Aus dem Zirkularbrief 3 von Oktober 2001

Bericht vom Seminar am 22.9.2001

Mao Tse Tung: »Über die Praxis«

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»Über die Praxis« wurde verfaßt 1937 in der frisch gegründeten Volksrepublik Yenan mitten im fortwährenden Krieg sowohl gegen die Truppen Tschiang Kai Scheks wie gegen die japanischen Invasoren. Was hat den seit 1935 »Vorsitzender« genannten Mao mitten im Kampfgetümmel dazu gebracht, eine so theoretische Schrift abzufassen, nebenbei gesagt die erste Erkenntnistheorie innerhalb der chinesischen philosophischen Tradition?

Eine Fußnote auf der ersten Seite der Schrift gibt Auskunft: »Über die Praxis« richtet sich gegen »dogmatische Genossen«, die »die Erfahrungen der chinesischen Revolution verwarfen«. Die Vermutung liegt nahe, dass damit die aus Moskau eingeflogenen Kommunisten gemeint waren, die sich in den Jahren 1931-1934 schon der Strategie des langen Marsches widersetzt hatten und schematisch die in der russischen Revolution erfolgreich gewesenen Rezepte der chinesischen Aufstandsbewegung aufzwingen wollten.

Der Grundgedanke der Schrift liegt im Vorrang der Praxis. Aus ihr entspringt die Theorie, die so entstandene Theorie muß wieder zur Praxis zurückkehren, sonst bleiben auch die wahrsten Gedanken totes »Buchwissen«, wie es später heißen sollte.

In der ganzen Schrift finden sich nur vier Zitate klassischer westlicher Marxisten. Selbst bei diesen liegt die Vermutung nahe, dass sie erst bei der Neuherausgabe der gesammelten Schriften eingesetzt wurden. (Unwahrscheinlich, dass gerade Lenins »Konspekt zu Hegel« schon 1937 übersetzt gewesen sein sollte).

Was ist aber genau Praxis als Wahrheits-Kriterium? Läuft Mao da nicht in die Falle des Behaviorismus, der einfachen Verhaltenskonditionierung nach Erfolg und Irrtum der Ratte im Labyrinth? Mao würde die Gefahr bestreiten, weil der Prozeß des praktischen Handelns nie abgeschlossen sein kann: Also darf der Blick sich nicht auf die Weg-Distanz vom Standort der Ratte bis zum Finden des Ausgangs beschränken, er muss sich auch auf die Herstellung des Labyrinths durch den Forscher richten, ja weiter: auf die Herstellung des Forscherhirns durch seine Lehrer und Auftraggeber usw.

Wie verhält es sich aber mit der Bindung einer jeden Erkenntnis an den Praxisstand der jeweiligen Epoche? Mao betont - natürlich mit Recht - dass im Feudalismus durch die Vereinzelung der Produktionsstätten und -weisen nur eine geringe Verallgemeinerung möglich war, deshalb auch verschiedene Erkenntnisse verschlossen. Ist damit jede Vorwegnahme späterer Erkenntnisse über die eigene Epoche hinaus unmöglich?

Die Beispiele des Thomas Morus, der in der Epoche der Frühneuzeit die Entwicklung des Kapitalismus voraussah und überspringen wollte, oder die eines Semmelweis, der mit seinen bahnbrechenden Erkenntnissen über die Entstehung des Kindbettfiebers am Ende des 19. Jahrhunderts nicht durchkam, zeigen, dass solche Vorwegnahmen durchaus möglich sind. Aber auch sie gehen aus der Praxis des jeweiligen Forschers hervor, nur können sie sich im gegebenen Augenblick nicht mit der aller übrigen »Produzenten« vereinigen.

Wichtig schien dann an Maos Beispiel der Studiengruppe in Yenan,die dort über mehrere Erkenntnisschritte zur Zustimmung zum Volkskrieg gegen die Japaner kommt, die Ablehnung der strikten Trennung von Tatbestandsaussage und Werturteil.

In der westlichen philosophischen Tradition seit Kant tritt das Sollen an das Sein gebieterisch, aber von außen heran. Für Mao ergibt die vertiefte Analyse des Wahrgenommenen in diesem selbst eine Tendenz, die das Überleben, das Weiterkommen ermöglicht. dieser muss - bei Strafe des Untergangs - zum Durchbruch, zur Entfaltung verholfen werden. Wenn wir nur zugeben, dass das Lebenwollen mit der Wahrnehmung des -eigenen und aller- Lebens unweigerlich zugleich auftritt, ist der Gedanke nicht so schwer nachzuvollziehen. Das Lebenwollen kommt nicht als ein äußeres zufällig zum Leben hinzu.

Eine ganz andere Frage: Hat die Tendenz kommunistischer Staaten, den »Ingenieuren der menschlichen Seele« in Literatur und Kunst Vorschriften zu machen, ihren Ursprung in der Behauptung - nicht nur - Maos, sämtliche geistigen Produkte hätten ihren Ursprung in der Praxis und müssten zu ihr zurückkehren. Hat das Gedicht nicht zweckfrei sich selbst zu genügen, ohne Anpflockung an äußere zu erreichende Ziele?

Die Lektüre von Maos Gedicht »Schnee« zeigte freilich, dass Praxisbezug nicht ohne weiteres Verknechtung unter vorgegebene politische Zwecke heißen muss. Unbestreitbar hätte Maos Gedicht ohne die Praxis des Langen Marsches nicht verfasst werden können; ebenso unbestreitbar enthält es nicht einfach einen Handlungsimperativ fürs Vorgehen in der nächsten Kampagne. Aber es enthält in ungeheurer Komprimierung einen Extrakt der gemachten Erfahrungen- und in der Wendung zu den eben geleisteten heutigen Taten über selbst die des berühmten Dschingis Chan hinaus die Aufforderung, diese Erfahrungen festzuhalten, nicht hinter sie zurückzufallen.

Schließlich noch ein Blick auf die Verwendung der Schrift »Über die Praxis« im Westen - in der Zeit nach 68. Mao hat den ungeheuren und notwendigen Schritt getan, aus den Beständen der eigenen Sprache und Überlieferung die Lehre des Marxismus weniger zu übersetzen als nachzuschaffen. Ihm gelang die Sinisierung der revolutionären Impulse eines Marx und Lenin.

Wir nahmen damals in »Über die Praxis« nur wahr die Möglichkeit, die Trennung von geistiger und körperlicher Arbeit zu überwinden, und damit die Absonderung der Studienräte und anderer bleicher Gestalten - nicht nur vom Proletariat, sondern vom Leben selbst. Und das sollte niemals zurückgenommen werden.

Was wir versäumten, war die Rückübersetzung des Mao-Denkens wieder in unsere eigene Welt und Umwelt. Dadurch nahm der Maoismus immer wieder die zugleich lächerlichen und traurigen Züge einer ernsten Maskerade an und mußte seinerseits in die grausige Mühle des aus »Fehlern lernen«,ohne dass wir bis heute aus dieser entscheidenden Niederlage Siege hätten machen können.

FG

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