Veranstaltungen September - Dezember 2001:

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Lektürenachmittage, Seminare:

 

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Mittwoch, 12. September 2001, 19.30 Uhr

Sind Warenproduktion und Markt mit einer sozialistischen Gesellschaft vereinbar?

Referent: Ansgar Knolle-Grothusen

Sozialisten und Kommunisten, die für eine grundlegende Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse kämpfen, stehen vor einem Dilemma: Wenn heute von Sozialismus als einer anderen, den Kapitalismus ablösenden Gesellschaftsform gesprochen wird, steht jedem als Bild der ›reale Sozialismus‹ des 20. Jahrhunderts vor Augen, also in Deutschland speziell die politische und ökonomische Praxis der Sowjetunion und der DDR. Die Akteure dieser Praxis nahmen für sich in Anspruch, eine Umsetzung der Schlussfolgerungen zu vollziehen, die Marx aus seiner Kritik der politischen Ökonomie des Kapitalismus gezogen hat. Doch die sozialistischen Staaten‹ des 20. Jahrhunderts waren ihrem eigenen Selbstverständnis nach Waren produzierende Gesellschaften, während Marx, Engels und auch Lenin nicht müde wurden zu betonen, dass eine sozialistische Gesellschaft unvereinbar ist mit dem Fortbestehen von Warenproduktion.

Warum hielten Marx, Engels und Lenin sozialistische Gesellschaft und Warenproduktion für unvereinbar? Wie kam es zur Revision dieses marxschen Verständnisses, wieso definierten sich die ›sozialistischen Staaten‹ des 20. Jahrhunderts als Waren produzierende Gesellschaften und in welchem Maße waren sie es tatsächlich? Wenn ihre Wirtschaftsorganisation nach den marxschen Kriterien nicht mehr kapitalistisch, aber noch nicht sozialistisch war, was war sie dann? Welche Konsequenzen hatte die Revision der marxschen Sozialismuskonzeption, was hat sie zu tun mit dem Scheitern des Anlaufs zu einer klassenlosen Gesellschaft im 20. Jahrhundert? Welche Schlüsse sind hieraus zu ziehen für die zeitgemäße Formulierung der grundsätzlichen Zielvorstellung von Kommunisten?

 

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Freitag, 28. September 2001, 20 Uhr im Cafe´Exzess

// abgesagt vom Referenten: //

›Globale Hexenmeister‹

Zur Kritik der ›Anti-Clobalisierungs-Bewegung‹. Referent: Stephan Grigat

Die spektakulären Ereignisse in Göteborg und Genua haben dafür gesorgt, dass auch die bürgerlichen Medien die Existenz einer neuen antikapitalistischen Bewegung entdeckt haben. Alle Medienaufmerksamkeit jedoch auf der einen Seite, alle Solidarisierung auf der anderen kann kaum darüber hinwegtäuschen, dass diese Bewegung ein Flickenteppich unterschiedlichster und teilweise widersprüchlichster Gruppierungen und Strömungen ist. Dabei gibt es Schnittmengen von Grundannahmen, die sowohl von den eher gemäßigt-reformistischen Teilen der GipfelgegnerInnen (ATTAC u. a.) als auch von den ›linksradikalen‹ Gruppen (Peoples Global Action etc.) mehrheitlich vertreten werden. Diese Schnittmengen zeigen einige höchst problematische Züge: So richtig es ist, darauf hinzuweisen, dass die Exponenten des WEF oder auch des IWF und der Weltbank mit ihrem Handeln ziemlich unmittelbar den Tod von unzähligen Menschen verursachen, so muss doch betont werden, dass eine verkürzte personalisierende Kapitalismuskritik fast immer dazu tendiert, Kritik in Ressentiment aufzulösen, und nicht selten in die Nähe antisemitischer Projektionen gerät. Überdies wird schnell deutlich, dass die neu entstehende Bewegung gegen die kapitalistische ›Globalisierung‹ gezeichnet ist von sozialen Illusionen: AktivistInnen kritisieren, dass zwischen den Ländern der ›Ersten‹ und der ›Dritten‹ Welt ein ›ungleicher Tausch‹ stattfinde, woraus dann die Forderung nach ›fairen Preisen‹, ›gerechtem Tausch‹, ›alternativem Handel‹ und Ähnlichem entsteht. Im Kapitalismus jedoch kann es ›faire Preise‹ nicht geben, da der Preis nicht Ausdruck moralischen Wollens, sondern ökonomischen Zwangs ist. Ausgehend davon sind WEF, IWF und Weltbank nicht zu dämonisieren, sondern als der Wertvergesellschaftung adäquate Institutionen zu kritisieren. Diese und andere Fragen, die innerhalb der radikalen Linken der Klärung bedürfen, wollen wir an diesem Abend diskutieren.

 

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Mittwoch, 17. Oktober 2001, 19.30 Uhr

// abgesagt vom Referenten: //

Von Massenarbeitern und umherschweifenden Produzenten

Zur Geschichte und Transformation des ›autonomen‹ Marxismus. Referent: Thomas Atzert

Mitte der Siebziger tauchte in der autonomia operaia, dem Wirkungskreis der autonomen Bewegungen in Italien, ein Konzept auf, das von denen, die es verwendeten, weniger als bloße Beschreibung eines gegenwärtigen Zustands denn als Antizipation einer möglichen gesellschaftlichen Entwicklung begriffen wurde, geeignet, politisch zu intervenieren und eine vielstimmige emanzipatorische Rebellion voranzutreiben. Operaio sociale hieß die begriffliche Synthese, die auf das neue sonderbare Wesen‹ (Toni Negri) aus sozialer Bewegung und vergesellschafteter Arbeit anspielte. Die Wendung betonte die charakteristischen gesellschaftlichen Verbindungen, in denen sich die Kämpfe der Frauen, der Jugendlichen, der Marginalisierten, der Schülerinnen und der Studenten, die Verweigerung gegenüber der kapitalistischen Ausbeutung und Verwertung und die Wiederaneignung des produzierten gesellschaftlichen Reichtums artikulierten. Der Ausdruck operaio sociale, gesellschaftlicher Arbeiter, selbst versuchte, das Proletariat begrifflich zu erweitern und insbesondere das Phänomen der ›Massenintellektualität‹ einzubeziehen, die Bedeutung intellektueller Tätigkeiten im Produktionsprozess wie in den neuen Formen von Öffentlichkeit. Die in den sechziger Jahren formulierten ›operaistischen‹ Thesen über die Massenarbeiter der fordistischen Fabriken, deren Revolte den korporativen und an die kapitalistische Entwicklungsdynamik, an standardisierte Massenproduktion und Massenkonsum gekoppelten Kompromiss zwischen Arbeiterparteien, Gewerkschaften, Unternehmern und Staat aufgekündigt hatte, nahm das neue Konzept auf; zugleich wurde die ›alte‹ operaistische Problematik transformiert und schließlich verworfen — als auf eine historisch zu Ende gehende Epoche bezogen. Die neue Formation des Kapitalismus und deren Entwicklungsdynamik nach der neoliberal genannten Konterrevolution der vergangenen zwanzig Jahre ist noch kaum analysiert. Der ›autonome‹ Marxismus liefert einen Beitrag zu dieser Analyse und Kritik, ausgehend von den sozialen Kämpfen und der Neuzusammensetzung der lebendigen Arbeit.

 

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Freitag, 26. Oktober 2001, 20 Uhr im Cafe´Exzess

Die Kommunistische Linke

Referent: Norbert Sanden

Im kapitalistischen Weltsystem ist das Proletariat die einzige revolutionäre Klasse. Der Marxismus ist der Rahmen, von dem aus und innerhalb dessen sich die revolutionäre Theorie des Proletariats entwickelt. Seit dem Ersten Weltkrieg befindet sich der Kapitalismus in der Phase seines historischen Niedergangs. Zum Kommunismus gibt es keine Alternative. Von diesen Grundsätzen ausgehend, haben in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts revolutionäre Minderheiten der Klasse damit begonnen, Fraktionen und Organisationen der Kommunistischen Linken aufzubauen. Dies geschah in einer Phase des Rückflusses der revolutionären Wellen, der zunehmenden antiproletarischen Haltung der Kommunistischen Internationale und der Vorbereitung der großen ›stalinistischen‹ Konterrevolution.

Im Referat wird in konzentrierter Form auf die politische Geschichte der wichtigsten Organisationen, vor allem der ›deutsch-holländischen‹ und ›italienischen‹ Kommunistischen Linken eingegangen. Vorgestellt werden ihre charakteristischen Positionen: Niedergangsphase des Kapitalismus, Sowjetunion, Demokratie/Volksfront/Faschismus/ Antifaschismus, Gewerkschaften, ›nationale Befreiungskämpfe‹ Autonomie des Proletariats, Rolle der revolutionären Organisation, Verhältnis Partei und Klasse. Darüber hinaus wird ein Überblick über die wichtigsten Internet-Quellen für Texte des Linkskommunismus gegeben. Am Beispiel von Programmatik und Praxis der in Deutschland bedeutendsten linkskommunistischen Organisation, der Internationalen Kommunistischen Strömung (www.internationalism.org), wird die Aktualität der Kommunistischen Linken, u. a. für die Kritik der ›Anti-Globalisierungs-Bewegung‹, diskutiert.

{Arbeitspapier zum Vortrag → // zum Bericht →}

 

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Mittwoch, 14. November 2001, 19.30 Uhr

Euro-Imperialismus oder Revival deutscher Großmachtpolitik?

Die Aufteilung Osteuropas am Beispiel Jugoslawien Referent: Klaus Hartmann

Der NATO-Angriffskrieg gegen Jugoslawien liegt jetzt über zwei Jahre zurück. Scheinbar wurden seine Ziele erreicht: In Belgrad gibt es eine dem Westen willfährige Regierung, Milosevic wurde nach Den Haag ausgeliefert, und das Kosovo ist von den europäischen Großmächten und den USA besetzt. Noch immer unbeantwortet ist die Frage, welche Ziele die Interventionsmächte eigentlich dort verfolgten, wenn man die Propagandaphrasen von ›Menschenrechten‹ und ›Friedenssicherung‹ beiseite lässt. Welche Rolle spielte und spielt Deutschland dabei? Die Ethnisierung und militärische Zerschlagung Jugoslawiens ist durchaus ein Beispiel für die Expansionspolitik des deutschen Kapitals und des dessen Interessen wahrnehmenden Staates. Um welche Art von ›Imperialismus‹ handelt es sich hier? Kann im klassischen Sinne von einem Wiederaufstieg des deutschen Imperialismus die Rede sein, der sich der Institutionen der EU lediglich bedient, um im europäischen Großraum seine Dominanz abzusichern, und die konkurrierenden Mächte Europas in eine vom deutschen Monopolkapital vorgegebene Strategie einbindet? Oder muss inzwischen von einem Euro-Imperialismus geredet werden, bei dem die nationalen Zuschreibungen noch als Ausgangsbasis eine Rolle spielen, es aber eigentlich um Märkte und Standorte geht und darum, gemeinsam dem übermächtigen US-Imperialismus politisch, ökonomisch und irgendwann auch wieder militärisch Paroli bieten zu können? Osteuropa ist wieder zum Hinterhof konkurrierender Kapitalistenverbände und Staaten geworden. Was es damit auf sich hat, dieser Frage wollen wir am Beispiel Jugoslawiens nachgehen.

 

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Mittwoch, 28. November 2001, 19.30 Uhr

New Economy

alter Imperialismus oder neue Form der Herrschaft des Finanzkapitals? Referent: Heinrich Fecher

Die Entwicklung des Finanzkapitals und der mit dieser Entwicklung verbundenen theoretischen Konzepte soll an drei wesentlichen Umschlagpunkten dargestellt und untersucht werden:

— an der Konstellation vor dem Ersten Weltkrieg, der Epoche des traditionellen Imperialismus, theoretisch also Hobson, Hilferding, Lenin;
— an der Konstellation nach dem Zweiten Weltkrieg und den sich nach seinem Ende entwickelnden neoimperialistischen Strategien, theoretisch reflektiert durch die Keynesianer, Baran, Sweezy, Galbraith, Huffschmid u.a.;
— schließlich an der gegenwärtigen Globalisierungsdebatte und der so genannten New Economy (Davis, Altvater, Sablowski, Hirsch, Chomsky u. a.).

Was sind die neuen Elemente in der politischen Ökonomie des Finanzkapitals, welche Bedeutung haben sie für die Entwicklung der Widersprüche im nationalen und internationalen Rahmen? Was folgt daraus für politische Gruppierungen, falls sie sich noch nicht im postmodernen Gespensterreigen oder im schwarzen Loch der neuen Mitte aufgelöst haben?

 

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Mittwoch, 12. Dezember 2001, 19.30 Uhr

Der Arbeitsfetischismus der Sozialdemokratie

Referent: Lutz Eichler

»Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen« war der kategorische Imperativ der Arbeiterbewegung, die ein ›Recht auf Arbeit‹ zum Menschenrecht emporheben wollte und noch will. Der Schrei nach Arbeitsplätzen ist so alt wie die Sozialdemokratie, und früher wie heute war die Befreiung der Arbeit, nicht aber die Befreiung von der Arbeit die Kampfparole. Der reformistische wie der revolutionäre, der westliche wie der östliche Marxismus hatte sein logisches wie rhetorisches Zentrum in der Arbeit. Nur wenige wagten an diesem Dogma zu rütteln.

»Es gibt nichts, was die deutsche Arbeiterschaft im dem Grade korrumpiert hat, wie die Meinung, sie schwimme mit dem Strom. Die technische Entwicklung galt ihr als das Gefälle des Stromes, mit dem sie zu schwimmen meinte. Von da war es nur ein Schritt zu der Illusion, die Fabrikarbeit, die im Zuge des technischen Fortschritts gelegen sei, stelle eine politische Leistung dar. Die alte protestantische Werkmoral feierte in säkularisierter Gestalt bei den deutschen Arbeitern ihre Auferstehung... und Josef Dietzgen verkündet:
›Arbeit heißt der Heiland der neueren Zeit (…) In der (…) Verbesserung (…) der Arbeit (…) besteht der Reichtum, der jetzt vollbringen kann, was bisher kein Erlöser vollbracht hat.‹ Dieser vulgärmarxistische Begriff von dem, was die Arbeit ist, (…) will nur die Fortschritte der Naturbeherrschung, nicht die Rückschritte der Gesellschaft wahrhaben. Er weist schon die technokratischen Züge auf, die später im Faschismus begegnen werden«, so Walter Benjamin in seinen ›Geschichtsphilosophischen Thesen‹. Die Veranstaltung will einen Überblick über die von Benjamin, Horkheimer, Adorno und Marcuse vorgetragene Kritik der Arbeiterbewegung geben.

 

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Samstag, 22. September 2001, 14.30 Uhr {zum Bericht →}

Mao Zedong: Über die Praxis

Materialistische Erkenntnistheorie auf Chinesisch? Moderation: Fritz Güde

Mao Zedong, dessen Todestag sich zum 25. Mal jährt, gehörte in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren zu den Leitfiguren großer Teile der neuen Linken im Westen, die in ihm nicht bloß den Urheber einer Sinisierung des Marxismus sahen, sondern darüber hinaus einen allgemein richtungsweisenden Theoretiker und Praktiker der Revolution. Seine Monographie Über die Praxis fragt nach dem Zusammenhang von Theorie und Praxis, im erweiterten Sinn nach dem von Denken und Handeln. Mao stellt sich hier eine Frage neu, die auf ganz andere Weise Georg Lukács in Geschichte und Klassenbewusstsein aufgeworfen hatte. Beide fragen, wie das denkende Subjekt aus der bloßen Kontemplation heraustreten kann.

Für alle, die vom westlichen Marxismus herkommen, stellt Maos Sprachgebrauch ein besonderes Problem dar. Mao geht das Thema ganz ohne die uns vertraute Terminologie an. Insofern stellt er uns vor die Frage, wieweit der Gehalt eines bestimmten Gedankens von der vertrauten Sprachform gelöst werden kann.

Schließlich bietet sich anhand dieses Textes, der von der chinesischen Führung nach Mao zur Begründung einer Abkehr vom ›Dogmatismus‹ in Anspruch genommen wurde, die Gelegenheit zur Diskussion über die Frage nach der Tragfähigkeit der Konzepte Maos und seiner Nachfolger in Anbetracht der Entwicklungsprobleme Chinas.

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Samstag, 29. September 2001, 14 Uhr

Horkheimer intern

Aus den Aphorismen und Notizen des Begründers der Kritischen Theorie. Moderation: Henning Böke

Der innere Kern von Horkheimers Denken findet sich in Tagebuchaufzeichnungen. Eine erste Serie davon aus den späten zwanziger Jahren hatte Horkheimer unter Pseudonym mit dem Titel ›Dämmerung‹ veröffentlicht; kurz vor seinem Tode sorgte er noch für die Drucklegung der Notizen aus den fünfziger und sechziger Jahren. Anhand einer Gegenüberstellung dieser ›internen‹ Texte des frühen und späten Horkheimer lässt sich Aufschluss über zentrale Motive der Kritischen Theorie und den Stellenwert ihrer doppelten Frontstellung gegen ›Metaphysik‹ und ›Positivismus‹ gewinnen.

Deutlich wird, dass die ›pessimistische‹ Wendung nach 1945, der Rückzug der Kritischen Theorie auf die Verteidigung der dem Untergang geweihten bürgerlichen Kultur keinen Bruch darstellen, sondern auf der Diagnose tief greifender anthropologischer Veränderungen beruhen, welche die subjektiven Voraussetzungen einer emanzipierten Gesellschaft, denen Horkheimer immer entscheidendes Gewicht beigemessen hatte, untergraben: Die dem Liberalismus entsprungene Art von Individualität, die die Kritische Theorie immer als Norm von Emanzipation angesehen hat, löst sich auf. Horkheimers schroffe Direktheit erzwingt eine Auseinandersetzung über die Frage, welche Konsequenzen es für die Linke hat, wenn sie jenen ›Pessimismus‹, der mit einem sich der Vergänglichkeit und Kontingenz allen Lebens stellenden Materialismus einhergeht, nicht mehr durch geschichtsphilosophische Visionen verdrängen kann.

 

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Samstag, 13. Oktober 2001, 15 Uhr

Zur Übergangsperiode: Arbeit, Wert, Subjekt und Staat

Moderation: Peter Christoph

Die an den zwei vorigen Lektürenachmittagen zur Übergangsperiode aufgetretenen Fragestellungen sollten vertieft werden: So wurde bisher von der ›Höhe der Zeit‹ her kontrovers diskutiert, was Marx zum Beispiel zur angeblichen oder wirklichen Notwendigkeit zu sagen hat, der Aufhebung der Wert- und Warenform zunächst mittels ›Arbeitszetteln‹ Rechnung zu tragen. Analog die Gretchenfrage an den ›Anarchisten Marx‹ oder den ›Jakobiner/Bolschewiken Marx‹: Wie hält die revolutionäre Diktatur des Proletariats‹ es mit der Staatlichkeit? Ist deren Zweck die Selbsterhebung zur herrschenden Gesellschaftsklasse, was heißt das für die Formen wie Repräsentation und Demokratie, wie kann sich damit ihre Selbstaufhebung als bloße Klasse der Gesellschaft, als Proletariat vollziehen? Ist letztlich ihr Zweck und Inhalt, die ›Emanzipation der Arbeit‹ von allen Formen der Monopolisierung der gesellschaftlichen Arbeitsmittel, ja von der ›knechtenden Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit‹ bloß ein ›arbeitsmeta-physisches‹ Ideal, oder ist er Tendenz und Möglichkeit, die das Kapital als ›automatisches Subjekt‹, der ›gesellschaftliche Gesamtarbeiter‹ selber schon fast ›ausgebrütet‹ hat? Wie wäre das, was Marx sogar den ›kapitalistischen Kommunismus‹ nennt, endgültig in eine rein ›gesellschaftliche‹, global ›genossenschaftliche‹ Produktionsweise überführbar? Wie transformiert sich die Arbeit, die diesem ›naturwüchsigen‹ Prozess stofflich und inhaltlich zugrunde liegt, und wie wird ›das gesellschaftliche Individuum‹ bewusst-assoziiert darin tatsächliches Subjekt?

 

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Samstag, 27. Oktober 2001, 15 Uhr

Moishe Postone: Antisemitismus und Nationalsozialismus

Moderation: Tina Meyer, Peter Christoph

Dieser inzwischen innerhalb der Linken berühmte und umstrittene Aufsatz stellte den ersten theoretischen Versuch dar, die Mystifikation ›Auschwitz‹ mit den Kategorien der marxschen Wert- und Arbeitstheorie rational zu fassen, radikal auf den Begriff zu bringen. Postone versucht eine Erklärung sowohl des Antisemitismus in seiner Beziehung zur Vernichtung der europäischen Juden als auch eine sozio-ökonomische Analyse des Nationalsozialismus vermittels derselben Kategorien.

Die Lektüre dürfte das vielfach gegen ihn vorgebrachte Vorurteil widerlegen, man habe es hier mit einer Art abstraktem ›Wert(form)strukturalismus‹ zu tun. Selten hat jemand auf dieser Höhe historisch-materialistischer Konkretion eine Zusammenschau der spezifischen ›deutschen Misere‹, der besonderen historischen, kulturellen Rolle der Juden in Europa und des Unglücks der kapitalistischen Produktionsweise, das der totalitären Warenproduktion entspringt, in so konzentrierter Darstellung zu geben gewagt: »Der moderne Antisemitismus ist also eine besonders gefährliche Form des Fetischs.«

Schließlich ermöglicht eine kritische Lektüre Postones die fällige Selbstkritik des ›hilflosen Antifaschismus‹ und einer verkürzten Antisemitismuskritik in der Linken, die mit ihrem leeren Gerede vom bloßen subjektiven ›Konstrukt‹ moralistisch bleibt.

Um eine kritische Lektüre zu ermöglichen, geben wir eine Kurzeinführung in die marxsche Theorie der Wert- und Warenform, des Doppelcharakters der Arbeit und der abstrakten Arbeit. Der Aufsatz ist in der Studienbibliothek vorhanden.

 

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Samstag, 24. November 2001, 14-19 Uhr, und Sonntag, 25. November, 11-16 Uhr

Henryk Grossmann und die marxistische Krisentheorie

Moderation: Eberhard Dähne, Lutz Getzschmann, Joachim Wurst

Die Frage, wann und weshalb bzw. ob das ›kapitalistische System‹ mit Notwendigkeit auf seinen Zusammenbruch zusteuere, war bereits zu Beginn des letzten Jahrhunderts Gegenstand einer gehaltvollen und lang anhaltenden Kontroverse, geführt von marxistischen Intellektuellen wie z.B. Rosa Luxemburg, Henryk Grossmann und Fritz Sternberg. Das von Grossmann (damals Mitarbeiter und führender Ökonom des Frankfurter Instituts für Sozialforschung) 1929 vorgelegte Werk »Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems« stellt innerhalb der zu jener Zeit geführten Debatte den zweifellos avanciertesten Versuch dar, auf dem Wege einer entschieden ökonomistischen Lektüre des marxschen Kapitals eine konsistente Krisen- und Zusammenbruchstheorie zu formulieren.

Im Seminar soll anhand der Lektüre ausgewählter Passagen dieses Buches ein Einblick in die Funktion der Akkumulation des Kapitals und deren Entwicklungstendenz gewonnen werden. Des Weiteren sollen folgende Fragen, die vor allem in der Auseinandersetzung zwischen Sternberg und Grossmann kontrovers diskutiert wurden, beleuchtet werden: Welche Auswirkungen hat die kapitalistische Expansion (Imperialismus) auf die Akkumulation des Kapitals? Welchen Einfluss hat sie auf die Klassenstruktur? Welche ökonomische Funktion hat der Krieg?

In besagter Auseinandersetzung waren Klassenkämpfe nur soweit Gegenstand der Debatte, wie sie als Modifikationen ökonomischer Gesetzmäßigkeiten in Frage kamen. Eine Erweiterung der Perspektive wäre demnach durch die Umkehrung der Fragestellung zu erreichen: Wie strukturiert der Verlauf von Klassenkämpfen die Bedingungen und Entwicklungstendenzen der Akkumulation?

 

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Samstag, 8. Dezember 2001, 14 Uhr

Nietzsche und die Dialektik der Aufklärung

Der Meisterdenker der Gegenrevolution für Linke.
Moderation: Henning Böke

Heftige Kontroversen rankten sich in Nietzsches hundertstem Todesjahr in der linken Presse um den umstrittenen Philosophen, auf den einerseits die Nazis, andererseits aber auch viele Intellektuelle der radikalen Linken (von Horkheimer und Adorno bis Althusser, von Sartre bis Deleuze und Foucault) sich beriefen. Ist Nietzsche der Zerstörer der Vernunft, der mit seiner Destruktion des Aufklärungshumanismus jede soziale Emanzipation vereiteln und dem Imperialismus freie Bahn verschaffen wollte (so Robert Steigerwald und Werner Seppmann in UZ und junge Welt)? Oder bietet, nach dem Ende des altmarxistischen Geschichtsoptimismus, Nietzsche Ansätze für den »noch unausgeloteten Möglichkeitsspielraum einer Linken, die der nihilistischen Skepsis nicht aus dem Weg geht« (Thomas Seibert in ak)? Ist Nietzsches ›Übermensch‹ der Prototyp der SS-Eliten oder eine Chiffre radikaler Emanzipation? Kann seine Perspektive der ›freien Geister‹ nur elitär und aristokratisch gegen die ›Sklavenmoral‹ von Massenbewegungen geltend gemacht werden, oder können linke Bewegungen etwas davon lernen? Ist Nietzsches Kritik der Aufklärung prinzipiell eine Verabschiedung jeder Möglichkeit kollektiver Befreiung, oder hat Nietzsche eine ›Dialektik der Aufklärung‹ skizziert, die uns, nach dem Scheitern der alten Utopien, Auswege zu denken erlaubt?

Die gegensätzlichen Einschätzungen Nietzsches verweisen auf die Mehrdeutigkeit seiner Texte. Anhand einer Auswahl aus seinen Schriften soll erörtert werden, wie Nietzsche ›von links‹ gelesen werden kann.

 

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Lektürenachmittage jeweils samstags um 15 Uhr

Psychoanalyse und Revolution

An den vier Lektürenachmittagen des Winterhalbjahres werden wir die Ansätze einer gesellschaftskritischen Psychoanalyse überprüfen, wie sie sich aus der Verteidigung der Freudschen "Orthodoxie" und aus der Vermittlung von psychologischen mit wissenschaftlich-kommunistischen Aufgaben- und Problemstellungen entwickelt hat. Bis heute hat sich an der Feststellung von Helmut Dahmer nicht das geringste geändert: »Freuds Auftrag, aus der Psychotherapie eine Gesellschaftsdiagnose zu entwickeln, wird nur mehr von Aussenstehenden erfüllt.« (Analytische Sozialpsychologie II, 1980) Bevor die »halbierte Psychoanalyse« (Dahmer, S.710) in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts den emanzipatorisch-gesellschaftskritisch orientierten Analytiker/inne/n endgültig als professionalisierte, medizinalisierte und institutionalisierte Anpassungstechnik über dem Kopf zusammenschlug, konnte sich immerhin ein überschaubarer Korpus revolutionärer Theoriebildung aus der Freudschen Linken herauskristallisieren. Aus Gründen der Aktualität und Praxisnähe stellen wir Texte dieser "Klassiker" zur Analyse von Faschismus, NS und Antisemitismus in den Vordergrund.

1. September:
Der Fenichel-Kreis ist erst in den letzten Jahren durch die Herausgabe der Geheimen Rundbriefe - einer Art »kommunistischem Informationsbüro« innerhalb der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung 1934-1946 - in seiner weitreichenden theoretischen Aktivität für uns Heutige zugänglich geworden. Otto Fenichel gilt als der anspruchsvollste und vielseitigste Kopf, auch als Praktiker, einer streng wissenschaftlich-kommunistischen Psychoanalyse, die sowohl Psychologisierung als auch Soziologismus vermeidet und bekämpft und die nach wie vor aktuelle und entscheidende Frage zu beantworten sucht: wie es zu erklären - und zu »therapieren«! - ist, dass ausgebeutete und unterdrückte Menschen allzu häufig gegen ihre Versklavung nicht rebellieren, sondern dieser zustimmen, sie weitergeben und aus ihr einen »sekundären Krankheitsgewinn« zu ziehen pflegen (»Freiheit« der Lohnarbeit). Für die Lektüre werden weitere ausgewählte Texte aus den »Rundbriefen« zugänglich gemacht. An ihnen werden das kaum wieder erreichte Niveau, die Bandbreite und Aktualität jener internationalen psychoanalytischen Debatten deutlich: von der Faschismus- und Antisemitismusfrage bis zur Problematik der Geschlechterrollen und Ich-Identität im modernen Kapitalismus (USA).

10. Oktober:
Es ist ein Hauptverdienst der »Kritischen Theorie«, die Freudsche Psychoanalyse als tragende Methode für die Erklärung des bürgerlichen »Verblendungszusammenhangs« der Subjekte in und mit dem »automatischen , in sich selbst prozessierenden Subjekt« Kapital (MEW 23,169), worin seine Produzenten sich unmittelbar selber als weitgehend blinde, stumme Objekte reproduzieren, erkannt und angewendet zu haben. Max Horkheimer fasst in »Autorität und Familie in der Gegenwart« (USA1949), historisch ausholend, die Resultate ihrer sozialpsychologischen Analyse zusammen und spitzt sie zu auf die latente Judophobie und Faschismus-Anfälligkeit einer bestimmten, durch die Familie im modernen Kapitalismus hervorgebrachten Charakterstruktur.

3. November:
Theodor W.Adorno nimmt bei der Untersuchung faschistischer Demagogen , Führerfiguren und der Wirkungsweise ihrer Rhetorik direkt die »Massenpsychologie und Ichanalyse« von S.Freud kritisch auf, um sie für die weitere Analyse des modernen Kapitalismus (USA 1951) scharf zu machen: »Die Freudsche Theorie und die Struktur der faschistischen Propaganda«. Dieser Text zeigt - im Grundgedanken dem historischen Materialisten Walter Benjamin entlehnt - die faschistische Masseninszenierung als »sozialisierte Hypnose«, d. h. als eine regressive Form des Traumschlafs der Gesellschaft, in dem diese kapitalistische Herrschaftsform den gesellschaftlichen Individuen sogar ihre Psychologie enteignet, ja vernichtet hat. Adorno setzt - wie W.Benjamin - auf die Möglichkeit des jähen Erwachens im Akt der wirklichen, selbstbewusst werdenden Vergesellschaftung.

1. Dezember:
Der unaufhebbare Klassengegensatz innerhalb des Kapitalismus, das Proletariat als »die negative Seite des Gegensatzes« der bürgerlichen Gesellschaft, als »das aufgelöste und sich auflösende Privateigentum« und als »die destruktive Partei« (MEW 2,S.37) in den bestehenden, konservativen Produktionsverhältnissen wird von dem sozialistischen Psychoanalytiker Siegfried Bernfeld 1931, inmitten der großen Krise, gegen die Theorie und Praxis von Psychologisierung und Kriminalisierung geltend gemacht: »Die Tantalus-Situation« kennzeichnet die strukturelle und akute Krisenhaftigkeit einer »Welt produktiver Triebe und Anlagen« (Marx), die zunehmend als Welt der »rackets« und »Mafiosi«, als »gangland« und »ideeller Gesamtkrimineller« erscheint. Das bürgerliche, polizei-psychologische Problem der Eigentumsdelikte usw. entlarvt Bernfeld als klassenbedingtes Problem der Enteignung und Aneignung; die »Verbrechermoral« im Massenmaßstab als Äquivalent der radikalen politischen Gesinnungen, des spontan notwendigen proletarischen Realitätsprinzips. Er weist die wirkliche Frage auf: wie kann die Aneignung der gesellschaftlichen Lebens-, Reichtums-, Produktionsmittel aus ihrer individuellen und regressiv-gemeinschaftlichen (bandenförmigen , faschistoiden) Form zur Aktion der Klasse für sich vergesellschaftet werden? »Der soziale Kontext der Psychoanalyse als antiillusionärer Wissenschaft (Ideologiekritik) und der soziale Kontext der Lebensgeschichten: das war Bernfelds Thema. Seine Kritik an dem ... psychologistischen Konzept vom 'kriminellen Über-Ich' hat exemplarischen Charakter.« (Dahmer)

 

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jeden dritten Samstag im Monat um 15 Uhr in der Mühlgasse

Kapital-Seminar

Vom September 2001 bis Dezember 2002 bietet die sozialistische studienvereinigung einen Lektürekurs zum ersten Band des Kapitals an. In insgesamt 15 monatlichen Sitzungen, die samstags um 15 Uhr in der Mühlgasse 13 stattfinden, wird der Text kapitelweise besprochen. Grundlage ist Band 23 der Marx-Engels-Werke ; TeilnehmerInnen werden gebeten, sich diesen zu besorgen. Die Leitung hat Nadja Rakowitz. Termine in diesem Halbjahr :

15. September : Einführung — Was wollen wir vom Kapital wissen? Wie wollen wir vorgehen? Entstehungsgeschichte des Kapitals : die verschiedenen Etappen und Entwürfe.

20. Oktober : Kapitel 1 : ›Die Ware‹.

17. November: Kapitel 2 : ›Der Austauschprozess‹.

15. Dezember: Kapitel 3 : ›Das Geld oder die Warenzirkulation‹


 

 

 

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