Aus dem Zirkularbrief 3 von Juli/August 2001
Bericht von der Veranstaltung am 13.6.2001
Heinz Brakemeier über die Kritische Theorie und das Proletariat
»Die Arbeiterbewegung hängt uns wie ein Mühlstein am Hals« – gemeint sind die Väter und die Adepten der »Frankfurter Schule« in dieser Stadt. Mit diesen einleitenden Worten fasste Heinz Brakemeier die Geschichte einer Problematik zusammen: die Beziehung der »esoterischen« zur »exoterischen« (das heißt soviel wie: der innen- zur außengewendeten) Kritischen Theorie, ihres sozusagen gestörten Verhältnisses zum Proletariat, genauer: zur Arbeiterbewegung als dessen historischer empirisch-praktischer Erscheinungsform. Und wenige dürften so treffend und lebendig wie Brakemeier diese Geschichte auch anhand von Anekdoten und Episoden vermitteln können, die aus dem eigenen nahen Kontakt und Arbeiten mit Adorno und Horkheimer aus der Tiefe der 1950er und -60er Jahre entnommen sind ebenso wie aus intimer Vertrautheit mit dem Korpus und dem Denken jener Emanzipationstheorie selbst.
1966 schrieb Adorno in einem Brief an Günter Grass, er sei zwar über die Formen und Triebkräfte der Studentenbewegten (wie etwa des radikalen Linken H.J. Krahl) zuweilen irritiert, müsse aber allemal sein Entsetzen eingestehen angesichts der Entwicklung der Sozialdemokratie seit dem Godesberger Parteitag/Programm – er habe es gleich kritisieren wollen, habe es dann aber doch nicht getan. Dieses Missverhältnis zwischen intern ausgesprochenen Absichten und nach außen rücksichtnehmend-gehemmter Tat - so konnte der Referent daran zeigen - blieb kennzeichnend für die Situation gerade auch in Frankfurt selbst.
Brakemeier führte zunächst noch einmal Ursprünge und Intentionen des Instituts für Sozialforschung vor Augen. Die »Frankfurter« Theorie verdankt sich dem, was später »westlicher Marxismus« genannt wird: der Wiederentdeckung des ebenso entscheidenden wie gebrochenen Hegel-Bezugs der marxschen Theorie zu Anfang der Arbeiterkämpfe der 20er Jahre, die genau damals aber auch bereits an die brutal gesetzten Schranken von innerem Reformismus, sektiererischer Selbstüberschätzung und äußerer Konterrevolution stießen - aus jener Konstellation heraus Rekonstruktionsversuche eines revolutionär-proletarischen Marxismus (durch Theoretiker wie Georg Lukács und Karl Korsch), mit denen eine Marx-Rezeption einsetzte, die sich vom überkommenen »Kautsky-Marxismus« gänzlich abzustoßen versucht.
Mit dem Namen von Karl Kautsky war eine Auffassung vom proletarischen Alltagshandeln verbunden, die den Klassenkampf mit einer »Festtags-Aura« (Brakemeier) umgab, das wirkliche Alltagsleben und -Bewusstsein der ArbeiterInnen damit tendenziell vom parteibürokratisch inszenierten »Klassenkampf« der Reformisten abzuspalten, zu verdrängen half (d. h. die wirklichen Kampfformen und -Gesten der Leute, ihre wirkliche [»Sub-«]Kultur und deren Erforschung ebenso wie die Herausbildung einer kapitalistischen Halbbildungs- und Unterhaltungskultur).
Demgegenüber waren Gründung und Ausstattung des »Instituts für Sozialforschung« (anfangs von Köpfen wie Pollock, Korsch, Lukács, Wittfogel und anderen, meist auch KPD-Mitgliedern, repräsentiert) auf die unmissverständliche Konzeption ausgerichtet, die in der später so genannten »Frankfurter Schule« nicht mehr ohne weiteres sichtbar war: »Sie sollte der Arbeiterbewegung eine Theorie liefern« - so Brakemeier-, und eine revolutionäre, radikal kritische Theorie sollte es sein.
Man wollte nun herausfinden, »was die wahre marxsche Lehre sei«. Entsprechend eindeutig sprechen sich nach der Gründung des Frankfurter Instituts für Sozialforschung 1924 auch die ersten Aufsätze und Untersuchungen für eine Bestimmung von Geschichte und Klassenbewusstsein des Proletariats (wie in dem einflussreichen Buch von Lukács 1923) aus: die Rückbesinnung auf Marx, ja auf Hegel im Sinne der Freilegung ihrer Dialektik, die es endlich zur Aufklärung der Arbeiter »über ihre Zwecke, Ziele und historische Mission« durch sich selbst zu entfalten gelte, um sich als die revolutionäre Klasse und als das identische Subjekt-Objekt der Geschichte zu erkennen und sich als bloßes, zur Ware Arbeitskraft entmenscht-entfremdetes Proletariat selbst aufzuheben. Diese Verpflichtung, so Brakemeier, war »noch nicht einmal verschleiert« in den ersten Arbeiten des Instituts präsent.
Auch der junge Max Horkheimer wies damals etwa begeistert auf »Das ABC des Kommunismus« von Bucharin hin (»Das musst du unbedingt lesen!«), kokettierte später noch sogar mit leninistischen Organisationsprinzipien angesichts der aufziehenden NS-faschistischen Gefahr. Nur allmählich modifizierte Horkheimer seine anfängliche, ebenso explizite Selbstverpflichtung auf den Grundkonsens der »Gründerzeit« des Instituts.
Der große Bruch in dieser Beziehung auf »die historische Mission des Proletariats« als Erlöser aus der bürgerlichen Gesellschaft und ihrem Elend, das Zerreißen der unmittelbaren Bindung an die reale historische Arbeiterbewegung ist aber mit dem Sieg des Nationalsozialismus irreparabel für die Kritische Theorie geschehen: der tiefste Verunsicherungsprozess ist ausgelöst.
Der radikale Zweifel am konstitutionellen Vermögen der Arbeiterklasse, überhaupt noch das Schlimmste zu verhindern, und die Frage, ob nun historisch endgültig der revolutionäre Augenblick »versäumt ward« (wie es Adorno später als apodiktische Antwort formuliert); die Erfahrungen mit dem modernsten, kulturindustriell entwickeltsten Kapitalismus in den USA und angesichts der stalinistischen Hölle, ihrer Koexistenz mit dem NS-faschistischen »Behemoth«; schlussendlich die von Menschen gemachte Katastrophe, in der die europäisch-westliche, bürgerlich-moderne Geschichte als fabrikmäßige Ermordung der Juden in Europa kulminiert – diese ganze Erfahrung der 1930er–40er Jahre resultiert in der inneren Diskussion der Kritischen Theoretiker, die 1942-44 in den geschichtsphilosophischen Fragmenten der »Dialektik der Aufklärung« von Horkheimer und Adorno ihren wirkungsmächtigen theoretischen Ausdruck erhalten hat.
Die Studien der 1930er Jahre, wie vor allem auch von Erich Fromm zur Sozialpsychologie, später auch dessen viel beachtetes Buch »Escape from Freedom« (1941), die staatstheoretischen Kontroversen und NS-Deutungen von Friedrich Pollock und Franz Neumann, die verborgenen Arbeiten von Walter Benjamin zu den Fetischgestalten der bürgerlichen Kultur, dem gesellschaftlichen Traumschlaf des Proletariats und zum Begriff der Geschichte (1940) sowie die zunehmende Beschäftigung mit der Analyse des modernen Antisemitismus – alle diese Versuche der Kritischen Theorie jener weltgeschichtlich finstersten Jahre sind in der »Dialektik der Aufklärung« direkt oder indirekt reflektiert und durchaus – der eigenen Intention nach – in den Dienst der Aufklärung als Selbstaufklärung einer Gattung, einer Klasse gestellt, deren nahezu totale Verblendung im Selbstlauf der Geschichte blinden Umschlagens von Aufklärung in Mythos doch aufgewiesen werden soll.
Ganz besonders im Kapitel über »Kulturindustrie«, so betonte Brakemeier, wird dort ein totaler Integrationsmechanismus analysiert, in dem schlechthin alle und alles unter die Allmacht des Tauschwerts subsumiert würden, sodass sich aus dieser Perspektive bei den Autoren ein Gestus der Resignation gegenüber der Arbeiterbewegung entwickelt habe, mit dem sie denn auch aus der Emigration nach Frankfurt am Main zurückgekehrt seien.
Brakemeier konnte aber zugleich auch zeigen, dass dieser äußerlich resignativ anmutende, eine Abwendung von der Arbeiterbewegung und vor allem von jeder revolutionären Bewegung signalisierende Distanzierungsstil der zurückgekehrten Horkheimer und Adorno in Wirklichkeit »in merkwürdiger Weise doch noch immer parallel geht mit der Frage, die sie in all den Jahren bis zum Ende an die Praxis stellten: Wie sieht die Kritische Theorie dennoch reale Möglichkeiten?!«
Die Kategorie »Möglichkeit« im Sinne Horkheimers von »dem ganz Anderen«, im Sinne Adornos »von der Erlösung her« denkend, und durchaus auch im Hier und Jetzt als »reale Einsatzmöglichkeit« kritischer Theoriebildung in der Praxis ihrer Zeit, in den Bildungsanstrengungen der Arbeiterbewegung, in den Aufklärungsprozessen, um die sie sich als Universitätslehrer, in Radiovorträgen und Bildungsinstitutionen unablässig bemühten. Dabei bewegten sie sich - dies konnte Brakemeier am schlüssigsten für Adorno zeigen - gleichsam auf drei Schienen oder Ebenen:
In der besagten Lehr- und Forschungspraxis mieden sie »systematisch« politischen Kontakt mit sozialistischen AktivistInnen und insbesondere den linken StudentInnen (um den neomarxistischen SDS), die sie wohl zuweilen einmal aufsuchten, doch nur um zu versichern, dass dies nicht etwa mehr an »Politik«-Engagement bedeute, als im Rahmen »demokratisch-pluralistischer« und »hochschulpolitischer« Betreuung und Information geboten war. (»Nach großem Eiertanz«, so Brakemeier, gab Rektor Horkheimer schließlich zu: »Sie wissen doch, dass wir eigentlich zu Ihnen gehören.« Am Rockzipfel fassend sei zuweilen von Adorno »verstohlenes Interesse« geäußert worden an manifesten Formen der radikalen studentischen und auf die sozialistische Arbeiterbewegung orientierten Aktivität: »Was machen Sie denn da eigentlich?« als bedenkentragend-kritisch-theoretische Instanz gleichsam: »Ist das denn nicht unter unserem Niveau ...?!« Den kritischen Gesellschaftswissenschaftler Adorno hörte Brakemeier einmal sagen: »Also, wir haben hier kein politikwissenschaftliches Seminar!«)
In ihrer Lehre in den Seminaren hielten sie ostentativ an den zivilisatorischen und emanzipativen Standards der bürgerlichen Gesellschaft, der Aufklärung fest und klagten diese ein – namentlich bei Adorno deutlich heraushörbar – auch gegen »die Axt im Haus« linksradikaler Aktionsformen.
Gegen ökonomisch-materialistische »Ableitungen« und direkte »Vermittlungen« ins Politische verhielten sie sich abstinent: »Adorno krebst im Überbau«, hieß der entsprechende studentische Spruch. Vielmehr setzten sie alles daran, das kritische Bewusstsein und die negatorische Skepsis der StudentInnen zu schärfen. Brakemeier beobachtete: »Er machte ein Kant-Seminar und kam zu dem Urteil: Hegel hat Recht! Dann machte er ein Hegel-Seminar und kam zu dem Urteil: Kant hat Recht!«
In der wissenschaftlichen wie bürgerlichen Öffentlichkeit gaben sie in keinem ihrer radikalen Emanzipationsansprüche nach gegen die herrschenden Verhältnisse; hier nannte Brakemeier z. B. nur Adornos Referat auf dem Soziologentag (1961), wo dieser unmissverständlich die totalitätsbezogene Kritik an der »verwalteten Welt« des modernen Kapitalismus in Stellung gebracht hat gegen jegliche positivistische und pragmatistische Anpassungstechnokratie des soziologischen Fachidiotentums - es war die engagierteste wissenschaftliche Parteinahme für die Prole-tarisierten, die Subjekte der gesellschaftlichen Synthesis, die er im Spätkapitalismus als stumme Objekte der totalen Verdinglichung, ökonomischen Ausbeutung und politischen Entmündigung benennt.
Auf der rein philosophisch-theoretischen Ebene zeigt, so Brakemeier, wohl am komprimiertesten Adornos »Negative Dialektik«, dass und wie die Kritische Theorie ihre Arbeit weitertrieb an der Desillusionierung des negativen Prozesses der bürgerlichen Gesellschaft und damit zugleich »der negativen Seite des Gegensatzes« (Marx), den die auf dem Tauschwert beruhende Produktionsweise hervortreibt.
Sie erreichten und hielten damals ein Reflexionsniveau über »die Tauschgesellschaft«, auf dem sie kompromisslos und rigoroser denn je die bestimmte Negation des Bestehenden betrieben, wie Brakemeier an dem Stellenwert, den sie der gewerkschaftlichen Lohnpolitik beimaßen, verdeutlichte: in der Radikalisierung solcher Arbeiterkämpfe sahen sie zumindest eine Ausdrucksform des Einforderns jener Tauschgerechtigkeit, die immerhin zugleich der Rechtsillusion des kapitalistischen Warentauschs historisch innewohnt als Versprechen einer »gerechten Gesellschaft« überhaupt, in welcher, beim Wort genommen, die Subjekte den stummen Zwang der Lohnabhängigkeit und Herrschaft von Menschen über Menschen - wenn auch noch in verblendeter, zirkulationsbornierter Bewusstseinsform der Ideologie – infrage stellen.
Auch wies Brakemeier auf die »Ästhetische Theorie« Adornos als auf die entschiedene Philosophie des Glücksanspruchs, des Einklagens der Emanzipation durch das beschädigte gesellschaftliche Individuum als gegen die totalitäre kulturindustrielle Verdinglichung sich hermetisch sperrenden »unverdinglichten Rests« (Adorno) hin, worin sich in rein negatorischer Formensprache jene »Welt produktiver Triebe und Anlagen« allein noch authentisch entäußern könnte, der laut Marx die Unterdrückung und Verkrüppelung der individuellen Arbeitskraft an ihrer Wurzel angetan wird durch das Kapital.
Übrigens hatten gerade Adornos Vorlesungen zur ästhetischen Theorie »einen ungeheuren Zulauf«, was Brakemeier auf die Ahnung des in ihr aufscheinenden theoretisch sublimierten Verweises auf die Leidenserfahrung, Erinnerung an das messianische Glücks- und Erlösungsversprechen zurückführt, in der er den stets als Hintergrund der späten Kritischen Theorie zu lesenden theologisch-säkularisierten Gehalt (im Sinne des historischen Materialisten Walter Benjamin, der wechselseitigen Beeinflussung mit ihm bis 1940) zu erblicken glaubt.
Als »Geheimgeschichte« (Brakemeier) wurde damit sichtbarer, was oberflächlich vielen als Resignation der kritischen Theoretiker in der zugleich damals einbetonierten und aufbrechenden westdeutschen Klassengesellschaft erscheint: die ambivalente Bewegungsform vom Proletariat getrennter Denker einer Zeit, in der das Proletariat selbst an der Trennung von seiner eigenen historischen Bewegung (»Mission«) fast ausweglos zu laborieren schien.
Schon 1942 hatte Adorno an Horkheimer geschrieben, ihm komme es vor, als ob all die Fragen und Probleme, die sich bisher auf das Proletariat gerichtet hatten, nunmehr sich auf die Juden verschoben hätten – deren Vernichtung namentlich das Proletariat in Deutschland nicht vereitelte. Durch die nationalsozialistische »Deutsche Revolution« und die Shoah war kein ungebrochenes Verhältnis von Theorie und Praxis der Arbeiterbewegung mehr möglich – auch durch die »revolutionäre« Studentenbewegung der sechziger Jahre nicht. Unter ihrem Druck blieb für Adorno allein »der kompromisslos kritisch Denkende, der weder sein Bewusstsein überschreibt noch zum Handeln sich terrorisieren lässt, in Wahrheit der, welcher nicht ablässt«:
»Es gibt Phasen, wo die Theorie die beste Praxis ist.« Das Wiederaufgreifen dieser dialektischen Form und inneren Konsequenz der Negativität ist für Brakemeier die einzig mögliche theoretische Praxis heute angesichts der weiter disparaten Konstellation, in der die Kritische Theorie auf uns kommt als unabgegoltener Anspruch, »wenn auch zunächst nur deklariert als Flaschenpost«.
Die Diskussion warf u. a. die Fragen nach der Tiefenschärfe ihrer Analyse der Wert-und Warenform, Arbeitskategorie und Fetischgestalten auf sowie die damit zusammenhängende Beziehung zu bürgerlichem Staat als »vernünftigem Allgemeinem«, zu ihren »geheimen« Räte- und Parteiorganisationsvorstellungen und schließlich der Stelle von Kunst und Psychoanalyse bei ihrer Deutung des subjektiven Verblendungszusammenhangs. Schließlich wurde auch die Frage nach einer gewissen zwischen den Zeilen spürbaren Ranküne gegen die Proletarisierten namentlich in Texten von Adorno nicht ausgespart.
Peter Christoph