veröffentlicht in »Marxistische Blätter« 6/01

Die versuchte Entzauberung eines vermeintlichen Dämons

Kritische Anmerkungen zum Beitrag von Robert Steigerwald. Von Lutz Getzschmann

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Sowohl der Text »Trotzkismus ohne Mythen« von Robert Steigerwald als auch die hier vorliegenden kritischen Anmerkungen gehen letztlich auf eine Veranstaltung der Sozialistischen Studienvereinigung in Frankfurt zurück. Bei der nun schriftlich vorliegenden Fassung kann es sich sicher kaum um mehr als einen Problemaufriß handeln, die Debatte jedoch ist überfällig, zumal die irrationale Verteufelung Trotzkis in weiten Teilen der traditionellen kommunistischen Bewegung bedenkliche Folgen hatte, die bis heute nachwirken.

Ein Ausdruck dieser Irrationalität ist es wohl, wenn selbst ein Michail S. Gorbatschow, der nun wirklich alles und jeden rehabilitiert hat, sich bis zum Schluß seiner Amtszeit als Generalsekretär beharrlich geweigert hat, ausgerechnet dem Gründer der Roten Armee und späteren linken Kritiker des Stalinismus Lew D. Trotzki zu bescheinigen, dass seine Verfolgung und Ermordung ein Verbrechen war.

Es ist zunächst sicherlich nicht ganz alltäglich, wenn jemand, der jahrzehntelang eine recht klar ablehnende Haltung zu Trotzki und »trotzkistischen« Positionen vertreten hat, nun versucht, sich den historisch gewachsenen Spaltungslinien in der kommunistischen Bewegung aufs Neue und sachlicher zuzuwenden. Insofern ist der vorliegende Text ein erfreuliches Anzeichen für eine, in der historischen Niederlage aller antikapitalistischen Strömungen notwendig gewordene Gesprächs-Bereitschaft.

Nichtsdestotrotz bleiben nach der Lektüre des vorliegenden Beitrages einige Fragen offen, was in der Natur der Sache liegt, da die Verschriftlichung eines Veranstaltungsreferats nun mal nur begrenzt den Raum bieten kann, um auf die Geschichte der kommunistischen Bewegung der letzten 70 Jahre ausführlich und differenziert genug einzugehen. Unter anderem bleibt das Problem ungelöst, wie das Leben und die überlieferten Schriften eines revolutionären Vorkämpfers der Arbeiterbewegung eingebettet werden soll in die Realgeschichte der Klassenkämpfe, die noch allzu oft hinter der Darstellung der Organisationen, Parteien und ihrer führenden Persönlichkeiten verschwindet.

Gerade weil es sich für eine Darstellung von Trotzkis Leben und Werk geradezu anbietet, etwa Trotzki mit Lenin und wiederum Lenin mit Luxemburg zu konfrontierren, der Berichterstattung über die Fraktionskämpfe und strategischen Differenzen der Kader der russischen Revolution breiten Raum zu lassen, muß diese Darstellungsweise immer wieder aufs Neue hinterfragt werden. Für diese Rekonstruktionsarbeit, zu der spätestens seit E.P. Thompsons epochalem Werk

»Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse« bereits einiges an Vorarbeiten geleistet worden ist, jedoch erstaunlich wenig Systematisches zum Themenfeld der russischen Gesellschaft vor, während und nach der Revolution von 1917 vorliegt, bedarf es noch einer ganzen heranwachsenden Generation marxistischer Historiker, die einen solchen Ansatz von Klassengeschichte von unten wieder aufgreifen.

Hierzu bedarf es einer Abgrenzung zur traditionellen Ideen-, Personen-, und Organisationengeschichte, für die in der Linken u.a. Namen wie Wolfgang Abendroth oder Iring Fetscher stehen, aber auch eine kritische Distanz zu den Paradigmen der in den letzten zwanzig Jahren aus der kritischen Abarbeitung vor allem an Thompson und Hobsbawm entstandenen Cultural Studies, in denen die sozialen Strukturen in einer Flut von alltagsgeschgichtlichen Darstellungen zu verschwinden drohen. Zum anderen jedoch gilt es, auf ein Missverständnis Bezug zu nehmen, dass sich aus dem Titel ergibt.

Auf dem Deckblatt wird dem Leser/der Leserin eine Arbeit über »Trotzkismus« angekündigt, was aber der Text nicht hergibt, und, in Anbetracht des zur Verfügung stehenden Platzes auch gar nicht hergeben kann. Abgesehen davon, dass sich allein schon ein sprachliches Problem ergibt, da der Begriff »Trotzkismus« eine Wortschöpfung der stalinistischen Presse aus der Phase nach 1929 ist - ähnlich wie übrigens auch der überstrapazierte Begriff »Marxismus-Leninismus« -, deckt er thematisch den von ihm reklamierten Gegenstand nicht ab.

Seine Darstellung bezieht sich größtenteils auf die Lebenszeit Trotzkis und so war unsere Veranstaltung auch angelegt. Wollte er ernsthaft »den Trotzkismus« darstellen, so hätte sich ein längerer Exkurs über Mandels Theorie der langen Wellen genauso wenig vermeiden lassen, wie die schon lange überfällige Debatte über Tony Cliffs Buch »Staatskapitalismus« in Russland« und die darin aufgeworfene Frage, ob sich die sowjetische Staats- und Parteibürokratie im Laufe der Zeit zu einer neuen herrschenden Klasse entwickelt habe, die mit völlig anderen Augen anzusehen sei, als etwa die sowjetische Führung um 1925.

Es hat durchaus auch nach Trotzkis Tod eine ernstzunehmende »trotzkistische« Theoriebildung gegeben, die in einer offenen Diskussion nicht ohne weiteres ignoriert werden kann. Hinzu kommt, dass die Organisationen, die aus der Vierten Internationale hervorgegangen sind, nicht nur bekanntermaßen heillos untereinander zerstritten, sondern auch von ihren strategischen Orientierungen und politischen Positionen her recht uneinheitlich, deshalb auch wohl kaum vereinfachend als »die Trotzkisten« auf gerade anderthalb Seiten angemessen darstellbar sind.

Eher beiläufig ist auch die Analyse der Bürokratie ausgefallen, die doch sowohl für Trotzki, als auch für jene, die sich auf ihn berufen, zentral war und letztendlich ein ungelöstes Problem geblieben ist, wenn man in Rechnung stellt, dass diese Bürokratie, von der Trotzki schließlich kaltgesstellt wurde und die in Stalin den personifizierten Ausdruck ihrer sozialen Interessen fand, von ihm selber in der »heroischen« Phase der jungen Sowjetmacht noch vor 1926 mit errichtet wurde -auf Kosten der Sowjets, deren Verteidiger, die Matrosen von Kronstadt, denn auch höchst sinnbildlich niederkartätscht wurden.

Trotzki selber charakterisierte die Bürokratisierung der Sowjetunion später als Produkt der »...Widersprüche zwischen Stadt und Land, zwischen Bauernschaft und Proletariat; zwischen den nationalen Republiken und den Distrikten; zwischen verschiedenen Schichten innerhalb der Arbeiterklasse; zwischen verschiedenen Gruppen von Konsumenten und schließlich zwischen dem Sowjetstaat als Ganzem und seiner kapitalistischen Umgebung...Indem die Bürokratie sich über die werktätigen Massen erhebt, reguliert sie diese Widersprüche.« {L.D. Trotzki: Die verratene Revolution, S. 242f}

Die etwas eingehendere Beschäftigung mit der Rolle der Sowjetbürokratie aber führt zu anderen Sichtweisen auf den Charakter dieses Staates. In Robert Steigerwalds Text heißt es in Bezug auf Trotzkis Position, wonach ein revolutionärer Sturz der Bürokratie durch die Arbeiterklasse unvermeidlich sei, dies sei, 1936 geschrieben, zur Zeit der faschistischen Diktatur, eine Haltung, die durchaus als Aufruf zur Konterrevolution hätte ausgegeben werden können.

Dem muß m.E. energisch widersprochen werden. Selbst wenn an dieser Stelle aus Platzgründen darauf verzichtet werden muß, eingehender etwa auf die sowjetische Aussenpolitik in Spanien einzugehen, oder gar zu erörtern, inwiefern in der Sowjetunion der dreißiger Jahre tatsächlich systematisch soziale Errungenschaften der Oktoberrevolution aufgegeben wurden, so sei doch darauf verwiesen, dass die Konterrevolution letztlich ganz andere Kräfte beirieben haben. Dazu noch einmal Trotzki selbst:

»Entweder wird die Bürokratie immer mehr zu einem Organ der Weltbourgeoisie innerhalb des Arbeiterstaates, wird die neuen Eigentumsformen abschaffen und das Land in den Kapitalismus zurückwerfen, oder die Arbeiterklasse wird die Bürokratie zerschmettern und den Weg zum Sozialismus öffnen.« {L.D. Trotzki: Die verratene Revolution, S. 242f}  Ersteres passierte Ende der achtziger und Anfang der neunziger jähre des letzten Jahrhunderts, als die wendigeren und flexibleren Köpfe unter Stalins politischen Enkeln in der Tat die Restauration des Kapitalismus in den osteuropäischen Ländern betrieben.

Ausgehend von dieser Problemstellung kommt man zu einer der historisch wichtigeren Streitfragen innerhalb der »trotzkistischen« Organisationen, die jedoch in Steigerwalds Einschätzung im Abschnitt »Trotzkismus heute« unerwähnt gelassen wird, der Frage, ob es sich bei der Sowjetunion und den anderen »realsozialistischen Ländern« um bürokratisch deformierte Arbeiterstaaten handele wie Trotzki selbst noch glaubte und verschiedene »orthodoxe Trotzkisten«, etwa die Gruppen um das Vereinigte Sekretariat Ernest Mandels bis zuletzt annahmen, oder aber um staatskapitalistische Regime, in denen die Bürokratie längst den Charakter einer herrschenden Klasse angenommen habe, deren Verhältnis zum Proletariat sich im Kern nicht von dem jeder anderen herrschenden Klasse unterscheide.

Diese Position war eine maßgebliche These vor allem in der »International Socialists«-Strömung, deren britische Sektion , die Socialist Workers Party (SWP) einen gewissen Einfluß als aktivistische Kraft innerhalb der britischen Arbeiterbewegung hat und deren deutsche Sektion »Linksruck« dabei ist, sich mit aktivistisch-populistischen Kampagnen eine eher schädliche Hegemonie in jenen Teilen der Jugend zu verschaffen, die für gegenwärtig in der BRD für linke antikapitalistische Positionen ansprechbar sind.

Der »Trotzkismus« hat im Laufe seiner nunmehr gut siebzigjährigen Geschichte bisher weder eine proletarische Massenbewegung noch gar eine erfolgreiche revolutionäre Erhebung zustande gebracht. Aber er hat eine erstaunliche Zahl von revolutionären Intellektuellen hervorgebracht und, trotz seiner eigenen dogmatischen Verhärtung und Verengung einen Beitrag dazu geleistet, auch in Zeiten des Niedergangs und der Niederlagen der Linken ein Potential marxistischer Kritik der bestehenden Verhältnisse am Leben zu erhalten und in popularisierter Form agressiv an junge Menschen heranzutragen.

Inwiefern ist die Debatte über Trotzki und »den Trotzkismus« heute jedoch überhaupt noch von irgendeiner Bedeutung für unsere politische Praxis? Wenn im Rahmen der PDS-Programmdebatte ein Dietmar Bartsch, Bundesgeschäftsführer der PDS, in seiner kurzen Stellungnahme zum zweiten, tendenziell linksoppositionellen Programmentwurf nebenbei anmerkt, er müsse diesen Entwurf nicht lesen, da er ja mit dem Trotzkismus der Autoren ohnehin vertraut sei und diese, offensichtlich denunziatorisch gemeinte, Zuschreibung unter linken Kritikern des Sozialdemokratisierungskurses der PDS-Führung durchaus für Irritationen sorgt, ist das ein Zeichen dafür, dass die von Stalin und seinen Nachfolgern betriebene Dämonisierung des »Trotzkismus« immer noch wirksam ist.

Sie ist es vor allem deshalb, weil eine rational geführte Diskussion über dieses Thema nicht stattgefunden hat und weil nicht unbeträchtliche Teile der Mitgliedschaft kommunistischer und neo-sozialdemokratischer Parteien über Trotzki und »die Trotzkisten« nach wie vor kaum mehr wissen als das was sie vor zwanzig Jahren an der jeweiligen Parteischule gelernt haben.

Hinzu kommt, dass sich in der Krise der Arbeiterbewegung und insbesondere der traditionellen kommunistischen Parteien »trotzkistische« Organisationskerne als durchaus an marxistischen Organisationsprinzipien orientierte Kräfte erweisen, mit denen zu rechnen ist. Weniger möglicherweise in Deutschland, wo der allgemeine Stand der Klassenkämpfe kaum einer kommunistischen Organisation zur Zeit besondere Handlungsspielräume eröffnet.

In stärkerem Maße kann dies jedoch in Frankreich beobachtet werden, wo parallel zu den Verlusten der sich in Richtung Sozialdemokratie entwickelnden KP verschiedene »trotzkistische« Organisationen, die in den letzten dreißig Jahren eine gewisse Stabilität bewiesen haben, nicht unwesentliche Erfolge erringen konnten. So konnten die beiden stärksten, in der Tradition der »Internationalen Linksopposition« stehenden Gruppen, die Ligue Communiste Revolutionnaire (LCR) und Lutte Ouvriere (LO) bei den letzten französischen Kommunalwahlen Ergebnisse von vereinzelt bis zu 15% erzielen. Angedeutet hatte sich dies bereits bei der Europawahl 1999 als die beiden eigentlichen konkurrierenden Organisationen mit einer gemeinsamen Liste LO/LCR 5,2% der Stimmen erzielten und 5 Abgeordnete ins Europaparlament schicken konnten, während die PCF nur noch auf 6,8% der Stimmen kam.

Ohne die Bedeutung des Parlamentarismus überschätzen zu wollen, kann wohl niemand ernsthaft bestreiten, dass sich hier ein Bedürfnis artikuliert, dem eine mit populistischen Losungen in die Regierung gelangte KP nicht entsprechen kann, denn Studien belegen, dass sich die Wählerschaft der »Trotzkisten« zu einem Gutteil aus bisherigen Stammwählern der PCF zusammensetzt, zumal LO und LCR mit recht eindeutig formulierten proletarischen Klassenpositionen in den Wahlkampf gingen.

Ähnliche Phänomene können in verschiedenen Ländern beobachtet werden. Offensichtlich können »trotzkistische« und andere linkskommunistische Organisationen zu ernsthaften Alternativen, wenn es in einem Land einen Aufschwung an Klassenkämpfen und sozialen Bewegungen gibt, traditionelle kommunistische Parteien aber entweder schwach sind oder sich nach rechts entwickeln. Auch das sollte ein Anlaß sein, sich damit Auseinanderzusetzen und das alte stalinistische Bild des »Trotzkismus« zu überwinden.

Aller Aktivismus »trotzkistischer« Gruppen und auch die prinzipienfeste Anständigkeit mancher älterer Genossen dieser Organisationen ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass auch der »Trotzkismus« inzwischen eine eher »traditionalistische« Strömung in der kommunistischen Bewegung ist, dass sein politisches Koordinatensystem gemeinsam mit dem Gegner, dem Stalinismus und seinen Nachfolgephänomenen, untergegangen ist und die Kontrahenden gleichermaßen sich die Frage gefallen lassen müssen, inwieweit sie, gemessen an der Aufgabe unserer Zeit, der Wiederherstellung einer international operierenden kommunistischen Bewegung, die auf dem Boden der realen kapitalistischen Produktions- und Vergesellschaftungsprozesse wurzelt statt auf Doktrinen und Organisationsformen einer vergangenen Phase kapitalistischer Entwicklung- nicht ein Anachronismus sind, die, Die, sicherlich kontroverse, Beantwortung dieser Frage sollte in der weiteren Diskussion m.E. nicht vermieden werden.

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