erweiterte, aktualisierte fassung, frankfurt a.m. oktober 2007

protokolle des kritischen kurses  [Teil 1 von 3]
»Die Gesellschaft des Spektakels« von Guy Debord

{→ zum Buch von 1967 in der vom Autor gebilligten Übersetzung aus dem französischen von Jean-Jacques Raspaud. Edition Nautilus. Hamburg, 1978.→ // → zur Übersicht: Situationistische Revolutionstheorie →}

 

zu kapitel 1  DIE VOLLENDETE TRENNUNG

{Zu den Thesen: präambel / 1 / 2 / 3 / 4 / 5 / 6 / 7-9 / 10-14 / 15-17 / 18 / 19-20 / 21 / 22 / 23 / 24 / 25 / 26/ 27 / 28 / 29 / 30 / 31 / 32 / 33 / 34 }

zur präambel:

mit dem zitat aus dem hauptwerk von LUDWIG FEUERBACH »Das Wesen des Christentums« (1841) wird schon eingangs die spektakelkritik als materialistische religionskritik fundiert.

das heisst: gegen religiös-theologische weltanschauung (theontologie), gegen bloße erkenntnistheorie[1] & gegen idealistische geistesfilosofie[2] wird eine erkenntniskritische ausgangsposition postuliert, die ontologisch[3] und damit zugleich materialistisch[4] argumentiert.

diese materialistisch-ontologische dualität von sein & bewusstsein wird hier als verkehrung gekennzeichnet, d.h. die trennung beider seinsformen (materielles sein einerseits, bewusstes sein andererseits) ist noch keine analytische, also bewusste trennung, sondern erst noch eine naturwüchsige und damit verkehrte, weil unbewusste. als unbewusste trennung der gattung ist sie im »spektakel« perfekte, vollendete, absolute trennung. sie ist verkehrung des wirklichen bedingungszusammenhangs von sein & bewusstsein im menschlichen kopf, somit religiös im weitesten sinn: die wirklichkeit & wahrheit der materiellen objektiven welt erscheint in diesem quid-pro-quo (verkehrungs, vertauschungs-, verwechselungsvorgang) auf dem kopf stehend, als verkehrte welt. schein, illusion & heiligkeit der fänomene-für-uns stehen als verkehrungs-bilder gegen wahrheit & wirklichkeit der welt-an-sich, des wesens (,) der sache(n) – wie kopie gegen original, projektion gegenüber abgebildetem sachverhalt.

von anfang an hat die situationistische theorie »des spektakels« (siehe schon RAOUL VANEIGEM »Basisbanalitäten« 1963) religionskritisch »das heilige« sowie das darauf beruhende »opfer« in der menschlichen geschichte sowie kunstkritisch das bild, die bildlichkeit & bilderproduktion im materiellen lebensprozess der menschen, worin »heiliges«, »macht« & »opfer« usw. verherrlicht & verewigt werden sollen, ins zentrum ihrer entfremdungs-analyse gestellt.

damit versteht sich die kritik »des spektakels« als radikal historisch-materialistische kritik des falschen, verkehrten bewusstseins ausgehend von der MARXschen kritik am anthropologistischen materialismus des dialektischen HEGELschülers LUDWIG FEUERBACH in den »Thesen über Feuerbach« (1845, veröffentlicht erst 1888; MEW3:S.5ff):

in den »feuerbachthesen« (vgl. these 4:) hebt MARX die kritik der »Selbstzerrissenheit«, des »Sichselbstwidersprechens dieser weltlichen Grundlage« des gesellschaftlichen seins aufgrund der verkehrten bewusstseins-projektionen (von der »erde« an »den himmel«) ebenso als basis revolutionärer praxistheorie & als aufhebung bloßer, kontemplativer (nur welt-anschauender) filosofie hervor, wie er sie als im bisherigen, »alten« materialismus -- auch bei FEUERBACH -- immer noch statisch, unhistorisch/überhistorisch (KANTsche leitfrage: »was ist der mensch?«) kritisiert & zugleich durch überführung in radikal historisierenden materialismus zu retten versucht gegenüber dem idealistischen hohn & spott der geistesfilosofischen radikalen jungHEGELianer[5] .

MARX setzt diesem bloß anschauenden, »den Menschen« bürgerlich vereinzelnden materialismus, der noch nicht zur »gesellschaftlichen Menschheit« kommt (vgl. thesen ad feuerbach 9,10, in: MEW 3:S.5f), die historisch umwälzende praxis & aus ihr hervorgehende, auf den begriff zu bringende erkenntnis entgegen (HEGELs »arbeit des begriffs« wird den filosof_innen abgenommen durch die menschen der bewusst gemachten revolutionären praxis, durch »die klasse des bewusstseins«). MARX' beispiel: die »Heilige Familie« kann nur effektiv & radikal kritisiert werden, d.h. als kern der religion vernichtet werden, wenn & soweit »die irdische familie vernichtet wird« als patriarchalische institution (MEW 3:S.6, 32), aus der ihr ideelles sehnsuchtsbild verklärend an den himmel projiziert wird (vgl. später den FEUERBACHianer SIGMUND FREUD: die götter seien bloß die an den himmel projizierten »Riesen-eltern« fürs familial geprägte individuum).

entsprechend der historisch-ontologischen erkenntnismethode (LUKÁCS nennt sie auch: »historisch-genetische methode« ab MARX) der spektakeltheorie analog der MARXschen bestimmung von denkkategorien & seinskategorien (siehe später DEBORDs these202: wie laut MARX, »Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie« Moskau1949-1941, Berlin1953,1974: S.26f/ MEW 42: S.40, dessen formulierung er hier entwendet), drücken für ihn »die Kategorien Daseinsformen, Existenzbestimmungen« & -bedingungen aus, sind also allemal auf objektiv an-sich gegebene seinskategorien=bestimmungen zurückzuführen (vgl. auch these213 gegen das, was der späte LUKÁCS zeitgleich als »den antiontologischen Affekt der Gegenwart« bezeichnet, der nur noch – so wiederum DEBORD -- »als Anerkennung eines 'epistemologischen Sockels', der jenseits jedes ideologischen Phänomens stehen will«, funktioniert; sowie thesen 8,10,18,25,62,189).

die damit eröffnete möglichkeit historisch-materialistischer ideologiekritik (d.h. analyse & rückführende rationale erklärung des verkehrten verhältnisses des bewusstseins zum gesellschaftlichen sein der menschen in ihrem historischen materiellen lebensprozess (vgl. »Leitfaden« von MARX in MEW13:S.7-11) bedingt ausgehend von dieser präambel im 1.kapitel der »Gesellschaft des Spektakels« von anfang an eine parallelführung von religionskritik & ideologiekritik mit der von MARX begründeten kritik der politischen ökonomie, und zwar so, dass schon mit der ersten these (GdS §1) die totalität der spektakel-fänomene auf die totalität der »modernen Produktionsbedingungen« basiert wird: als die von MARX im ersten Satz des »Kapital« festgestellte »ungeheure Sammlung von Waren«, als welche diese Gesellschaft »erscheint«.

damit ist jeder von KANT über NIETZSCHE bis zum »postmodernismus«, »poststrukturalismus« & der »dekonstruktion« als herrschendem, universitär durchgesetztem ideologischen versuch der »rekuperation« der situationistischen spektakeltheorie als subjektivistischer, antidialektischer & antihistorischer, antimaterialistischer beschränkung auf »sprache«, »diskurse«, bilder & »zeichen ohne seinsreferenten«, auf ein jenseits von wahrheit & wirklichkeit, von objektiv ansichseiendem & durch praxis & theorie der menschen erkennbarem gesellschaftlichen sein von vornherein der riegel vorgeschoben, somit jeglicher agnostizistischen oder skeptizistischen, konstruktivistischen weltanschauung.

der zwar problematisch abstrakte, zunächst jedoch materialistisch (vernünfig abstrakt) zu haltende hilfsbegriff »Leben« bzw. »das Erlebte« steht in der kritischen theorie der gesellschaft des spektakels für alle objektiven referenten des gesellschaftlichen seins, auf die menschliche anschauungen, vorstellungen, sprachzeichen, bilder & gesten (LUKÁCS nennt dies formen der »mimetischen Reproduktion«) praktisch-rational rückführbar sind, wenn auch immer nur in einem unendlichen, unabschliessbaren erkenntnisprozess der approximation. (zur begrifflichkeit von »leben, erlebtes« siehe weiter unten.)

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zu these 1:

Toute la vie des sociétés dans lesquelles règnent les conditions modernes de production s’annonce comme une immense accumulation de spectacles. Tout ce qui était directement vécu s’est éloigné dans une représentation.

erste bestimmung, was »spektakel« (zunächst nur im plural) sind: ihre sammlung als »eine vorstellung« = repräsentation alles unmittelbar erlebten.

analog (homolog) zu MARX' erstem satz in seinen beiden büchern zur ersten darstellung der kritik der politischen ökonomie (1859, 1867) (MEW 13:S.15; MEW23:S.49): »Auf den ersten Blick erscheint« die moderne (=bürgerlich-kapitalistische) gesellschaft / produktionsweise / gesellschaftsformation als (an)sammlung von (alltäglich-banal:) waren oder (ökonomisch:) tauschwerten. (»tauschwert« zunächst synonym mit ökonomischem »wert«. zur genauen unterscheidung zwischen »wert« & dessen erscheinungsform »tauschwert(en)« siehe MEW 23:75 sowie MEW 19:335ff).

das doppelding »ware« (doppelcharakter der ware) ist die elementarform, ontologisch (= seinstheoretisch, seinslogisch) ausgedrückt: die »elementare daseinsform« des gesamten modernen reichtums (d.h.: in seiner bürgerlich-kapitalistischen form). der doppelcharakter aller arbeit (MEW 23:61) liegt dieser form substanziell[6] zugrunde. alle konkreten arbeiten (vergegenständlicht als gebrauchswerte) erscheinen hier gesellschaftlich in dieser abstrakten form (d.h. als tauschwerte). die abstrakte arbeit (= gesellschaftliche allgemein-menschliche durchschnitts-arbeit schlechthin) erscheint hier praktisch-wirklich (durch den austausch in warenform, geldform) als dinglicher repräsentant = »geld« = die allgemeine ware / ware der waren = allgemeines äquivalent für alle anderen waren. die konkreten arbeiten / arbeitsprodukte entweichen / entrücken / entäussern sich [s'éloigner = sich entfernen] dadurch in die abstrakte (= von dem konkreten charakter absehende) vorstellung »(tausch)wert« = »geld«. diese bloße, unmittelbar-oberflächliche vorstellung (begriffslos) lässt die wert&warenform (fasslich-fetischistisch perfekt verdinglicht im geld) als ewig-natürliche daseinsform (metahistorisch) aller menschlichen produktion, distribution & konsumtion erscheinen.

in dieser analogie / homologie zur kritik der politischen ökonomie von MARX ist die spektakeltheorie selber keine »polit-ökonomische« analyse im engen sinne, sie setzt aber von vornherein diese als ihre theoretische basis, ihren materialistischen historischen vorlauf voraus. mit der ersten these / bestimmung hat die spektakeltheorie also bereits die kritik der politischen ökonomie einbezogen. indem sie deren enge (»marxistische«) ökonomismus-lastige interpretation aufsprengt für die einbeziehung der modernen / post-modernen vorstellungswelt(en) der zweiten hälfte des 20. jahrhunderts, d.h. indem sie die warensammlung dieser welt nunmehr zugleich als bildersammlung begreift / analysiert, hebt sie die ökonomie-analytische leistung des überkommenen »marxismus« auf, ohne sie preiszugeben / zu hinterschreiten, & beseitigt / überwindet / sprengt zugleich ihre ökonomistische, »positive« verengung / sackgasse.

wie schon durch die präambel (FEUERBACH-zitat) aufgeschlossen, fasst die erste these »eine vorstellung« (hier: von der modernen welt der modernen produktionsbedingungen) als »bild(er-welt)«, »kopie«, projektion, reflex(ion), repräsentation (darstellung / vertretung / ersatz).

das »unmittelbar erlebte« (le vécu) ist / wird entfernt [éloigné], entrückt in bloße vorstellung, & zwar in eine vorstellung / darstellung [représentation]: in die verkehrte vorstellung (von) der modernen welt. diese erscheinungswelt ist verkehrter aber realer schein, daseinsform. verkehrt, weil »das ganze Leben der Gesellschaften« unter den herrschenden produktionsverhältnissen / -bedingungen aus der unmittelbarkeit / konkretheit des sinnlichen & geschichtlichen menschlichen lebens »entfernt«, / verflüchtigt / entwichen ist – in eine totalität bloßer vorstellungen von sich selbst, abstrakte repräsentation, bild(er-welt), verkehrte vorstellung des ganzen (lebens).

»das leben« ist in der spektakeltheorie nicht vitalistisch = »lebensphilosophisch«, also mystisch gefasst, sondern rational historisch-materialistisch: einfach als »materieller lebensprozess der menschen«, die jeweils historisch besondere »Gestalt des gesellschaftlichen Lebensprozesses, d.h. des materiellen Produktionsprozesses (MEW 3:20f, 26-29 =MEGA Probeband 1972: 42ff; MEW 23:94) & ganz konkret sinnlich-evident als »die Verhältnisse des praktischen Werkeltagslebens« (= alltagslebens) der individuellen und gesellschaftlichen menschen (MEW 3: »Die Gesellschaft und der Staat gehen beständig aus dem Lebensprozess bestimmter Individuen hervor; aber dieser Individuen, wie sie wirklich sind, d.h. wie sie wirken, materiell produzieren«; MEW 23:94), kurz: »da, wo die Spekulation aufhört, beim wirklichen Leben, beginnt also die wirkliche, positive Wissenschaft« des Communismus als »die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt.« (MEW 3:35)

gesellschaftsontologisch formuliert bedeutet »das Leben« eine Anweisung zu materialistisch historisierender bestimmung des verhältnisses von bewusstseinsformen zu gesellschaftlichen seinsformationen:
»Das Bewusstsein kann nie etwas anderes sein als das bewusste Sein, und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozess.« (MEW 3:26)

die schwierigkeit von dessen theoretischer Analyse – und damit ermöglichter bewusst-gesellschaftlicher praktischer veränderung – besteht permanent darin, aus der abstraktion des gegebenen lebens herauszugelangen zur konkretion, und diese theoretische praxis ist ihrerseits permanent »durch Voraussetzungen bedingt, die (…) erst aus dem Studium des wirklichen Lebensprozesses und der Aktion der Individuen jeder Epoche sich ergeben.«

das hier skizzierte theorie/praxis-verhältnis des wissenschaftlichen communismus ist auch für die spektakel-analyse DEBORDs zum »Leben« und dessen begrifflichkeit kennzeichnend. Ebenso wie fuer MARX ist auch fuer DEBORD die HEGELsche bestimmung von »Leben« tragende voraussetzung fuer den materialistisch historisch entwickelten begriff, der teilungen & trennungen sowie ihre aufhebungsmöglichkeiten im gesellschaftlichen prozessieren der menschlichen gattung herausarbeitet. während jedoch der vitalismus die kategorien natur, gesellschaft & geist/ideen zu einem sozialdarwinistisch undifferenzierten ewigen biologistischen brei des »Willen zur Macht« = »Lebenswillen« mythisiert, wird in der hülle des HEGELschen logizistischen systems die historisch differenzierte, naturhaft und gesellschaftlich komplexe dialektik der trennungen, scheidungen und aufhebungen der materiellen und ideellen widersprüche in einer letzthinnigen teleologie des weltgeschichtlichen »Geistes« mystifiziert [7].

gegen beide philosophischen mystifikationen der kategorie »leben« richtet sich die theoretische arbeit der historischen materialist_innen (vgl. MEW 3:S.37; MEW 23:S.27).

»das erlebte« = »le vécu« ist ebenfalls über die nüchterne bestimmung des objektiven materiellen lebensprozesses hinaus in der französischen sprache & filosofie des 20. jahrhunderts (HENRI BERGSON, JEAN PAUL SARTRE e.a.) »phänomenologisch« & »existenzphilosophisch« besonders aufgeladen, indem es ein reiches subjektives erleben des modernen individuums ausdrückt / konnotiert. dem muss zur kritischen überprüfung des »vitalismus-verdachts« bei der situationistischen theoriebildung nachgegangen werden.

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zu these 2:

Les images qui se sont détachées de chaque aspect de la vie fusionnent dans un cours commun, où l’unité de cette vie ne peut plus être rétablie. La réalité considéré partiellement se déploie dans sa propre unité générale en tant que pseudo-monde à part, objet de la seule contemplation. La spécialisation des images du monde se retrouve, accomplie, dans le monde de l’image autonomisé, où le mensonger s’est menti à lui-même. Le spectacle en général, comme inversion concrète de la vie, est le mouvement autonome du non-vivant.

nähere bestimmungen entlang einer reihe von »trennungen«, in denen die analyse (analytische trennung) der auseinanderdifferenzierung des wirklichen gesellschaftlichen lebensprozesses folgt / mit diesen wirklichen trennungen zusammenfällt:

»die bilder« sind abgetrennt vom »leben«.
in einer art film-lauf zerstören sie dessen gesellschaftliche & individuelle einheit, kohärenz:
teil- & pseudo-welt(haltigkeit) der bloßen kontemplation (anschauung, betrachtung) als objekt & als fragment, als bloße partikel, als voneinander getrennte sequenzen des objektiven »weltlaufs« (HEGEL) in der wahrnehmung der unmittelbaren anschauung & der bloßen vorstellung des betrachtenden subjekts.

diese abgetrennten bilder unterliegen einer spezialisierung:
entlang teilung(en) der gesellschaftlichen arbeit, privateigentum (MEW 3: 31ff).

autonomie der bild(er)welt stellt sich her, in welcher ein falsch (inkohärent) zusammengesetztes ganzes aus den erlebten wirklichkeitspartikeln zu einer jenseitigen macht verschmilzt, als »abgesonderte Pseudo-Welt« ein eigenleben zu gewinnen scheint, ihre eigene einheitliche »wahrheit & wirklichkeit« für die betrachtenden subjekte, wobei dieses pseudo-eigenleben dieser welt immer nur »Objekt der bloßen Kontemplation« bleibt;

(selbst-)lüge, (»lebenslüge«) gegenüber der »wahrheit & wirklichkeit« (MEW 3: S.5 = FEUERBACHthese2) des diesseitigen, praktisch-historischen lebens der menschlichen gattung / spezies.

das »proton pseudos« bezeichnet in der altgriechischen filosofie »die erste (=ur-) lüge«. hieraus erfolgt die zweite bestimmung des »spektakels« (jetzt erstmals im singular sowie als noch unbestimmtes »an sich«: »das Spektakel überhaupt«):

es ist konkrete verkehrung des lebens als unlebendiges (gespenstisches) in seiner selbstbewegung. es ist also negation des wirklichen lebensprozesses, indem es dessen wirkliche einheit als historischer totalität in abgetrennte, abgesonderte partikel/fragmente/sphären verkehrt, in spezialisierte »Bilder der Welt« & deren falsche einheit als »autonom gewordene Bildwelt«, so dass diese pseudo-totalität (inkohärenz) sich vollendet in einer autonomie des verlogenen (nämlich der lüge von der wahrheit & wirklichkeit dieser welt-einheit).

damit konstituiert sich die spektakeltheorie als verdinglichungstheorie & als fetischismustheorie. denn »der fetischismus« der wert-&warenform wird von der kritik der politischen ökonomie aufgedeckt als »gespenstische gegenständlichkeit«, perfekte verdinglichung des gesellschaftlichen lebensprozesses (MEW 23:S.52; MEW 25:836-839). zu beachten ist hier vor allem, dass die theorie des »Fetischismus der Warenproduktion« bzw. der wert-&warenform von MARX im kern mit hilfe der spiegel-metafer begründet wird (MEW 23: 67,72, 77,86,88).

der begriff vom »spektakel« leitet sich wesentlich aus dem wort »speculum« (lat.= spiegel) her. die methode der spektakel-analyse führt das »spekulative denken« von HEGEL fort (eines spiegelt sich begrifflich in seinem anderen, ist nur als reflexionsbestimmung zu seinem anderen zu begreifen; vgl. MEW 23: S.72), versucht dieses entfaltete dialektische verfahren allerdings, wie schon MARX es bezeichnete, immerfort materialistisch historisch »umzustülpen« (LUKÁCS: »umzuoperieren«), was eine permanente aufhebung der idealistischen & mystischen, systemfilosofischen »manier« (so MARX über HEGELs dialektik: MEW 23: S.27) der HEGELschen »Phänomenologie des Geistes« & »Wissenschaft der Logik« bewerkstelligt.

indem übrigens schon in der zweiten bestimmung des spektakel-begriffs die kategorie der »lüge« als wesenszeichen der spektakulären »pseudo-welt« eingeführt wird, damit zugleich auch deren reflexionsbestimmungen »wahrheit« & »wirklichkeit« der welt gesetzt sind, ist nicht nur historisch-ontologisch die »Bild-Welt« aus den spezialisierten (getrennten & falsch wieder zusammengesetzten) bildern der (wirklichen) welt als verkehrtes bewusstsein/seins-verhältnis aufgewiesen, als ideologisches verhältnis einer gigantischen, totalen spiegelverkehrung (»als konkrete Verkehrung des Lebens«), welche den menschen der modernen welt unschuldig widerfahren ist & gewissermaßen einfach passiert, sondern darüber hinaus ist damit auch bereits eine ethisch-moralische ebene der analyse eingezogen: wer lügt, weiss genau, dass mit dem behaupteten satz die unwahrheit ausgesprochen wird. »sie wissen das, aber sie tun es trotzdem«, so wäre hier die formulierung abzuwandeln, mit der MARX die aktive, praktische handlungsweise der bürgerlichen menschen als hochgradig gesellschaftlich & dennoch zugleich noch privat produzierende, deshalb einen »fetischismus« (wert-&warenform, geld) selber eigenhändig schaffende subjekte gekennzeichnet hat (MEW 23: S.86unten, 88Mitte: »Sie wissen das nicht, aber sie tun es.«).

die spektakulär ihren lebensprozess reproduzierenden menschen der moderne bewegen sich in einer »negativen dialektik« von (aktivem) lügen & (passivem) belogenwerden, indem sie gewissermaßen »sich selbst vor-machen«, die in bilder zerstückelte einheit ihres ganzen produzierten lebens (des erlebten) im betrachten / rezipieren / konsumieren dieser verselbständigten bild-welt als pseudo-totalität aus der trennung von ihnen, den lebendigen menschen selbst, d.h. aus dem jenseitigen reich des abstrakten unlebendigen (der fragmentierten, gespenstischen gegenständlichkeit der bilder der welt) wieder zurückholen zu können, das real von ihnen abstrakt gemachte einfach so konsumtiv-rezeptiv-kontemplativ konkret zu machen, zu »leben«. diese »aktivität« [où le mensonger s’est menti à lui-même = »wo das lügnerische / verlogene / lügenhafte / unwahre / falsche / trügerische sich selbst belogen hat / sich selber verlogen hat«] ist eine selbstlüge, weil sie die passivität der bloßen anschauung & vorstellung sowie die selbst erlebte aktivität der produktion dieser welt als »alles erlebte« für jeden menschen der modernen gesellschaft lügen straft.

sie produzieren sinnlich evident miteinander doch eine welt (objektiver weltmarkt-zusammenhang, objektive gesellschaftliche gesamtarbeiter_in), eine ungeheure sammlung von reichtümern & deren bild(ern), deren »entweichen«/«sich entfernen« & dessen »verkehrung«, »absonderung« & trennung/spezialisierung in eine ihnen fremd gegenüberstehende »spiegel«-welt (schaufenster-, passagen-welt) ihnen auch dann, wenn sie den vorgang nicht begreifen, doch nicht entgehen kann, es sei denn sie belügen sich selbst, d.h. suggerieren sich selbst tagtäglich als »lebenslüge« die vorgebliche »wahrheit und wirklichkeit« (»das isses!«), den genuss der einheit des fragmentierten, der richtigkeit des verkehrten.

nur innerhalb der sich selbst affirmierenden verkehrten welt der toten bilder & vorüberhuschenden fragmente reproduziert sich eine falsche, trügerische einheit des schlechten, bestehenden positiven, »in der sich das verlogene selbst belogen hat«. die begründung des begriffs vom spektakel als einer doppelten lüge des ganzen lebens der gesellschaften unter den modernen produktionsbedingungen weist von vornherein die nihilistisch-agnostizistische erkenntniskritik zurück, welche FRIEDRICH NIETZSCHE in einem wegweisenden doppel-essay programmatisch unter dem titel zusammenfasste: »Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne.«

dem entgegen liesse sich die erkenntniskritik der spektakeltheorie wohl am prägnantesten mit dem gegen NIETZSCHE & seine modernen filosofischen nachfolger_innen gerichteten formulierung von LUKÁCS zusammenfassen: »Es gibt keine 'unschuldige' Weltanschauung.« [8]

wo die willkürliche »auslegung« eines teils des ganzen der wirklichkeit, »die teilweise betrachtete Realität« zwangsläufig zur vertauschung von fragment & totalität führt, ersetzt/«repräsentiert« die welt-anschauung nur noch das unbewusste, vorbewusste & bewusste erleben des wirklichen lebensprozesses der menschheit, macht das partikularistische welt-bild aus unmittelbar rezipierten, nicht in ihrem wirklichen gesamtzusammenhang vermittelten bildern-der-welt die wirkliche welt & ihren wahren gesamtzusammenhang als produkt der sie produzierenden gesellschaftsindividuen zusammen mit diesen selbst zum »Objekt der bloßen Kontemplation«. indem sie sich als getrennte, zerstückelte objekte dieser welt anschauen, werden sie zu betrogenen betrügern ihres eigenen lebens, halten sie dessen abstraktes spiegelbild für die einzige, konkrete wahrheit & wirklichkeit. der alles umfassende »wertspiegel« gilt dann als universales & optimales objekt des begehrens, als einzig mögliche und natürliche seins- & reproduktionsform von ewigkeit her sowie als »beste aller möglichen welten« für gesellschaft wie individuum.

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zu these 3:

Le spectacle se présente à la fois comme la société même, comme une partie de la société, et comme instrument d’unification. En tant que partie de la société, il est expressément le secteur qui concentre tout regard et toute conscience. Du fait même que ce secteur est séparé, il est le lieu du regard abusé et de la fausse conscience; et l’unification qu’il accomplit n’est rien d’autre qu’un langage officiel de la séparation généralisée.

dritte bestimmung von »spektakel«: ausdrückliche darstellung des verkehrten pars-pro-toto der gesellschaft als mittel, zweck & ziel der pseudo-totalität im bereich der sprache. wobei diese zentrierte »offizielle Sprache« (späterhin als der spektakuläre »monolog« bezeichnet) zwar nur als abgetrennter »Teil der Gesellschaft & als Vereinigungsinstrument« gelten kann, aber gerade deshalb totalitär »jeden Blick & jedes Bewusstsein auf sich zieht«. dieser von der wirklichen welt abgesonderte teil, die verkehrte bild(er)welt, maßt sich gebieterisch an, die fehlende vereinigung zu bewirken, sie gewaltsam / künstlich herzustellen, was nur um den preis des »getäuschten Blicks & des falschen Bewusstseins« möglich ist. die vielfache trennung der produzent_innen des gesellschaftlichen lebens von einander & von ihrem gesamtprodukt selbst wird in dieser ideologischen verkehrung (»falsches bewusstsein«) zur sprach-lüge (vgl. Lars Gustafsson »Sprache und Lüge«, dort insbesondere über Nietzsche) »als eine offizielle Sprache der verallgemeinerten Trennung«.

bemerkenswert ist, dass der spektakelbegriff schon in der dritten bestimmung als sprachlicher, d.h. diskursiver fundiert wird: lüge & täuschung als zielbestimmung, zweck/mittel-intentionalität sowie selbst-darstellung (vor-spiegelung) eines teils der gesellschaft vor/gegenüber der gesamten gesellschaft relativieren das gesellschaftliche unbewusste (MARX: »Sie wissen das nicht, aber sie tun es.«) als objektiven »gesellschaftlichen Naturprozess« (MEW 23:S.12,15) im zusammenhang & in der wechselbedingtheit mit dem subjektiven bewusstsein der konfligierenden menschen, das sich als ideologie in der sprache ausdrückt & artikuliert (Grundrisse…:390; MEW 3:S.26,30, 432f;MEW 23:S.88). da die sprache von menschen gesprochen, verändert & höchst bewusst instrumentell gebraucht wird, kann & muss die »offizielle Sprache« des spektakels auch als teleologische, d.h. ziel-&zweck-gerichtete struktur bewusst sprach-handelnder / sprechender subjekte gekennzeichnet werden; es darf nicht von einer bloßen blind »die menschen sprechenden« struktur ausgegangen werden, wie sie der strukturalismus objektivistisch voraussetzt & damit der subjekt/objekt-dialektik a limine entzieht. wo es sprache gibt, gibt es menschliche subjekte, die miteinander sprachlich, d.h. mehr oder minder bewusst kommunizieren, es gibt dialog & zweckgerichtete interaktion. dass diese »diskursivität« menschlicher gattungs-subjekte historisch & dialektisch mit der arbeit, dem »stoffwechselregulierungsprozess zwischen menschen & natur« (MEW 23: 192,195,198f) eine »identität des identischen & des nichtidentischen« (HEGEL) bildet, schliesst jegliche verkürzung des materiellen gesellschaftlichen lebensprozesses, der ihm entspringenden produktionstriebkräfte, produktionsverhältnisse, konflikte, klassentrennungen & -kämpfe sowie ideologischen praxiskomplexe auf »sprache«, »symbole« & »zeichen«, »diskursivität«, »sprachliche interaktion«, »sprech-akte«, »kommunikatives handeln«, »wissens=macht-dispositive« oder sonstige semiologische welterfassungs-texte & »sprachphilosophische wende«-paradigmen sowie die omnipotenzfantasien des sprachkonstruktivismus & die beliebigkeits-spielereien ihres gegenstücks, »der dekonstruktion« ebenso materialistisch aus wie auf dem gegenpol alle mechanischen ableitungen sprachlicher ausdrucksformen aus der ökonomischen basis einer gesellschaftsformation als sogenannte signalsysteme analog oder homolog den »kommunikationssystemen« der ameisen oder bienen usw. im »überbau«.[9]

beide richtungen – verabsolutierung, universalisierung & subjektivierung der sprache seit dem »linguistic turn« der bürgerlichen filosofie ebenso wie seitenverkehrt dazu die herabsetzung der sprache zum pragmatischen hilfsobjekt instrumentellen handelns in natur, alltagsleben, politik & ökonomie ... werden der historisch so reich sich entfaltenden ausdrucksplastizität der subjekt/objekt-beziehungen menschlicher sprache nicht gerecht, einer plastizität bewussten gesellschaftlichen seins in den sprachzeichen, bildern & interaktionsformen der gesellschaftlichen individuen, auf die MARX hindeutet als verkörperungen »einer Welt von produktiven Trieben & Anlagen« in jedem individuum des modernen gesellschaftlichen produktionszusammenhangs (MEW 23:381).

dass die spektakeltheorie schon vom ansatz her die undialektische subjektivierung und objektivierung der sprache durch die akademischen mode-theorien des 20. jahrhunderts vermeidet & durchbricht, wird später, im 8.kapitel, deutlich, vor allem in these202, wo der strukturalismus gekennzeichnet wird als die sprachbornierte technik der spektakulären staatlichen macht, stets »den Code der Botschaften an sich selbst zu studieren«.

wie ihrem ableitungsmechanistischen counterpart, so sind auch die doktrinäre des »linguistic turn« nicht imstande / nicht gewillt, die menschen als subjekte in ihrem gesellschaftlichen zusammenhang zu erkennen, sondern verabschieden stattdessen gaenzlich den begriff des subjekts zugunsten einer blind-naturhaften, seis »sprache« genannten seis als naturgleiches »system« vorgestellten objektiven »struktur«.

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zu these 4:

Le spectacle n’est pas un ensemble d’images, mais un rapport social entre des personnes, médiatisé par des images.

die vierte bestimmung ist kern-bestimmung[10] des »spektakels«: analog der MARXschen definition der wert-&warenform in der »kritik der politischen ökonomie« (MEW 23:86f,89) wird hier das (der offiziellen sprache, die es spricht zufolge) behauptete spektakuläre »ganze« der modernen gesellschaft als in wirklichkeit getrenntes demaskiert: es wird defetischisiert, indem seine unmittelbare erscheinungsform, seine offizielle behauptung & selbstdarstellung als »ein Ganzes von Bildern« zerstäubt wird durch die materialistische rückführung, bloßlegung seiner wirklichen vermittlung als auf ein bestimmtes historisches »Verhältnis zwischen Personen«: dieses verhältnis ist ontologisch eben genau »ein durch Bilder vermitteltes«.

die bilder, die symbole, zeichen & sprach-äusserungen, die sprachregelungen, sprech-akte, verlautbarungen & diskursiven kommunikationsgesten sind ebenso anti-ontologisch, wie das bewusstsein ohne seinen seinsbezug eben garnicht existieren würde & seine sprachlich-bildlichen ausdrucksformen nur mittels rückführung auf diesen, auf den menschlich-teleologischen sinn & zweck der jeweils sprachlich ausgedrückten entäusserungen des gesellschaftlichen reproduktionsprozesses des materiellen lebens deutbar, dechiffrierbar werden können. weder bildliche noch sonstige sprach-zeichen finden ihren sinn, ihre bedeutung »in sich selbst« -- weder als einzelne entaeusserungen / objektivationen noch als verweisungszusammenhang untereinander. sie werden von konkreten gesellschaftlichen individuen als deren ausdrucksformen, als subjekten in ihrem objektiven historischen lebensprozess hervorgebracht: mithin als subjektive entaeusserungen der objektiven menschlichen gattungstaetigkeit, der menschlichen geschichte. die geschichte bringt somit »texte« hervor, geht aber niemals »als text« auf in einer art »palimpsest«, die geschichte »ist« nicht »text«, wie die dekonstruktion anti-ontologisch will.[11]

da erst durch bilder vermittelt, sind die produktionsverhältnisse zwischen den personen der modernen gesellschaft zunächst gebrochene, getrennte gesllschaftliche beziehungen zwischen den menschen: ihr unmittelbar historisch bereits gegebener, herausgearbeiteter zusammenhang kann noch nicht direkt gelebt werden sondern ist der vermittlungsstruktur, umwegstruktur über ein drittes unterworfen, das bild, das fragment & seine summierung zur ungeheuren sammlung von bildern/fragmenten, über die sich erst das gesellschaftliche leben organisieren darf. damit erweist sich der warenfetischismus als basisbestimmung des spektakelfetischismus.

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zu these 5:

Le spectacle ne peut être compris comme l’abus d’un monde de la vision, le produit des techniques de diffusion massive des images. Il est bien plutôt une Weltanschauung devenue effective, matériellement traduite. C’est une vision du monde qui s’est objectivée.

fünfte bestimmung von »spektakel«:

als materielle vergegenständlichung der bilder-welt / des welt-bildes, seine übertragung ins materielle, ist die sinnliche gewissheit, unmittelbare wahrnehmung, anschauung & vorstellung der welt tatsächliche seinsmacht: die passive kontemplation dieser welt wird von den sich so verhaltenden menschen in aktive praxis innerhalb dieser welt umgesetzt und dadurch rück-vermittelt in die reproduktion der bilder-welt als solche. MARX stellte einmal fest (hier sinngemäss aus dem gedächtnis zitiert): »die götter griechenlands gab es, sie herrschten wirklich & tatsächlich – weil & solange die menschen an sie glaubten, deshalb ihren vermeintlichen gesetzen gemäss handelten...« die bilder der spektakulären warenproduktion sind wirkmächtige seinsmacht, weil & solange sie das materielle verhalten der menschen zueinander bestimmen: ihre selbstbilder, ihre gesetze, ihre welt-anschauung, ihre verkehrsformen, ihre konventionen der eingefahrenen trennungen.

bei dieser vergegenständlichung handelt es sich genauer um verdinglichung, d.h. eine form des »fetischismus«, welche in der spezifischen historischen produktionsweise ihre bewegungsform hat, die MARX als »Produktion um der Produktion (von Tauschwerten) willen« karakterisiert.[12]

da diese herrschenden »modernen Produktionsbedingungen« (siehe these 1) seit der durchsetzung des weltmarktes[13] »das ganze Leben der Gesellschaften (...) in eine Vorstellung«(§1), also in die totalitaet aller bilder davon, d.h. in eine »Weltanschauung« gehen lassen, übertragen sie die totalität dieser bilder zugleich wiederum »ins Materielle«.

denn wie diese produktionsweise – die kapitalistische warenproduktion – zugleich auch als bild anschaulich wird, so ist jede von ihr produzierte ware zugleich ein produziertes bild, welches vom tauschwert unablösbar ist: spektakelproduktion, d.h. als totalität »eine tatsächlich gewordene, ins Materielle übertragene Weltanschauung.« Filosofisch könnte dieser übertragungsvorgang auch als eine art »real-hypostase« bezeichnet werden, die zur fetischistischen produktionsweise der waren hinzutritt, auf diese zurückwirkt, diese ihrerseits bedingt & gleichsam verdoppelt (über die ideologische verdoppelung des verkehrten gesellschaftlichen seins hinaus!).

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zu these 6:

sechste bestimmung von »spektakel«: produktion-um-der-produktion-willen -- von zeichen der herrschenden produktionsweise.

MARX hat die kapitalistische produktionsweise gekennzeichnet als »Produktion um der Produktion halber – von Tauschwerten« (MEW 42:). er zeigte: die kapitalistische form der arbeit als gesellschaftliche arbeit: allgemeine lohnarbeit & kapitalistische-waren-produzierende-arbeit (d.h. mehrwert-produzierende, maximalprofit bezweckende gesellschaftliche arbeit, die auf dem privaten klasseneigentum an den gesellschaftlichen produktionsbedingungen beruht) ist resultat der durchsetzung der kapitalistischen produktionsweise & zugleich ihr eigener endzweck, selbstzweck. sie hat diese selbstzweckhaftigkeit & die darauf beruhende produktivkraeftedynamik mit keiner anderen produktionsweise gemeinsam (nur communistische produktionsweise teilt mit ihr diese dynamik & uebertrifft sie sogar, unterscheidet sich jedoch von der kapitalistischen selbstzweckhaftigkeit der tauschwerte-/mehrwert-produktion durch ihren schrankenlos-vergesellschafteten zweck der beduerfnisbefriedigung durch ausschliesslich gesamtgesellschaftlich bewusst geplante gebrauchswerteproduktion & erweiterung der disponiblen zeit fuer die freie selbstbestimmte entwicklung des gesellschaftlichen individuums).

indem die spektakulaere warenproduktion zugleich mit den tauschwerten die bilder vom gesellschaftlichen leben mitproduziert, sind diese »kein Zusatz zur wirklichen Welt«, keine »aufgesetzten« zeichen oder ornamente, sondern bilden in ihrer gesamtheit »das Herz des Irrealismus der realen Gesellschaft«.

als bilder & zeichen sind diese produkte (bzw. als gesamtbild ist das spektakel) irreales ab-bild der realen reproduktionstotalitaet. doch so wie die ware – diese »elementarform«, »zellenform«, »kerngestalt« (MEW 23:) der kapitalistischen reichtumswelt – wie eine monade »das Modell des gesellschaftlich herrschenden Lebens« des ganzen (so wie die koerperzelle fuer die anatomie des koerperganzen: MEW 23:) darstellt, »das struktive Zentrum« (LUKACS) der realen totalitaet bildet, so bildet das spektakel, als ensemble von bildern wie als besonderes spektakulaeres bild / zeichen (als »einzelnes allgemeines« oder »abstraktes konkretum« wie jede besondere ware) »das Herz des Irrealismus der realen Gesellschaft«. MARX spricht der Ware eine »gespenstische Gegenstaendlichkeit« zu, »phantasmagorische« Qualitaet. die warenproduktion ist dadurch keineswegs irreal geworden, sondern als »verrueckte« form gekennzeichnet, begreifbar (MEW 23:). auch z.b. HERBERT MARCUSE spricht 100 jahre spaeter in »Der eindimensionale Mensch« von der »Rationalitaet des Irrationalen« bzw. der »Irrationalitaet des Rationalen«, welche der nachkriegs-kapitalismus der »affluent society« historisch zu sich gebracht hat.

im zusammenhang von modellhaftigkeit ist auf der bilder-ebene zugleich an die vorgegebenen modelle eines lebens-stils zu denken, an die »wahl« von »role-models« & »lifestyles« durch die individuen der modernen gesellschaft, die in wirklichkeit keine wahl ist sondern zwang zur anpassung, praegung durch die normen der herrschenden karaktermasken bei strafe der »devianz« (abweichung) & des aussenseitertums (»odd wo/men out«). dazu gehoert dann auch das faenomen des »konformistischen nonkonformismus« (LUKACS).

durch die zweckbestimmung der tauschwerte-/spektakel-produktion auf erweiterter stufenleiter als selbstzweck vorab ist auch in der beduerfnisbefriedigung der gesellschaftsglieder (»system der beduerfnisse« nennen es HEGEL & MARX) die zweckbestimmung schon erfolgt, somit findet in der konsumtions-sfaere auch keine wirkliche, entscheidende wahl der gebrauchswerte / beduerfnisbefriedigungsvarianten durch die gesellschaftlichen individuen statt: die konsumtion ist nurmehr anhaengsel, »korrolat« (zusatz, anhang, hinzufuegung) zur spektakel-produktion, bestaetigung von deren »bereits getroffenen Wahl«. (in der autorisierten uebersetzung 1978 /nautilus-verlag/ heisst es: »der in der Produktion und ihrem korollaeren Konsum bereits getroffenen Wahl.«, wohingegen W.Kukulies 1996 /tiamat-verlag/ leider so uebersetzt hat: »in der Produktion und der von ihr untrennbaren Konsumtion.« - womit der »anhaengsel-/zusatz«-karakter der konsum-sfaere verloren geht.)

zur identitaet & nichtidentitaet der sfaeren »produktion, distribution, zirkulation/austausch & konsumtion« in der kritik der politischen oekonomie siehe MARX »Grundrisse ...«-Einleitung (MEW 42:S.19-34).

den »revolutionaeren« moeglichkeiten der entscheidungs- & gestaltungs-alternativen-freiheit in der konsum-sfaere des modernen & postmodernen alltagslebens sitzen immer wieder »kulturalistische linke« auf; so um 1986 in der BRD der klassiker von Guenther Jacob: »Kapitalismus und Lebenswelt«. doch hat auch schon LUKACS (1970) in seinem hauptwerk im schlusskapitel »Die Entfremdung« herausgearbeitet, dass der kapitalistischen produktionsweise aufgrund ihrer nicht-identitaet von produktion & konsumtion wie in keiner anderen gesellschaftsordnung vor ihr die moeglichkeit innewohnt, sich als gesellschaftliche individuen der »Panmanipulation« (so nennt LUKACS die allseitige tendenz der west-oestlichen industriegesellschaften nach dem 2.weltkrieg, die subjekte im sinne der managerInnen der herrschaft zu manipulieren) durch wirklich freie, bewusste wahl / entscheidung zwischen den stets doch ontologisch gegebenen alternativen zu entziehen bzw. in revolutionaer-assoziierter gegentendenz entgegenzusetzen.

oekonomisch begruendete basis im gesellschaftlichen sein ist tatsaechlich die (durch klassenkaempfe zu erweiternde!) wachsende »freizeit«, durch die den gesellschaftlichen individuen entwicklungs-spielraum erwaechst, den sie zur revolutionaeren selbst-ausbildung & assoziation zur klasse-des-bewusstseins mit willen & bewusstsein nutzen koennen – wenn auch nur als »objektive moeglichkeit« bei vielerlei gegentendenzen.

bei all diesen analyse-versuchen der konsumtions-sfaeren-struktur ist also das problem der wahl, der individuellen entscheidung etc. durchaus »nicht aus den Lehrbuechern in die Wirklichkeit, sondern aus der Wirklichkeit in die Lehrbuecher gedrungen« (MEW 42:S.25).

die DEBORDsche these 6 setzt dem LUKACSschen »panmanipulations«-theorem noch eins drauf mit der definition des spektakels »als Beschlagnahme des ausserhalb der modernen Produktion erlebten Zeit.« indem hier zunaechst entschieden die identitaet der kapitalistischen sfaeren in den vordergrund gesetzt wird im unterschied zu LUKACs, der letzten endes ihre nichtidentitaet herausarbeitet, wird die totalitaere verfuegungstendenz ueber die disponible zeit, lebenszeit, sowohl als qualitative (zeit zum leben) wie als quantitative (disponibler zeit-raum) zum wesenszeichen des »spektakels« erklaert, was in der uebersetzung von 1996 besonders gut herueberkommt: »als Besetzung des wesentlichen Quantums der ausserhalb der modernen Produktion gelebten Zeit.« (en tant qu'occupation de la part principale du temps vécu hors de la production moderne.«)

dem problem der zeit & seiner spektakulaeren »loesung« wird DEBORD sogar ganze zwei kapitel der »Gesellschaft des Spektakels« widmen, die sich an das geschichtskapitel 4 schliessen & zum kapitel 7 ueber den raum fuehren. schon hier im 1.kapitel wird bereits das thema der zweckbestimmung der gesellschaft des spektakels aufgespannt wie in dem MARX-satz (MEW 16:144f): »Zeit ist der Raum zu menschlicher Entwicklung.«

these 6 erscheint uns besonders aufschlussreich fuer die dialektische struktur der DEBORDschen darstellungsmethode:
ausgehend von der begriffenen totalitaet dieser produktionsweise (»Le spectacle, compris dans sa totalité,«) wird eine reihe von »reflexionsbestimmungen« (HEGEL)[14] aufgemacht:

  1. ziel/zweck-setzung (telos) – resultat (le résultat et le projet)
  2. wesen – erscheinung / form(en) (le coeur – un supplement, décoration -- sous toutes ses formes)
  3. allgemeines – einzelnes – besonderes (le modèle -- toutes ses formes particulières
  4. substanz – akzidenzien (l'affirmation omniprésente du choix déja fait dans la production – sa consommation corollaire)
  5. inhalt – form (forme et contenu du spectacle sont identiquement ...)
  6. vergangenheit – gegenwart – zukunft (l'affirmation omniprésente du choix déja fait -- le modèle présent de la vie socialement dominante; la présence permanente de cette justification – la justification totale des conditions et des fins du système existant)

als begriffene einheit von konkreten momenten »als einer reichen Totalitaet von vielen Bestimmungen und Beziehungen« (MARX in »Grundrisse...« MEW 42:S.35) entwirft DEBORD hier einen ersten grundriss der gesellschaft des spektakels als identischem ganzen, als konkret zu begreifendem »system«: »Form und Inhalt des Spektakels sind identisch die vollstaendige Rechtfertigung (la justification totale) der Bedingungen und der Ziele des bestehenden Systems.«

ist diese darstellungsform »deduktiv«, eine aprioristische? MARX, gegen denselben vorwurf argumentierend, hat darauf in seiner methodologischen einleitung zu den »Grundrissen der Kritik der politischen Oekonomie« geantwortet: die forschung muss zunaechst, indem sie notwendig unmittelbar »eine chaotische Vorstellung des Ganzen« zum Ausgangspunkt nehmen muss, »durch naehere Bestimmung (...) analytisch immer mehr auf einfachere Begriffe kommen; von dem vorgestellten Konkreten auf immer duennere Abstrakta, bis ich bei den einfachsten Bestimmungen angelangt waere. (...) durch Analyse einige bestimmende abstrakte, allgemeine Beziehungen, wie Teilung der Arbeit, Geld, Wert etc., herausfinden. Sobald diese einzelnen Momente mehr oder weniger fixiert und abstrahiert waren, begannen die oekonomischen Systeme, die von dem Einfachen, wie Arbeit, Teilung der Arbeit, Beduerfnis, Tauschwert, aufstiegen bis zum Staat, Austausch der Nationen und Weltmarkt. Das letztere ist offenbar die wissenschaftlich richtige Methode. Das Konkrete ist konkret, weil es die Zusammenfassung vieler Bestimmungen ist, also Einheit des Mannigfaltigen. Im Denken erscheint es daher als Prozess der Zusammenfassung, als Resultat, nicht als Ausgangspunkt, obgleich es der wirkliche Ausgangspunkt und daher auch der Ausgangspunkt der Anschauung und der Vorstellung ist. Im ersten Weg [= vom chaotischen ganzen ausgehend vernuenftig-abstrakte bestimmungen, abstrakt-einfache momente zerlegend herauszuanalysieren] wurde die volle Vorstellung zu abstrakter Bestimmung verfluechtigt; im zweiten [= von den gefundenen abstraktiven inneren wesenszusammenhaengen des ganzen ausgehend, zusammenfassend »nun die Reise wieder rueckwaerts anzutreten« an die oberflaeche des nunmehr synthetisch konkret begreifbaren gewimmels der realen erscheinungsformen] fuehren die abstrakten Bestimmungen zur Reproduktion des Konkreten im Weg des Denkens.

Hegel geriet daher auf die Illusion, das Reale als Resultat des sich in sich zusammenfassenden, in sich vertiefenden und aus sich selbst sich bewegenden Denkens zu fassen, waehrend die Methode, vom Abstrakten zum Konkreten aufzusteigen, nur die Art fuer das Denken ist, sich das Konkrete anzueignen, es als ein geistig Konkretes zu reproduzieren. Keineswegs aber der Entstehungsprozess des Konkreten selbst. (...) Fuer das Bewusstsein ([naemlich das der bloßen filosof_innen] ...), dem das begreifende Denken[,] der wirkliche Mensch und die begriffene Welt als solche erst die wirkliche ist – erscheint daher die Bewegung der Kategorien als der wirkliche Produktionsakt (...), dessen Resultat die Welt ist; und dies ist – dies ist aber wieder eine Tautologie – soweit richtig, als die konkrete Totalitaet als Gedankentotalitaet, als ein Gedankenkonkretum, in fact ein Produkt des Denkens, des Begreifens ist; keineswegs aber des ausser oder ueber der Anschauung und Vorstellung denkenden und sich selbst gebaerenden Begriffs, sondern der Verarbeitung von Anschauung und Vorstellung in Begriffe. Das Ganze, wie es im Kopfe als Gedankenganzes erscheint, ist ein Produkt des denkenden Kopfes, der sich die Welt in der ihm einzig moeglichen Weise aneignet, einer Weise, die verschieden ist von der kuenstlerisch-, religioes-, praktisch-geistigen Aneignung dieser Welt. Das reale Subjekt bleibt nach wie vor ausserhalb des Kopfes in seiner Selbstaendigkeit bestehen; solange sich der Kopf naemlich nur spekulativ verhaelt, nur theoretisch. Auch bei der theoretischen Methode muss daher das Subjekt, die Gesellschaft, als Voraussetzung stets der Vorstellung vorschweben.« (MEW 42:34ff »Die Methode der politischen Oekonomie«) [unterstreichungen & einfuegungen in [ ] von uns]

dieses methodologische (klar materialistisch-ontologisch basierte erkenntniskritische) kriterium gilt es bei der darstellungsweise DEBORDs, dem gerne »hegelmarxistisches spekulatives denken« vorgeworfen wird, da er die begriffene totalitaet als konkretum darzustellen beansprucht & das wirkliche gesellschaftliche sein als menschengemachtes, handelndes historisches subjekt in seinem objektiven ansich auf die ideellen & ideologischen praxisformen der miteinander verkehrenden menschen in ihrem subjektiv-bewussten sein dialektisch in all ihren wechselwirkungen analysiert, im folgenden these fuer these im auge zu behalten. schlaegt seine seins/bewusstsein-dialektik irgendwo in idealistische, subjektivistische ueberbetonung des ideellen (bildlich/sprachlich/diskursiv-zeichenhaften) moments um?

DEBORD selbst ist 1969 bei gelegenheit der besprechung einer solchen kritik durch den ex-revolutionaeren links-akademiker (urspruenglich mitglied der gruppe »Socialisme ou Barbarie«, die er als erklaerter feind jeglicher revolutionaeren organisationsform schlechthin aber hinter sich liess), dann akkomodierten & zum gewoehnlichen universitaetsprofessor gewordenen CLAUDE LEFORT auf diesen vorwurf eingegangen; wir zitieren aus der revue »internationale situationniste«nummer12(dt.:S.I.Bd.2,S.378ff):

»Dieser ordentlich gewordene, aber recht gebildete Mensch rezensiert in der Nummer der Quinzaine Littéraire vom 1.2.1968 'Die Gesellschaft des Spektakels'. Zuerst spricht er ihr einigen Wert zu. Die Anwendung der Marxschen Methodologie und auch die der Zweckentfremdung ist ihm nicht entgangen, obwohl er nicht so weit ging, auch Hegel darin wiederzufinden. Trotzdem erschien ihm dieses Buch nach den Universitaetsnormen ungeniessbar – und zwar aus folgendem Grund:

›Debord fuegt zwar den vorangehenden neue Thesen hinzu, er kommt aber nicht weiter. Unermuedlich wiederholt er dieselbe Idee – dass die Wirklichkeit in die Ideologie umgekehrt wird, dass die im Spektakel in ihr Wesen verwandelte Ideologie sich als die Wirklichkeit ausgibt, und dass die Ideologie gestuerzt werden muss, damit die Wirklichkeit wieder zu ihrem Recht kommt. Egal ob er dieses oder jenes Thema behandelt, bespiegelt sich diese Idee in allen anderen, und den Schluss bei der 221. These verdanken wir nur dem Ende seiner Ausdauer.‹

Debord gibt sehr gerne zu, dass er bei der 221. These gefunden hat, er habe genug gesagt; weiter, dass er niemals mehr sagen wollte als das, was genau in diesem Buch steht. Ihm ist es nur darauf angekommen, 'unermuedlich' das zu beschreiben, was das Spektakel ist und wie es gestuerzt werden kann. Dass 'diese Idee sich in allen anderen bespiegelt', gerade das halten wir fuer das Kennzeichen eines dialektischen Buches. Ein solches Buch braucht nicht 'voranzukommen', wie eine staatliche Dissertation ueber Machiavelli der Befriedigung der Pruefungskommission und der Erlangung des Doktortitels entgegenstrebt – und, wie Marx im Nachwort zur 2.dt.Auflage des 'Kapital' ueber die Art sagt, die als 'Darstellungsweise' der dialektischen Methode aufgefasst werden kann, so mag diese Spiegelung 'aussehn, als habe man es mit einer Konstruktion apriori zu tun'.

'Die Gesellschaft des Spektakels' macht keinen Hehl aus ihrem vorgefassten Apriori und versucht nicht, ihren Schluss aus einer Fragestellung akademischer Art herzuleiten; dagegen wurde sie nur deshalb geschrieben, um das kohaerente konkrete Anwendungsgebiet einer These zu zeigen, die von einer Untersuchung herkommt, welche die revolutionaere Kritik ueber den modernen Kapitalismus machen konnte. Im wesentlichen ist es also unserer Meinung nach ein Buch, dem es an nichts als an einer oder mehreren Revolutionen fehlt – die unmoeglich lange auf sich warten lassen konnte. Lefort aber, der ueberhaupt nicht mehr an dieser Art Theorie und Praxis interessiert ist, findet, dass dieses Buch an sich eine geschlossene Welt ist:

Man glaubte, es wuerde gegen seine Gegner Sturm laufen, man muss aber zugestehen, dass diese sich breit entfaltende Rede nichts anderes als die Schau bezweckte. Dass sie ihre besondere Schoenheit hat, muss man ihr lassen: niemals verliert die Sprache die Faehrte. Da jede Frage, deren Antwort nicht von vornherein bestimmt ist, von den ersten Zeilen an ausgeschlossen wurde, stimmt es, dass man umsonst nach einem Sprung im Denken suchen wuerde.

Also ein vollkommen verkehrter Sinn: Lefort erblickt dort eine Art Reinheit wie bei Mallarmé [dem symbolistischen dichter des l'art pour l'art = der 'kunst um der kunst willen'], wo dieses Buch als das Negative der spektakulaeren Gesellschaft – in der auch jede Frage, deren Antwort nicht von vornherein bestimmt ist, jeden Augenblick ausgeschlossen wird, nur auf umgekehrte Weise – schliesslich nichts anderes erstrebt, als das in den Fabriken und auf der Straße vorhandene Kraefteverhaeltnis umzukehren.

Nach dieser globalen Ablehnung will Lefort bei einer Einzelheit noch den Marxisten spielen, um daran zu erinnern, dass dies sein Gebiet ist und dass er gerade als solcher ein Zeilenhonorar in intellektuellen Zeitschriften bekommt. Er beginnt mit der Faelschung, um sich Gelegenheit zu geben, pedantisch an laengst Bekanntes zu erinnern. Er kuendigt feierlich an, Debord habe 'aus der Ware das Spektakel gemacht', was 'folgenschwer' sei. Er fasst schwerfaellig zusammen, was Marx ueber die Ware sagt, und schreibt Debord faelschlicherweise zu, gesagt zu haben, dass 'die Produktion des Trugbildes die der Waren bedingt', anstatt des Gegenteils. Dieses Gegenteil wird jedoch deutlich als eine offensichtliche Tatsache vor allem im 2.Kapitel der 'Gesellschaft des Spektakels' ausgedrueckt, wo das Spektakel nur als ein Moment im Entwicklungsprozess der Warenproduktion definiert wird. Folglich kann Lefort scherzhaft folgern: 'wenn man Debord liest, scheint jede Gesellschaft vergeblich zu sein.' (...)«

DEBORD bekennt sich also gerne zur HEGELschen methode, verstanden als entfaltung der reflexionsbestimmungen, aber er laesst sich nicht den hut aufsetzen, deshalb schon idealistischer verkehrer von materiellem (oekonomischem) gesellschaftlichen sein & ideellem (bildlich & sprachlich - signifizierendem usw.) bewusstsein, dessen ideologischen gestalten wie dessen fetischformen, zu sein. oft wird versucht, von poststrukturalistischer seite her, die spektakeltheorie zu subjektivieren, indem ihr unterstellt wird, das subjektive moment, d.h. die bild/wort-zeichen/signifikanten[15] mit dem objektiven moment, d.h. den signifikaten (bildlich-sprachlich bezeichneten gegenstaenden & prozessen) & den ihnen gesellschaftlich & naturhaft zugrundeliegenden objektiv seienden referenten (die von MARX als »die reale Basis« eines jeden gesellschaftlichen seins einschliesslich des gesamten »stoffwechselregulierungsprozesses von mensch(en) & natur«, d.h. der arbeit im strikten sinne, gefasst werden) seinsmaessig zu verwechseln: so wie es hier der professor LEFORT unterstellt hat. in dieser sichtweise steht die gesellschaft des spektakels auf dem kopf: bilder, bewusstseinsgestalten, ideologie wuerden zur warenproduktion & zur kapitalakkumulation. die MARXsche grundaussage fuer einen historischen materialismus bestimmt die objektiv-vom-willen-der-menschen-unabhaengige oekonomische basis als letztinstanzlich uebergreifendes moment: »Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess ueberhaupt. Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.« (MEW 13:S.8f) – dieser bedingungszusammenhang waere angeblich durch die spektakeltheorie umgekehrt! nicht erst das 2.kapitel des buches widerlegt diesen quid-pro-quo-verdacht, sondern bereits am anfang des ersten kapitels spaetestens die klarstellung in these 6: ihr zufolge »ist das Spektakel zugleich das Resultat und das Projekt der bestehenden Produktionsweise.« sowie these 34, die das erste kapitel beschliesst: »Das Spektakel ist das Kapital in einem solchen Akkumulationsgrad, dass es Bild wird.«

these 6 hebt von der mitte ab die »modell«-funktion und zum schluss hin den legitimations-karakter des spektakels als bild der herrschenden produktionsweise hervor: damit tritt das spektakel – nachdem es bereits zuvor als »ins Materielle uebertragene Weltanschauung« definiert wurde -- in seiner ideologischen dimension so weit in den vordergrund der analyse, dass es durchaus die frage nach dem uebergreifenden moment von ideologischem »ueberbau« oder oekonomischer »basis« aufwirft. aus diesem grunde scheint es uns sinnvoll, schon hier auf den begriff der ideologie einzugehen, obwohl er erst spaeter von DEBORD genannt wird.

der »Leitfaden« von MARX begruendet diese kategorie scharf & klar aus den widerspruechen & konflikten zwischen den produktivkraeften & den produktionsverhaeltnissen/eigentumsverhaeltnissen einer gesellschaftsformation & bestimmt sie analytisch genau im unterschied zu »der materiellen (...) Umwaelzung in den oekonomischen Produktionsbedingungen«, d.h. zur »realen Basis«, als »der ganze ungeheure Ueberbau«, zusammengesetzt aus »den juristischen, politischen, religioesen, kuenstlerischen oder philosophischen, kurz, ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewusst werden und ihn ausfechten. So wenig man das, was ein Individuum ist, nach dem beurteilt, was es sich selbst duenkt, ebensowenig kann man eine solche Umwaelzungsepoche aus ihrem Bewusstsein beurteilen, sondern muss vielmehr dies Bewusstsein aus den Widerspruechen des materiellen Lebens, aus dem vorhandenen Konflikt zwischen gesellschaftlichen Produktivkraeften und Produktionsverhaeltnissen erklaeren.«(MEW 13:S.9)

zum beliebten phaenomenologischen & poststrukturalistischen quid-pro-quo von ideellem (subjektivem) & materiellem (objektivem) moment kann mit LUKACS kurz das fazit seiner gruendlichen fetischkritischen lebensarbeit gezogen werden: trotz seiner immensen gesellschaftlichen wirkmaechtigkeit in form von »ideologischen Praxiskomplexen« bleibt doch »Ideologiesein (...) seinem ontologischen Wesen nach eine gesellschaftliche Funktion, keine Seinsart.«(Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins II:490) damit ist nicht nur die hypostasierung nichtseiender (bloß gedachter, geistiger, psychischer & sonstiger ideeller) phaenomene zu angeblich/vermeintlich seienden (wie in HEIDEGGERs pseudo-ontologie etwa »die existenziale«) ausgehebelt, sondern zugleich die in der linken uebliche rede von »ideologie = falschem bewusstsein« & sonst nichts – eine einseitige & versimpelte halbierung des ideologiebegriffs, die gewoehnlich MARX unterschoben wird -- an ihre stelle innerhalb der bewusstwerdungs-anstrengungen der menschen in ihren klassenkaempfen zurechtgerueckt, zugleich aber auch die bloß denunziatorische beschraenkung der ideologie auf »wolkenschieberei« oder bloßen »blauen dunst« aufgehoben zugunsten einer defetischisierenden ideologiekritik:

»Wir erinnern dabei (...) an die Marxsche allgemeine Bestimmung der Ideologie, wonach diese das soziale Instrument ist, mit dessen Hilfe aus der widerspruchsvollen oekonomischen Entwicklung herauswachsende Konflikte von den Menschen, ihren Interessen gemaess, ausgefochten werden. Es ist also von Anfang an nie von einer reinlichen Sphaerentrennung die Rede, vielmehr von sehr komplizierten Wechselwirkungsprozessen, in denen das primaer oekonomisch bestimmte gesellschaftliche Sein die Menschen dazu veranlasst, die daraus herauswachsenden Konflikte mit Hilfe der Ideologie zu loesen.« (zOgS II:657)

wie DEBORD mit dieser dialektik des ideellen & der ideologie umgeht, wird nach diesem ersten vorlauf these fuer these zu ueberpruefen sein. these 6 jedenfalls erfasst bereits die ideologische funktion des spektakels-als-modell fuer die kapitalistische warenproduktion & -konsumtion: funktioniert doch dieses ensemble von bildern der herrschenden ziel- & zwecksetzung durch sein bloßes dasein im materiellen resultat als die totale, »allgegenwaertige Bejahung/Bestaetigung/Behauptung« [l'affirmation omniprésente] der (von welcher unsichtbaren hand, welchem gesellschaftlichen subjekt?) »in der Produktion bereits getroffenen Wahl«, ja in seiner identitaet von form & inhalt liefert es die »Rechtfertigung (...) des bestehenden Systems« sogar als »die staendige Gegenwart dieser Rechtfertigung«. es handelt sich ideologiekritisch wie oekonomiekritisch um eine engfuehrung der ueberbau-ebenen/sfaeren der moralitaet & der (politischen & juristischen) legitimation mit der basis-ebene der materiellen oekonomischen produktionsweise – zugespitzte materialistische dialektik, aber kein sich ueberschlagendes quid-pro-quo.

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Fussnoten

[1] KANTianische wende in der filosofie: transzendentalfilosofie, erkenntniskritik als bloße zurückbiegung der erkenntnis auf sich selbst, untersuchung der »erkenntnisvermögen-apriori«, ihrer formen, gegenüber unerkennbarem ding-an-sich: »was koennen wir wissen?« als primaere leitfrage. »halb-agnostizismus«. der (»kathedersozialistische«) neuKANTianismus im deutschland der BISMARCK-WILHELM II.-aera wird dann gaenzlich agnostizistisch. er hat die gesamte deutsche linke (ueber die »kritische theorie« ADORNOs & HORKHEIMERs, ueber ALFRED SOHN-RETHEL e.a., bis nach dem 2.weltkrieg in die BRD-aera vermittelt (HABERMAS), zutiefst akademisch-verbindlich gepraegt.

ontologie, d.h. die frage nach dem sein & (da)seienden als kriterium fuer analyse des bewusstseins, gilt dieser doktrinaer »erkenntniskritisch«-bornierten deutschen linken als gleichbedeutend mit der rechts-existenzialistischen, after-phaenomenologischen pseudo-ontologie eines HEIDEGGER.

dieser auf den neoKANTianismus und den NIETZSCHEanismus gegruendete »antiontologische Affekt der Gegenwart« (LUKACS) erklaert auch die anfälligkeit fuer die herrschende leit-filosofie der BRD seit den 1980er Jahren: den »radikalen konstruktivismus« & dessen »linkes« gegenstueck, »die dekonstruktion«.

[2] HEGELianismus, dialektische geschichtsfilosofie, logizismus, systemfilosofischer mystizismus

[3] seinstheoretisch: d.h. in der analytischen dualität von sein (natur & gesellschaft, geschichte) als letztinstanzlich unbedingtem primat (objektiv ansichseiendes, materieller lebensprozess) und bewusstsein (subjektivitaet, ideelle formen) als daraus abzuleitendem phaenomen. historische dialektik ihrer wechselbedingungen.

[4] (erkenntnis-analytischer primat des materiellen lebensprozesses der menschengattung als natur=körper-und gesellschaftswesen, anthropologische praxisfilosofie ab FEUERBACH)

[5] BRUNO BAUER e.a., dann MAX STIRNER. Zur Auseinandersetzung des entstehenden materialistisch- historischen Ansatzes mit HEGEL,den jungHEGELianern & FEUERBACH siehe: David McLellan: Die Junghegelianer und Karl Marx. (London1969) München1974; sowie: Studien zu Marx’ erstem Paris-Aufenthalt und zur Entstehung der Deutschen Ideologie. Beiträge … in: Schriften aus dem Karl-Marx Haus (Nr.43) Trier 1990

[6] Zu den reflexionsbestimmungen von »substanz / akzidenzien / inhalt / wesen / scheinen / erscheinung / form«, insbesondere zum schwierigen – weil nicht«substanzialistisch« & nicht«essenzialistisch« zu fassenden -- materialistisch-historischen »substanz«-begriff später.

»Der Kampf der Philosophen gegen die ‚Substanz’ und ihre gänzliche Vernachlässigung der Teilung der Arbeit, der materiellen Grundlage, aus der das Phänomen der Substanz hervorgegangen ist, beweist eben nur, dass es diesen Helden nur um die Vernichtung der Phrasen zu tun ist und keineswegs um die Veränderung der Verhältnisse, aus denen diese Phrasen entstehen mussten.« (MEW 3:379)

- zum substanzbegriff siehe in Georg Lukács »Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins« Bd1 (LW13,1984) [im folgenden abgekürzt:] zOgS1: S.541f, 613,f, woraus hier als leitlfaden nur erst folgendes zitat aus HEGELs »Logik« genügen muss: »Dies, was als Tätigkeit der Form erscheint, ist ferner ebensosehr die eigene Bewegung der Materie selbst.« (HegelWerke/suhrkamp-Tb/Bd6:S.92).

- sowie als erster überblick brauchbar: Winfred Kaminski: Zur Dialektik von Substanz und Subjekt bei Hegel und Marx. Frankfurt a.M. 1978.

- zur kritik von MARX am HEGELschen substanzbegriff: MEW 1:215ff

[7] MARX über HEGEL: »Der wahre Weg wird auf den Kopf gestellt. Das Einfachste ist das Verwickeltste und das Verwickeltste das Einfachste. Was Ausgang sein sollte, wird zum mystischen Resultat, und was rationelles Resultat sein sollte, wird zum mystischen Ausgangspunkt.« (MEW 1:242).

 Zu HEGELs begriff von »Leben« & vom »Lebendigen« zitieren wir hier nur einige der auf die Logik & die »Encyklopädie der philosophischen Wissenschaften« bezogenen sätze aus dem »Hegel-Lexikon«-artikel, wo der typische idealistische »kopfstand« des HEGELschen systems sowie sein naturteleologischer charakter deutlich wird, aus dem die materialistischen dialektiker_innen seinen historischen »rationellen Kern« (MARX) zu befreien versuchten:

»Der Begriff des Lebens tritt im hegelschen Gesamtwerk in allen Phasen seines Denkens und im Kontext der verschiedenen Systemteile auf. Er bezeichnet das religiöse, ästhetische, geistige, politische, praktische, natürliche sowie das logische Leben. (…) [Zum »Leben« in der »Wissenschaft der Logik«:] Das Leben hat also die Fähigkeit, sich zu trennen und sich als subjektive Substanz vom Objektiven abzuscheiden. Diese logische Bestimmung führt dazu, dass sich das Leben in drei Formen teilt, die in erster Linie naturphilosophischen Charakter haben, aber auch auf den Bereich des menschlichen (Zusammen-) Lebens bezogen werden können. Die erste Stufe des Lebens bildet ›Das lebendige Individuum‹. (…)«

Hegel beschreibt die lebendige Objektivität, da sie vom Begriff ‚beseelt’ ist, mit den Bestimmungen der Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit, wobei sich diese jeweils in der Sensibilität (A), der rritabilität (B) und der Reproduktion wieder finden. (…) Das lebendige Individuum, das sich zunächst auf sich bezieht, kann sich als prozesshaftes auch auf anderes, d.h. auf die objektive Welt beziehen. Durch diese objektive Äusserlichkeit ist das Individuum, das sich als selbständiges in seiner zweiten Form in einem‚ Lebensprozess’ befindet, im absoluten Widerspruch zu der unselbständigen Objektivität, und es empfindet diesen Widerspruch als Schmerz. Die Fähigkeit des Lebendigen, zu fühlen und Schmerz zu ertragen, ist der Anstoß bzw. Trieb, damit das Lebendige zu seiner Identität findet. Ziel der Bewegung ist, dass das Individuum nicht mehr der objektiven Welt fremd gegenübersteht, sondern sich darin findet.

Die Äusserlichkeit wird durch diesen Trieb, der sich mit dem Schmerz des Individuums verbindet, in die Innerlichkeit verwandelt. So kann das Lebendige identisch mit sich und der Äusserlichkeit sein und das heisst ‚die negative Einheit des Negativen’ und somit das Allgemeine sein. (…) Das lebendige Individuum ist in der ‚Gattung’ identisch mit seinem anderssein. Hier kann es sich zu einem anderen verhalten, ohne dass ihm dieses ein fremdes Äusserliches ist. Mit der Gattung ist die Wahrheit und Vollendung des Lebens erreicht (…). In dem Gattungsprozesswird die Einzelheit des Lebendigen notwendig aufgehoben und zur Allgemeinheit der Idee. Das Leben bzw. die lebendige Individualität bilden so die Voraussetzung für das ‚Erkennen’, und zwar insofern die lebendige Einzelheit stirbt und der Geist so als das Allgemeine hervorgehen kann.

Noch einmal wird der Lebensbegriff im letzten Abschnitt der Logik, in der absoluten Idee, aufgenommen. Zunächst ist die absolute Idee eine ‚Rückkehr zum Leben’, dann muss sie diese Unmittelbarkeit aber aufgeben. (…) Wenig später heisst es, dass die absolute Idee allein Sein, unvergängliches Leben, sich wissende Wahrheit sei. (…) Es zeigt sich schliesslich die Vielfältigkeit des Lebensbegriffs innerhalb der Logik. (…) ‚Die absolute Freiheit der Idee aber ist, dass sie nicht blos ins Leben übergeht, noch als endliches Erkennen dasselbe in sich scheinen lässt, sondern in der absoluten Wahrheit ihrer selbst sich entschliesst, das Moment ihrer Besonderheit oder des ersten Bestimmens und Andersseyns, die unmittelbare Idee als ihren Wiederschein, sich als Natur frei aus sich zu entlassen.’ [Enzyklopädie … §244]

[Zum »Leben« in der Naturphilosophie:] (…) Im Gestaltungsprozess wird der Begriff als der tierische Organismus auf dieselben drei Weisen bestimmt wie die lebendige Individualität in der Logik (Sensibilität, Irritabilität und Reproduktion). Der Gattungsprozess bereitet zugleich den Übergang zum Geist, denn in diesem Processe der Gattung geht das nur Lebendige nur unter, denn es tritt als solches nicht über die Natürlichkeit hinaus.’ (…) Wie der Übergang vom Leben zum Erkennen in der Logik, so muss in der Naturphilosophie die Natur (das Leben) in den Geist (das Erkennen) übergehen. Als allgemeines Charakteristikum des Lebens in allen Disziplinen des hegelschen Systems lässt sich die Bewegung bestimmen, die sich durch das Teilen und das Zurückführen in die Einheit auszeichnet, so dass das bewegte Verhältnis von Einzelnem und Allgemeinem ausgedrückt wird. Dadurch erhält sich das Leben selbst und gewinnt eine systematische Bedeutung für die Dialektik.«

(Annette Seil in: Paul Cobben [Hg]: Hegel-Lexikon. Darmstadt 2006, S.301-305)

[8] »Die Zerstörung der Vernunft«, Berlin 1953, S.6f: »Eine der Grundthesen des Buches ist: Es gibt keine 'unschuldige' Weltanschauung. In keiner Beziehung gibt es eine solche, aber insbesondere nicht (..) im philosophischen Sinn: (...) Schon deshalb, weil die Vernunft nicht etwas über der gesellschaftlichen Entwicklung Schwebendes, parteilos Neutrales sein kann, sondern stets die konkrete Vernünftigkeit (oder Unvernünftigkeit) einer gesellschaftlichen Lage, einer Entwicklungsrichtung widerspiegelt, auf den Begriff bringt und damit fördert oder hemmt. Diese gesellschaftliche Bestimmtheit der Inhalte und Formen der Vernunft beinhaltet jedoch keinen historischen Relativismus.« HEGEL wie MARX versuchen jeweils mit ihrer dialektischen methode »die Vernünftigkeit in der Geschichte« als tendenz & resultat der gattungsgeschichtlichen menschlichen kämpfe, als praktische möglichkeit & wirklichkeit in der gesellschaftlichen widerspruchsentfaltung begreifbar zu machen -- ebenso wie die gegenwirkende zerstörung der vernünftigkeitstendenzen durch ideologische gegentendenzen, gewissermaßen wahrnehmungsstörungen des verhältnisses des bewusstseins zum gesellschaftlichen sein; doch »besonders seit Nietzsche zersetzt der irrationalistische Pessimismus die Überzeugung, dass eine objektive Aussenwelt vorhanden ist, dass ihre unbefangene und gründliche Erkenntnis einen Ausweg aus jener Problematik, die die Verzweiflung hervorruft, weisen könnte. Die Erkenntnis der Welt verwandelt sich hier immer stärker in eine – steigend willkürliche – Weltauslegung.« (S.71)

auf die gesellschaftliche klassenlage & funktion dieser agnostizistischen, nihilistisch-hermeneutischen & konstruktivistischen weltanschauung von möchtegern-eliten in der modernen bürgerlichen gesellschaft geht LUKÁCS insbesondere in seiner analyse des aufkommenden »religiösen Atheismus« im vorfeld faschistischer herrschaftsformen ein. mythische weltauslegung (allegorese) hat im 20.jahrhundert weitgehend – besonders unter der bürgerlichen intelligenz – die religiösen gottesbilder ebenso wie die »wissenschaftliche weltanschauung« (buergerlicher materialismus, szientifismus, positivismus, zuletzt noch »der Marxismus-Leninismus« als ein Hyperrationalismus, als welchen LUKACS den STALINismus bezeichnet) als leit-ideologien im massenmaßstab für die alltags- & lebensbewältigung der entfremdeten partikularen subjekte abzulösen begonnen, so dass die kritik der religion aktuell – d.h. spätestens seit dem zivilisationsbruch gegen mitte des 20. jahrhunderts (LUKÁCS arbeitete an »Die Zerstörung der Vernunft« schon während der 1930er jahre unter dem arbeitstitel: »Warum und wie ist Deutschland zum Zentrum der faschistischen Reaktion geworden?«) auf neuartige weise alle weitere kritik der herrschenden klassengesellschaftsordnung bedingt.

[9] vgl. entgegen derartigen bei vulgären »marxisten« noch immer sehr beliebten naturalisierungen von menschlicher sprache & bewusstsein den dialektischen ansatz von MARX in MEW 23:193, der als »biene & menschlicher baumeister«-modell die dualität von ideellem & damit sprachlichem moment einerseits, materiellem moment der »bewegung-im-stoff« andererseits gattungshistorisch schlüssig geklärt & auf die ebene der menschlich-gesellschaftlichen teleologie gehoben, d.h. aus dem bloß objektiven naturzusammenhang in die subjekt-emanzipation-in-permanenz aufgehoben hat.

[10] vgl.MARX, der bei der bestimmung der wert-&warenform des öfteren von »der kerngestalt« spricht, auf die solch komplexe fetischgestalten wie das geld & das kapital analytisch zurückzuführen sind (auch: »keimform«)

[11] die »dekonstruktion«, d. h. der neukantianisch-nietzscheanisch-heideggeristisch basierte post-strukturalismus, geht aus vom agnostizismus des neukantianismus (KANT selbst war »halb-agnostizist«, indem er am objektiven sein des »unerkennbaren ding-an-sich« festhielt, was der »neukantianismus« dann auch noch eliminiert), vom brutalen lebensphilosophischen »Willen zur Macht«-agnostizismus NIETZSCHEs, vom pseudo-ontologischen existenzialismus HEIDEGGERs & vom »antihumanistischen« (d.h. textstruktur-ohne-menschliches-subjekt an stelle der von-den-menschen-mit-willen&bewusstsein-gemachten-geschichte setzenden) strukturalismus: das fundamentale dogma der »dekonstruktion« laesst sich in die formel von HEIDEGGER fassen »Die Sprache ist das Haus des Seins«, und ihre semiologische (zeichentheoretische) pseudo-ontologie ersetzt doktrinaer alles seiende, dasein & seinskategorien durch die gerade unmittelbar vorfindlichen »existenziale« der kapitalistischen »lebenswelt«, die sie wiederum auf huschende, ephemere & voellig beliebige, willkuerlich auslegbare, manipulierbare zeichen-von-zeichen-von-zeichen ... (endlose signifikantenketten) in instrumenteller funktion fuer die fragmentierten partikularen befindlichkeiten reduziert. »Der Wille zur Macht« (als angebliches gesetz alles lebens & seienden – das sein jedoch immer nur im sinne seines lehrers SCHOPENHAUER in »Die Welt als Wille und Vorstellung« subjektiviert) ersetzt, so die doktrin NIETZSCHEs, jeglichen wahrheits- & erkenntnis-anspruch: erkenntnis ist ihm zufolge nichts als bei den menschen das, was bei den tieren »Hörner und Zähne« sind (»Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne.«) deshalb ist manipulation der sprachformen & sprechakte, funktionalisierung & durchsetzung von sprach-, sprech-, definitions-macht gegen andere der einzige inhalt von sprache & zeichensystem (so die doktrin des schamlosen neo-NIETZSCHEaners FOUCAULT: wissen & sprache seien »Dispositive der Macht« und sonst nichts). seit dem französischen mai 1968 & den klassenkämpfen in italien bis 1977 gibt sich der poststrukturalismus gerne linksNIETZSCHEanisch als geheimwissen der »spezifischen intellektuellen« zwecks staatlich-akademisch entwendeter promotion »der revolte«, und zwar bevorzugt in prosituationistischer pose (BRD-klassikertitel: »Das Schillern der Revolte« von Frank Böckelmann e.a., 1978).

[12] verdinglichung ist eine form der anschauung sowie vorstellung und des verstands (Common Sense) & der daraus folgenden diskursiven, ideologischen praxis, in welcher der einzelne gegenstand (das »ding«) oder teilprozess (vorgang, akt usw.) aus seinem zusammenhang mit dem werden & vergehen, der genese & veraenderung im prozess der gegenstaendlichkeit & vergegenstaendlichung partikularisiert, herausgeloest & isoliert, fixiert wird. dadurch kann er tendenziell nicht mehr als geschichtlicher, dialektisch bedingter & historisch strukturierter teil-gegenstand einer (stets extensiv & intensiv unabschliessbaren historisch-dynamischen) totalitaet wahrgenommen & erkannt werden. (LUKACS weist bei der analyse der verdinglichung als besonderer art der vergegenstaendlichung & ihrer erkenntnis allerdings auch darauf hin, dass es notwendig »unschuldige Verdinglichungen« gibt & geben muss: so schon die woerter & die abstraktionen in der sprache! Es kommt nur darauf an, diese zeitweilig notwendigen fixierungen wieder aufzuloesen aufzuheben, d.h. ihrerseits bewusst weiter zu historisieren.)

[13] MEW29:359f=Marx an Engels 8.10.1858: »Die eigentliche Aufgabe der bürgerlichen Gesellschaft ist die Herstellung des Weltmarkts, wenigstens seinen Umrissen nach, und einer auf seiner Basis ruhenden Produktion. Da die Welt rund ist, scheint dies mit der Kolonisation von Kalifornien und Australien und dem Aufschluss von China und Japan zum Abschluss gebracht.«

[14] LUKACS hob den materialistischen gehalt der HEGELschen dialektik wie kein anderer hervor, »wenn wir auf die bedeutendste Hegelsche Entdeckung zu sprechen kommen, auf die Reflexionsbestimmungen. Wir glauben (...), dass hier die Zentralfrage seiner Dialektik, sowohl die der vom Bewusstsein unabhaengigen Dynamik und Struktur der Wirklichkeit selbst wie die ihrer verschiedenen Spiegelungen im subjektiven Bewusstsein vorliegt.« (zOgS I:527) »Jeder weiss, dass diese die zentralen Kategorien seiner Wesenslogik bilden. Das Wesen ist aber (...) kein Produkt des Denkens, sondern des Seins. Das vom Verstand zur Vernunft hoeherschreitende Denken kann nur darum das Wesen – mit den Reflexionsbestimmungen – Wesen/Erscheinung/Schein – erfassen, weil nach Hegel die Wirklichkeit objektiv, unabhaengig vom Denken, den Weg vom Sein zum Wesen zurueckgelegt hat. (...) Es ist darum nicht schwer zu begreifen, dass der kategorielle Aufbau des Wesens, als Annaeherung an einen – relativ – totalen Komplex, auf einer wechselseitigen Zuordnung von scheinbar selbstaendigen, in Wirklichkeit jedoch einander untrennbar bedingenden Kategorien aufgebaut ist. Damit sind wir nun beim Niveau der Vernunft, bei den Reflexionsbestimmungen angelangt. (...) Die philosophisch revolutionaere Tat Hegels, die Entdeckung und das in-den-Mittelpunkt-Stellen der Reflexionsbestimmungen, besteht vor allem in der ontologischen Entfernung des absolut trennenden Abgrunds zwischen Erscheinung und Wesen. Indem das Wesen weder als seiend-transzendent noch als Produkt eines gedanklichen Abstraktionsprozesses erfasst wird, sondern als Moment eines dynamischen Komplexes, in welchem Wesen, Erscheinung und Schein ununterbrochen ineinander umschlagen, zeigen sich die Reflexionsbestimmungen in dieser neuen Fassung als primaer ontologischen Charakters.« (ibid. S.531ff) Denn »die Erkenntnis der Reflexionsbestimmungen, als Bestimmungen der Struktur und Dynamik der Wirklichkeit,« und die »weitere Konkretisierung in der Anwendung dieser neuen Methode fuehrt nun direkt ins Herz der Dialektik.« (ibid.S.535) wir werden gelegenheit haben, diese bestimmungs-reihen in der entfaltung der spektakel-thesen am werk zu finden.

[15] Das ensemble der »signifikanten« in ihrem zusammenwirken als menschliche sprache(n) im »semiologischen dreieck« mit »signifikaten« & »referenten« ist allerdings nicht einfach nur den von MARX als »Ueberbau« gefassten ideologischen praxiskomplexen & machtstrukturen zuzuordnen, sondern durchdringt & praegt in der tat »die Gesamtheit dieser Produktionsverhaeltnisse« mit, also »die oekonomische Struktur« & damit »die reale Basis«, d.h. die »Produktionsweise des materiellen Lebens« (MEW 13: S.8) als benennungen / bezeichnungen, saetze, diskurse, sprechakte & kommunikationsstrukturen. denn das ideelle moment ist gerade wesentlich fuer die menschliche arbeit & praxis als teleologische setzung (=zweck/mittel-setzung), die menschlich-gesellschaftliche veraenderung des seins setzt zielgerichtetes bewusstsein voraus. »Aber auch dies nicht von vornherein als 'reines' Bewusstsein. Der 'Geist' hat von vornherein den Fluch an sich, mit der Materie 'behaftet' zu sein, die hier in der Form von bewegten Luftschichten, Toenen, kurz, der Sprache auftritt. Die Sprache ist so alt wie das Bewusstsein – die Sprache ist das praktische, auch fuer andere Menschen existierende, also auch fuer mich selbst erst existierende wirkliche Bewusstsein, und die Sprache entsteht, wie das Bewusstsein, erst aus dem Beduerfnis, der Notdurft des Verkehrs mit anderen Menschen.« (MEW 3:)

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