des Spektakels« versucht: der Begriff des Spektakels nicht als Medienkritik allein (in dieser Oberflächlichkeit ist die Formel längst rekuperiert und akzeptiert) sondern als konsequente, stringente Weiterentwicklung der Fetischismus-Analyse ab Marx: "Das Spektakel ist das Kapital, das einen solchen Akkumulationsgrad erreicht, dass es zum Bild wird."(Debord: Spektakelbuch These 34) - ohne aufzuhören, eine Form des materiellen Lebens der modernen Gesellschaft, "unserer" Reichtumsproduktion zu sein. Diese eigentliche Stärke des Referats kam in einer Komplexität zur Darstellung, die wir hier nicht zusammenfassen können.

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