Grundlegendes zum Imperialismusbegriff von 1986/87
Klaus Winter
Monopolkapitalismus und Finanzkapital
Zur Problematik beider Begriffe in Lenins Imperialismusschrift
Inhalt:
- Vorbemerkung des Autors
- Das monopolistische Stadium des Kapitalismus
- Das Finanzkapital
- Schlußbemerkung
Vorbemerkung des Autors
In dem im April 1917 verfaßten Vorwort zu seiner Schrift über den Imperialismus bemerkte Lenin, er sei mit Rücksicht auf die zaristische Zensur genötigt gewesen, sich »strengstens auf die ausschließlich theoretische - insbesondere die ökonomische - Analyse zu beschränken« [1]. Die »notwendigsten Ergänzungen« versuchte er 1920 im Vorwort zur französischen und deutschen Ausgabe zu geben; eine Umarbeitung des ganzen Textes hielt er für unzweckmäßig, da die Hauptaufgabe des Buches nach wie vor dieselbe sei: »zu zeigen, wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts, am Vorabend des ersten imperialistischen Weltkriegs, das Gesamtbild der kapitalistischen Weltwirtschaft in ihren internationalen Wechselbeziehungen war« [2]. Mit diesem Ziel verband er 1917 die Hoffnung, seine Schrift werde dazu beitragen, »sich in der ökonomischen Grundfrage zurechtzufinden, ohne deren Studium man nicht im geringsten verstehen kann, wie der jetzige Krieg und die jetzige Politik einzuschätzen sind, nämlich in der Frage nach dem ökonomischen Wesen des Imperialismus. [3]
Der Beschränkung auf die ökonomische Seite des Imperialismus folgt auch der vorliegende Artikel, deren Behandlung darüber hinaus auf die ersten beiden der fünf Merkmale eingegrenzt wird, welche Lenin als grundlegend für die Charakterisierung des Imperialismus ansah. Diese fünf Merkmale werden in der Imperialismusschrift folgendermaßen formuliert: »1. Konzentration der Produktion und des Kapitals, die eine so hohe Entwicklungsstufe erreicht hat, daß sie Monopole schafft, die im Wirtschaftsleben die entscheidende Rolle spielen; 2. Verschmelzung des Bankkapitals mit dem Industriekapital und Entstehung einer Finanzoligarchie auf der Basis dieses ‘Finanzkapitals’; 3. der Kapitalexport, im Unterschied vom Warenexport, gewinnt besonders wichtige Bedeutung; 4. es bilden sich internationale monopolistische Kapitalistenverbände. die die Welt unter sich teilen, und 5. die territoriale Aufteilung der Erde unter die kapitalistischen Großmächte ist beendet.« [4] Die letzten drei Merkmale liefern den Zugang zur Einschätzung der imperialistischen Politik und des ersten Weltkriegs. Mit ihnen wird die internationale Aktivität des Finanzkapitals und der Monopole beschrieben, die sich in verschiedenen Formen der Expansion, der Aufteilung und Neuaufteilung der Welt (Kapitalexport, Kampf um Märkte und Rohstoffquellen, schließlich Kampf um Wirtschaftsgebiete und Territorien überhaupt) äußert. Der damit umrissene Zusammenhang zwischen der Entstehung des Finanzkapitals und dem Imperialismus als dessen charakteristischer Politik soll an dieser Stelle nicht näher untersucht werden. Lenin folgt darin J.A. Hobson [5], dessen Buch über den Imperialismus er mit besonderer Aufmerksamkeit verwertet [6] - ohne jedoch die theoretische Basis der ökonomischen Auffassungen des englischen Publizisten, die Erklärung des Kapitalüberflusses aus der beschränkten Konsumtionsfähigkeit der Bevölkerung, zum Ausgangspunkt seiner eigenen Überlegungen zu machen.
Die Auseinandersetzung mit den ersten beiden Merkmalen der Imperialismusdefinition Lenins hat nicht nur deshalb ein eigenes Gewicht, weil sie Voraussetzung für die Behandlung der übrigen daraus abgeleiteten Merkmale ist; mit der Behauptung, daß um die Jahrhundertwende ein neues ökonomisches Stadium begonnen hat, das bereits in einem bestimmten Gegensatz zum Kapitalismus steht und als Übergangsstadium zu einer höheren ökonomischen Gesellschaftsformation zu begreifen ist, werden grundsätzliche Probleme der Ökonomie angesprochen, die über die historische Erklärung der zum ersten Weltkrieg führenden Politik hinaus tiefgreifende Bedeutung haben. Dabei muß zunächst die Fragestellung selbst genauer umrissen werden. Wenn Lenin den Imperialismus als Monopolkapitalismus bezeichnet, so kann es nicht unmittelbar um die Frage gehen, ob es in den Jahrzehnten bis zum ersten Weltkrieg zur Herausbildung von Monopolen, Kartellen, Trusts usw. gekommen ist oder nicht. Es handelt sich zum einen darum festzustellen, wodurch sich nach Lenins Auffassung das neue ökonomische Stadium vom alten Kapitalismus qualitativ unterscheidet, und zu fragen, ob die tiefgreifenden theoretischen Folgerungen, die Lenin zieht, - auch unter der Voraussetzung der Existenz von Monopolen - berechtigt sind. Zum anderen ist der theoretische Gehalt des Begriffs der Verschmelzung von Bank- und Industriekapital (des »Finanzkapitals«) festzustellen und zu kritisieren. In beiden Punkten wird zudem versucht, anhand wesentlicher, von Lenin herangezogener Quellen zu überprüfen, ob mit einem Stadium des Monopolkapitalismus bzw. einer Epoche des Finanzkapitals die ökonomische Realität zutreffend erfaßt ist. Dabei soll kein abschließendes Ergebnis vorgestellt werden, sondern eine Richtung angezeigt werden, in der weitere Untersuchungen folgen müssen.
1. Das monopolistische Stadium des Kapitalismus
a) Zum Problem des »Übergangskapitalismus«
Das Ergebnis seiner Untersuchung hat Lenin selbst in einem Satz zusammengefaßt: »Aus allem, was über das ökonomische Wesen des Imperialismus gesagt wurde, geht hervor, daß er charakterisiert werden muß als Übergangskapitalismus oder, richtiger, als sterbender Kapitalismus.« [7] In gewisser Hinsicht erscheint diese These leicht verständlich; sie besagt: der Kapitalismus existiert noch, er ist noch nicht gestorben; sein Ende steht zwar bevor, und die Vorzeichen seines Endes sind schon sichtbar, aber eine qualitative Änderung der Produktionsweise, durch die die Gesellschaft auf neue Grundlagen gestellt würde, steht noch aus. Ihre Möglichkeit reift heran, aber sie ist noch nicht Wirklichkeit geworden.
Mit der These des »Umschlagen(s) von Quantität in Qualität« [8] ist aber noch mehr gemeint, nämlich »das Umschlagen des hochentwickelten Kapitalismus in den Imperialismus« [9], das zeitlich etwa mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts zusammenfällt und damit bereits das Stadium des Übergangs einleitet. Dieselbe neue Qualität, die dem Inhalt nach in der Negation des Kapitalismus und im Übergang zum Sozialismus besteht, ist also schon Wirklichkeit geworden, sie besteht darin, daß sich »auf der ganzen Linie die Züge einer Übergangsperiode vom Kapitalismus zu einer höheren Gesellschaftsformation herausbildeten und sichtbar wurden« [10]. Damit hat die wirkliche Negation des Kapitalismus und der Übergang zum Sozialismus schon begonnen; es ist eine »Art neue Gesellschaftsordnung« entstanden, »die den Übergang von der völlig freien Konkurrenz zur vollständigen Vergesellschaftung bildet« [11].
Im allgemeinen wird eine »neue Gesellschaftsordnung«, die sich vom Kapitalismus qualitativ unterscheidet, eigene ökonomische Grundlagen haben, die im Gegensatz zu grundlegenden Eigenschaften des Kapitals stehen. Einen solchen qualitativen Unterschied hat Lenin in seiner Schrift angegeben: »Die freie Konkurrenz ist die Grundeigenschaft des Kapitalismus und der Warenproduktion überhaupt; das Monopol ist der direkte Gegensatz zur freien Konkurrenz (...)« [12] - an einer späteren Stelle sagt Lenin: »Wie wir gesehen haben, ist die tiefste ökonomische Grundlage des Imperialismus das Monopol.« [13] Das Monopol im Unterschied zum Kapital oder als direkter Gegensatz zur Grundeigenschaft des Kapitalismus - dieses Monopol wird als »tiefste ökonomische Grundlage« der neuen Gesellschaftsordnung betrachtet, d.h. es gibt keine tiefere Grundlage, auf der es steht, der es untergeordnet ist und von der es abhängt. Zwar ist es aus der freien Konkurrenz hervorgegangen, aber einmal entstanden, ist es an keine Bedingungen gebunden, es »bricht sich überall und mit jeglichen Mitteln Bahn« [14] - dagegen war die freie Konkurrenz an die Nichtexistenz von Monopolen gebunden und geht mit der Ausbreitung der Monopole zugrunde: denn diese Grundeigenschaft des Kapitalismus ist »unmöglich geworden (...), nachdem sie die Monopole erzeugt hat« [15]. Aus dieser Sicht sind offenbar die ökonomischen Grundlagen selbst betroffen; im Fundament der Produktionsweise hat sich ein qualitativer Umschlag vollzogen. Wenn auch die alte Grundeigenschaft des Kapitalismus noch fortexistiert, zu der das Monopol in einem »beständigen und unlösbaren Widerspruch« [16] steht; so erscheint sie doch nur noch als das »allgemeine Milieu« [17], während die Monopole »im Wirtschaftsleben die entscheidende Rolle spielen« [18]. »Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gewannen sie in den fortgeschrittenen Ländern das völlige Übergewicht (...)« [19]
Diese Charakterisierung des imperialistischen Stadiums bereitete Lenin, wie sich deutlicher in den Programmdebatten 1917 und 1919 zeigte, gewisse Schwierigkeiten. In beiden Fällen bekämpfte er den Versuch, den Imperialismus ausgehend von dessen eigener Grundlage, dem Monopol, zu charakterisieren und ihn so als ein einheitliches Ganzes darzustellen, d.h. das Monopol durchgängig als die tiefste Grundlage der neuen Epoche zu behandeln. Solchen Absichten hielt er entgegen: die »(...) wichtigsten und wesentlichsten Besonderheiten des Kapitalismus als einer ökonomischen Gesellschaftsordnung (...) haben sich durch den Imperialismus, die Epoche des Finanzkapitals, nicht grundsätzlich verändert (...) Der Imperialismus gestaltet in Wirklichkeit den Kapitalismus nicht von Grund aus um, und er kann es auch nicht.« [20]
Wenn es aber keine grundsätzliche Änderung des Kapitalismus gibt, dann können die Monopole nur auf derselben Grundlage agieren, die den alten Kapitalismus charakterisiert hatte, nicht aber selbst »die tiefste ökonomische Grundlage« der neuen Epoche darstellen. Wenn sie nicht fähig sind, den Kapitalismus »von Grund aus« umzugestalten, dann ist ihre Wirkung durch ihr Gegenteil, die freie Konkurrenz, begrenzt. Weit davon entfernt, sich »überall und mit jeglichen Mitteln« [21] durchzusetzen, werden sie die freie Konkurrenz nicht ablösen können, sondern unterliegen selbst ihren Wirkungen.
Diesen Schluß hat Lenin wiederum nicht gezogen, sondern sich damit begnügt, das Nebeneinander von Monopol und Konkurrenz zu betonen, die er beide als »Prinzipien« [22] bezeichnete, ohne eindeutig die Frage zu klären, welches von beiden dem anderen untergeordnet ist. Erst 1919 sprach er davon, daß »Imperialismus und Finanzkapitalismus ein Überbau über dem alten Kapitalismus« [23] sind, seine zerstörbare Spitze. »Zerstört man seine Spitze, so tritt der alte Kapitalismus zutage.« [24] Hier erscheint der alte Kapitalismus als das bleibende, den Wandel überdauernde »Fundament« [25].
Auch in der Imperialismusschrift selbst wird man eine Fülle von Schwankungen und Unsicherheiten feststellen können, die auch bei den schon vorgestellten Zitaten greifbar sind. So spricht Lenin nur von einer »Art« einer neuen Gesellschaftsordnung, ohne daß klar würde, wie dieser Vorbehalt zu verstehen ist. Auch an dem häufig gebrauchten Begriff der Übergangsperiode oder des Übergangskapitalismus scheint ihm etwas Falsches anzuhaften, da er sagt, »richtiger« sei die Bezeichnung »sterbender Kapitalismus« [26]. Der oben zitierten These von der Unmöglichkeit der freien Konkurrenz scheint wiederum die Feststellung zu widersprechen: »Zugleich aber beseitigen die Monopole nicht die freie Konkurrenz, aus der sie erwachsen, sondern bestehen über und neben ihr und erzeugen dadurch eine Reihe besonders krasser und schroffer Widersprüche, Reibungen und Konflikte.« [27]
Einschränkungen ähnlicher Art hindern aber nicht, daß Lenin Inhalte von großer Tragweite formuliert, auch wenn er selbst die Konsequenzen nicht in vollem Umfang gezogen hat. Dazu gehört z. B. die folgende Aussage: »Der Kapitalismus ist so weit entwickelt, daß die Warenproduktion, obwohl sie nach wie vor ‘herrscht’ und als Grundlage der gesamten Wirtschaft gilt, in Wirklichkeit bereits untergraben ist und die Hauptprofite den ‘Genies’ der Finanzmachenschaften zufallen. Diesen Machenschaften und Schwindeleien liegt die Vergesellschaftung der Produktion zugrunde, aber der gewaltige Fortschritt der Menschheit, die sich bis zu dieser Vergesellschaftung emporgearbeitet hat, kommt den Spekulanten zugute.« [28] Diese Charakterisierung des monopolistischen Stadiums ist deshalb so weitreichend, weil damit ausgesprochen wird, daß die Warenproduktion ihre die kapitalistische Produktionsweise bestimmende und prägende Kraft verloren hat. Nur in der subjektiven Meinung »gilt« sie weiterhin als Grundlage, von ihrer beherrschenden Rolle läßt sich nur noch in Anführungszeichen reden. Gewiß war Lenin der Ansicht, daß die Arbeitsprodukte immer noch die Form von Waren annehmen - sie werden gekauft und verkauft -, aber diese Form schien ihm nicht mehr charakteristisch für die in Wirklichkeit herrschenden Verhältnisse. Sie ist aber charakteristisch für den Kapitalismus.
»Es sind«, schreibt Marx, »zwei Charakterzüge, welche die kapitalistische Produktionsweise von vornherein auszeichnen. Erstens. Sie produziert ihre Produkte als Waren. Waren zu produzieren, unterscheidet sie nicht von andern Produktionsweisen; wohl aber dies, daß Ware zu sein, der beherrschende und bestimmende Charakter ihres Produkts ist. Es schließt dies zunächst ein, daß der Arbeiter selbst nur als Warenverkäufer und daher als freier Lohnarbeiter, die Arbeit also überhaupt als Lohnarbeit auftritt. Es ist nach der bisher gegebenen Entwicklung überflüssig, von neuem nachzuweisen, wie das Verhältnis von Kapital und Lohnarbeit den ganzen Charakter der Produktionsweise bestimmt.« [29] Den zweiten Charakterzug - »die Produktion des Mehrwerts als' direkter Zweck und bestimmendes Motiv der Produktion« [30] - können wir an dieser Stelle übergehen. Schon aus dem ersten geht hervor, daß die Ware als Produkt des Kapitals produziert wird. Daraus bereits ergibt sich »die ganze Wertbestimmung und die Regelung der Gesamtproduktion durch den Wert« [31]. Wenn Lenin also sagt, in Wirklichkeit sei die Warenproduktion bereits untergraben, so muß man daraus den Schluß ziehen, daß es nicht mehr der Wert ist, der die Produktion bestimmt und regelt [32]. An die Stelle des Wertgesetzes tritt das »Herrschaftsverhältnis und die damit verbundene Gewalt«: darin sah Lenin »das Wesen der Sache« und »das Typische« für - in Anspielung auf den Untertitel des Werks von Hilferding - »die ‘jüngste Entwicklung des Kapitalismus« [33].
Der Hinweis auf Hilferdings Buch »Das Finanzkapital« deutet an, von welchem theoretischen Boden aus Lenin die wirtschaftliche Entwicklung seiner Zeit zu begreifen versuchte: daß die Monopole Herrschaftsorganisationen sind, die mit der Aufhebung der Konkurrenz das Wertgesetz aufheben, steht im Zentrum der Theorie des »Finanzkapitals«, das Lenin als »eine höchst wertvolle ‘Studie über die jüngste Entwicklung des Kapitalismus)« [34] schätzte. In Anbetracht dieses Rückgriffs auf die Theorie Hilferdings bedarf die Behauptung, daß die freie Konkurrenz durch die Monopole abgelöst wird, nicht nur der empirischen Oberprüfung, sondern erfordert die Klärung der ihr zugrunde liegenden theoretischen Auffassungen. Die grundsätzliche Frage, die dabei aufgeworfen werden muß, ist nicht, ob es zu Beginn des 20. Jahrhunderts Einzelkapitale mit monopolistischer Stellung gab; selbst wenn man die Existenz von Monopolen voraussetzt, geht es um die Konsequenzen für die Produktionsweise als Ganzes: Hat sich in den gesetzmäßigen Grundlagen der kapitalistischen Produktionsweise eine solche Änderung vollzogen, daß nicht mehr die von Marx entwickelten Gesetze, sondern Monopole bestimmend sind? Ist eine neue Gesellschaftsordnung entstanden, die nicht durch Verwirklichung, sondern zunehmende »Untergrabung« der Warenproduktion gekennzeichnet ist?
Lenin war darum bemüht, seine Auffassung anhand vieler Zitate bürgerlicher Ökonomen zu belegen. »Um dem Leser eine möglichst gut fundierte Vorstellung vom Imperialismus zu geben, waren wir absichtlich bestrebt, möglichst viele Äußerungen bürgerlicher Ökonomen zu zitieren, die sich gezwungen sehen, besonders unbestreitbar feststehende Tatsachen aus der neuesten Ökonomik des Kapitalismus anzuerkennen.« [35] Unter diesen Autoren nimmt eine besondere Rolle Fritz Kestner ein, da Lenin einige der schon genannten besonders weitreichenden Bestimmungen des monopolistischen Stadiums anhand von Äußerungen aus dessen Buch über den »Organisationszwang« belegt. Lenin zitiert: »Auch innerhalb der rein wirtschaftlichen Tätigkeit tritt eine Verschiebung vom Kaufmännischen im früheren Sinne zum Organisatorisch-Spekulativen ein. Nicht der Kaufmann kommt am besten voran, der auf Grund seiner technischen und Handelserfahrungen die Bedürfnisse der Kunden am genauesten versteht, der eine latente Nachfrage zu finden und wirksam zu erwecken vermag, sondern das spekulative Genie (?!), das die organisatorische Entwicklung, die Möglichkeit der Beziehungen zwischen einzelnen Unternehmungen und zu den Banken voraus zu berechnen oder auch vorauszufühlen vermag.« [36] In diesem Urteil Kestners sieht Lenin den Gedanken ausgedrückt, der Kapitalismus sei schon so weit entwickelt, »daß die Warenproduktion (...) in Wirklichkeit bereits untergraben ist« [37]; daß »das Herrschaftsverhältnis und die damit verbundene Gewalt« das Wesen der neuen ökonomischen Verhältnisse sei, wird im Anschluß daran .mit folgendem Zitat belegt: »Eine dauernde Erhöhung der Preise als Kartellwirkung ist bisher nur bei den wichtigen Produktionsmitteln, insbesondere bei Kohle, Eisen Kali, dagegen auf die Dauer niemals bei Fertigwaren zu verzeichnen gewesen. Die damit zusammenhängende Erhöhung der Rentabilität ist gleichfalls auf die Produktionsmittelindustrie beschränkt geblieben. Diese Beobachtung muß man dahin erweitern, daß die Rohstoffindustrie nicht nur hinsichtlich Einkommensbildung und Rentabilität durch die bisherige Kartellbildung zuungunsten der weiterverarbeitenden Industrie Vorteile erzielt, sondern daß sie über diese ein bei freier Konkurrenz nicht gekanntes Herrschaftsverhältnis gewonnen hat.« [38] Da aus Kestners Werk nur diese beiden Stellen zitiert werden, die Lenin dennoch zu sehr allgemeinen und grundsätzlichen Bemerkungen veranlassen, erscheint eine ausführlichere Darstellung dieser Studie lohnend. Sie wird zur Beantwortung der Frage beitragen, ob Lenin die empirischen Tatsachen über die deutsche Kartellentwicklung [39] richtig eingeschätzt hat. Im nächsten Abschnitt werden deshalb - unter besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses von Kartell und Konkurrenz - Kestners Darlegungen in ihrem eigenen Zusammenhang vorgestellt.
Fussnoten
- W. I. Lenin, Werke, Band 22. Berlin, 1974 (im folgenden: LW 22), S. 191
- S. 193
- S. 192
- S. 270 f.
- John A. Hobson, Der Imperialismus, London 1902
- LW 22, S. 191
- S. 307
- S. 271
- S. 271
- S. 269 f.
- S. 209
- S. 270
- S. 280
- S. 212
- S. 295
- S. 281
- S. 281
- S. 271
- S. 304
- Siehe LW 24, S. 465
- LW 22, S. 212
- LW 24, S. 466
- LW 29, S. 153
- ebd.
- LW 29, S. 154
- Kautsky sprach 1908 vom »Hineinwachsen in den Zukunftsstaat«. Karl Kautsky, Der Weg zur Macht, Frankfurt 1972, S. 31 ff.
- LW 22, S. 270
- LW 22, S. 211
- Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Berlin, Band 25 (im folgenden: MEW 25), S. 886 f.
- MEW 25, S. 887
- ebd.
- Diesen Schluß ziehen die Autoren des Werks »Imperialismus heute«, indem sie behaupten, »daß für den staatsmonopolistischen Kapitalismus nicht dieses spontane Wirken der ökonomischen Gesetze, diese spontane Regulierung der Produktion und des Austausches, sondern ein umfassendes System der Regulierung im Maßstab der Volkswirtschaft charakteristisch ist.« Autorenkollektiv, Imperialismus heute, Berlin 1965, S. 416 f.
- LW 22, S. 211
- S. 199
- S. 271
- S. 210 f.; "(?!)" von Lenin
- S. 211
- S. 211; Hervorhebung von Lenin
- Kestner hat sich im wesentlichen auf die Betrachtung der Kartellbewegung in Deutschland beschränkt. Ein ausführlicher Vergleich der deutschen Verhältnisse mit der Kartell- oder Trustbildung in anderen Ländern - speziell etwa der USA - erfolgt im Rahmen dieses Artikels nicht und bleibt Aufgabe besonderer Untersuchungen. Als erster Schritt ist die Beschränkung auf Deutschland insofern berechtigt, als auch Lenin kaum über die Darstellung des deutschen Kartellwesens hinausgeht.