Bericht von der Veranstaltung am 10.7. 2002

»Partei Marx«

E.U.Knaudt (Bochum) über seine Thesen zur Kontroverse: »Von der ›Partei Marx‹ zur internationalen Assoziation«

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Die Namensgebung  »Partei Marx« datiert vom Kölner »Kommunistenprozess« vor 150 Jahren: die preussischen Staatsschutzbehörden bezeichneten damit die wissenschaftlichen Kommunisten um Marx, Engels, Wilhelm Wolff u.a., die sie von den bürgerlich-demokratischen und kleinbürgerlich-radikalen Gefühlssozialisten im »Bund der Kommunisten« (d. h. von der »Partei Willich/Schapper«) in ihrer Begriffslosigkeit irgendwie zu unterscheiden versuchten, als die Konterrevolution in Europa fürs erste gesiegt hatte und der Kommunistenbund im Exil sich in zwei Fraktionen spaltete.

Marx selbst griff die Etikettierung »Partei Marx« nur auf, um die Behauptung der Staatsanwaltschaft zu widerlegen, die Ursache wären rein persönliche Auseinandersetzungen und Intrigen gewesen. So stellte die Sitzung der Zentralbehörde des Kommunistenbundes am 15.9.1850 fest: »An die Stelle der universellen Anschauung des [Kommunistischen] Manifestes ist die deutsche nationale getreten (...) Statt der materialistischen Anschauung des Manifestes ist die idealistische hervorgehoben worden. Statt der wirklichen Verhältnisse ist der Wille als Hauptsache in der Revolution hervorgehoben worden. (...) Wie von den Demokraten das Wort 'Volk', ist jetzt das Wort 'Proletariat' als bloße Phrase gebraucht worden.

Diese Debatte hat endlich bewiesen, welche prinzipiellen Differenzen den Hintergrund der persönlichen Streitigkeiten bildeten, und jetzt ist es Zeit einzuschreiten.« (MEW 8, 597) Mit der Unvereinbarkeit dieses zurückgebundenen Organisationszwecks einerseits und der wissenschaftlichen Theorie/Praxis im Sinne des »Manifests der kommunistischen Partei« andererseits (MEW 4, 474f,492f) war der damalige Kommunistenbund als Form des Parteibildungsprozesses des Proletariats überflüssig geworden und kaputt; übrig blieb: die »Partei Marx«. Sie tat nunmehr -- ob in »splendid isolation« (F.Engels), ob für die Internationale Arbeiterassoziation oder für bestehende Arbeiterkoalitionen und -parteien aller möglichen Länder -- theoriepraktisch alles was sie konnte, um auf den wirklichen Parteibildungsprozess des Proletariats strategisch-beratend einzuwirken und bis ins politische Handgemenge hinein die Taktik der revolutionär-kommunistischen Elemente der Arbeiterbewegung richtig bestimmen zu helfen; das ging nicht zuletzt auch immer um die »Überwachung der Aussenpolitik« der jeweiligen herrschenden Klassen, um revolutionäres Ausnutzen der Widersprüche auf der Ebene von deren Geheimdiplomatie in Frieden und Krieg. Wenn in diesen politischen Zusammenhängen Marx des öfteren von »unserer Partei« zu sprechen pflegte, hatte er »die Partei im großen historischen Sinne« vor Augen (keinesfalls die Form einer bürgerlichen Mitgliederpartei), denn eine »Partei« im »ephemeren« Sinn eines geheimen oder öffentlichen Vereins, wie es der Kommunistenbund bis 1852 gewesen war, ist für Marx nur eine »Episode in der Geschichte der Partei, die aus dem Boden der modernen Gesellschaft naturwüchsig sich bildet.« (MEW 30, 490).

Als sich Marx 1860 mitten aus den Arbeiten zur Kritik der politischen Ökonomie herausreissen lässt, weil ein bonapartistischer »linker« deutscher bezahlter Agent die »Partei Marx« durch publizistisches Stinkbombenwerfen auszuschalten versucht, da diese die ultrareaktionäre zaristisch-bonapartistische Kriegsvorbereitungsachse immerfort bloßlegt, da begründet Marx seine ausserordentlich zeit- und kraftraubenden Recherchen so: »Sie sind entscheidend für die historische Vindikation der Partei [d.h.: dass sie ihr Recht bekommt] und für ihre spätere Stellung in Deutschland.« (MEW 30, 459).

Kurzfristig verlangt also das taktische, politische Handgemenge ebenso sein Recht wie langfristig die Praxis der Theorie: mit der Kritik der politischen Ökonomie bezweckte Marx strategisch, »unserer Partei einen wissenschaftlichen Sieg zu erringen.« (MEW 29, 573)  Der Referent brachte diesen mehrschichtigen  Marx-«Partei«-Begriff auf den Punkt: »Gemeint ist damit offensichtlich die Parteinahme für die Inhalte des kommunistischen Manifests -- dem schliesslich auch der 'Kommunistenprozess' in Köln gegolten hatte.« Und dieses gewissermaßen Gründungsdokument des wissenschaftlichen Kommunismus bestimmt »die kommunistische Partei« seinerseits als nicht mehr und nicht weniger als die »zum theoretischen Verständnis der ganzen geschichtlichen Bewegung sich heraufgearbeitet« (MEW 4, 472) habende Minderheit, betonte der Referent. Diese proletarische Minderheit, die (wissenschaftlichen) KommunistInnen, wiederum »sind keine besondere Partei gegenüber den anderen Arbeiterparteien«, sondern »praktisch der entschiedenste, immer weiter treibende Teil der Arbeiterparteien aller Länder; sie haben theoretisch vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus. (...) Die theoretischen Sätze der Kommunisten beruhen keineswegs auf Ideen, auf Prinzipien, die von diesem oder jenem Weltverbesserer erfunden oder entdeckt sind. Sie sind nur allgemeine Ausdrücke tatsächlicher Verhältnisse eines existierenden Klassenkampfes, einer unter unseren Augen vor sich gehenden geschichtlichen Bewegung.« (MEW 474f) Diese »Ausdrücke« sind also kein heiliger Gral irgendeiner »Orthodoxie«, sondern hart und beharrlich erarbeitete Resultate eines diese wissenschaftliche kommunistische Arbeit selbst organisierenden Kollektivs, das sie selbst in der streitbaren Theorie und Praxis im Klassenkampf immer erneut zur Disposition und infrage stellt.

Auf diesen Marxschen -- fast schon selbstreferenziell zu nennenden, gleichermaßen in der objektiven, wirklichen historisch-gesellschaftlichen Bewegung wie in ihrem subjektiven wissenschaftlich-theoretischen Ausdruck wurzeln sollenden -- »Partei«-Begriff  geht nun der Referent zurück, um die gegenwärtigen »Blockaden der Linken« zu erklären. Sie liessen sich erst auflösen im Rückgang auf die Kontroversen um die Ursachen der Konterrevolution(en) des vergangenen »kurzen Jahrhunderts«, die  als Kontroverse um die Wirklichkeiten, Notwendigkeiten, Zufälligkeiten und Möglichkeiten der revolutionären Bewegung seit Marx' wissenschaftlichen Einsichten endlich neu zu führen sind. Die solche Kontroversen und Einsichten blockierenden eingängigen, überkommenen Paradigmen, Modelle und Mythen heute »gegen den Strich zu bürsten«, so das Anliegen des Referenten, würde sowohl voraussetzen wie ermöglichen, »die Marxsche Parteilichkeit zu erneuern«.

Devise (in Abwandlung des bekannten Titels einer Lenin-Kampfschrift) solcher Antwort auf  die Was-tun?-Frage wäre: »Kein Schritt vorwärts ohne zwei Schritte zurück.« Bei diesen Formulierungen ist die schwierige Aufgabenstellung nicht zu übersehen, das Theorie/Praxis-Verhältnis endlich neu zu definieren, etwa so, dass der Referent mit Blick auf Marx' Verständnis dieser Reflexionsbestimmungen sagt: »Theoretiker und Politiker gehören zusammen« in der »Partei Marx«, so wie dann »Praxis in einer revolutionären Strategie aufgehoben« sei für den proletarischen Parteibildungsprozess insgesamt. Nach Marx sei dagegen die dialektische Behandlung von Theorie/Praxis durch einen Dualismus ersetzt und verhindert worden, der »entweder die Praxis jenseits der Theorie (Ökonomismus) oder die Theorie jenseits der Praxis (Akademismus)« betreibe. »Die Partisanen der 'Partei Marx' » müssten nun endlich wieder vermittels »einer Art wissenschaftlichen brain-stormings« aus ihrer Versprengtheit heraus beginnen, den Klassenkampf international theoretisch neu auszudrücken und auf den Begriff zu bringen sowie in einer kooperativen historischen Gesamt-Analyse »back to the roots« zurückverfolgen bis zu den Analysen von Marx e.a., d.h. systematisch herauskriegen, was vom Resultat her beurteilt alles übersehen, missverstanden, schiefgewickelt und fehlgelaufen ist. Die -- zugegeben bei solch hohem geschichtstheoretischen Anspruch nicht gerade leicht und eingängig »rüberzubringende« -- Vermittlung zur neu eingeforderten, als Projekt auch vorgeschlagenen kommunistischen Praxis wäre wohl eine Rekonstruktion von Strategie aus der historisch neugewonnenen Einsicht-in-den-Gang-der Klassenkämpfe und basierenden sozialökonomischen Widerspruchsprozesse, die an politisches Bewusstmachen und Handeln wieder heranführen könnte und damit an die theoretische und praktische Rekonstruktion des Parteibildungsprozesses des Weltproletariats der Gegenwart.

Der Referent treibt diesen Anspruch sogar noch weiter, wenn er vor dem Hintergrund seiner »zwei Schritte zurück« in der historischen Rekonstruktion der Möglichkeiten für die gegenwärtige »Partei Marx« in der BRD-Besonderheit postuliert, »die Wiedererschaffung einer revolutionären deutschen Arbeiterbewegung zur Aufgabe zu machen.« Die heute doch einen Anflug von deutschtümelnd-traditionalistischer Konnotation nicht unbedingt ausschliessende Formulierung sollte wohl ganz nüchtern als konkrete Besonderheit der politischen Operationen der Abteilung des globalen Proletariats in der BRD verstanden werden. Denn was der Referent ganz besonders betont, ist der allerseits Platz greifende Ethnizismus, unter dem jeder Ansatz kommunistischer internationalistischer Parteibildung des Proletariats gegenwärtig jeden Augenblick wieder begraben und zerknickt zu werden droht. Gerade der deutschen Linken hat er sich ebenfalls bemächtigt und stellt eine besonders harte Herausforderung an die historische Erklärungsanstrengung und politische Interventionsfähigkeit der »Partei Marx« von der zu begreifenden historisch-internationalen Konstellation und Perspektive her dar.

Der Referent beginnt nun, um mit dem zu aktualisierenden Projekt »Partei Marx« seinerseits einen Anfang zu machen, die historische Genesis dieser Konstellation der Gegenwart von den Marxschen Analysen her aufzudröseln. Daraus ergeben sich für ihn die Fragen oder »elementaren Streitpunkte«, der sich eine aktuelle »Partei Marx«, d.h. die versprengten »Marx-PartisanInnen« unserer Tage, zu stellen haben, um die Marxsche Theorie eben endlich wieder »auf ihre politische Wirksamkeit hin auszuarbeiten«, so wie Marx e.a. selbst. Diesen Katalog von etwa 7 Kardinalfragen (»Eckpunkten«) hat er in verschiedenen Texten ausformuliert und auf einer website zur Diskussion gestellt:
http://www.parteimarx.org
Wir geben den Fragenkatalog hier deshalb nicht wieder sondern verweisen auf diese website.

Zentral gilt es also für den Referenten, den Begriff der Weltrevolution ab Skizzierung im kommunistischen Manifest bis heute konkret zu entfalten als realer Totalität, wie wir sie bisher vom Resultat her rekonstruieren können entlang ihrer konkreten Besonderheiten, oder, wie der Referent sich ausdrückt: unbedingt in der jeweiligen historischen Singularität. Damit hat er vor allem »retrospektive Ausblicke« von der umfassenden heutigen Krise her auf die russische Singularität im Blick: auf das Problem der russischen Revolution, das schon Marx ungeheuer beschäftigte und über die Behandlung von Engels, Kautsky, Lenin, Stalin e.a. gerade die Vorstellungen und Verstellungen des Parteibildungsprozesses in Ost und West als Revolution/Konterrevolution aufs nachhaltigste geprägt hat. Aus dem Fragenkatalog griff der Referent deshalb nur folgende drei Fragenkomplexe für seinen Vortrag heraus, gleichsam als historisch-materialistische »Momentaufnahmen, in denen der heute anstehende Paradigmenwechsel deutlich werden soll«:

  1. die Frage der »revolutionären Mission« einer russischen Revolution für die kommunistische Revolution in Europa und im Weltmaßstab: entlang der Differenz zwischen (dem jungen) Lenin und (dem alten) Marx
  2. die Frage der komplizierten Dialektik von »Arbeiterbewegung, Nationenwerdung und Weltmachtpolitik«: entlang der Differenz zwischen Stalin und Lenin über die nationale Frage in Russland bzw. der RSFSR / UdSSR
  3. die Frage der einmaligen historischen Konstellation für die Möglichkeit der Auslösung einer  kommunistischen Revolution in Europa durch die russische Bauerngemeinde einerseits, für die konterrevolutionäre Gefahr der Aussenpolitik des Zarismus als dem Bollwerk der Reaktion in Europa andererseits: entlang den Differenzen zwischen Engels und Marx sowie zwischen Stalin und Engels (Umschlagpunkt in stalinistische Konterrevolution, Vorherrschaft des Ethnizismus bis heute, insbesondere auch in die deutsche Linke hinein, usw.)

Da die schriftliche Ausarbeitung des Vortrags hierzu auf der website zu studieren ist, geben wir hier nur einige Splitter aus dem ersten und dem dritten Komplex als Zitate-Kompilation wieder   ([Einfügungen] von uns) :

»In der revolutionären Strategie von Marx und Engels hatte Russland bekanntlich die Rolle eines Bollwerks der Konterrevolution gespielt, denn »während der Revolution von 1848 fanden nicht nur die europäischen Fürsten, auch die europäischen Bourgeois in der russischen Einmischung die einzige Rettung vor dem eben erwachenden Proletariat.« Aus diesem Grund befasste sich Marx ausführlich mit der russischen Diplomatie und der Einflussnahme des Zaren »als Chef der europäischen Reaktion« (MEW 19, 296) auf die Verhältnisse in Europa.

Die Früchte der Marxschen Bemühungen haben bei manchen meiner linken Zeitgenossen häufig im notorischen Verdacht einer quasi 'antisowjetischen Betätigung' gestanden, vielleicht als später Reflex auf Stalins Verbot, Engels' Artikel 'Die auswärtige Politik des russischen Zarentums' (1890; MEW 22,S.11) 1934 in der theoretischen Zeitschrift 'Bolschewik' wieder abzudrucken. (Näheres dazu bei Maximilien Rubel: Karl Marx und Friedrich Engels zur russischen Revolution. Kritik eines Mythos. Frankfurt, Berlin, Wien 1984) Sie wurden teilweise nicht in die MEW aufgenommen; die Aufnahme des Konvoluts, das Engels in Marxens Papieren über Russland gefunden hat, in die neue MEGA ist nach Auskunft von Rolf Hecker noch in Arbeit. (Teodor Shanin: Late Marx and the Russian Road. Marx and the 'Periferies of Capitalism'. London, Melbourne 1983, S.13: »1881 verbrachte Marx drei Wochen damit, sich gedanklich auseinanderzusetzen  -- man kann schon sagen: zu ringen -- mit einer Antwort auf den Brief [von Vera Sassulitsch] zur Frage der russischen Bauernkommune. (...) Die vier Entwürfe zu seiner Antwort, die Marx schrieb, belegen die immense Arbeit und Reflexion, die ihnen zugrundelag: geradezu als ob sich darin das ganze letzte Jahrzehnt von Marx' Studien mit seinen 30.000 Seiten Aufzeichnungen, aber ohne abschliessend-verallgemeinernde Textfassung, zusammenfasste.«)  Auf jeden Fall wurde dieser vermeintlich 'antisowjetische' Marx den Neokonservativen überlassen, die ihn dankbar für sich in Beschlag genommen haben. - Laut Engels sollte Russland für den 3.Band des 'Kapital' dieselbe Bedeutung erhalten wie England für den 1. Band.

Je tiefer Marx in die sozialen Verhältnisse in Russland analytisch eindrang, desto mehr (...) trat die Überlegung [in seine wissenschaftliche Revolutionstheorie], dass die über die Jahrhunderte intakt gebliebene russische Bauerngemeinde dort zum Kern einer kommunistischen Gesellschaft werden könnte. (...) Die von Marx aus seiner Analyse der Verhältnisse in Russland resultierende [mögliche] Revolution hätte nicht nur das notorische Bollwerk der europäischen Konterrevolution zerstört, sondern wäre darüber hinaus zur Vorhut der Weltrevolution geworden. Das west-europäische Proletariat hätte mit der Entfaltung dieses 'archaischen' Kommunismus dagegen 'Kommunismus live' erlebt. Und ihm wäre die bis dahin nur theoretisch abgeleitete Erkenntnis plastisch vor Augen geführt worden, dass in Westeuropa der Kommunismus nicht mehr auf Grundlage der  längst untergegangenen germanischen Gentilgesellschaft (genau das wurde später zum [regressiv-utopischen] programmatischen Kern des deutschen Nationalsozialismus), sondern auf der Grundlage der modernen, sich als Kapitalismus entwickelnden Gesellschaft errichtet werden muss. [Denn Marx zufolge] habe die kapitalistische Produktion im Westen »die gesellschaftlichen Produktivkräfte hervorragend entwickelt, andererseits aber hat sie (...) als eine Geschichte von Antagonismen, Krisen, Konflikten und Katastrophen (...) ihren reinen Übergangscharakter offenbart. [In diesen Ländern sollte man endlich] die kapitalistische Produktion durch die genossenschaftliche Produktion und das kapitalistische Eigentum durch eine höhere Form des archaischen Eigentumstyps, d.h. durch das kommunistische Eigentum, ersetzen« usw. (MEW 19, 397)

[Die russischen Revolutionäre, für die Vera Sassulitsch sich an Marx um Rat gewandt hatte, hätten demzufolge -- ohne dass Marx ihnen diese Antwort so direkt gegeben hat--] alle Angriffe auf eine 'im nationalen Maßstab' (Marx) unter Abstrichen noch funktionierende Form des 'archaischen Kommunismus' zurückzuweisen und der russischen Bauerngemeinde 'die normalen Bedingungen zu einer natürlichen Entwicklung zu sichern' (MEW 19, 243) Dazu ist eine 'Revolution nötig', die, wenn sie 'zur rechten Zeit erfolgt, wenn sie alle ihre Kräfte konzentriert, um den freien Aufschwung der Dorfgemeinde zu sichern, (...) sich bald als ein Element der Regeneration der russischen Gesellschaft und als ein Element der Überlegenheit über die vom kapitalistischen Regime versklavten Länder entwickeln' (395) wird. [Als weiteren Hinweis noch] der entscheidende Satz, der dem jungen Lenin möglicherweise viel Schweiss erspart hätte:

»Auf diese Weise erfolgt hier [in der westeuropäischen Genesis der kapitalistischen Produktion] in letzter Instanz die Verwandlung einer Form des Privateigentums in eine andere Form des Privateigentums. Da aber das in den Händen der russischen Bauern befindliche Land niemals ihr Privateigentum gewesen ist, wie lässt sich diese Entwicklung auf sie anwenden?« Ergänzend dazu heisst es im zweiten Briefentwurf: »In Russland würde es sich im Gegenteil darum handeln, das kapitalistische Eigentum an die Stelle des kommunistischen Eigentums zu setzen.« (MEW 19: 384, 397) (...) Das Paradoxon aber, den Kommunismus auf den Trümmern des Kommunismus errichten zu wollen, sollte zur Tragödie der russischen Revolution werden.

[Für Marx galt es statt einer brutalen Flucht nach vorn in einen nachholenden »Westler«-Kapitalismus vielmehr,] die katastrophalen Auswirkungen der [zaristischen] 'Bauernemanzipation'  zu neutralisieren: [und das wäre noch immer möglich gewesen,] »wenn die Dorfgemeinde im Augenblick der Bauernemanzipation von vornherein in normale Umstände versetzt worden wäre; wenn ferner die ungeheure Staatsschuld, die zum großen Teil auf Kosten und zu Lasten der Bauern abgetragen wird, mit den anderen Riesensummen, die vom Staat (und immer auf Kosten und zu Lasten der Bauern) den 'neuen Stützen der Gesellschaft' gewährt werden, die sich in Kapitalisten verwandelt haben; wenn alle diese Aufwendungen der Weiterentwicklung der Dorfgemeinde gedient hätten, dann würde heute niemand über die 'historische Unvermeidlichkeit' der Vernichtung der Gemeinde grübeln.« (...) und dafür schuldete ihr »die russische Gesellschaft, die so lange auf seine [des Bauern-Mir] Kosten gelebt hat, die notwendigen Vorschüsse für einen solchen Übergang.« Denn »... sogar vom rein ökonomischen Gesichtspunkt aus kann Russland aus der Sackgasse, in der sich seine Landwirtschaft befindet, nur durch die Entwicklung der Dorfgemeinde herauskommen; es würde ein vergebliches Bemühen sein, ihr durch das englische kapitalistische Pachtverhältnis zu entkommen, alle landwirtschaftlichen Bedingungen des Landes widersprechen dem.«

[Sondern:]
»Wenn sie im Gemeineigentum am Boden die Grundlage für die kollektive Aneignung besitzt, so bietet ihr das historische Milieu, die Gleichzeitigkeit mit der kapitalistischen Produktion [im Westen], alle fertigen Bedingungen der gemeinsamen Arbeit im großen Maßstab. Sie ist daher imstande, sich die positiven Errungenschaften des kapitalistischen Systems anzueignen, ohne durch dessen Kaudinisches Joch gehen zu müssen. Sie kann den Parzellenackerbau allmählich durch eine mit Hilfe von Maschinen betriebene Großflächenwirtschaft ersetzen (...) Sie kann also der unmittelbare Ausgangspunkt des ökonomischen Systems werden, zu dem die moderne Gesellschaft hinneigt, und ein neues Leben anfangen, ohne sich selbst umzubringen.« (MEW 19: 385, 389, 390f)
Schliesslich sei noch darauf hingewiesen, dass Marx' Stellungnahme für die russische Bauerngemeinde nicht bedeutet, dass er sich auf seine alten Tage zum Panslawisten oder Bakuninisten zurückentwickelt hätte. Gerade das Gegenteil ist der Fall: zu dieser Position war er allein deshalb gekommen, weil er gleichzeitig dem kleinbürgerlichen Sozialismus Proudhons und Bakunins zuvor den Kampf angesagt hatte, wie allen Bestrebungen der europäischen Großmächte, die Arbeiterbewegung für ihre hegemonialen Zwecke in Europa einzuspannen (...)

(...) Für den jungen Lenin gibt es [gegen Ende der 1890er Jahre] keinen Zweifel: die Entwicklung der Proletarisierung der russischen Bauern und damit die ursprüngliche Akkumulation des Kapitals ist in Russland in vollem Gange; alle »Versuche, diesen Prozess aufzuhalten,« seien »reaktionär und schädlich.« (LW 4,S.89) Sein kategorisches Urteil stützt sich u.a. auf die Autorität Karl Kautsky, dessen Buch 'Die Agrarfrage' er zur 'hervorragendsten Erscheinung der neuesten ökonomischen Literatur' nach dem 3.Band des 'Kapital' erklärt. Darin [beim Gründungsvater »der marxistischen Orthodoxie«, Karl Kautsky, also] heisst es zur russischen Dorfgemeinde: » In Russland, wo der Dorfkommunismus noch vor kurzem sehr stark war, lebte in der Tat eine mächtige Richtung der sozialistischen Bewegung in der Überzeugung, durch diesen Kommunismus stehe Russland der sozialistischen Gesellschaft näher als Westeuropa. (...) Neuerdings haben auch Sozialdemokraten bei ihrem Suchen nach einem Agrarprogramm für die Stärkung und Ausdehnung dieses Kommunismus sich ausgesprochen, um dieselbe Zeit, in der die russische Sozialdemokratie, durch die Erfahrung belehrt, völlig mit der Anschauung gebrochen hat, als könne der aus dem Mittelalter [sic!] überlieferte Dorfkommunismus ein Element des modernen Sozialismus werden. Kommunismus und Kommunismus ist eben zweierlei ...« (Karl Kautsky 1899,S.333)

An dieser Stelle wäre auf Lenins Debatte mit den 'Volkstümlern' und den 'legalen Marxisten' einzugehen, deren Manko, so meine Vermutung, darin bestanden haben könnte, dass der junge Lenin Marx' Briefentwürfe an Vera Sassulitsch nicht kannte, in denen Marx eindeutig für den 'Dorfkommunismus' Stellung nimmt. (...) Wenn ihm diese Entwürfe bekannt gewesen wären, hätte der junge Lenin entweder auf die Autorität Kautskys verzichten oder mit diesem zusammen gegen den alten Marx zu Felde ziehen müssen, (...) als die dicke sozialwissenschaftliche Schwarte über »Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland« [1896-98) zu schreiben. Aber im Gegensatz zu seinen 'marxistischen' Zeitgenossen und erst recht zu den späteren 'Leninisten' war Lenin ein im Klassenkampf lernender und sich verändernder Revolutionär (...) [Doch schliesslich: auch noch] Lenins gegen Ende seines Lebens angestellte Überlegungen zum Genossenschaftwesen basieren trotz ihrer viel zu späten, wenn auch völlig berechtigten Selbstkritik aber immer noch auf der Grundlage solcher »vergeblichen Bemühungen« (Marx) [, der Entwicklung der Dorfgemeinde durch ein staatskapitalistisches »kaudinisches Joch« zu entkommen, d.h. aber: »sich selbst umzubringen« (Marx)].

Wie die kapitalistische Entwicklung in Russland [künstlich forciert und aufgepfropft worden war durch die zaristische Staatsdespotie und ihren Kapital-Import, so] kam auch Lenins Proletarische Revolution 'von oben'; auch sie hatte mit den gleichen Beharrungselementen zu kämpfen, an denen die zaristische Autokratie gescheitert war. Schien die Oktoberrevolution anfangs noch an den Bauernaufstand von 1905 anzuknüpfen, (...) so gelang es den Bolschewiki letzten Endes nicht, den modernen Kommunismus mit dem Dorfkommunismus zu verbinden. Dazu hätte die Diktatur des Proletariats eine einmalige Gelegenheit geboten; nämlich all das zu realisieren, was die russische [Marx zufolge »halbasiatisch-despotisch« geprägte] Gesellschaft der Dorfgemeinde seit 1861 systematisch verweigert hatte (...) Dazu allerdings hätten sich die Bolschewiki von Reformen à la Stolypin [vor dem Ersten Weltkrieg], einschliesslich dem von Bucharin geschneiderten sozialistischen Mäntelchen [Anfang der 1920er Jahre, nach dem Bürgerkrieg], trennen und akzeptieren müssen, dass Marx Recht gehabt hatte mit der Behauptng, dass solche Reformen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, für Russland ungeeignet waren (...) Es blieb Lenin keine Zeit mehr, seine Differenz mit Marx über die Dorfgemeinde zu Ende zu führen und, bevor Stalin diese mit Brachialgewalt vernichten würde, schliesslich zu akzeptieren, dass ohne deren Wiedereinsetzung (Marx: »in normale Umstände versetzen« ) kein Kommunismus in Russland möglich war (...)

Es wäre andererseits reiner Romantizismus, nicht zu sehen, dass die russische Bauerngemeinde sich zwischen 1861 und 1917 zu ihren Ungunsten verändert hatte; dieser Nachteil wäre aber durch das Vorhandensein einer nicht nur nominellen, sondern realen Arbeiter- und Bauern-Regierung schon nach kurzer Zeit mehr als ausgeglichen worden; zumal dann, wenn diese das Marxsche Programm in die Tat umgesetzt hätte. Es sollte aber das Gegenteil eintreten, und das ironischerweise auch noch unter Berufung auf die Autorität von Karl Marx.

Um die Sache zu vereinfachen, wurde hier die Differenz zwischen Engels und Marx über die revolutionäre Rolle der russischen Bauerngemeinde nicht behandelt. [Nur soviel:] Engels konnte seinem Freund in der Bestimmung der Einmaligkeit der historischen Konstellation, in der die Bauerngemeinde eine [kommunistische] Revolution in Europa hätte auslösen können, nicht folgen. Bei einer genaueren Betrachtung dieser Differenz würde aber auch deutlich, das die russischen Marxisten sich eher an Engels gehalten haben, der die Bauern generell unter das Potenzial für eine demokratische Revolution nach westeuropäischem Muster subsumiert. (...)

Damit sind wir bei einer weiteren Differenz, die auch noch in diesen Zusammenhang gehört: die Differenz zwischen Stalin und Engels [siehe oben : Episode 1934!] (...) Stalins Kritik an Engels besteht, stark verkürzt, darin, dass Engels 1890 die Rolle des Zarismus als der letzten Festung der europäischen Reaktion überschätzt (...) habe, d.h., er zeiht Engels ziemlich offen desselben National[soll wohl heissen: Sozial-]chauvinismus, der bei Kriegsausbruch 1914 in der deutschen Sozialdemokratie offen zum Vorschein gekommen ist. Nun sind beide Konstellationen, 1890 und 1914, nicht identisch -- ein Fehler, den (...) auch Stalin nicht korrigiert, sondern im Gegenteil verschärft, indem er die [falsche] Gleichung [nochmal falscher] umkehrt: anstatt 1914 = 1890  ist für ihn 1890 = 1914; also auch 1890 hätte es von der Sozialdemokratie in Deutschland aus gesehen keinen gerechten Krieg [gegen das Bollwerk der Reaktion] sondern bereits einen imperialistischen Krieg [zwischen gleichermaßen imperialistisch-kapitalistischen Räubern] gegeben ... Nun ist aber bekannt, dass Lenin den 1890 anstehenden Krieg Russlands und Frankreichs gegen Deutschland ebenso wie Engels als einen Befreiungskrieg charakterisiert hat, in dem die deutsche Arbeiterklasse ihre revolutionären Errungenschaften zu verteidigen gehabt hätte, die durch ein russisch-französisches Kondominium über Europa bedroht gewesen wären. Daran wird klar, gegen wen sich Stalins Kritik in Wahrheit richtet (...) Im übrigen handelt es sich bei der von Stalin (...) kritisierten Formulierung vom 'Zarismus als Bollwerk der europäischen Reaktion'  um ein wörtliches Zitat aus dem von Marx und Engels stammenden Vorwort zur russischen Ausgabe des 'Manifests der kommunistischen Partei' [1882; MEW 19, 296).  (...)

Und um in die Gegenwart zurückzugehen: in vielem erinnert die von Stalin [in dieser Revision-Intervention] praktizierte Methode , d.h.: den kritisierten (deutschen) [bei Engels angeblich vorliegenden] Nationalchauvinismus vom Standpunkt einer konträren (hier: der russischen) Großmachtposition aus zu kritisieren, an das Grundschema des modernen Ethnizismus, wie er heute von rechts wie links praktiziert wird.«

Die mündliche Diskussion um diesen sehr weit ausgreifenden Vortrag ging von folgenden Fragen aus:

  1. war zunächst der Gesamtaufbau und »Sinn« der Darstellung einigermaßen schwer zu erfassen.
  2. ist die gewissermaßen »virtuelle« Geschichtsdarstellung (»was wäre geworden, wenn«?: Häufung des Konjunktivus realis und/oder irrealis) durchaus (geschichtstheoretisch) irritierend, wiewohl historisch-materialistisch äusserst anregend.
  3. wurde der Bogen zum Projekt »Partei Marx« revolutionstheoretisch nicht immer hinreichend sichtbar.
  4. erschien die Rekonstruktion der authentischen Marxschen Analyse und Methode noch allzu stark als »Marx-Philologie« und vermochte kaum den Kommunismus als »unter unseren Augen vor sich gehende geschichtliche Bewegung« (MEW 4, 475) in der Perspektive »from the bottom up« plastisch werden zu lassen (treibende Rolle »der Volksmassen« in den hier untersuchten Geschichtsetappen, also besonders der russischen Bauern, Dorfarmut selbst), noch die heute möglichen revolutionär-kommunistischen Positionen von »Marx-PartisanInnen« aufzuzeigen entlang den wirklich gegebenen Bedingungen des gegenwärtigen Kommunismus als »die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt« (MEW 3, S.35).
  5. wurde von daher besonders der direkte Aufweis vermisst: welche Bedeutung hat all das (von den Marxschen »Russica« ausgehende) Rekonstruktionswerk in Zuspitzung auf die aktuelle Globalkrise und Konstellation für einen neuen Anlauf der neu-proletarischen Weltrevolution.

Der Referent weigerte sich vernünftigerweise, diese (legitimen) Auskunftsbedürfnisse präzise/positiv-pseudokonkret zu bedienen, und verwies auf die anstehende kooperative Erarbeitung. Zunächst sei das gegen-den-Strich-Bürsten der gängigen Geschichtsversionen entscheidend, die Marxsche Herangehensweise neu zu erlernen und überhaupt erst wiederzuentdecken, zugleich historische Analogieschlüsse strikt zu vermeiden. Abwegig seien etwa frischfröhliche »Aktualisierungen« pro-zapatistischer Art, Marx' Russland-Empfehlungen einfach auf die Chiapas-Bedingungen der Gegenwart, d.h. auf  andere Regionen und historische [Stadien] zu übertragen,  wie andererseits bei Bedarf mit deterministischen »pseudokommunistischen Vernünfteleien« (etwa hinsichtlich der Stalinschen Putsch- und Brachialpolitik der vollendeten Tatsachen) zu kommen, das erinnere ihn an eine Apologetik à la hitlersche Autobahnen ... Dem stellte er noch einmal die geschichtstheoretische Klarstellung des späten Marx (1877) an die russische Zeitschrift 'Otetschestwennije Sapiski'  gegenüber: es sei offen, ob die Proletarisierung der russischen Bauern unter allen Umständen zur Bildung einer Klasse von Lohnarbeitern nach westeuropäischem Muster führen werde, jedenfalls lasse sich dies nicht aus dem »Gesetz der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals« ableiten, welches er in 'Das Kapital' Bd.I eben am westlichen Beispiel entwickelt habe; sondern Aufgabe sei es, die sozialen Entwicklungen eines Landes jeweils für sich zu studieren und diese dann miteinander zu vergleichen. Nur so werde man den Schlüssel für die betreffende Erscheinung finden, aber niemals »mit dem Universalschlüssel einer allgemeinen geschichtsphilosophischen Theorie, deren größter Vorzug darin besteht, übergeschichtlich zu sein.« (MEW 19,111)

Nachdem die schematischen und praktisch-politischen Schemata der »Orthodoxie«, Revisionen und Legitimationsideologeme der »parteikommunistischen« Ära nach Marx einen Trümmerhaufen bilden, komme es zur Zeit erstmal auf die Kenntnisnahme dieses elementaren Rückschritts des wirklichen Parteibildungspozesses des Proletariats an, dessen theoretisches wissenschaftlich-kritisches Durcharbeiten Bedingung sei für erneute politisch-praktische Orientierung in der heute entstandenen globalen Krisenkonstellation. Diese Krise wiederum zu begreifen und praktisch zu nutzen ist nicht möglich als [stromlinienförmige Geschichtsschreibung der Sieger], sondern nur als [Rekonstruktion und Herbeiführung des »wirklichen Ausnahmezustandes« (Walter Benjamin), der revolutionären Diskontinuität und des Bruchs] in der Linie »jener namenlosen PartisanInnen der 'Partei Marx', die unter den Trümmern des bisherigen Resultats des blinden historischen Ganges begraben wurden ...«

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