Aus dem Zirkularbrief 3 von Juli/August 2001

Seminar-Bericht:

Althusser: Hinrichtung zur Bewährung ausgesetzt

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Die Fortsetzung des Althusser-Seminars am 2. Juni demonstrierte die Aktualität von Althussers Kritik der Marx-Doxologie ebenso wie deren Zählebigkeit.

Wir begannen den Nachmittag mit der Lektüre eines Extrakts aus »Ideologie und ideologische Staatsapparate«: Althussers Abrechnung mit dem hartnäckig in der Linken herumspukenden bürgerlichen Mythos vom Individuum als einem von Natur aus freien Subjekt, das durch Entfremdung, Repression und Manipulation an seiner Entfaltung gehindert werde. Da die Vertreter dieses Mythos, die bereits in der ersten Sitzung »das, was Althusser hier verbrät« als Hochverrat identifiziert hatten, der Fortsetzung des Seminars ferngeblieben sind, konnte über Althussers Ideologietheorie immerhin in breitem Einvernehmen diskutiert werden. Ihre Kernthesen sind: Die Selbstverhältnisse der Menschen sind niemals transparent, sondern imaginär; die Ideologie konstituiert Subjekte mittels der »Anrufung« (interpellation) des Individuums durch ein imaginäres SUBJEKT (Gott, die Nation, die Partei...), das freie, verantwortungsbewusste, sich in den gesellschaftlichen Verhältnissen wieder erkennende Subjekt (sujet), das das, was es tun muss, für sinnvoll hält, ist Produkt einer Unterwerfung (assujettissement); diese findet statt in ideologischen Staatsapparaten (Familie, Schule, Kirche, Medien usw.); Ideologie ist kein »Bewusstsein«, sondern sie hat eine materielle Existenz in materiellen Praktiken und Ritualen. Hierdurch erfolgt die Reproduktion der Arbeitskraft mit dem Ergebnis, dass sie ohne äußeren Zwang »von selbst funktioniert«.

An dem kurzen Text »Anmerkungen zum Verhältnis von Marxismus und Klassenkampf« konnte gezeigt werden, worauf Althusser hinauswill: Gegen Marx-Lesarten, die annehmen, dass ein irgendwie über die Menschheit hereingebrochenes verkehrtes (»entfremdetes«, »verdinglichtes«) Selbstverhältnis zur Entstehung der Arbeiter- und Kapitalistenklasse geführt habe, die je nach Lust und Laune anfangen zu kämpfen oder es bleiben lassen, betont Althusser, dass der Klassenkampf immer schon der konstitutive Rahmen der von Marx entwickelten »ökonomischen« und »technischen« Bestimmungen der kapitalistischen Produktionsweise gewesen ist.

In seinen späten Schriften hat Althusser sich der Einsicht gestellt, dass die von ihm zunächst stramm leninistisch kritisierten »ökonomistischen« und »humanistischen« Marx-Lesarten allerdings eine Ursache bei Marx selbst haben müssen.

Althusser unterzieht nunmehr die »Darstellungsweise« des Kapitals, die Marx für eine notwendige Bedingung der wissenschaftlichen Wahrheit des Textes hielt, beginnend mit der einfachen, transparenten Abstraktion des Werts, einer Kritik. Diese Darstellung hatte zur Folge, dass einfache Bestimmungen von Warenproduktion noch ohne die Gesamtheit der materiellen und klassenmäßigen Bedingungen (Klassenkampf, Staat, Recht, Ideologie), die kapitalistische Verhältnisse konstituieren, als historisch oder aber »logisch« vorgeordnet angesehen werden.

Typisch dafür ist die Rede vom »Fetischcharakter der Ware«, die annimmt, dass die Mystifikationen und Illusionen, die die bürgerliche Gesellschaft selbst-referenziell erzeugt, aus der Warenform als solcher hervorgingen. Althusser, der immer darauf abhob, die realen materiellen Konstitutionsbedingungen der »abwesenden Ursache« Ökonomie zu analysieren, jene Voraussetzungen also, die Marx unglücklicherweise nur auf hegelsche Art im voraussetzungsfreien Aufsteigen »vom Abstrakten zum Konkreten« - das er aber vom Realen und der »Forschungsweise« zu seiner begrifflichen Aneignung grundsätzlich unterschied – einholen zu können glaubte, hat in einem nachgelassenen Fragment von 1978 die marxsche »Parabel« des Fetischismus einer Kritik unterzogen, deren Kern in der Feststellung besteht, dass Marx in der Gegenüberstellung von Verhältnissen von »Personen« und »Sachen«, von Gesellschaften mit »persönlichen« Abhängigkeitsverhältnissen und den »sachlichen« Verhältnissen des Marktes in völlig naiver Weise Begriffe verwendet, die tatsächlich nirgendwo anders ihren Ursprung haben als in der Ideologie des Rechts, die den Begriff einer »Person«, die eine »Sache« besitzt und somit in einem transparenten Verhältnis zu der Sache ebenso wie zu anderen Personen steht, allererst geschaffen hat.

Schließlich spitzt Althusser seine Kritik an Marx in dem Vorwurf zu, Marx sei der bürgerlichen Illusion der »übernatürlichen Schöpfungskraft der Arbeit«, die er dem Go-thaer Programm der Sozialdemokratie vorwarf, selbst aufgesessen, indem er den Fetischismus mit einem »gegenständlichen Schein der Arbeitsbestimmungen« identifiziert, also die Materialität der Bedingungen, denen die Produzenten unterworfen sind, auf einen durch Arbeit erzeugten Schein zurückführt.

Das war nun entschieden zu viel für unseren Großsiegelbewahrer. Peter Christoph, Altmeister der Marx-Doxologie, sah hier, in einer Erregung, die mich immer aufs Neue erheitert, den endgültigen Beweis, dass Althusser Marx nicht verstanden hat. Ich glaube allerdings, dass Althusser hier keine mildernden Umstände angerechnet werden können. Er hat diese Kritik nicht aus Unverständnis, sondern bewusst und absichtsvoll formuliert. Vor dem Richterstuhl der Doxologen kann er also wegen Hochverrats nur die Todesstrafe erwarten.

Ausblick

Die Hinrichtung Althussers wurde zwar noch zur Bewährung ausgesetzt, aber wenigstens stimmt das Feindbild wieder. Die Kontroverse zwischen Peter Christoph und mir macht deutlich, dass unter dem Dach der Sozialistischen Studienvereinigung völlig verschiedene und gegenläufige Projekte verfolgt werden. Wenn Christoph mir vorhält, ohne die Erkenntnis des von Althusser ignorierten Doppelcharakters der Arbeit und einen entsprechenden Gattungsbegriff der Arbeit bräche der ganze Marx zusammen, was soll ich da antworten? Ich verhalte mich so, wie wenn ein religiöser Dogmatiker mir einreden will, wenn ich nicht an Gott glaube, fehle mir die Grundlage jedes Lebenssinns.

Ich sehe in solchen Argumenten vom Typ »Wenn du nicht akzeptierst, dass..., dann bricht alles zusammen« nichts weiter als Erpressungsversuche von Dogmatikern und verweise achselzuckend erstens darauf, dass zahllose Menschen auch ohne religiöse Prämissen ein einigermaßen sinnvolles Leben hinbekommen, und zweitens darauf, dass man mit Marx auch ohne seine dem neunzehnten Jahrhundert zugehörige humanistische episteme arbeiten und in der Kritik kapitalistischer Ausbeutungsverhältnisse zu brauchbaren Resultaten gelangen kann. Auf fundamentalistische Argumentationslogiken lasse ich mich nicht ein.

Während manche »Marx« als zwar dehnbaren, jedoch unüberschreitbaren Horizont betrachten, ist er für mich Teil des Inhalts einer foucaultschen »Werkzeugkiste«, für manches gut, aber nicht für alles. Marx-Scholastik interessiert mich nicht.

Die Tragik Althussers besteht darin, dass er zeitlebens an seinen eigenen Nimbus des »marxistischen Philosophen« gefesselt blieb, der, die »absoluten Grenzen von Marx« aufzeigend, doch nie wirklich zu neuen Ufern jenseits von Marx aufzubrechen vermochte, der ihm deshalb von den Scholastikern immer wieder um die Ohren gehauen wird. Auf den Aufbruch zu neuen Ufern werde ich meine Beiträge in der Sozialistischen Studienvereinigung allerdings in Zukunft ausrichten, indem ich beispielsweise Foucault anbiete. Schon im Bourdieu-Seminar hat mich die dauernd gestellte Frage »Stimmt das mit Marx überein?« maßlos geärgert (eine Frage, die Bourdieu selbst nie interessierte, der, wäre er »Marxist« gewesen, nie seine Produktivität hätte entfalten können). Ich hoffe, in Zukunft Beiträge leisten zu können, bei denen diese blöde Frage nicht mehr gestellt wird.

Henning Böke

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