Klaus Winter: Monopolkapitalismus und Finanzkapital. (1b)
1. Das monopolistische Stadium des Kapitalismus
b) Kartell und Konkurrenz (Kestner)
Die Ursachen des »Organisationszwangs«
Als das Charakteristische für alle Kartelle betrachtet Kestner die Absatzbeschränkung zwecks Erhöhung der Preise, wobei entweder nur vertraglich geregelte Preisabsprachen bestehen oder auch die Produktion selbst ausdrücklich begrenzt wird [40]. Nun sind aber die einzelnen Kartellmitglieder selbständige Kapitale, die sich bezüglich ihrer Größe, ihrer Produktivität, ihrer Zusammensetzung aus fixen und zirkulierenden Bestandteilen [41], ihrer Fähigkeit zur Akkumulation im allgemeinen beträchtlich unterscheiden. Die Absatzbeschränkung steht daher nicht nur im Widerspruch zu dem unbeschränkten Verwertungsdrang der einzelnen Kapitale, darüber hinaus wirkt sie - wie jede andere für alle verbindliche Absprache - verschieden auf die einzelnen Mitglieder, deren Verwertungsinteressen sich während der Laufzeit des Kartellvertrages mit Notwendigkeit auseinander entwickeln.
»Der Gegensatz zwischen den Interessen der einzelnen Werke dauert, wie bereits angedeutet wurde, auch nach dem Zusammenschluß des Kartells fort. Während der Absatz beschränkt wird, bleibt die Leistungs- und Entwicklungsfähigkeit unbeschränkt. Daraus müssen sich mit Notwendigkeit neue Konflikte ergeben. Auch nach dem Beitritt zum Kartell sieht sich der einzelne Unternehmer immer erneut vor die Frage gestellt, ob er beim Verbleiben oder beim Ausscheiden aus der Organisation einen höheren Gewinn erzielen würde. Erwartet er diesen mehr von einer Steigerung seines Absatzes als von dem Festhalten am Preise, so liegt es in seinem Interesse, der Kartellbeschränkungen ledig zu werden.
Es ist aber nun eine charakteristische Erscheinung, daß dieser Gegensatz der Interessen gerade durch die Kartellgründung an Schärfe gewinnen kann infolge der verschiedenen Wirkung, welche die durch die Kartellierung hervorgerufene Erhöhung der Rentabilität auf die einzelnen Werke des Syndikats ausübt.« [42] Es kann also geradezu der Erfolg des Kartells - die Erhöhung der Profitrate - Gefahren für dessen Bestand heraufbeschwören. Wenig ausdehnungsfähige Werke können sich u.U. damit begnügen, die erhöhten Gewinne, die das Kartell ermöglicht, einzunehmen. »Als charakteristisch hierfür ist das Rheinisch-Westfälische Kohlensyndikat anzusehen, unter dessen mächtigem Schütze eine Reihe kleinerer Zechen ohne Fortentwicklung und ohne Anstrengung in kaufmännischer oder technischer Hinsicht im Besitz einer guten Rente sich befinden.« [43] Dagegen können entwicklungsfähige Werke genau umgekehrt zur Beschleunigung der Ausdehnung angeregt werden. »Als Beispiel hierfür dürfte der Stahlwerksverband gelten, bekanntlich ein fast ausschließlich aus großen gemischten Werken bestehendes Syndikat, wo die hohen Kartellgewinne aus den monopolisierten sogenannten A-Produkten - Halbzeug, Träger und Eisenbahnmaterial - zu der enormen Ausdehnung der Unternehmungen wesentlich beigetragen haben. Natürlich kann nun auch die Steigerung der Rentabilität innerhalb desselben Kartells ganz verschieden wirken, dort zu einer Saturierung, hier zur starken Anspannung führen, gleichzeitig die Vergrößerungstendenz der großen und auf der anderen Seite die Widerstandsfähigkeit der kleinen Werke verstärken.« [44] Andere Formen, in denen sich der Ausdehnungsdrang der Kapitale betätigt (Umgehungen der Kartellpflicht, Fusionen innerhalb des Kartells, Kombinationen mit Werken des vorangehenden oder nachfolgenden Produktionsabschnitts) sollen hier nicht näher dargestellt werden [45]. Es geht aus dem Bisherigen hervor, daß das Kartell die ungleichmäßige Entwicklung der Einzelkapitale nicht nur nicht beseitigt, sondern im Gegenteil befördert und so den Konkurrenzkampf innerhalb des Kartells - z. B. in der Form des Tauziehens um Beteiligungsziffern und neue Preisgestaltung - verschärft.
Neben diese kartellinterne Konkurrenz tritt die Entstehung neuer Außenseiter als notwendige Folge der Kartellierung. Kestner hält es für charakteristisch, daß »gerade durch die Kartellierung das Entstehen neuen Wettbewerbs befördert und begünstigt wird. Dabei handelt es sich um zwei verschiedene Vorgänge (...)
1. Es ist wiederholt beobachtet worden und kann als eine allgemeine Erscheinung gelten, daß die durch die Kartellierung bewirkte Rentabilität neue Unternehmer und neues Kapital in die Industrie hineinzieht; diese neuen Unternehmungen erscheinen zunächst als Außenseiter. Am deutlichsten hat sich das wohl bei dem Kalisyndikat gezeigt, dessen hohe Preise dauernde Neugründungen hervorriefen. 1879 gab es 4, 1886: 10, 1898: 13, 1901: 23, 1905: 44, 1909: 52 Unternehmungen [46]
2. Die mit der Kartellierung verbundenen höheren Preise führen aber nun außerdem dazu, daß die Abnehmer oder Verbraucher der kartellierten Waren, um sich von dem Syndikat unabhängig zu machen, zur eigenen Erzeugung des Materials übergehen oder sich in den Besitz von Unternehmungen des vorangehenden Produktionsabschnitts setzen, und auf diese Weise in die Gliederkette des Kartells eingreifen. Auch hier handelt es sich um einen vielfach beobachteten Vorgang, dem eine allgemeine Bedeutung zukommt« [47].
Erst diese Tendenzen, die Kestner an einem reichlichen Beispielmaterial illustriert, sind die Ursache für den sogenannten Organisationszwang, d.h. das Bestreben der Kartelle, neue Außenkonkurrenz zu verhindern, schon existierende Außenseiter auszuschalten oder zum Anschluß an das Kartell zu bewegen und nicht zuletzt die eigenen Mitglieder an der Kündigung des Kartellvertrages zu hindern. Das erste, was Kestner also darstellt, sind nicht die Methoden, zu denen das Kartell greift, - diese werden von Lenin ausschließlich angeführt - Kestner fragt sich zunächst, warum das Kartell überhaupt zu gewissen Zwangsmitteln greifen muß. Die Ursache sieht er in der Konkurrenz, die die Kartellpolitik durchkreuzt, und er versucht, genauer festzustellen, »von welchen Voraussetzungen die Entstehung der Gegensätze abhängig ist« [48]. Die allgemeine Grundlage für die Entstehung der Gegensätze besteht nach Kestners Schilderung darin, daß sich die Kapitale innerhalb und außerhalb des Kartells nach ihrer »Rentabilität«, d.h. nach ihren Verwertungsmöglichkeiten richten. Sie verhalten sich wirklich als Kapitale, sie folgen dem ihnen innewohnenden Verwertungstrieb, der mit Notwendigkeit die Konkurrenz hervortreibt, die zu einer Gefahr für das Kartell wird. Der Kartellvertrag selbst - weit davon entfernt, die Konkurrenz zu beseitigen, aufzuheben oder zu ersetzen - mag sie zeitweise latent halten, auf die Dauer aktiviert und befördert er sie. Erst auf diesem Boden kapitalistischer Verhältnisse wird das verständlich, was Kestner den »Organisationszwang« nennt, die Abwehrmaßnahmen des Kartells gegen die spontan sich entwickelnde Konkurrenz. Der Charakter dieses Organisationszwangs ist von vornherein defensiv.
Die Wirksamkeit des »Organisationszwangs«
Die Methoden, mit denen das Kartell um seine Erhaltung bzw. um seinen Erfolg als Kartell kämpft, müssen sich, wie wir gesehen haben, sowohl gegen bestehende Außenseiter und die Entstehung neuer Außenkonkurrenz als auch gegen die »zentrifugalen Bestrebungen« [49] der Kartellmitglieder richten.
Betrachten wir zunächst den »internen Kartellzwang«. »Die Möglichkeit, die Mitglieder zu Einhaltung der Kartellverpflichtungen zu zwingen und sie an der Lösung des Verhältnisses zu hindern, ist wesentlich durch die Gestaltung des Kartellrechts bedingt, das bekanntlich in den einzelnen Staaten äußerst verschieden ist.« [50] Auf die rechtliche Seite des deutschen Kartellwesens kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden; Kestner widmet ihr einen umfangreichen Abschnitt seines Buches. Es genügt, auf eine Besonderheit des deutschen Kartellrechts zu verweisen: »Die Kartellverpflichtungen sind in Deutschland grundsätzlich ebenso klagbar wie jede andere Vertragspflicht; das deutsche Recht unterwirft sie keinen Beschränkungen; es darf direkt auf Erfüllung der Kartellpflicht oder auf Unterlassung der Zuwiderhandlung geklagt werden.« [51] Im Streitfall haben die Gerichte also auf der Grundlage des Wortlauts der Kartellsatzungen geklärt, ob der Tatbestand einer Vertragsverletzung vorliegt, und entsprechend entschieden. Daneben entwickelte sich eine »kartellinterne Strafgerichtsbarkeit« [52], mit der das Kartell unter Ausschluß des Rechtswegs gegen eigene Mitglieder vorging. »Das deutsche Recht, das auch hier den Kartellen sehr günstig ist, läßt Schiedssprüche nicht nur unbedingt zu, sondern leiht ihnen auch in aller Regel die Schärfe seines Vollstreckungszwangs ohne vorherige inhaltliche Nachprüfung (...) Zu einer wirklichen Vollstreckung kommt es allerdings verhältnismäßig selten, da die Kartelle sich durch Hinterlegung von Wechseln oder Kautionen gegen Vertragsbrüche sichern und so bereits den Vertragswert in Händen haben, auf den sich sonst die Vollstreckung richten müßte.« [53] Maßnahmen zur Kontrolle der Einhaltung der Kartellpflichten sind vielfältig; hierzu kann unter anderem die Verpflichtung zur Anzeige von Vertragsbrüchen, Geheimhaltung des Denunzianten, Prämien für die Denunziation usw. gehören [54]. Man kann sich hier die Frage stellen, ob diese Rechtspraxis und -anschauungen aus einem hochentwickelten Kapitalismus hervorgegangen sind oder ob sie mit einer gewissen Unentwickeltheit des bürgerlichen Rechts im zweiten deutschen Kaiserreich zu tun haben.
Da auf die beschriebene Weise in der Regel keine Garantie gegen Umgehungen der Kartellpflicht erzielt werden konnte, griffen die Kartelle in wachsendem Maß zur Schaffung einer gemeinsamen Verkaufsstelle: das Kartell gab sich die Form des »Syndikats«. »Das Vorhandensein einer gemeinsamen Verkaufsstelle macht sonstige Kontrollmaßregeln noch nicht überflüssig, beschränkt sie aber auf die Feststellung, ob außerhalb des Syndikats verkauft worden ist.« [55] Nach dieser Auffassung war das Syndikat eine Form der Kontrolle selbständiger Privatproduzenten, deren eigenständigem Verwertungsdrang äußere Fesseln angelegt wurden. Die Zentralisierung des Verkaufs war kein Ausdruck zunehmender Vergesellschaftung der Produktion, sondern Instrument zur Disziplinierung der Kartellmitglieder, notwendig deshalb, weil die Produktion innerhalb des Kartells gerade nicht gesellschaftlich geregelt war. »Auf den Wunsch nach Kontrolle, nicht auf den Wunsch nach schärferer Spezialisierung und Konzentrierung geht, wie in systematischer Hinsicht bemerkt sein mag, im allgemeinen die Schaffung der sogenannten Kartelle höherer Ordnung zurück, wenngleich der einen oder anderen Organisation von Anfang an auch die technischen Vorteile eines solchen Verfahrens klar gewesen sein mögen.« [56] Schließlich kann durch Vorteile, die sich aus dem Ausbau gemeinsam benutzter Einrichtungen (gemeinsame Einkaufsorganisation, gemeinsame Lagerhaltung usw.) ergeben, während die ursprünglich selbständige Verkaufsorganisation des einzelnen Mitglieds zerstört wird, der Austritt aus dem Kartell erschwert werden.
Was den äußeren Kartellzwang betrifft, so hat Lenin die Palette der möglichen Mittel aufgezählt [57]. Dabei handelt es sich aber nur um die Waffen gegen schon existierende Außenseiter. Um aber die Entstehung neuer Außenkonkurrenz zu verhindern, müßte das Kartell eine ganze Reihe weiterer Maßnahmen ergreifen. Zum Teil betreffen sie schon die eigenen Mitglieder. Insbesondere müßte verhindert werden, daß ein Mitglied außenstehende Werke kauft oder sich an ihnen beteiligt und so dem Kartell, dem es selbst angehört, Konkurrenz macht. Umgekehrt müßte ausgeschlossen werden, daß der Betrieb eines Mitglieds - z. B. im Falle eines Konkurses - an Außenseiter oder sonstige Neuerwerber verkauft wird. Gegenüber außenstehenden Produzenten anderer Produktionszweige müßte sichergestellt werden, daß diese nicht selbst zur Produktion der Kartellprodukte übergehen. »Um zu verhindern, daß der Kunde selbst die Produktion aufnimmt, empfiehlt Silberberg (...), dem Abnehmer vertragsmäßig zu verbieten, die betreffenden Waren selbst zu produzieren.
Bei diesen Vorbeugungsmaßregeln dürfen sich die Kartelle nicht auf die Werke beschränken, die das Produkt gegenwärtig herstellen, sondern müssen auch die in Betracht ziehen, die vermöge ihrer Maschinenanlagen zur Erzeugung des kartellierten Produkts übergehen könnten. Ein Druckpapier-Syndikat kann ein tatsächliches Monopol nicht erreichen, solange es nicht die Fabrikanten aller Papiersorten sich gesichert hat. Die früheren Verbände für Stabeisen scheiterten hauptsächlich daran, daß, sobald der Preis zu hoch stieg, die Drahtwalzwerke daran gingen, auf ihren Straßen Stabeisen statt Draht auszuwalzen.« [58]
Spätestens hier, wo der Entstehung neuer Außenseiter vorzubeugen ist und die Aufgabe, die das Kartell sich damit stellt, ins Uferlose wächst, werden die Grenzen deutlich, die die kapitalistische Privatproduktion dem Erfolg des »Organisationszwangs« setzt. Kestner kommt denn auch zu dem Schluß: »Wenn man so die Kartelle allgemein in Tätigkeit sieht, die Entstehung neuer Konkurrenz zu verhindern, so sind doch der Durchführbarkeit derartig dauernder Monopolisierungen verhältnismäßig enge Schranken gezogen. In der weit überwiegenden Mehrzahl der Industriezweige und des Handels ist zwar eine vorübergehende, aber - ohne Staatshilfe - keine dauernde Monopolisierung möglich.« [59] Damit bestreitet Kestner nicht den Umfang, den die Kartellbildung in Deutschland angenommen hat. Von ihm wird aber »der grundsätzliche Unterschied betont, der sich zwischen der Möglichkeit, ein Gewerbe zu kartellieren und zu monopolisieren zeigt. Die Zahl der Gewerbe, in denen sich Verbände schließen lassen, ist nach den heutigen Erfahrungen fast unbegrenzt. Monopolisieren lassen sich dagegen nur ganz wenige Gewerbe, denn dazu ist, abgesehen vom Eingreifen des Staates, in aller Regel notwendig, daß es gelingt, eines der Produktionsmittel vor jeder neuen Konkurrenz abzusperren.« [60] Es mag das subjektive Ziel »der Kartelle sein, ein Monopol zu errichten; aber seiner Verwirklichung sind objektive Grenzen gesetzt. Darin ist der grundsätzliche Unterschied zu sehen, auf den Kestner hinweist.
Im letzten Satz hat Kestner die von Lenin aufgezählten Mittel im Kampf gegen Außenseiter angesprochen. Bei diesen Maßnahmen handelt es sich in der Hauptsache um Sperrung irgendwelcher Reproduktionsbedingungen (Material, Arbeitskräfte, Kredit, Absatz). Auch hier stellt sich Kestner die Frage, ob diese Mittel mit Erfolg einsetzbar sind. Er argumentiert, daß die erfolgreiche Sperrung einer dieser Reproduktionsbedingungen bereits ihre Monopolisierung voraussetzt, die in der Regel nicht möglich ist. »Da, wie gezeigt, Arbeit und Zufuhr sich nicht, Absatz und Kredit kaum sperren lassen, so bleibt im wesentlichen nur die Monopolisierung von Grund und Boden übrig. Damit aber beschränkt sich dies hauptsächlich auf die an das Vorkommen von Erdschätzen gebundenen Industrien, also vor allem Kohlen- und Eisenindustrie. Daneben kann durch enorme Kapitalinvestierung mit Hilfe der beteiligten Banken die Entstehung neuer Konkurrenz wenigstens erheblich abgeschwächt werden. Auch hierbei handelt es sich aber im wesentlichen um die schwere, Produktionsmittel herstellende Industrie.« [61]
Hier ist zu erwähnen, daß das Kalikartell, das ebenfalls die Monopolisierung des Bodens anstrebte, keinen erfolgreichen Kampf gegen neue Konkurrenz führen konnte. Die hohen Preise lockten, wie oben bereits bemerkt wurde, durch Jahrzehnte neue Konkurrenten an; die Kalivorkommen erwiesen sich als größer als erwartet. Meist mußten die neuen Außenseiter mit hohen Beteiligungsziffern in das Kartell aufgenommen werden. Die Außenkonkurrenz wurde dadurch »beseitigt«, daß sie sich innerhalb des Kartells ausdehnte. Hier waren es charakteristischerweise die besonders entwicklungsfähigen Werke, die zur Sprengung des Kartells beitrugen.
Ferner kommt dem Rheinisch-Westfälischen Kohlensyndikat insofern eine Schlüsselrolle zu, als erst mit seiner Hilfe Syndikate des nachfolgenden Produktionsabschnitts die Möglichkeit erhalten, ihren Konkurrenten, wenn nötig, die Zufuhr der Kohle zu sperren. »Nur mittels des Kohlensyndikats war es andererseits möglich, die Stahl- und Halbzeugproduktion zu dem Stahlwerkverband zusammenzuschließen - allerdings nur, indem die Freilassung insbesondere von Handelseisen, Feinblech der Ausdehnungsfähigkeit der Stahlwerke Platz ließ. Auf der Unterstützung des Kohlensyndikats beruhte und beruht das Roheisenkartell. Keines der Syndikate kann, wie es scheint, ohne das andere bestehen, vielleicht das Kohlensyndikat ohne den Stahlwerkverband, aber gewiß nicht das Roheisenkartell und der Stahlwerkverband ohne das Kohlensyndikat. Die Gefahren, die diesen Verbänden drohen, erwachsen ihnen nicht aus der Entstehung einer neuen Konkurrenz, sondern aus dem Ausdehnungsdrang ihrer eigenen Mitglieder.« [62]
Vergleichen wir an dieser Stelle Kestners Ausführungen mit dem Bild, das Lenin von dem »Organisationszwang« zeichnet. Außer den Ursachen des »Organisationszwangs«, der sich spontan entwickelnden Konkurrenz, hat Lenin auch den »internen Kartellzwang« nicht erwähnt, die Abwehrmaßnahmen gegen die zentrifugalen Tendenzen der selbständigen Kartellmitglieder. Diese inneren Widersprüche bilden aber erst die Basis für die Instabilität der Kartelle. Auch auf die Grenzen, denen die Wirksamkeit der Kartellmaßnahmen gegen Außenseiter unterliegen - ganz abgesehen von den beschränkten Möglichkeiten der Vorbeugung -, ist Lenin nicht eingegangen. Kestner konnte die Kartelle nicht, wie Lenin es zu tun pflegt, als »Monopolverbände« bezeichnen, da ihm die Realisierbarkeit monopolistischer Absichten als viel zu begrenzt erschien. Nach beiden Seiten - hinsichtlich der Ursachen und der Wirksamkeit - stellt sich der Kartellzwang für Kestner als ein abhängiges, durch kapitalistische Verhältnisse bedingtes und begrenztes Phänomen dar. Er ist eine Reaktion auf die spontane, kapitalistische Konkurrenz, und er bekämpft sie im allgemeinen vergeblich. Lenin dagegen nennt den Kartellzwang einen »Zwang zur Unterwerfung unter die Monopolverbände«, dessen Ursache im Monopol selbst zu suchen ist, denn die mit gewaltsamen Mitteln ausgeübte Herrschaft ist das, »was aus der Bildung allmächtiger wirtschaftlicher Monopole unvermeidlich hervorgehen mußte und hervorgegangen ist« [63]. Es zeigt sich hierin die Auffassung, daß das Monopol auf keiner tieferen Grundlage steht, der es untergeordnet ist und die seine Wirkungen begrenzt. Daher die »Allmacht« und selbstherrliche »Willkür« des Monopols, dessen Zwangsmaßnahmen jeden Widerstand zu brechen imstande sind: »Durch die Monopolinhaber werden alle diejenigen abgewürgt, die sich dem Monopol, seinem Druck, seiner Willkür nicht unterwerfen.« [64]
»Untergrabung der Warenproduktion« und »Herrschaftsverhältnis«
Kestner war sich im klaren darüber, daß gerade die Darstellung des »Organisationszwangs« die kapitalistische Konkurrenz ins Licht rückt und damit »der populären Auffassung der Kartelle« [65] widersprochen wird, die dazu neigt, die Einheit der Kartelle zu betonen und die inneren Widersprüche zu übersehen. »Es ist vielleicht nicht unzutreffend zu behaupten, daß in der heutigen Kartelliteratur die Darstellung der Momente, in denen die Unternehmer zusammenwirken, einen besonders breiten Raum einnimmt - wohl zum Teil hervorgerufen durch die Betonung des Gegensatzes zu dem System des freien Wettbewerbes. Demgegenüber ermöglicht die Untersuchung des Kartellzwanges, auch die trennenden Momente, die Gegensätze in das rechte Licht zu rücken, und man gelangt so vielleicht dazu, in das viel gemalte Bild der Kartellbewegung einige neue Züge einzuzeichnen.« [66]
Den Unterschied zwischen dem »Kartellsystem« und dem »System des freien Wettbewerbes« sah Kestner in zwei Punkten. Erstens: »die Änderung der Methoden (...), die das Kartellsystem für die Austragung der Interessengegensätze zwischen den bisher konkurrierenden Unternehmern ausgebildet hat«; zweitens: »die Änderungen, die es in ihrem Verhältnis zu den Abnehmern bewirkt« [67].
Der erste Unterschied ist »gewissermaßen ein quantitativer, kein qualitativer« [68]; Kestner versucht ihn als »das Vordringen der juristisch-spekulativen Tätigkeit neben der Ausgestaltung der Produktionstechnik und Absatzorganisation« [69] zu charakterisieren. Er meint damit, daß infolge des Kartellwesens rechtliche Fragen an Bedeutung gewinnen, daß nämlich beim Abschluß, bei der Auslegung oder der Umgehung von Kartellverträgen Fähigkeiten und Kenntnisse juristischer Natur verlangt werden und schließlich auch das Vermögen, zukünftige Gruppierungen bei der Kartellbildung vorauszusehen. Lenin, der - wie wir gesehen haben - sein Augenmerk ausschließlich auf die Änderung der Methoden richtet, übersetzte diese Kennzeichnung des Kartellwesens mit der »Untergrabung der Warenproduktion«. Kestner, der mit der Beschreibung der Ursachen und der Grenzen des »Organisationszwangs« gerade das Wirken der kapitalistischen Konkurrenz vorführt, meinte eher das Gegenteil. Indem er den Unterschied zwischen »Kartellsystem« und »freiem Wettbewerb« auf eine Änderung der Methoden, zu denen die Konkurrenten greifen, eingrenzte, bestritt er dessen grundsätzlichen ökonomischen Charakter.
Den zweiten Unterschied sieht Kestner in den kollektiven Vereinbarungen, die die Kartelle treffen, und in langfristigen Geschäftsabschlüssen. Wo die Monopolstellung das zuläßt, sichern sich die Kartelle in den Lieferbedingungen einseitige Vorteile auf Kosten ihrer Abnehmer (Exklusivklausel: die Abnehmer dürfen nur beim Kartell kaufen; Ausschluß der Haftung für die Qualität der Ware; Vorbehalt einseitiger Preiserhöhungen u. a. m.). Die Abhängigkeit, die in diesen einseitigen Verträgen zum Ausdruck kommt, hat Kestner als »Herrschaftsverhältnis« [70] bezeichnet, das die Rohstoffindustrie über die weiterverarbeitende Industrie gewonnen hat. Nach Kestners Auffassung entsteht dieses Herrschaftsverhältnis aber gerade dadurch, daß die weiterverarbeitenden Industriezweige, die auf Kohle und Eisen angewiesen sind, ihrerseits gegenüber der Rohstoffindustrie zu keiner entsprechenden Monopolstellung in der Lage sind. Es ist also eingegrenzt im wesentlichen auf die an Erdschätze gebundenen Zweige und bedingt dadurch, daß weite Bereiche der Industrie von der Möglichkeit einer Monopolisierung ausgeschlossen sind.
Es kommt hier nicht darauf an, die Richtigkeit des von Kestner gezeichneten Bildes im einzelnen zu überprüfen. Eine Einschätzung der Kartellbewegung in Deutschland muß weiteren Untersuchungen vorbehalten bleiben. Aber im Gegensatz zu der »populären Auffassung der Kartelle« kommt Kestner das Verdienst zu, das Verhältnis der Kartelle zu den kapitalistischen Bedingungen, denen sie unterworfen sind, untersucht zu haben. Es ist bemerkenswert, daß Lenin aus dieser Untersuchung keine Folgerungen zieht, sondern nur vereinzelte Gedanken zur Illustration seiner eigenen theoretischen Auffassung heranzieht. Unter der Voraussetzung, daß die Konkurrenz nur noch als formal anerkannter Rahmen [71] bestehen bleibt, innerhalb dessen sich die Monopole Bahn brechen, waren Kestners Überlegungen in ihrem eigenen inneren Zusammenhang nicht verwendbar. Denn die absolute, an keine weiteren Bedingungen geknüpfte Voraussetzung, von der Kestner ausgeht, ist der Verwertungstrieb des Kapitals und die ihm notwendig entspringende Konkurrenz. Durch sie ist der Organisationszwang bedingt, und erst auf ihrem Boden ist er zu verstehen. Es handelt sich um Abwehrmaßnahmen, um äußere Fesseln, die das Kartell der freien Bewegung der Kapitale anzulegen versucht. Wie begrenzt deren Wirkung ist, hat Kestner erläutert.
Lenin hat es unternommen, die Beschränkung der Konkurrenz durch allmächtige Monopolverbände mit Hilfe einer Studie zu illustrieren, die als Grundlage ihrer Argumentation die Beschränktheit der Kartellpolitik infolge der kapitalistischen Konkurrenz hat. Das verweist darauf, daß der entscheidende Rückhalt für seine Auffassung vom Monopolkapitalismus nicht aus dem von Kestner gebotenen empirischen Material stammen konnte, sondern im Bereich seiner allgemeinen theoretischen Voraussetzungen gesucht werden muß, die eine bestimmte Sicht des Verhältnisses von Monopol und Konkurrenz bedingten. Lenins theoretisches Verständnis der freien Konkurrenz weist auf alte Fehler hin, die Marx ausführlicher in den »Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie« kritisiert und denen er dort, aber auch im »Kapital«, seine eigene Auffassung entgegengestellt hatte.
Fussnoten
- Fritz Kestner, Der Organisationszwang, Berlin 1912, S. 17
- Kestner spricht von »konstanten« und »variablen« Kosten, d.h. Kosten, die bei Ausdehnung der Produktion konstant bleiben und solchen, die in diesem Fall ebenfalls zunehmen. Innerhalb gewisser Grenzen entspricht dies dem Unterschied von fixen und zirkulierenden Kapitalbestandteilen. Kestner, a. a. O., S. 15
- S. 26
- S. 27
- S. 28
- S. 33 ff.
- S. 57; Kestner merkt an, daß Huber (in: »Die Kartelle«) festgestellt hat, »daß nirgends so viele neue Werke entstünden, als dort, wo ein Syndikat ordnend eingriffe«. S. 57
- S. 59
- S. 7
- S. VIII
- S. 138
- S. 139
- S. 144
- S. 145 f.
- S. 152 f.
- S. 153
- S. 154
- LW 22, S. 210; Lenins dritter Punkt: »Sperre der Zufuhr« lautet bei Kestner: »Sperre der Zufuhr- und Absatzwege« (S. 96). Die Sperre der Zufuhr ist mit der Materialsperre (Punkt 1) identisch. Die Sperre der Transportwege hat in Deutschland - im Unterschied zu den USA - nur eine sehr begrenzte Rolle spielen können, da die Eisenbahnen fast ausschließlich in staatlichem Besitz waren (S. 97).
- Kestner, a. a. O., S. 161 f.
- S. 164
- S. 255 f.
- S. 256
- S. 171
- LW 22, S. 211
- LW 22, S. 210
- Kestner, a. a. O., S. 225
- S. 225
- S. 227
- S. 229
- S. 240
- S. 254
- LW 22, S. 209