Bericht von der Veranstaltung am 26.10.2001:
Veranstaltungsbericht:
»Die Kommunistische Linke« mit Norbert Sanden
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Dem Referenten gelang es, den ca. 30 Interessierten eine überaus knappe und klare Zusammenschau der linkskommunistischen Strömung in Europa seit Ende des 1.Weltkriegs bis heute zu geben. Endlang der Geschichte von Politik und Organisationen dieses immer noch unterbelichteten und unterschätzten Teils der marxistischen Linken des vergangenen Jahrhunderts wurde auch die Bandbreite der Theoriebildung links vom »Leninismus'' vor Augen geführt: die Stelle innerhalb »des Marxismus« in der jeweiligen Selbstdefinition der verschiedenen Sektionen des Linkskommunismus zwischen Anton Pannekoek und Amadeo Bordiga - wobei diese Theorie und Methode »nicht als Produkt isolierter Denker, sondern als theoretischer Ausdruck des Klassenkampfes, d.h. der wirklichen Bewegung des Proletariats« gilt, als »Theorie der Verteidigung der unmittelbaren und der historischen Interessen der globalen Arbeiterklasse« selbst und nicht einer »orthodoxen« Repräsentation.
Entsprechend wurde diese Theoriebildung immer als in »Form einer kollektiven Anstrengung, d.h. von revolutionären Organisationen, nicht von isolierten Individuen« gefordert. Als gemeinsame Essentials dieses marxistischen Theorieflügels wurden hervorgehoben: die Analyse der sowjetisch-stalinistischen, chinesisch-maoistischen und anderen angeblich »realsozialistischen« Entwicklungs- »Modelle« als realem Staatskapitalismus: »Die Gleichsetzung von Staatskapitalismus und Kommunismus gilt der Kommunistischen Linken als die Große Lüge des vergangenen Jahrhunderts (...), die - wenn auch unterschiedlich orchestriert - von allen politischen Fraktionen des Kapitals, von der extremen Rechten bis zur extremen Linken, verbreitet wurde.« Ausgehend von den grundlegenden Versuchen Rosa Luxemburg's (»Die Akkumulation des Kapitals«, 1900) und Lenin's (»Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus«, 1916) entwickelten maßgebliche Teile dieser Strömung eine »Dekadenztheorie«, derzufolge sich das kapitalistische globale Akkumulations-System schon seit Anfang des 20.Jh. im krisenhaften Niedergang befindet - dieser qualvollen Endphase seien bereits beide imperialistischen Weltkriege entsprungen, wie andererseits die Notwendigkeit-bei-Strafe-des-Untergangs, eine neue, angemessene Theorie, Strategie, Politik und Taktik der proletarischen Revolution im Weltmaßstab zu entwickeln. Streitpunkte sind hierbei nicht allein die Konzeption der Organisation des »Parteibildungsprozesses des Proletariats« (Marx), sondern insbesondere die Einschätzungen, ob oder wie Gewerkschaften und Parlamentarismus noch je zu nutzen wären. Zwischen historischer Relativierung und »Invarianz«-Theorem schwanken hier bis heute die Analysen.
Durchgängig wurde eine gewisse Dualität sichtbar, auf der einen Flanke die bordigistische Theorie/Praxis, die wir vielleicht als ''linksleninistisch'' kenntlich machen können. Auf der anderen Flanke die »Rätisten«, deren kleinster gemeinsamer Nenner ein mehr oder weniger entschiedener Ann-Leninismus sein dürfte, vor allem was die Konzeption »der« revolutionären Organisation und der Staatlichkeit betrifft.
Die Darstellung wie auch die anschließende lebhafte Diskussion konnte den Eindruck entstehen lassen, dass der linkskommunistischen antistalinistischen und konsequent gegen alle bürgerlich-demokratischen Illusionen gerichteten theoretischen Öffnung und Offenheit einerseits - eine Segmentierung und immer weitergehende Fragmentierung, ja teilweise auch Verknöcherung der Organisationen in dieser Traditionslinie entgegensteht. So schloss auch der Vortrag mit dem Appell: »Die derzeit in Entstehung begriffenen Diskussionszusammenhänge und Gruppen der klassistischen, d.h. sich auf die Klassengesellschaft beziehenden und Sozialrevolutionären Linken sollten mit einer kritischen und nicht-sektiererischen Auseinandersetzung mit den historischen und gegenwärtigen Positionen der kommunistischen Linken beginnen«. Gesagt getan.
Streitpunkte der Diskussion waren vor allem: erstens das Theorieverständnis. Ist »der Marxismus'' eine in sich geschlossene, in ihren Fundamentalaussagen »invariante«, unveränderlich gültige Lehre (womöglich im Sinne der Leninschen Orthodoxie-Formel: »Der Marxismus ist allmächtig, weil er wahr ist!« ), oder »reduziert« sich die von Marx begründete Theoriebildung im wesentlichen auf »wissenschaftlichen Kommunismus« als eine bestimmte Methode (vgl. dahingehend Lukács 1923: »Was ist orthodoxer Marxismus« in: »Geschichte und Klassenbewusstsein«. Auch Lukács wurde damals von Lenin des »linken Radikalismus« geziehen in einer Linie mit Pannekoek e.a.)? Ist der »Klassismus«, sprich proletarische Klassenstandpunkt der archimedische Punkt für die Gewähr wissenschaftlich-wahrer, realitäts- und praxistüchtiger revolutionärer Theorie (und worin soll er eigentlich bestehen, wie kriegen wir ihn, diesen »Standpunkt«, ist er in »der Organisation der Revolutionäre« zu institutionalisieren? in »der Praxis« zu gewinnen? mit Löffeln zu fressen?) oder müssen wir uns begnügen mit der Auskunft von Marx im Vorwort zum »Kapital«: »Wenn überhaupt irgendeinen Standpunkt«, dann hätte die Wissenschaft durch ihre unparteiliche Rücksichtslosigkeit und Wahrheits-, Wirklichkeits-Sucht am Ende denselben Ort im Klassenkampf wie das Proletariat, in dessen historischem und praktischen Interesse sie auch ist ... Ist also die wissenschaftliche Wahrheitsuche nach dem konkreten Charakter des Kommunismus als »der wirklichen Bewegung, die den bestehenden Zustand aufhebt« (Marx, Engels) der archimedische Punkt ?
Zweitens kam Streit auf über die dialektische Erfassung von Übergängen (oder mit Lenin: »der konkreten Analyse der konkreten Situation«): vor allem am Beispiel der Einschätzungen des Charakters, der Klassendetermination des 2.Weltkriegs. Anstoß gab der Ausspruch von Bordiga, »das schlimmste Produkt des Faschismus sei - der Antifaschismus! Lenke dieser doch gerade ab vom Angriff auf die Grundlagen und politische Herrschaftsform, Kapital und (parlamentarische) Demokratie. Der davon abgeleiteten übergangslos und unterschiedslos, in einem Wort: schlecht abstrakt wirkenden Ablehnung jeder Verteidigung (auch noch bürgerlich klasseninhaltlichen) Demokratie ( gewissermaßen »umgestülpte Sozialfaschismusthese« à la »Zwillingsbrüder«-Spruch Stalins) wurde versucht, zum einen die historische Notwendigkeit und Möglichkeit (»bei Strafe des Untergangs«) des demokratischen Übergangs zur proletarischen Revolution (etwa: der bürgerlichen in proletarische Demokratieformen) entgegenzustellen, und andererseits in der Einschätzung des Klassencharakters des 2. Weltkriegs etwa auch seine »Überdeterminiertheit« zu behaupten: war er nicht sowohl kapitalistisch-imperialistisches Gemetzel zwischen faschistischen Achsenmächten und demokratischer Koalition - als auch zugleich und sogar wesentlich der Kampf um Sein oder Nichtsein der von Faschismen, NS und Ausrottung, Versklavung etc. bedrohten, überzogenen Bevölkerungsmassen mit dem Proletariat als Kern ?! Ging es nicht um die Bedingungen für Arbeiterbewegungen und Revolutionen überhaupt? Müssen »invariante« Prinzipien und dialektische Identität/Nichtidentität konkret-historischer Situationen starr gegeneinandergesetzt werden? (Übrigens wurde keine »Volksfront«-Apologetik in der Debatte laut.) Im Zusammenhang dieser Problematik wies der Referent auf den Bordiga-Text »Auschwitz als Alibi« (im Internet).
Weitere Streitpunkte waren die Übergangsstrategien und -probleme in Gesellschaften wie dem heutigen Iran, wo ja ebenfalls die Bevölkerungsmasse längst proletarisiert ist, die »Trümmer und Überreste vergangener Produktionsweisen« (Marx) wie Macht der Religion etc. ganz besondere konkrete Hindernisse für die sozialistische Revolution in den Weg gelegt haben ... Zugespitzt war die Debatte letztlich auf die Kardinalfragen der revolutionären Organisation (Organisation der Revolutionärinnen?) heute. Als Manko bleibt zum Referat nur noch kritisch anzumerken, dass die Situationisten (1958-72), die als marxistische und praktische Ultrarätekommunistlnnen gelten müssen, garnicht erwähnt wurden. Gerade sie hatten aber ökonomistische und politizistische Verengungen zu überwinden versucht und standen mit anderen Linkskommunistlnnen durchgängig im kooperativen Dialog. - Auch konnte über den entscheidenden Stellenwert der Krisentheorie bei den Linkskommunistlnnen diesmal noch nicht diskutiert werden.
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