Ablaufplan des Lektürekurses ab Februar 2002.

Moishe Postone 

Zeit, Arbeit, Soziale Dominanz. Neuinterpretation der Marxschen Theorie

Moderation: Tina Meyer, Peter Christoph

{zum Ankündigungs-Text → / zum Bericht →}
[Alle Veranstaltungen finden samstags um 15 Uhr in der Mühlgasse 13 in Frankfurt-Bockenheim statt.]  

Moishe Postone unternimmt eine fundamentale Neuinterpretation der reifen kritischen Theorie von Karl Marx. Er stellt viele der Voraussetzungen infrage, von denen traditionelle MARXistische Analysen gewöhnlich ausgehen, und eröffnet neue Lesarten der zentralen Argumente bei Marx. Dies leistet er, indem er begrifflich Konzeptionen entwickelt, darauf angelegt, Wesensbestimmung wie historische Entwicklung der modernen Gesellschaft zu erfassen sowie die bekannten Dichotomien von "Struktur" einerseits und "Handeln" andererseits, von "Bedeutung, sozialem Sinn" einerseits und "materiellem Lebensprozess" andererseits aufzuheben.   

Diese begrifflichen Konzeptionen führen ihn an eine Kernanalyse der Natur des Kapitalismus und seiner Probleme heran und schaffen zugleich damit die Grundlage für seine Kritik des "real existierenden Sozialismus". In dieser neuen Sicht zeigt sich nun, wie Marx die Kerngestalt des kapitalistischen Systems ausmacht: als unpersönliche Form sozialer Dominanz oder anonyme gesellschaftliche Herrschaftsform, die nicht bloß auf Marktmechanismen und Privateigentum beruht, sondern durch "die Arbeit" selbst hervorgebracht und reproduziert, generiert wird.   

Daraus folgt die Kennzeichnung von proletarischer Arbeit und dem industriellen Produktionsprozess eher im Sinne von Ausdrucksformen sozialer Dominanz anstatt in erster Linie als Mittel der menschlichen Emanzipation. So geht aus dieser Deutung auch eine kritische Analyse des historisch so dynamischen Charakters der modernen Produktionsweise und Lebenswelt hervor: indem die Formbestimmtheit des ökonomischen Wachstums und der Struktur der gesellschaftlichen Arbeit in Beziehung gesetzt wird zu der Entfremdung und gesellschaftlichen Herrschaft, Dominanz, die gewissermaßen das Herz des Kapitalismus darstellen. Mit dieser Neuformulierung argumentiert Postone für die Grundlegung einer kritischen Gesellschaftstheorie, die dem Kapitalismus besser entspricht, ihn genauer und tiefer begreift, so, wie er sich im ausgehenden Zwanzigsten Jahrhundert entwickelt hat. (Nach dem Klappentext der US-Edition von 1994.)   

Unser Lektürekurs will den Anspruch Postone's (siehe Waschzettel vorne) ernstnehmen und zunächst die Erschliessung des Hauptwerks dieses anregenden Aussenseiters ermöglichen. Und zwar 1.aufholend, 2.kollektiv, 3.kritisch.   

Die Postone-Rezeption muss aufholen! Denn eine deutsche Übersetzung dieses bedeutenden und in den 1990er Jahren besonders in der deutschen Linken zunehmend einflussreichen Buches verschleppt "sich" seit nunmehr fast zehn Jahren, mit der Folge, dass sie entweder als Geheimwissen eingeweihter akademischer Zirkel umstrittener Geist in der Flasche bleibt oder als eine Art theoretischer McGuffin von allerlei theoriefeindlichen politischen Freibeutern missbraucht wird, die sich auf "den Postone" berufen, den kaum eine/r kennt. Sollte das endlose Gezerre um die Übersetzung nunmehr tatsächlich in einer revidierten und gekürzten deutschen Ausgabe wie angekündigt im kommenden Sommer kulminieren, dann wollen wir einigermaßen vorbereitet sein. Wir werden schwerpunktmäßig entlang eigener Übersetzungen zentrale Passagen des umfangreichen Originals zusammen durchgehen.   

Kollektive Aneignung dieser Marx-Neudeutung ist schon deshalb die angemessene Form, weil Sprache und Denkstil Postones - schon im Original und erst recht in einer Übersetzung - nur zusammen, d.h. in Kombination verschiedener LeserInnen mit ihren jeweils eigenen Zugängen, Interpretationen und praktischen wie theoretischen Konkretionen aus ihrer philosophischen Sprödigkeit und Langatmigkeit zu befreien sind. Obwohl das Werk als "redundant" verschrieen ist, kann eine gemeinsame Erschliessung die Stringenz seiner Kategorien ebenso herausarbeiten wie den immensen Reichtum seiner kritisch-theoretischen Quellen, indem wir diese selbst auf unsere verschiedenen Erfahrungen und Kenntnisse beziehen können. Im Einzelkämmerlein geht das nicht.   

Kritische Lektüre ist bei einer solchen theoretischen Herausforderung ebenso unerlässlich wie schwierig. Postone macht ganz rigide Voraus-Setzungen, aber er begründet sie auch, kommt immer wieder auf seine Ausgangsbedingungen zurück. Er nennt vor allem Marx: Grundrisse als seinen Orientierungsmaßstab. Am Marxschen Horizont der Kritik der politischen Ökonomie gilt es "time, labor, and social domination" zu überprüfen, genauso umgekehrt. Zunächst kommt es uns auf die Beurteilung der vorliegenden Übersetzungsversuche und schliesslich auf die Überprüfung der vorgeschlagenen Interpretation mit unseren Alltagserfahrungen, unserer Kenntnis des heutigen Kapitalismus an.   

Der vorgeschlagene Aufbau des Lektürekurses (welche Teile bzw. Passagen ausgewählt werden und übersetzt vorliegen (sollen), wird begründet und zur Disposition gestellt.)

1. Sitzung, 2. März 2002 

Vortreffen   

2. Sitzung, 6. April 2002 

Eine kurze Einführung in die Rezeptionslage wird gegeben und die Bedeutung wie Positionierung Postone's in der gegenwärtigen Linken darzustellen versucht.   

Wir beginnen mit dem Ersten Kapitel: Die Kapitalismuskritik von MARX - neu gedacht, p.7 - 15. Die Übersetzung liegt allen TeilnehmerInnen ebenso wie der Originaltext schon vor, der Inhalt des Kapitels wird einleitend referiert. Dann geht es zu den Verständnisfragen, anschliessend zur Diskussion über Text, Übersetzung, Argumentation und Realitätsgehalt. Es wird versucht, so weit die begrenzte Zeit es zulässt, in Postone's Darstellung der Marxschen "Grundrisse..." vorzudringen (p.21 - 39)   

3. Sitzung, 4. Mai 2002 

Dem Zweiten Kapitel werden zwei alternierende Übersetzungen zugrundegelegt zum Abschnitt: »Voraussetzungen des traditionellen Marxismus: Wert und Arbeit«, p. 43 - 49. Die theorie- und begriffsgeschichtlichen Abschnitte dieses Kapitels über »Ricardo und Marx« sowie über » "Arbeit","Reichtum" und Konstitution der Gesellschaft« werden kursorisch referiert, zu den Abschnitten »Die Kritik der Gesellschaft vom Blickwinkel der Arbeit« und »Arbeit und Totalität: Hegel und Marx«, p.64 - 71, liegt wieder eine Übersetzung vor.   

(Das Dritte Kapitel mit Postone's Einschätzung der "Kritischen Theorie / Frankfurter Schule", heben wir uns fürs nächste Halbjahr auf.)   

4. Sitzung, 1. Juni 2002 

Wir versuchen eine Gesamtdarstellung des Zweiten Teils dieses Buches: »Die Ware - ein Versuch zur Rekonstruktion der Marxschen Kritik«, mit dem Kernstück Viertes und Fünftes Kapitel: »Abstrakte Arbeit« und »Abstrakte Zeit«, p.123 - 222.   

(Das Sechste Kapitel, Postone's Kritik der Marxkritik von Habermas, sparen wir uns fürs nächste Halbjahr auf.)   

5. Sitzung, 6. Juli 2002 

Im Dritten und letzten Teil seines Buches geht Postone ans Produktionsverhältnis Kapital/Lohnarbeit insgesamt: »Zu einer Theorie vom Kapital« ist das Siebte Kapitel überschrieben (mit den Abschnitten über Geld, Kapital, Produktionssphäre sowie Die Kritik der bürgerlichen Zivilgesellschaft / The critique of bourgeois civil society), und das Achte Kapitel behandelt die proletarisch-entfremdete Arbeit unter dem Titel »Die Dialektik von Arbeit und Zeit«, p. 263 -298.   

Wir greifen uns noch aus dem Neunten Kapitel den Abschnitt über »Das Proletariat«, p.355 - 358, heraus und schaffen so eine vorläufig abrundende Darstellung in Parallelführung zu Marx' Kritik der politischen Ökonomie.   

Die beiden Schlusskapitel zur kapitalistischen Produktionsweise und dem möglichen revolutionären Subjekt als "the emerging critique" (Neuntes Kapitel: Die logische Eigendynamik/ der Selbstlauf/ die Tragweite der Produktion / The trajectory of production - und Zehntes Kapitel Überlegungen zum Schluss / Concluding considerations ) können dann erst im nächsten Halbjahr angemessen behandelt werden.  

{zum Ankündigungs-Text → / zum Bericht →} zum Seitenanfang

2013 || theoriepraxislokal.org