Vortrag am 24. Januar 2001

Robert Steigerwald

Trotzkismus ohne Mythen

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[Notwendige Anmerkungen zu diesem Text:]

zum Seitenende

Da einige der LeserInnen auf die vorliegende Dokumentation erstaunt reagieren könnten, möchten wir, um Missverständnisse zu vermeiden, dem Abdruck des Referats von Robert Steigerwald einige Bemerkungen voranstellen. Es ist sicher nicht ganz alltäglich, wenn jemand, der jahrzehntelang eine recht klar ablehnende Haltung zu Trotzki und »trotzkistischen« Positionen vertreten hat, nun versucht, sich den historisch gewachsenen Spaltungslinien in der kommunistischen Bewegung aufs Neue und sachlicher zuzuwenden. Insofern ist der vorliegende Text ein erfreuliches Anzeichen für eine, in der Niederlage aller antikapitalistischen Strömungen notwendig gewordene, Gesprächsbereitschaft.Nichtsdestotrotz müssen einige Fragen offen bleiben, da ein Veranstaltungsreferat kaum den Raum bieten kann, um auf die Geschichte der kommunistischen Bewegung der letzten 70 Jahre ausführlich und differenziert genug einzugehen.

Unter anderem bleibt das Problem ungelöst, wie das Leben und die überlieferten Schriften eines revolutionären Vorkämpfers der Arbeiterbewegung eingebettet werden sollen in die  Realgeschichte der Klassenkämpfe, die noch allzu oft hinter der Darstellung der Organisationen, Parteien und ihrer führenden Persönlichkeiten verschwindet. Gerade weil es sich für eine Darstellung von Trotzkis Leben und Werk geradezu anbietet, etwa Trotzki mit Lenin und wiederum Lenin mit Luxemburg zu konfrontieren, der Berichterstattung über die Fraktionskämpfe und strategischen Differenzen der Kader der russischen Revolution breiten Raum zu lassen, muss diese Darstellungsweise immer wieder aufs Neue hinterfragt werden.

Für diese Rekonstruktionsarbeit bedarf es noch einer ganzen heranwachsenden Generation marxistischer Historiker, die einen solchen Ansatz von Klassengeschichte von unten aufgreifen. Hierzu bedarf es einer Abgrenzung zur traditionellen Ideen-, Personen-, und Organisationengeschichte, aber auch einiger kritischen Distanz zu den Paradigmen der in den letzten zwanzig Jahren entstandenen cultural studies, in denen die sozialen Strukturen in einer Flut von alltagsgeschichtlichen Darstellungen zu verschwinden drohen. Zum anderen jedoch gilt es, auf ein im Titel bestehendes Missverständnis Bezug zu nehmen. Angekündigt wird eine Arbeit über »Trotzkismus«, was aber der Text nicht einlöst und in Anbetracht des zur Verfügung stehenden Platzes auch gar nicht hergeben kann. Seine Darstellung bezieht sich größtenteils auf die Lebenszeit Trotzkis, und so war unsere Veranstaltung auch angelegt.

Wollte er ernsthaft »den Trotzkismus« vorstellen, so hätte sich ein Exkurs über Mandels Theorie der langen Wellen ebensowenig vermeiden lassen wie die schon lange überfällige Debatte über Tony Cliffs Buch Staatskapitalismus in Russland und die darin aufgeworfene Frage, ob sich die sowjetische Staats- und Parteibürokratie im Laufe der Zeit zu einer neuen herrschenden Klasse entwickelt habe. Es hat durchaus auch nach Trotzkis Tod eine ernst zu nehmende »trotzkistische« Theoriebildung gegeben, die nicht ohne weiteres ignoriert werden kann. Hinzu kommt, dass die aus der Vierten Internationale hervorgegangenen Organisationen nicht nur bekanntermaßen heillos untereinander zerstritten, sondern auch von ihren strategischen Orientierungen und politischen Positionen her recht uneinheitlich, deshalb kaum vereinfachend als »die Trotzkisten« auf gerade anderthalb Seiten angemessen darstellbar sind. Eher beiläufig ist auch die Analyse der Bürokratie ausgefallen, die doch sowohl fürTrotzki als auch für jene, die sich auf ihn berufen, zentral war und letztendlich ein ungelöstes Problem geblieben ist, wenn man in Rechnung stellt, dass diese Bürokratie, von der Trotzki schließlich kaltgestellt wurde, von ihm selber in der»heroischen« Phase der jungen Sowjetmacht noch vor 1926 mit errichtet wurde – auf Kosten der Sowjets, deren Verteidiger, die Matrosen von Kronstadt, denn auch höchst sinnbildlich niederkartätscht wurden.

Der »Trotzkismus« hat im Laufe seiner nunmehr gut siebzigjährigen Geschichte bisher weder eine proletarische Massenbewegung noch gar eine erfolgreiche revolutionäre Erhebung zustande gebracht. Aber er hat eine erstaunliche Zahl von revolutionären Intellektuellen hervorgebracht und, trotz seiner eigenen dogmatischen Verhärtung und Verengung, einen Beitrag dazu geleistet, auch in Zeiten des Niedergangs und der Niederlagen der Linken ein Potenzial marxistischer Kritik der bestehenden Verhältnisse am Leben zu erhalten und in popularisierter Form an junge Menschen heranzutragen.

Das ändert nichts daran, dass sein politisches Koordinatensystem gemeinsam mit dem Gegner, dem Stalinismus und seinen Nachfolgephänomenen, untergegangen ist, und die Kontrahenten müssen sich gleichermaßen die Frage gefallen lassen, inwieweit sie, gemessen an der Aufgabe unserer Zeit, derWiederherstellung einer international operierenden kommunistischen Bewegung, die auf dem Boden der realen kapitalistischen Produktions-und Vergesellschaftungsprozesse wurzelt statt auf Doktrinen und Organisationsformen einer vergangenen Phase kapitalistischer Entwicklung, nicht ein Anachronismus sind. Die Erörterung dieser Frage sollte der weiteren Diskussion überlassen bleiben.

Lutz Getzschmann

 

 

[Nun zum Text von R. Steigerwald:]

Im Wirken Trotzkis gab es, grob gesprochen, drei Perioden. Die erste dauert bis 1917, die zweite bis 1924, die letzte bis zu seiner Ermordung. Ihnen allen liegt ein Konzept zugrunde, das der so genannten permanenten Revolution, weshalb zuerst darauf eingegangen wird.

Trotzki ging von seiner Erfahrung 1905 aus, als der Petersburger Sowjet allein gelassen wurde, die Bauern sich passiv verhielten. Er hielt die Bauern nicht für fähig, in der Revolution eine progressive Rolle zu spielen, erwartete sogar, dass sie sich im Verlaufe der Revolution gegen diese stellen. Andererseits wies der Sowjet über das Niveau einer bürgerlichen Umwälzung hinaus. Aus beidem folgerte er, dass die Revolution "in Permanenz" mit dem Erreichen bürgerlich-demokratischer Bedingungen unmittelbar zur sozialistischen fortschreiten müsse. Der Kapitalismus entwickele sich zu einem Weltsystem. Aus seinen inneren Bedingungen heraus führe er zu Fäulnis und Degradation. Er müsse durch den Sozialismus überwunden werden. Es gehe nicht um die Frage, ob ein bestimmtes Land die notwendigen objektiven Bedingungen aufweise, da dies für das Gesamtsystem schon zutreffe. Allerdings müsse, wenn die Revolution in einem Lande ausbreche, diese das Gesamtsystem erfassen, sich in Richtung auf eine Weltrevolution entwickeln. Erst dann sei die Revolution in einem Land gesichert.

Trotzki hierzu selbst: Zwischen dem 22. Januar und dem Oktoberstreik 1905 hätten sich bei ihm "die Ansichten über den Charakter der revolutionären Entwicklung Russlands gebildet, die die Bezeichnung Theorie der ‚permanenten Revolution‘ erhielten. Diese gelehrte Bezeichnung drückte den Gedanken aus, dass die russische Revolution, vor der unmittelbar bürgerliche Ziele stehen, in keinem Falle bei ihnen stehen bleiben kann. Die Revolution kann ihre nächsten, bürgerlichen Aufgaben nicht anders lösen, als durch die Besitzergreifung der Macht durch das Proletariat. Hat es aber die Macht in seine Hand genommen, so kann es sich nicht auf den bürgerlichen Rahmen der Revolution beschränken. Im Gegenteil, gerade zur Sicherung ihres Sieges muss die proletarische Avantgarde schon in der ersten Zeit ihrer Herrschaft die tiefsten Eingriffe nicht nur in das feudale, sondern auch in das bürgerliche Eigentum machen. Hierbei wird das Proletariat zusammenstoßen nicht nur mit allen Gruppierungen der Bourgeoisie, die es am Anfang seines revolutionären Kampfes unterstützt hatte, sondern auch mit den breiten Massen des Bauerntums, mit dessen Hilfe es zur Macht gekommen war. Die Widersprüche in der Stellung der Arbeiterregierung in einem rückständigen Land mit einer erdrückenden Mehrheit bäuerlicher Bevölkerung können nur im internationalen Maßstab gelöst werden, in der Arena der proletarischen Weltrevolution. Hat das siegreiche Proletariat kraft der historischen Notwendigkeit den engen bürgerlich-demokratischen Rahmen der russischen Revolution gesprengt, so wird es gezwungen sein, ihren national-staatlichen Rahmen zu durchbrechen, d. h. es muss bewusst danach streben, die russische Revolution zum Vorspiel der Weltrevolution zu machen."[1]

Das war 1922 geschrieben und lässt verstehen, dass die Bauern Trotzki gegenüber misstrauisch waren, was in den Fraktionskämpfen noch eine Rolle spielen sollte.

Schauen wir die drei genannten Perioden im Wirken Trotzkis an

In der ersten Periode versteht er sich als fraktionslos. Obwohl er die Haltung der Menschewiki gegenüber der als konterrevolutionär eingeschätzten Bourgeoisie kritisiert, schließt er sich ihnen zeitweilig an. Obwohl er Lenin teils sehr heftig attackiert, sind einige seiner Analysen näher zu Lenin als zu den Menschewiki. Von dieser Position aus bemüht er sich darum, beide Fraktionen zu vereinigen, was ihm von Lenin die Kritik der Prinzipienlosigkeit einträgt.

Wie verhielt er sich in dieser Zeit gegenüber Lenin? Dazu schrieb Isaac Deutscher in seiner Biografie Trotzki[2]:

Er habe 1904 Lenin mit einem Geschosshagel verletzender Beleidigungen angegriffen, was eine Versöhnung mit ihm fast ausgeschlossen machen musste. In der Broschüre "Unsere politischen Aufgaben" aus dem gleichen Jahr gebe es die schärfste Anklageschrift, die je von einem Sozialisten gegen Lenin verfasst wurde. "Von den Schriften, die im Laufe von vier Jahrzehnten der fruchtbaren Feder Trotzkis entstammen, ist das vielleicht das erstaunlichste Dokument, nicht zuletzt, weil es eine so seltsame Ansammlung großer Gedanken und windiger polemischer Kniffe enthält, so subtile historische Einsichten mit solch bombastischen Floskeln verbindet. Kaum einer der menschewistischen Schriftsteller hat Lenin mit solch persönlicher Wut angegriffen. ‚Entsetzlich‘, ‚verkommen‘, ‚demagogisch‘, ‚verschlampter Anwalt‘, ‚bösartig und moralisch abstoßend‘, das waren die schmückenden Beiworte, mit denen Trotzki den Mann überhäufte, der ihm noch vor kurzer Zeit die Hand zur Freundschaft reichte, der ihn ins westliche Europa gebracht hatte, der ihm alle Förderung angedeihen ließ und ihn vor Plechanows Grobheiten in Schutz genommen hatte." [3] Es verwundert also nicht, dass nun auch Lenin gegenüber Trotzki nicht hinterm Berg hielt, ihn einen Judas nannte.

Wie kritisiert Trotzki in dieser Periode Lenin?

Er wirft ihm Ultrazentralismus vor und fordert die Entwicklung der innerparteilichen Demokratie. Er unterstellt ihm, mit seiner in "Was tun?" entwickelten These, dass der Marxismus in die Arbeiterklasse von außen hineingetragen werden müsse, eine Unterschätzung des aus der Erfahrung (des gewerkschaftlichen Kampfes) sich herausentwickelnden sozialistischen Bewusstseins. Er meint, Lenin setze an die Stelle der Arbeiterklasse die Partei. Dabei leugnet er nicht die Notwendigkeit der Partei, sieht aber deren Aufgabe darin, zwischen dem aus den ökonomischen Kampferfahrungen entstehenden sozialistischen Bewusstsein und der ideologischen Arbeit der Partei zu vermitteln.

Zu diesen Kritiken:

Lenins Parteitheorie während der Zeit der tiefsten Illegalität zielt in der Tat nicht darauf, der Illusion zu folgen, man könne unter diesen Bedingungen Demokratie breit entfalten. Aber als die Partei 1905 aus der Illegalität heraustrat, änderte er diese Konzeption sofort, man kann das an seinem Aufsatz über die Reorganisation der Partei von 1905 studieren. Was den angeblichen Ultrazentralismus angeht, liegt dem Vorwurf eine Verkennung des Unterschieds zwischen harter Illegalität und Legalität zugrunde. In dem genannten Aufsatz geht Lenin so weit, sogar allgemeine Mitgliederbefragungen aufzunehmen.

Hinsichtlich des Hineintragens des Bewusstseins von außen in die Klasse gibt es in "Was tun?" zwei Positionen. Die erste geht davon aus, dass – und das kann doch nicht bestritten werden – der Marxismus außerhalb der Arbeiterklasse, durch Intellektuelle geschaffen wurde und insofern von außen in die Klasse hineingetragen werden musste. Das ist schon im "Kommunistischen Manifest" so dargelegt. Der zweite Aspekt, auf den Trotzki nicht eingeht, besagt, dass die Partei – also die Vereinigung von Klasse und Marxismus – in die sozial-ökonomischen Kämpfe, mit ihrem nur-gewerkschaftlichen Charakter, das politische Bewusstsein hineintragen muss. Und dass dies eine vorrangige Aufgabe der Partei sein muss, kann man doch sehr genau an unserer Situation ablesen: Unsere Arbeiterbewegung hängt doch darum am Gängelband der Bourgeoisie, weil die in der Klasse am stärksten verankerte Partei, die Sozialdemokratie, sich seit Jahrzehnten als ideologischer Schleusenmechanismus der bürgerlichen Ideologie und Politik in das arbeitende Volk betätigt. (Es gibt noch andere Faktoren, solche materieller Art, auch solche, die mit den Fehlern der Kommunisten zusammenhängen, doch sie sind sekundären Charakters.)

In seiner zweiten Periode schloss sich Trotzki im Sommer 1917 den Bolschewiki an. "In seiner Autobiographie stellt Trotzki seine Entwicklung zum Bolschewismus so dar, als ob er ganz von sich aus Lenin immer näher und näher gekommen wäre, und wird dem Einfluss nicht gerecht, den einige seiner Mitarbeiter auf ihn ausübten. Die Wahrheit, wie sie aus den Seiten des Nasche Slowo hervorgeht, ist, dass er von den Probolschewisten seiner Redaktion in diese Richtung gedrängt und gestoßen wurde, von Männern, die zwar von einem viel kleineren Kaliber waren, die aber rascher das Ziel der Neuorientierung begriffen und ihn drängten, seine alten Bindungen fahren zu lassen und aus der neuen Situation die Konsequenzen zu ziehen."[4]

Es wird von trotzkistischer Seite behauptet, Lenin hätte bis zu den Aprilthesen von 1917, im Unterschied zu Trotzki, zwischen der bürgerlich-demokratischen und der sozialistischen Revolution eine zeitliche Pause gesehen, sei nicht von einem kontinuierlichen Übergang von der ersten zur zweiten Revolutionsetappe ausgegangen, wie dies Trotzkis Theorie der permanenten Revolution vorsah. Mit den Aprilthesen habe sich das geändert.

Das macht es notwendig, auf die Revolutionskonzeption in Lenins "Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der bürgerlich-demokratischen Revolution" einzugehen. Im Hintergrund des Streits um die Revolutionskonzeption wirkt zunächst die allen Marxisten gemeinsame Auffassung, dass es in der Geschichte objektive Gesetze gebe, dass diese zur Ablösung von Gesellschaftsordnungen führe, dass nun die Zeit gekommen sei, in welcher vom Kapitalismus zum Sozialismus übergegangen werden könne und dass es darauf ankomme, die Bedingungen auszuloten, unter denen das in Russland möglich sei.

Differenzen Lenins und Trotzkis in der Bauernfrage

Lenin und Trotzki gingen von den drei Klassen, Bourgeoisie, Arbeiterklasse und Bauernschaft aus. Der Unterschied zwischen beiden betraf nicht die Einschätzung der Bourgeoisie und des Proletariats, sondern jene der Bauernschaft, die Trotzki für handlungsunfähig hielt, mit ihr im Revolutionsprozess nicht oder sogar als konterrevolutionärem Faktor rechnete. Da – so Trotzki – die Revolution nicht bei bürgerlich-demokratischen Inhalten stehen bleiben dürfe, sondern unmittelbar zu radikaleren Umwälzungen übergehen müsse, werde es schon bei der Verwirklichung des Minimalprogramms (Bodenreform) bürgerlichen Widerstand geben. Es müsse zur Bodenenteignung, zu Maßnahmen gegen das Kapital weitergegangen werden, das leite zur sozialistischen Revolution über. Hierbei würden zumindest Teile der Bauernschaft reaktionär auftreten.

Lenin hat die Bauern – auf unterschiedliche Weise – in seine Theorie der Revolution einbezogen.

Die Unterschiede zwischen Lenin und Trotzki in der Frage der ununterbrochenen Revolution sind demnach andere:

Lenin unterschied inhaltlich – nicht zeitlich – die beiden strategischen Etappen der Revolution, nahm nicht einen bloß kontinuierlichen Prozess an, sondern hielt eine Umgruppierung der am Kampf beteiligten Kräfte für notwendig. In der ersten Etappe, der bürgerlich-demokratischen, sollten die Arbeiterklasse und die gesamte Bauernschaft als Bundesgenossen kämpfen, nach Erreichen der bürgerlich-demokratischen Ziele sollte die Umgruppierung erfolgen, indem nun nicht mehr die gesamte Bauernschaft, sondern nur noch die armen Bauern Verbündete seien. Lenin orientierte also entsprechend dem strategischen Inhalt auf unterschiedliche Stoßrichtungen und unterschiedliche Bündnispolitik. Während beider Etappen sollte das Proletariat die Führung erkämpfen, weil die Bourgeoisie an einem vollen Sieg der Revolution nicht interessiert war. Dass Lenin zwischen beiden Etappen der Revolution einen zeitlichen Bruch angenommen habe, wird durch folgende Äußerung widerlegt: " … denn von der demokratischen Revolution werden wir sofort, und zwar nach Maßgabe unserer Kraft, der Kraft des klassenbewussten und organisierten Proletariats, den Übergang zur sozialistischen Revolution beginnen. Wir sind für die ununterbrochene Revolution. Wir werden nicht auf halbem Wege stehen bleiben. Wenn wir nicht sofort und unverzüglich" (wie Trotzki) "alle möglichen ‚Sozialisierungen‘ versprechen, so eben deshalb, weil wir die wirklichen Bedingungen dieser Aufgabe kennen und den im Schoße der Bauernschaft heranreifenden neuen Klassenkampf nicht vertuschen, sondern aufdecken."[5]

Trotzki war – wie schon bemerkt – der Meinung, wegen der Zurückgebliebenheit Russlands müsse die Revolution über die Grenzen Russlands hinausgreifen. Darin steckte die Orientierung darauf, die Revolution zu exportieren, eine unter Umständen die Revolution selbst gefährdende Orientierung.

Trotzki gehörte in seiner zweiten Entwicklungsperiode mit Bucharin zum theoretisch bestimmenden Kern der Bolschewiki um Lenin. Das Sowjetland war schwer geschädigt (durch Intervention und Bürgerkrieg, die Arbeiterklasse dezimiert durch Kriegsverluste, notwendige Aufnahme von Proletariern in den Staatsapparat, Stadtflucht des Hungers wegen). Nun musste die Partei tatsächlich als Stellvertreterin der Klasse handeln, absolut die Führung auch im Staatsapparat übernehmen, war eine Arbeitsteilung zwischen Partei und Staat nicht möglich. Das sah nun auch Trotzki so.

Diese Beziehung von Partei und Staat wurde nie korrigiert, was in der Folge weit tragend für Theorie und Praxis von Partei und Staat wirken sollte!

Wie zeigte sich in dieser Periode das Wirken der permanenten Revolution in Trotzkis Handlungen?

Nehmen wir das Beispiel der Friedensverhandlungen mit dem deutschen Imperialismus in Brest-Litowsk. Trotzki lehnte die von den Deutschen unterbreiteten Bedingungen ab. Zugleich war er gegen die Fortsetzung des Krieges. Seine Konzeption war: Weder Frieden noch Krieg. Lenin beurteilte dies als abenteuerlich. Der deutsche Imperialismus würde den Krieg fortsetzen. Das müsste nur zu noch härteren Bedingungen führen. Der Sowjetmacht würde gar nichts anderes übrig bleiben, als zu akzeptieren, wollte sie nicht unter der Wucht des Krieges zusammenbrechen. Trotzki jedoch hoffte, unter diesen Bedingungen würde sich das deutsche Proletariat zum Aufstand erheben, würde sich die Revolution über die Grenzen des Sowjetlandes ausdehnen. Lenins Einschätzung erwies sich als zutreffend.

Im Sommer 1918 begannen die konterrevolutionären Kräfte, unterstützt durch die Intervention von vierzehn imperialistischen Staaten, ihren bewaffneten Kampf gegen die Sowjetmacht. Sie wurden in einem jahrelangen blutigen Kampf besiegt. Der Sieg der Sowjetmacht ergab sich auch daraus, dass die Bauernmassen, trotz harter Bedingungen der Ablieferung ihrer Produkte an den Staat, die Macht verteidigten oder sich wenigstens neutral verhielten, denn nur dieser verdankten sie den Boden und nur sie verteidigte ihn gegen die Konterrevolution. Nach diesem Sieg entwickelten sich die Bauern problematisch. Die Lasten des Kriegskommunismus weiter zu tragen waren sie nun nicht mehr bereit. Ihre Unzufriedenheit drückte sich in der Meuterei von Kronstadt aus, denn auf den Schiffen der baltischen Flotte waren nicht mehr die Matrosen des Oktober 1917 – die waren an den Fronten des Bürgerkriegs –, sondern Bauernjungen, die dafür sorgten, dass Schiffe wenigstens notdürftig versorgt werden konnten. Diese Unzufriedenheit der Bauern machte es nötig, die ökonomische Orientierung zu ändern: Es begann die Periode der NÖP, der Neuen Ökonomischen Politik, eine gewisse Rückkehr zu Ware-Geld-Beziehungen zwischen Stadt und Land, um die Bauern stillzustellen, weil das Bündnis mit ihnen soziale Grundlage der Sowjetmacht war. Das führte notwendig dazu, dass sich im Dorf aus Mittelbauern Kulaken herausbildeten und in der Sphäre der Ware-Geld-Beziehungen eine Schicht von Händlern.

In dieser Zeit blieb die Industrieentwicklung zurück. Sie war außerdem konzentriert auf die Schwerindustrie. Darum konnte die Landwirtschaft nicht mit der erforderlichen industriellen Basis ausgerüstet werden, was sich auf die Versorgung der Stadt hemmend auswirkte und den Grund für Konflikte zwischen Stadt und Land abgab. Trotzki wollte diese Probleme durch verstärkte Industrialisierung und Planung lösen und auf internationale Hilfe vertrauen.

Stalin, Bucharin und andere wollten den Bauern noch mehr entgegenkommen, ihre Bereicherung in Kauf nehmen (Leitartikel Bucharins in der Prawda vom Dezember 1925: "Bereichert euch!"). Trotzki wird von ihnen und anderen kritisiert, er sei gegen die Bauern, die ihm ohnehin misstrauen, so dass dies zu seiner Isolierung beiträgt. Dies wird auch durch Trotzkis Vergangenheit und seine ungenügende Verankerung in der Partei erleichtert.

In der dritten Periode kommt es, wiederum im Gefolge der Konzeption der permanenten Revolution, der hinter ihr wirkenden Annahmen über die Unmöglichkeit, in einem allein gelassenen Land den Sozialismus aufzubauen, zwischen Trotzki einerseits, Stalin und Bucharin andererseits zu scharfen politischen und theoretischen Kontroversen über die weitere Entwicklung des Sowjetlandes. Trotzki wollte die Bauern, insbesondere die Kulaken und die aus der NÖP hervorgegangenen neuen Kapitalisten, durch politischen und ökonomischen Druck, durch Klassenkampf überwinden und die Probleme der Landwirtschaft durch verstärkte Industrialisierung und Planung der Wirtschaft lösen. Dem Wesen nach bedeutete das eine Abkehr von der NÖP, Stalin und Bucharin sahen darin die Gefährdung der sozialen Basis der Sowjetmacht. Die NÖP sollte weiterentwickelt, den Bauern weit entgegengekommen werden. Dass Stalin etwa ab 1928 selbst diese Konzeption aufgab, sich Methoden der gewaltsamen Kollektivierung der Bauernmassen zuwandte – weshalb Bucharin gegen ihn opponierte –, gehört zu den dramatischen Wendungen in der Geschichte der Partei und des Landes, deren Folgen weit tragend waren.

Trotzki als linker Kritiker der Partei

In dieser Periode war Trotzkis Position die des linken Kritikers an der Partei und ihrem Kurs. Er trat für die breite Entfaltung der innerparteilichen Demokratie ein, schon darum, weil er ohne diese seine Kritik nicht in der Partei vortragen konnte.

Diese eben vorgenommene Relativierung des Strebens nach Entwicklung der sozialistischen bzw. innerparteilichen Demokratie bei Trotzki ist darum nötig, weil er beispielsweise die aus dem Bürgerkrieg heimkehrenden Soldaten militärisch organisiert in die Industriebetriebe schicken wollte. Dies scheiterte an Lenins Widerstand, der auf den Aufbau normaler industrieller Arbeitsverhältnisse und die Entwicklung von Gewerkschaften orientierte, welche die sozialen und betrieblichen Interessen der Arbeiter wahrzunehmen hätten.

Trotzki vertrat schließlich auch die These, sowohl die Sozialdemokratie als auch die Komintern würden von Agenten der Bourgeoisie in der Arbeiterbewegung geführt, weshalb der Kampf gegen diese beiden Führungen zu richten sei.

Auf dieser Grundlage entwickelte sich der politische und theoretische Kampf in der Partei. Das Sowjetland war mit seiner Revolution allein gelassen. Die Frage stellte sich: Ist der nationale Weg zum Aufbau des Sozialismus möglich, oder muss er in den internationalen Rahmen eingefügt werden?

Darin enthalten war, ausgesprochen oder nicht, die Problematik des Revolutions-Exports (das war übrigens nicht nur ein Theorie-Konzept, es gab bei Trotzki auch direkte Vorbereitungen für Aktionen dieser Art), worin wiederum unter den konkreten Bedingungen die Gefahr der Zerstörung des Sowjetlandes und damit des Zentrums der erhofften Weltrevolution eingeschlossen war.

Die Theorie der permanenten Revolution stellt aber auch den Hintergrund für die späteren Analysen der sowjetischen Entwicklung dar: Ihre nach Ansicht Trotzkis eingetretene Entartung, Bürokratisierung usw. führt er zwar nicht allein, doch vorrangig darauf zurück, dass die Entwicklung in diesem allein gelassenen und zurückgebliebenen Land stattfand.

Die Sowjetunion, auf sich allein gestellt, widersprach dem, was Lenin und Trotzki erhofft hatten. Das war die Folge der Niederlagen der Revolution in Deutschland und anderen Ländern, was in entscheidendem Maße dem konterrevolutionären Wirken der Sozialdemokratie zuzuschreiben war. Dennoch gab es keinen Sieg der Konterrevolution in Russland, den Trotzki befürchtet hatte. Allerdings traten später Entwicklungen ein, die Trotzkis Befürchtungen teilweise bestätigten. Das bedeutet nicht, dass diese Entwicklung unvermeidlich war.

Zu Trotzkis Theorie des Faschismus

Er geht zunächst aus seinen Auffassungen vom Fäulnischarakter des Imperialismus hervor, und da er diesen schon in der Periode vor dem Ersten Weltkrieg diagnostizierte, geht auch seine Faschismus-Theorie auf die ökonomischen und geschichtlichen Wurzeln des Faschismus zurück, die er bereits in dieser Zeit am Wirken sah. Außerdem war er skeptisch im Hinblick auf die Möglichkeit, den Faschismus durch eine Revolution zu überwinden. Er lehnte die antifaschistische Volksfront ab, witterte in ihr die Gefahr, dass die Kommunisten unzulässige Kompromisse mit der Bourgeoisie eingehen. Stattdessen fordert er die Bildung einer Arbeitereinheitsfront. Darin war wiederum die Gefahr sektiererischer Einengung der möglichen kampfbereiten Kräfte enthalten.

Trotzkis Einschätzung der Sowjetgesellschaft

Er hielt die Gesellschaftsordnung der Sowjetunion für ein Übergangsregime, für einen Arbeiterstaat mit Staatseigentum, das jedoch durch die Bürokratisierung von Partei und Staatsapparat der Gefahr der konterrevolutionären Entwicklung ausgesetzt ist. Darum forderte er eine politische Revolution:

"Alles deutet darauf hin, dass es im weiteren Verlauf der Entwicklung unvermeidlich zum Zusammenstoß der kulturell gewachsenen Kräfte des Volkes mit der bürokratischen Oligarchie kommen muss. Einen friedlichen Ausweg aus der Krise gibt es nicht. Kein Teufel hat jemals freiwillig seine Krallen beschnitten. Die Sowjetbürokratie wird ihre Position nicht kampflos aufgeben. Die Entwicklung führt eindeutig auf den Weg der Revolution."[6]

Das war 1936 geschrieben, zur Zeit der faschistischen Diktatur in Deutschland – das muss man auch als eines der Momente bedenken, wenn es um die gleichzeitigen Prozesse in Moskau geht. Unter diesen Bedingungen einer Revolution in der Sowjetunion das Wort zu reden konnte durchaus als Aufruf zur Konterrevolution ausgegeben werden!

Für die von ihm kritisierte Entwicklung machte Trotzki nun vor allem Stalin verantwortlich, auch er unterlag der Methode, gesellschaftliche Prozesse zu personalisieren, an Stelle eines positiven setzte er einen negativen Stalin-Personenkult. Überdies enthielt dies einen Widerspruch, denn andererseits führte er die Fehlentwicklungen auf den zurückgebliebenen Zustand des Landes und auf dessen Alleingelassensein zurück.

Trotzkismus heute

Der heutige Trotzkismus orientiert internationalistisch. Es komme darauf an, eine proletarische Weltpartei zu schaffen, keine Partei dürfe die Hegemonie ausüben, es dürfe aber auch keine nationale Autonomie und keinen Pluralismus geben. Die Möglichkeit für eine solche Weltpartei ergebe sich daraus, dass der Kapitalismus weltweit die Klasse vereinheitliche. Aber diese Orientierung sei auch notwendig, weil der Sozialismus auf nationaler Basis stets durch Bürokratisierung oder Konterrevolution gefährdet sei und nur beim Sieg im Weltmaßstab diese Gefahren vermeidbar werde.

Wie soll das gehen, keine Hegemonie, keine nationale Autonomie und kein Pluralismus einerseits, und das bei Zulassung von Fraktionen anderseits? Arbeiterdemokratie sei nötig, was bedeute: klar definierte individuelle und kollektive Rechte, gemeinsames Wirken der verschiedenen Kräfte der Arbeiterbewegung. Organisationsprinzip sei der demokratischer Zentralismus bei Möglichkeit von unterschiedlichen Organisationsformen und Fraktionen, weil die Klasse nicht homogen sei. Es wird festgehalten an der Theorie der permanenten Revolution und daran, dass die Führungen von Sozialdemokratie und Komintern-Parteien (bzw. deren Nachfolger) Agenturen der Bourgeoisie oder der Kreml-Bürokratie (oder deren Nachfolger) in der Arbeiterklasse seien. Bürokratisierung der Partei sei nur vermeidbar durch breite demokratische Einbeziehung der Klasse. Es wird orientiert auf die Arbeitereinheitsfront, es werden Konzeptionen von Teil- und Übergangsforderungen als Alternative zum Reformismus, zur Volksfrontpolitik entwickelt. Darin drückt sich ein im ganzen Trotzkismus immer wieder anzutreffender Hang zu ultralinker Bündnisfeindschaft aus. Die Klasseneinheit diene dem Heranführen nicht-kommunistischer Arbeiter an die Machtfrage. Trotz Konflikten ist der Trotzkismus für die Zusammenarbeit mit anderen Arbeiterorganisationen einschließlich ihrer Führer für gemeinsame Tages-, Teil- und Übergangsforderungen. Dies wirke vereinheitlichend und erzieherisch. Wirtschaftspolitisch werden gefordert: Arbeiterkontrolle über die Produktion, entschädigungslose Enteignung der Banken und der Schlüsselindustrien, gleitende Skalen bei Löhnen und Arbeitszeiten. Arbeiterregierungen, d. h. solche der traditionellen Arbeiterparteien ohne bürgerliche Koalitionspartner, seien Vorstufen zur proletarischen Machteroberung, wobei institutioneller Träger die Sowjets sein sollen. Im Trotzkismus gab es immer wieder voreilige Revolutionserwartungen und von daher Fehleinschätzungen, etwa hinsichtlich der Entwicklungen in Frankreich und Spanien 1936, in Jugoslawien, Kuba, Algerien, China, bezogen auf die Guerilla, hinsichtlich der Studentenbewegung.

Diese Konzeptionen sind nicht widerspruchsfrei. Wie ist das denn, wenn man einerseits für Fraktionen ist, aber Pluralismus ablehnt? Wie logisch ist die geforderte Zusammenarbeit auch mit den Führern der traditionellen Parteien, wenn diese Agenten der Bourgeoisie oder der Kreml-Oligarchie sind? Hat man denn nicht in der Diskussion um die Volksfront-Politik diese aus der Sorge heraus abgelehnt, das könne die Kommunisten zu unzulässigen Kompromissen mit der Bourgeoisie führen? Sind solche Sorgen, wenn es um die Zusammenarbeit mit "Agenten" gehen sollte, weniger begründet?

Ich will nicht, wie weiland Pontius Pilatus, meine Hände in Unschuld waschen. Wie also ist meine persönliche Position in diesen Fragen?

Viele der hier erörterten Probleme sind durch die historische Niederlage von 1989/90 wenigstens zunächst in den Hintergrund gedrängt oder gar unwesentlich geworden. In vielen der konkreten Orientierungen muss es keinen Widerspruch zwischen den einst so heftig sich bekämpfenden Richtungen geben. Dennoch:

Ich bin Mitglied der DKP, die sich an der einheitlichen Theorie von Marx, Engels und Lenin orientiert. Trotzki hat Bedeutendes geleistet auf dem Gebiet der Geschichtsdarstellung, gute literaturtheoretische und literaturhistorische Arbeiten geschrieben. Auf dem Gebiet der Philosophie und Ökonomie hat er, anders als Lenin, keinen Beitrag zur Weiterentwicklung des Marxismus geleistet. Seine Theorie der permanenten Revolution ist nach meiner Meinung ungenügend dialektisch und nicht ausreichend durch klassenanalytische Arbeit untermauert, also unzureichend. Insofern hat Trotzki, anders als Lenin, zwar innerhalb des Spektrums des Marxismus wirkend, dennoch keinen Beitrag zu dessen wesentlicher Weiterentwicklung geleistet. Das ist mit Lenin anders, deshalb halte ich es für richtig, von einer einheitlichen Theorie von Marx, Engels und Lenin zu sprechen und diese als den Fixpunkt der Orientierung zu nehmen.

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Fussnoten

1)Leo Trotzki, Die russische Revolution 1905, Berlin 1923, S. 6.

2) Kohlhammer Verlag 1972, Band 1, S. 94.

3)Ebenda, S. 99.

4)Ebenda, S. 226.

5)W. I. Lenin, Werke Band 9, S. 232.

6)Trotzki, Die verratene Revolution, Frankfurt a. M. 1968, S. 279.

 

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