aus: Kommunistische Streitpunkte - Zirkularblätter - Nr. 2 - 21.01.1999

Zwi Schritkopcher, Dezember 1998

Wider den erschlichenen »Kommunismus« (3. Teil)

Zu den 12 Thesen von Daniel Dockerill: »150 Jahre KP«. Erste spontane Vorüberlegungen zu einer Entgegnung

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Staatspolizeiliche Einzwängung des Konkurrenzkampfes als Übergang zur Anarchie des Plans

Auch hier sind die bolshevikischen Repräsentanten des Proletariats konsequente Jakobiner, wie KARL MARX sie schildert:

»Gleich im Beginn des Revolutionssturms wagte die französische Bourgeoisie das eben erst eroberte Assoziationsrecht den Arbeitern wieder zu entziehn. Durch Dekret vom 14. Juni 1791 erklärte sie alle Arbeiterkoalition für ein 'Attentat auf die Freiheit und die Erklärung der Menschenrechte, strafbar mit 500 Livres nebst einjähriger Entziehung der aktiven Bürgerrechte.' Dies Gesetz, welches den Konkurrenzkampf zwischen Kapital und Arbeit staatspolizeilich innerhalb dem Kapital bequemer Schranken einzwängt, überlebte Revolutionen und Dynastiewechsel ...« (MEW 23, 769f)

Aus dem Revolutionssturm 1920/21 berichtet VICTOR SERGE : »Der Kriegskommunismus« konnte etwa so definiert werden:

  1. Requisitionen auf dem Lande,
  2. unerbittliche Rationierung für die Stadtbevölkerung,
  3. totale 'Sozialisierung' [=Verstaatlichung] der Produktion und der Arbeit,
  4. durch Papierkrieg extrem komplizierte Verteilung der letzten Vorräte von Industrieartikeln,
  5. Monopol der Macht mit der Tendenz zur Einheitspartei und Erstickung aller abweichenden Meinungen, 
  6. Belagerungszustand und Tsheka.

Dieses System hatte der IX.Kongress der KP im März und April 1920 gutgeheissen. Niemand erkühnte sich, es als nicht lebensfähig zu erklären; die Partei nahm keine Kenntnis davon, dass Trotzki schon im Februar 1920 dem ZK die Aufhebung der Requisitionen vorgeschlagen hatte. Der marxistische Historiker Roshkov schrieb an Lenin, wir gingen einer Katastrophe entgegen, eine sofortige Veränderung der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Stadt und Land sei notwendig. Das ZK wies ihm Pskow als Zwangsaufenthalt an, und Lenin antwortete ihm, er habe keineswegs die Absicht, den Weg der Kapitulation vor der ländlichen Konterrevolution zu gehen. (...) Die Neigung, wirtschaftliche Schwierigkeiten durch Zwang und Gewalt zu überwinden, verstärkte die allgemeine Unzufriedenheit, weil sie jede freie, d.h. kritische Meinung gefährlich machte und bewirkte, dass sie von da an als feindlich behandelt wurde. (...) Die Lage des Arbeiters war nicht nur de facto miserabel, sondern -was ernster war - auch de jure, da ihm die Büros das Wort verweigerten. (...) Aber solange das wirtschaftliche Regime für ungefähr neun Zehntel der Bevölkerung unerträglich war, konnte keine Rede davon sein, irgend jemandem die Freiheit des Wortes zu gewähren, ob im Schoße der Sowjets oder anderswo. Der Belagerungszustand herrschte sogar innerhalb der Partei ...« (S.137ff)

Dieser Zustand jedoch sollte sich über den ach so vorübergehenden »Kriegskommunismus« hinaus im wesentlichen nie mehr ändern!

»Das Regime dieser Zeit hat man seitdem den Kriegskommunismus genannt. Damals nannte man es 'Kommunismus' schlechthin. Und wer, wie ich, sich erlaubte, ihn als provisorisch zu betrachten, zog sich tadelnde Blicke zu. Trotzki hatte soeben geschrieben, dieses Regime werde mehrere Jahrzehnte dauern, um den Übergang zum wahren Sozialismus ohne Zwang sicherzustellen. Bucharin ( ... ) betrachtete die gegenwärtige Organisation als endgültig. Dennoch wurde es einfach unmöglich, unter ihr zu leben. Unmöglich natürlich nicht für die Regierenden, sondern für das Gros der Bevölkerung. ( ... ) In Wirklichkeit musste man, um sich zu ernähren, Tag für Tag spekulieren. Und die Kommunisten taten das genau wie die anderen. ( ... ) Das Wort des heiligen Paulus, das überall angeschlagen war: Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen! wurde zur Ironie, denn um sich zu ernähren, musste man sich ja gerade auf dem Schwarzmarkt umtun, ohne zu arbeiten. Die Arbeiter brachten in den toten Fabriken ihre Zeit damit hin, dass sie Maschinenteile in Taschenmesser und Transmissionsriemen in Schuhsohlen umarbeiteten, um sie dann auf dem Schwarzmarkt zu tauschen. (...) (V.SERGE: ERINNERUNGEN ... S.134f. - Hervorhebungen von mir)

Im Wesentlichen hat sich an dieser Grundstruktur der SU-Ökonomie bis zuletzt nichts Fundamentales geändert, sie zeigt nur durch die wechselnden Erscheinungsformen dieser »Übergangsgesellschaft« hindurch, wie ökonomisch prekär und zugleich politisch-ideologisch gewaltsam »prästabilisiert harmonisch« dieser Staatskommunismus sein musste, um die spontan-kapitalistische Basis, auf der er aufsaß und aus der er heimlich lebte, eben im bürokratischen Korsett einer staatskapitalistischen Befehlswirtschaft zu halten, die eben gerade nur durch die Ausbeutung der Lohnarbeit und die permanente Ausplünderung der Landbevölkerung irgendwie weitermachen, sich im Sattel halten konnte: als eine noch nie in der Geschichte dagewesene Übergangs- und Mischform zwischen entrechteten, enteigneten, atomisierten Proletarisierten und ihrer entrechtenden, enteignenden, verselbständigten ideologisch-falschen Repräsentation, den Herren der Monopolbürokratie.

»Der Stalinismus war die Schreckensherrschaft innerhalb der bürokratischen Klasse selbst. Der Terrorismus, der die Macht dieser Klasse begründet, muss auch diese Klasse treffen, denn sie hat als besitzende Klasse keine juristische Garantie, keine anerkannte Existenz, die sie auf jedes ihrer Mitglieder ausdehnen könnte. Ihr wirkliches Eigentum ist versteckt, und sie ist nur mit Hilfe des falschen Bewusstseins zur Eigentümerin geworden. Das falsche Bewusstsein behauptet seine absolute Macht nur durch den absoluten Terror, in dem jede wahre Begründung endlich verlorengeht Die Mitglieder der machthabenden bürokratischen Klasse haben nur insofern kollektiv das Besitzungsrecht über die Gesellschaft, als sie bei einer grundlegenden Lüge mitwirken.: sie müssen die Rolle des eine sozialistische Gesellschaft führenden Proletariats spielen; sie müssen die dem Text der ideologischen Untreue treuen Schauspieler sein. Aber die wirkliche Mitwirkung bei diesem Verlogensein muss selbst als eine wahrhaftige Mitwirkung anerkannt werden. Kein Bürokrat kann individuell sein Recht auf die Macht behaupten, denn sich als ein sozialistischer Proletarier zu erweisen würde heissen, sich als das Gegenteil eines Bürokraten zu zeigen; und sich als ein Bürokrat zu erweisen ist ihm unmöglich, denn die offizielle Wahrheit der Bürokratie ist ihr Nichtsein. So befindet sich jeder Bürokrat in der absoluten Abhängigkeit einer zentralen Garantie der Ideologie, die eine kollektive Mitwirkung all derjenigen Bürokraten an ihrer »sozialistischen Macht« anerkennt, welche sie nicht vernichtet. Wenn die Bürokraten insgesamt aber alles entscheiden, kann der Zusammenhalt ihrer eigenen Klasse nur durch die Konzentration ihrer terroristischen Macht in einer einzigen Person gesichert werden. In dieser Person liegt die einzige praktische Wahrheit der machthabenden Lüge: die unanfechtbare Festsetzung ihrer stets berichtigten Grenze. In letzter Instanz bestimmt Stalin, wer schliesslich besitzender Bürokrat ist. d.h. wer als 'machthabender Proletarier' oder als 'vom Mikado und der Wallstreet gekaufter Verräter' bezeichnet werden muss. Die bürokratischen Atome finden nur in der Person Stalins das gemeinsame Wesen ihres Rechts. Stalin ist dieser Herr der Welt, der sich auf diese Weise die absolute Person ist, für deren Bewusstsein kein höherer Geist existiert. 'Der Herr der Welt hat das wirkliche Bewusstsein dessen, was er ist, der allgemeinen Macht der Wirklichkeit, in der zerstörenden Gewalt, die er gegen das ihm gegenüberstehende Selbst seiner Untertanen ausübt'. Während er die Macht ist, die den Boden der Herrschaft bestimmt, ist er ebenso 'das zerstörende Wühlen in diesem Boden'. [Zitate von HEGEL]

Wenn sich die durch den Besitz der absoluten Macht absolut gewordene Theologie von einer parzellierten Kenntnis zu einer totalitären Lüge verwandelt hat, ist das Denken der Geschichte so vollkommenen vernichtet worden, dass die Geschichte selbst auf der Ebene der empirischen Kenntnis nicht mehr existieren kann. Die totalitäre bürokratische GeselIschaft lebt in einer immerwährenden Gegenwart, in der für sie alles, was geschehen ist, nur als für ihre Polizei zugänglicher Raum existiert. Der schon von Napoleon formulierte Vorsatz, 'die Energie der Erinnerungen monarchisch zu leiten', hat in einer ständigen Manipulation der Vergangenheit, nicht nur in ihren Bedeutungen sondern auch in ihren Tatsachen, seine volle Konkretisierung gefunden. Aber der Preis dieser Befreiung von jeder geschichtlichen Realität ist der Verlust des für die geschichtliche Gesellschaft des Kapitalismus unentbehrlichen rationellen Bezugs. Es ist bekannt, wieviel die wissenschaftliche Anwendung der zum Wahnsinn gewordenen Ideologie die russische Wirtschaft gekostet hat, und sei es auch nur durch den Betrug Lyssenkos [eine Art biogenetischer Konstruktivist auf dem Gebiet der Pflanzenzüchtung in der späteren STALIN -Zeit. Auch dies ein anschauliches Lehrstückchen für Konkurrenz innerhalb der Form des Staatskapitalismus!]. Dieser Widerspruch der eine industrialisierte Gesellschaft verwaltenden totalitären Bürokratie, die zwischen ihrem Bedarf an Rationellem und ihrer Ablehnung des Rationellen gefangen ist, bildet auch einen der Hauptmängel dieser Bürokratie gegenüber der normalen kapitalistischen Entwicklung. So wie die Bürokratie die Landwirtschaftsfrage schlechter lösen kann, als es die kapitalistische Entwicklung vermag, so steht sie ihr schliesslich ebenfalls in der Industieproduktion nach, welche autoritär auf der Basis des Irrealismus und der verallgemeinerten Lüge geplant wird.«(GUY DEBORD: DIE GESELLSCHAFT DES SPEKTAKELS. THESEN 107, 108)

Unten in diesem System also, unterm Teppich der offiziellen Ökonomie, obwalten nach wie vor, ja mehr denn je die Gesetze des Marktes: als Schwarzmarkt, als schwarzer Arbeitsmarkt, als Tundra der »Schattenökonomie«, ohne die garniemand überleben kann ... Dort lebt sich die Konkurrenz selbstverständlich und in freier Wildbahn naturwüchsig aus. Oben, im staatswirtschaftlichen Reich des Monopols und der Management-Bürokratie der Warenproduktion, wird die Große Vermittlung, Verschiebung der hinter dem Rücken der Produzenten sich herstellenden gesellschaftlichen Produktion, als gesellschaftliches Verhältnis von Dingen statt unmittelbar von Menschen, als Austausch von Waren also, als Verschiebung vom Mittler »Markt« auf den Mittler »Staat« organisiert: in Gestalt einer »Planung« und Registration wirklicher und angeblicher Planziffern und Produktionsergebniszahlen, die mit den Bedürfnissen und gesellschaftlich-kooperativen Fähigkeiten der Arbeitskräfte, die sie verheizen, um die realen oder fiktiven Quantitäten an ihrem fabrizierten Schund und Pfusch zu erzielen bzw. melden zu können, nur sehr vermittelt, vielfach gebrochen zu tun haben. VICTOR SERGE S.277 : »Es war, nach einem treffenden Wort von Boris Souvarine, die Anarchie des Plans.«

In der staatsmonopolistischen Umklammerung durch eine »omnipotente« Bürokratie müssen sich hierbei die ökonomischen Gesetze der kapitalistischen Konkurrenz in spezifisch gebrochenen Formen durchsetzen, welche die Forschung erst allmählich rekonstruieren kann: wie sich konkret die Konkurrenz unter voneinander getrennt gesellschaftlich Produzierenden in einem künstlichen Repräsentationsmonopol hinter und über ihrem Rücken jeweils vollzieht: als gebrochene Wirkung der Konkurrenz in einer staatssozialistischen Warenproduktion, deren Resultat es auf spezifische Weise ist:

die bürokratischen Kapitalisten/ kapitalistischen Bürokraten zu möglichst billiger Produktion der Waren und daher zum Gebrauch aller möglichen Mittel zu dieser Verbilligung zu zwingen,
sie zur fortwährenden Ausdehnung ihres Kapitals zu zwingen,
als Hebel zur weiteren Zentralisation des Kapitals zu dienen,
den Marktwert herzustellen bzw. verschiedene individuelle Werte zu einem Marktwert auszugleichen,
die allgemeine Profitrate herzustellen bzw. verschiedene Profitraten in verschiedenen Sfären zu einer allgemeinen Profitrate auszugleichen,
die Werte in Produktionspreise zu verwandeln,
die Gleichheit des »sozialistischen« bzw. »übergangsgesellschaftlichen« Marktes für Waren derselben Art herzustellen,
den wirklichen Marktpreis um den Produktionspreis - bzw. den Wert - rotieren zu lassen, 
Kapitale bzw. die Gesamtmasse der gesellschaftlichen Arbeitszeit zwischen verschiedene Sfären zu verteilen und als Konkurrenz der Kapitalanlagen zu fungieren, 
den Zinsfuß zu bestimmen 
und die neue, erklärtermaßen staatskapitalistische bzw. staats-«sozialistische« Produktionsweise zu verallgemeinern und dadurch wiederum die bürokratischen Kapitalisten / kapitalistischen Bürokraten zur Verbilligung der Waren zu zwingen
- oder nicht?! Oder was sonst?!
Eines jedenfalls musste sich schon ein unwissenschaftlicher Sozialist und Anarchist wie PROUDHON ins Stammbuch unbedachter Konkurrenzleugner schreiben lassen:

»Wenn man sich einbildet, dass es nur Verordnungen bedarf, um aus der Konkurrenz herauszukommen, wird man niemals von ihr befreit werden. Und wenn man die Dinge soweit treibt, die Abschaffung der Konkurrenz unter Beibehaltung des Lohnes vorzuschlagen, so schlägt man vor, einen Unsinn zu verordnen. Aber die VöIker entwickeln sich nicht auf Königs Befehl.« (MEW 4, 159 - Hervorheb. von mir)

Und schliesslich möchten die Apologeten des »Realsozialismus« bzw. der automatischen Übergangsgesellschaften die krasseste dort waltende Konkurrenz nicht wahrhaben (und benennen sie deshalb gewöhnlich mit dem Euphemismus »sozialistischer Wettbewerb«): »die Konkurrenz der Arbeiter unter sich ist nur eine andre Form der Konkurrenz der Kapitalien« (Grundrisse 544)
- eben auch, nur in besonderer Form dort, wo diese Kapitalien staatsmonopolistisch konzentriert, bürokratisch in der visible hand einer parteistaatsparteilichen Nomenklatura zentralisiert erscheinen, also nicht klassisch frei, sondern in der Form despotischer Eingriffe in die rein kapitalistischen Eigentumsverhältnisse seitens eines reellen Gesamtkapitalisten, der diese Konkurrenz zugleich entfesseln muss und nicht entfesseln darf! Denn eben weil dieser kapitalistische Staat die historische Aufgabe »übernommen« hat, ein Übergangsregime fürs »Einholen und Überholen« des klassisch entwickelten Kapitalismus zu sein, als »Treuhänder«, Repräsentant sowohl des Proletariats als auch der Bourgeoisie, die beide offenbar historisch schon oder noch dazu unfähig sind. »Die Herrschaft des Kapitals ist die Voraussetzung der freien Konkurrenz, ganz wie die römische Kaiserdespotie die Voraussetzung des freien römischen 'Privatrechts' war. Solange das Kapital schwach ist, sucht es nach den Krücken vergangener oder mit seinem Erscheinen vergehender Produktionsweisen. Sobald es sich stark fühlt, wirft es die Krücken weg und bewegt sich seinen eigenen Gesetzen gemäß.« (Marx: Grundrisse 544)

Aus diesem Grunde finden wir die Konkurrenz unter den Lohnarbeitern und natürlich damit überhaupt den Alltagsmenschen in den »realsozialistischen« Übergangsgesellschaften in den Formen der vormodernen, unfreien, verknechteten und verknechtenden, versklavten und versklavenden Vergangenheit, aus der sie sich herausverpuppen in einer ebenso qualvoll allmählichen wie gewaltsam forcierten Metamorphose psychohistorischer und politmentaler Ungleichmäßigkeit, »Ungleichzeitigkeit«.

Was unter den freien, hochmobilen und flexiblen LohnarbeiterInnen in den kapitalistischen Metropolregionen heute längst das mobbing ist, war in der »realsozialistischen« Übergangsperiode homolog dazu, bürokratischer eben und in den Folgen barbarischer, die Denunziation.

Für beide Varianten konkreten lohnabhängigen Konkurrenzverhaltens gilt nur, von jeweils einem »anderen historischen Ende« her gesehen: »Es ist nur die freie Entwicklung auf einer bornierten Grundlage - der Grundlage der Herrschaft des KapitaIs. Diese Art individueller Freiheit ist daher zugleich die völligste Aufhebung der individuellen Freiheit und die völlige Unterjochung der Individualität unter gesellschaftliche Bedingungen, die die Form von sachlichen Machten, ja von übermächtigen Sachen - von den sich beziehenden Individuen selbst unabhängigen Sachen - annehmen.« (Marx: Grundrisse 545 - Hervorheb. von mir)
Und die Weise, wie sich die konkurrenzbornierte Grundlage die Individuen in der SU-Gesellschaft eigentlich von Anbeginn und bis zu ihrem schlussendlichen Übergehen in den »freien«, nicht mehr derart, wie ein traditionelles russisches Wickelkind eingeschnürten, staatsmonopolkapitalistisch gefesselten, gestützten und aufgepäppelten Kapitalismus festgehalten, stimuliert und verkrüppelt hat, ohne dass sich diese Wurzel im System je auflöste, war diese historisch besondere condition prolétarienne:

»In allem, was seinen Lebensunterhalt, seine Lebensmittelkarte, seine Wohnung, sein Brennmaterial ( ... ) betrifft, hängt das Individuum vom Staat und von der Partei ab, gegen die ihm keinerlei Verteidigungsmittel zur Verfügung stehen. Und wer sich gegen diesen Parteistaat im Namen der Meinungsfreiheit erhebt, der trägt, wo er geht und steht, das Brandmal des Verdächtigen. Das bisschen Freiheit, das ihm noch bleibt, und sogar sein Mut - der sinnlos erscheint - erregen eine Bewunderung, in die sich Beunruhigung mischt.« ( VICTOR SERGE S.273 ) Für diesen Teil der Staatslohnsklaven aber galt: »Der Deportierte, der durch den Briefwechsel mit seinen Angehörigen, durch seine Arbeit, durch ärztliche Behandluing gebunden war, lebte buchstäblich von der Gnade einiger Polizeibeamter. ( ... ) Sobald es ihm gelungen war, seine Existenz ein wenig zu ordnen, zerstörte man alles durch Arbeitslosigkeit, Gefängnis oder Abschiebung. Ein endloses Katz-und-Maus-Spiel. (...) Man gab mir deutlich zu verstehen, dass ich nur dann Arbeit bekommen würde, wenn ich mich um die Gunst der GPU bemühte.« ( V.SERGE S..141f )

Das war der ökonomische, soziale und psychische Boden, aus dem das staatskapitalistische Wolfsgesetz der denunziatorischen Konkurrenz wucherte, das mit der »Doppelzüngigkeit«, semantischer Schizofrenie, dem auf die Spitze getriebenen Doppelleben des homme bourgois und citoyen und deren paranoider Scheinidentität, Scheinkohärenz zusammenfiel. So war der Konkurrent als STAKHANOV in der Ökonomie (»die Arbeiter machen sich Konkurrenz nicht nur, indem einer sich wohlfeiler anbietet als der andere, sondern indem einer für zwei arbeitet.' MEW 6, 542), als »Köchin«, die dich regiert bzw. denunziert, in der Staats-Sfäre allgegenwärtige Leitfigur, wenn auch in immer blasseren, erbärmlicheren Abziehbildvarianten mit der Zeit. (Dazu immer wieder zu verweisen auf die klassische Schilderung dieses Denunziatorenpanoptikums und Arbeitslagerszenarios der Staats/Lohn-Sklaverei durch die Kommunistin JEWGENIA GINSBURG: MARSCHROUTE EINES LEBENS und GRATWANDERUNG - woraus hier fortgesetzt Belege zitiert werden könnten, was aber endgültig den Rahmen sprengen würde). So wie das alles aber als »Repräsentation der Arbeiterklasse«, als »realer Sozialismus« eine Jahrhundertlüge war, so lief die permanente Lüge mit der ökonomischen Konkurrenz, die von der politischen, ideologischen untrennbar war, als Zweite Natur aus Verlogenheit und Bespitzelungsmentalität zusammen. 1933 schreibt VICTOR SERGE an die Freunde im Westen: »die materielle und moralische Unsicherheit des Arbeiters erreichte einen Höhepunkt. So sieht es hier überall und zu jeder Zeit aus. ( ... ) Die Mechanisierung jeder sozialen Tätigkeit und der höchste Grad an Machtkonzentration angesichts einer zutiefst verbitterten und ernüchterten Bevölkerung, von der die ungeheure Masse sich passiv anpasst und ohne Illusionen [?!] den Weg des geringsten Widerstands geht (...:) oben wie unten sammelt sich eine furchterregende Macht der Reaktion an. Welche ihrer Formen vermehren sich besonders an der Basis? Zivilcourage wird nicht geduldet ( ... ) in einem Kampf ums Leben von solcher Erbitterung (für ein Zimmer, eine Brotkarte bringt man sich gegenseitig mit Hilfe von Denunziationen um, man schlägt sich um einen Platz in der Straßenbahn), es gibt keine öffentliche Meinung, die eine Haltung kollektiver Moral aufrechterhält [sondern überall nur verlogene Frasen.] Der Egoismus versteckt sich in der Augenblicksneigung und wiederholt unterwürfig die Phrasen Über den sozialistischen 'Wettstreit'. ( ... ) Alles ist in Frage gestellt.« ( V.SERGE: ERINNERUNGEN ... S.452ff )

Die spezifisch »sozialistische« Warenproduktion, der ihr dienende »Wettbewerb« beliefen sich im Endeffekt nur noch auf die erweiterte Reproduktion des konzentrierten Bildes von sich, dieser staatskapitalistischen Gesellschaft selbst, als krampfhaft »sozialistischer« Fiktion, als Fälschung einer proletarischen Revolution usw., und wurden damit spektakulär (Auch das staatsmonopolkapitalistische, konzentrierte Spektakel ist »das Kapital, das einen solchen Akkumulationsgrad erreicht hat, dass es Bild wird.« GUY DEBORD: DIE GESELLSCHAFT DES SPEKTAKELS. THESE 34 (S.16) Die spektakuläre Warenproduktion nimmt hier nur eine besondere, kompensatorisch zugespitzte, auf den Staatskultus bezogene Form an).

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Konzentriertes Spektakel 

Wiederum steht »die KP« notwendig im Zentrum der spektakulär »sozialistischen« Warenproduktion, denn sie ist das Bild des Proletariats-als-Repräsentiertem, der Gesellschaftlichkeit als Staatlichkeit, welches Bild aus Bildern permanent erneuert und restauriert, retuschiert reproduziert werden muss: es geht eben nicht um irgendeine Ware, sondern um eine »sozialistische« Ware, »sozialistisches Kapital«, »sozialistische Lohnarbeit, »sozialistischen Staat« usw. usf. (im MANIFEST DER KOMMUNISTISCHEN PARTEI wird so der Bourgeois-Sozialismus gekennzeichnet:

»Unter Veränderung der materiellen Lebensverhältnisse versteht dieser Sozialismus aber keineswegs Abschaffung der bürgerlichen Produktionsverhältnisse, die nur auf revolutionärem Wege möglich ist, sondern administrative Verbesserungen, die auf dem Boden dieser Produktionsverhältnisse vor sich gehen, also an dem Verhältnis von Kapital und Arbeit nichts ändern (...) Freier Handel! im Interesse der arbeitenden Klasse; Schutzzölle! im Interesse der arbeitenden Klasse; Zellengefängnisse! im Interesse der arbeitenden Klasse: das ist das letzte, das einzige ernstgemeinte Wort des Bourgeoissozialismus. Der Sozialismus der Bourgeoisie besteht eben in der Behauptung, dass die Bourgeois Bourgeois sind - im Interesse der arbeitenden Klasse.« MEW 4, 489 )

Schon die LENIN istische »revolutionäre Ideologie« besteht aber in der permanenten Rhetorik, dass die KP als Repräsentation der Arbeiterklasse, als Besitzerin des reinen, unverfälschten Bildes der revolutionären Arbeiterklasse und als orthodoxe Hüterin der Reinheit der Arbeiterklasse keine Bourgeoisie und auch keine Bürokratie sei, sondern schlicht die absolute Führung der Gesellschaft, ihre unumschränkte Besitzerin (siehe GUY DEBORD: ... SPEKTAKEL ... THESE 98 ): das einzig permanent anzuschauende und zu verinnerlichende Bild des Proletariats von sich selbst. Diesem Selbstzweck-Ziel dient auch die »sozialistische« Warenproduktion - subjektiv, indem ihre Herstellung objektiv gerade die historische Mission der Parteistaatspartei ist: »um die brutalste ursprüngliche kapitalistische Akkumulation der Geschichte durchzuführen.« ( G.DEBORD, THESE 104 ) Das heisst: diese spektakuläre Struktur ist ontologisch (= seinsmäßig, historisch-genetisch) keinen Augenblick von der ökonomischen Basis losgelöst, der sie entspringt ( DEBORD heisst nicht BAUDRILLARD )!

Diese »KP« ersetzt bzw. verkörpert eine Bourgeoisie, die ununterbrochen das Bild ihres Verschwindens organisiert. Damit bleibt sie Bürokratie: »die Bürokratie, die als einzige Eigentümerin eines Staatskapitalismus übriggeblieben war« ( G.DEBORD, THESE 104 ) und - noch bis zur »Großen Proletarischen Kulturrevolution« unter MAO ZEDONG - auch am Bilde des Verschwindens der Bürokratie arbeiten lässt ... Aber klassisch die »Industrialisierung der stalinistischen Epoche enthüllt die letzte Realität der Bürokratie: Sie ist die Fortsetzung der Macht der Ökonomie, die Rettung des Wesentlichen der Warengesellschaft durch die Aufrechterhaltung der Arbeit als Ware. (...) Die totalitäre Bürokratie ist ( ... ) lediglich eine herrschende Ersatzklasse für die Warenwirtschaft. Das schwach werdende [défaillante] kapitalistische Privateigentum wird durch ein vereinfachtes, weniger diversifiziertes, als kollektives Eigentum der bürokratischen Klasse konzentriertes Nebenprodukt ersetzt. Diese unterentwickelte Form einer herrschenden Klasse ist auch der Ausdruck der ökonomischen Unterentwicklung und kennt nur die Perspektive, diesen Entwicklungsrückstand in bestimmten Regionen der Welt aufzuholen. Die nach dem bürgerlichen Modell der Trennung [vom Proletariat] organisierte Arbeiterpartei hat für diese Ergänzungsaufgabe der herrschenden Klasse den hierarchisch-staatlichen Rahmen [cadre] bereitgestellt. (...)

Die revolutionäre Ideologie [hier nur i.S.v.: verkehrtem, falschem, kopfstehendem, verzerrtem Bewusstsein], d.h. die Kohärenz des Getrennten - dessen größte voluntaristische Anstrengung der Leninismus bildet - , welche die Verwaltung einer Realität innehat, die sie abweist, wird mit dem Stalinismus wieder zu ihrer Wahrheit in der Inkohärenz gelangen. In diesem Moment ist die Ideologie keine Waffe mehr, sondern ein Ziel. Die Lüge, die nicht mehr widerlegt wird, wird zum Wahnsinn. In der totalitären ideologischen Proklamation ist die Realität ebenso wie der Zweck aufgelöst: alles, was sie sagt, ist alles, was sie ist. Sie ist ein lokaler Primitivismus des SpektakeIs, dessen Rolle jedoch in der Entwicklung des WeltspektakeIs wesentlich ist. Die Ideologie, die sich hier materiatisiert, hat nicht die Welt ökonomisch verändert wie der zum Stadium des Überflusses gelangte Kapitalismus: sie hat lediglich die Wahrnehmung polizeilich verändert.

Die machthabende totalitär-ideologische Klasse ist die Macht einer verkehrten Welt: je stärker sie ist, um so mehr behauptet sie, dass sie nicht existiere, und ihre Stärke dient ihr allererst zur Versicherung ihrer Nichtexistenz. Nur in diesem Punkt ist sie bescheiden, denn ihre offizielle Nichtexistenz muss auch mit dem nec plus ultra der geschichtlichen Entwicklung zusammenfallen, das man gleichzeitig angeblich ihrem unfehlbaren Kommando verdanken soll. Die überall zur Schau gestellte Bürokratie muss für das Bewusstsein die unsichtbare Klasse sein, so dass das ganze gesellschaftliche Leben verrückt wird. Die gesellschaftliche Organisation der absoluten Lüge folgt aus diesem grundlegenden Widerspruch.« ( GUY DEBORD: DIE GESELLSCHAFT DES SPEKTAKELS. aus THESEN 104,105,106 )

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Weltkapitalistische Katastrofe, Deutsche Misere, linke Abwehr

Die westliche Linke ist bis heute auf das mythische Bild vom »Realsozialismus« fixiert, sie klebt noch an der Schau wie an der Unsichtbarmachung der bürokratisch-kapitalistischen KP-Bourgoisie-Repräsentanten (unsichtbar gemacht und zur Schau getragen in den diversen lkonen von LENIN & TROTSKI bis CHE & FIDEL ... , ja noch in der zur leeren Projektionsfläche umgestülpten Maske eines Commandante ... ). Die Glaubenssucht an den roten Stern, diese Sfinx und Venus des jakobinistischen Flügels der bürgerlichen Gesellschaft, der »revolutionäre« Katastrofenangst und Rettungsgewissheit versinnbildlicht, wurde in der tatsächlichen Katastrofe der historischen Niederlage der proletarischen communistischen Revolutionsbewegungen im 20.Jahrhundert erneuert und verzweifelter denn je hervorgebracht: als die Geburt der spektakulären Warenökonomie auch die interessierte Illusion an der »realsozialistischen«, »linken« Scheinalternative als Nachgeburt auf die Welt brachte. Bis heute weigert sich die westliche Linke zu sehen was sie sieht, sich bewusst zu machen was das heisst: »Die revolutionäre Arbeiterbewegung zwischen den beiden Kriegen wurde durch das vereinte Wirken der stalinistischen Bürokratie und des faschistischen Totalitarismus, der seine Organisationsform der in Russland erprobten totalitären Partei entlehnt hatte, vernichtet.« ( G.DEBORD, THESE 109 )

Mit diesem Vernichtungswerk verbunden war die Vernichtung der europäischen Juden durch das kapitalistische Deutschland, in der sich die Katastrofe des Jahrhunderts, des Jahrtausends, schlechthin manifestiert (shoah). VICTOR SERGE sprach als von »dem grausamsten und verhängnisvollsten Verbrechen unserer Zeit«:

»Hier wurde der Begriff des Menschen, wie er in Jahrtausenden der Zivilisation erworben worden ist, in Frage gestellt.« »Niemand vermag heute die politischen, sozialen, psychologischen Konsequenzen zu ermessen. Die Seele des Menschen wird die Spuren davontragen; und dazu hat eine von wenigen Menschen beschlossene Maßnahme genügt.« ( ERINNERUNGEN EINES REVOLUTIONÄRS, S.426f )

Die Einzigartigkeit dieser mit unvergleichlicher deutscher Gründlichkeit exekutierten Katastrofenhaftigkeit des modernen Kapitalismus ist aus ihrer eigenen Qualität (und Quantität auch) klar und kann niemals aus der Welt, der Geschichte geschafft werden; die deutschen Richter- und Henker-Typen waren es, die in der Vorgeschichte der Menschheit das - bislang - konzentrierteste, infernalischste Exempel an der Menschengattung selbst statuiert haben, mit dem zugleich der Kapitalismus als Subjekt, als mit Willen und Bewusstsein handelndes (deutsches) Menschenkollektiv, das Exempel an seinem wirklichen Todfeind - dem revolutionären Proletariat und an seinem fantasmatischen Feindbild »dem Juden« als Projektionsfigur »des Geldmenschen«, der abstrakten Gesellschaftlichkeit (abstrakter Arbeit - Vgl. MOISHE POSTONE 1979 ) und der revolutionären Weltverschwörung - statuiert hat.

Der deutsche Kapitalismus hat also das Exempel an der Gattung (rassistisch, normalistisch), am revolutionären Proletariat (antikommunistisch, antirevolutionär) und am Judentum (antisemitisch mit allen Bedeutungsinhalten) statuiert: so sind Antikommunismus, Antisemitismus und Gattungsfeindschaft unlösbar miteinander verbunden. Diese moderne kapitalistische Dreifaltigkeit ist natürlich nicht nur in der deutschen Kulturregion und Mentalität zu verorten, wo sie der historischen Deutschen Misere entsprechend den einzigartigen furor teutonicus gegen und für die Welt der kapitalistischen Modernisierung entfesselt hat (Deutsch sein heisst eine Sache um ihrer selbst willen tun.); so beobachtete VICTOR SERGE an dem stalinistischen Furor das Ähnliche:

»Dieser als ununterbrochenes Hetzgeschrei [über »Schädlinge«, »Faschisten«, »Spione«, »trotzkistische Agenten« etc., kurz.- »Feinde des Volkes«] wohlorganisierte Wahnsinn( ... ) stand, seiner psychologischen Natur nach, genau auf dem selben Niveau wie die Nazi-Agitation gegen »die jüdisch-freimaurerische Plutokratie, den Marxismus, den Bolschewismus« und - manchmal - gegen »die Jesuiten«. Wir wohnten der Entstehung von Kollektivpsychosen bei, wie sie das Mittelalter gekannt hat, und der Bildung einer Technik der Erstickung des kritischen Sinnes, den der moderne Intellekt so mühsam erworben hat. Irgendwo in 'Mein Kampf' stehen 20 Zeilen des vollendetsten Zynismus über die Nützlichkeit der kraftvoll angewandten Verleumdung. ( ... ) Die unerwartete, ungeheuerliche Behauptung überrumpelt den Durchschnittsmenschen, der es nicht fassen kann, dass jemand imstande sei, derart zu lügen. ( ... ) In keinem Falle handelt es sich darum, zu überzeugen; es handelt sich letzten Endes darum, zu töten.« ( V.SERGE, S.380f )

In der Intensität, Konsequenz, Systematik, Qualität dieses Ausmerzungswillens gegen die »Volksfeinde« - nicht in seinem kapitalistischen Modernisierungsmotiv für den säuberungs- und akkumulationsbesessenen jeweiligen National-«Sozialismus« und auch nicht in der quantitativen Dynamik - lag der entscheidende Unterschied zwischen dem KZ-System des NS und dem GULag-System der SU. Dies bezeugt z.B. auch JEVGENINA GINSBURG , die das schlimmste stalinistische Lager, auf der Halbinsel Kolyma, überlebt hatte: »Die Besonderheit unseres Infernos von Elgen bestand darin, dass das Eingangstor nicht die Aufschrift trug: Lasst, die ihr eingeht, alle Hoffnung fahren. Im Gegenteil, die Hoffnung war immer da. Man brachte uns nicht in die Gaskammern oder an den Galgen. Wohl gab es Arbeiten, die den sicheren Tod bedeuteten, aber bei anderen konnte man durchaus überleben. Die Chance dafür war zwar weitaus geringer als die zu sterben, aber es gab sie wenigstens - schemenhaft, flackernd wie eine Kerze im Wind, war sie immerhin ein Hoffnungsschimmer. Und wo Hoffnung ist, gibt es auch Angst. ( ... ) » ( J. GINSBURG: GRATWANDERUNG. MÜNCHEN 1984, S.99 ) 

Oder wie sie (Kommunistin jüdischer Herkunft) die anlaufende realsozialistische Judenverfolgung an ihrem Verbannungsort mitbekommt:
»Am nächsten Tag, als ich die Zeitung aufschlug, fand ich den Bericht über die Mörder im weissen Kittel. Was nun folgte, war bisher unbekannt in Kolyma. Zum ersten Mal drang die Pest des Antisemitismus bis zu unserem fernen Planeten vor. Bisher waren wir für die oberen eine homogene Spezies gewesen. Wir wurden auf der Basis voller nationaler Gleichheit geschunden, ohne dass bei den Märtyrern nach 'Juden oder Griechen' [ PAULUS-BRIEF AN DIE KOLOSSER ] unterschieden wurde, sozusagen. Sogar die anti-kosmopolitische Kampagne von 1949 war an uns vorübergegangen. ( ... ) In dieser Hinsicht war Kolyma beschämend weit zurückgeblieben. Erst jetzt, 1953, besann man sich und begann mit der 'Regulierung der nationalen Bevölkerungsstruktur'. Der Leiter der Sanitätsverwaltung rannte eines Tages wie von der Tarantel gestochen im Krankenhaushof umher und schrie: 'Und der Gorin - ist der nicht Jude? Und der Walter - ist der nicht Jude? Wer ist hier noch alles Jude?' ( ... ) » ( S.406 )

Es ist nicht nur die »russisch-patriarchalische Gemütlichkeit«, der man die zaristische Vorgeschichte auf Schritt und Tritt anmerkt, die die »sovjetische« konterrevolutionäre Barbarei in ihren besonderen Formen, abgesehen natürlich von der gesamten »fortschrittlichen« Modernisierungsfraseologie und »kommunistischen« Teleologisierungsideologie, mit der preussisch-deutschen offenen und enthemmten Modernisierungsreaktion des Nationalsozialismus völlig unvergleichbar macht, letzlich macht die verschiedene »Ökonomie-der-Zeit« in beiden Systemen den Unterschied der konterrevolutionären Qualität aus, die wirklich nur noch rasende deutsch kapitalistische Arbeitsmentalität: der durchgedrehte allesdurchdringende dalli-dalli-Ton der geölten Megamaschinerie der deutschen Menschenvernichtung-durch-Arbeit und Arbeit-für-Menschenvernichtung ist in der Geschichte einzigartig. Durchs NS-Deutschland hat das Kapital, noch nicht blut- und schmutztriefend genug, der Weltgeschichte ein singuläres, grell blitzartiges Zeichen gesetzt: frei gemacht werden durch Lohn- und Zwangsarbeit heisst hier: Lasst alle Hoffnung fahren.

Seitdem ist der Kapitalismus in sein katastrofisches Stadium übergegangen. Das ist die neue Qualität, die Steigerung, der epochale Karakter der »allgemeinen Krise des Kapitalismus«. Klarsichtig schrieb damals der Historische Materialist WALTER BENJAMIN :
»Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren. Dass es >so weiter< geht, ist die Katastrophe. Sie ist nicht das jeweils Bevorstehende, sondern das jeweils Gegebene. ( ... ) - : die Hölle ist nichts, was uns bevorstünde - sondern dieses Leben hier.« (aus dem PASSAGENWERK: »-THEORIE DES FORTSCHRITTS«, ENDE 1930er )

Diese kapitalistische Grundbefindlichkeit ist mit der Durchsetzung, Vollbringung der nationalsozialistischen (= staatsmonopolkapitalistischen) Modernisierungsmaßnahmen in keiner Weise beseitigt, sondern mit der Nachkriegs- und dann »postfordistischen« Kapitalismusgestalt nur unvorstellbar aufgequollen, indem sie die Blüten der ungeheuersten Warensammlung zugleich mit ihren immer verschärfter antagonistischen Widersprüchen hervortreibt. Schon 1963 formulierten die Situationisten klassischbezeichnend für den Ausgang des kapitalistischen Jahrhunderts:

»Wo sind die Verantwortlichen, diejenigen, die niederzuwerfen sind [les hommes à abattre]? Ein System, eine abstrakte Form ist es, die uns beherrscht. Der Grad der Menschlichkeit und Unmenschlichkeit wird nach rein quantitativen Variationen der Passivität gemessen. Die Qualität ist überall dieselbe: wir sind alle proletarisiert oder sind dabei, es zu werden. ( ... ) Welche Partei hat das Ende des Proletariats in ihrem Programm?

Die Perspektive eines [bloßen] Überlebens ist unerträglich geworden. Was wir ertragen, ist das Gewicht der Dinge in der Leere. Die Verdinglichung ist nichts anderes - ( ... ) Die Welt der Verdinglichung ist eine Welt ohne Zentrum, wie die neuen Städte, die deren Szenerie bilden. Die Gegenwart tritt vor dem Versprechen einer ewigen Zukunft zurück, die nur die mechanische Fortsetzung der Vergangenheit ist. Die Zeitlichkeit selbst ist des Zentrums beraubt. In diesem KZ-Universum [univers concentrationnaire], in dem Opfer und Folterknechte dieselbe Maske tragen, ist allein die Wirklichkeit der Torturen authentisch. ( ... ) Der Antagonismus, den die S[ituationistische] I[nternationale] jetzt erneuern will, ist der älteste, den es gibt - es ist der radikale Antagonismus, und aus diesem Grund nimmt er all das wieder auf, was die Aufstandsbewegungen oder die bedeutenden Individualitäten im Laufe der Geschichte aufgegeben haben.« ( S.I. Nr.8, dt.II, 56f bzw. 147 )

Bekanntlich ging von der situationistischen Erneuerungsaktivität, vor allem in der theoretischen Praxis, ein Impuls auf die proletarische Halbrevolution des französischen Mai 1968 aus, von der ideellen, theoriepraktischen Fortwirkung erst einmal nicht zu sprechen.- Wie stellt sich in unserem Stadium des globalen »Konzentrationsuniversums«, der kapitalistischen Fortschrittsdialektik der Katastrofe gegenwärtig das Element des Negativen, Destruktiven zu diesem Dauerzustand dar, das weitergehende Proletariat also, und wie das bewusstere Element, das sich als »radikal links« versteht oder sogar als 'kommunistisch« begreift - macht es sich die Katastrofe klar, um sie bewusst wahrzunehmen als Möglichkeit des (in der alten griechischen Wortbedeutung:) Umwendens' Umwälzens, Umgrabens' um ihre eigene Kontinuität durch ihre eigene Dynamik/Dýnamis zu durchbrechen?

DANIEL DOCKERILL's 12 THESEN sprechen übers Proletariat und die Linke in eigentümlichem Dualismus. (Wird in diesen Überlegungen noch nicht behandelt.)

Anstatt auf die Selbsttätigkeit und aneignende Aktivität des weiter und weiter prozessierenden Proletariats, dessen Teil sie ja objektiv an-sich ist, zu setzen und in ihm an der bewussten Dialektik von Theorie/Praxis zu arbeiten, richtet sich die Linke nach wie vor in der passiven Kontemplation ihrer verschiedenen »Scenes' ein und setzt auf irgendeinen Staat, auf den »gerechten« Staat, eine »gerechtere« Welt, auf ihr »Recht auf Utopie« und auf die Utopie des Rechts; statt aktiv sich in den revolutionären Proletariats-Parteibildungsprozess aufzulösen, ist sie immer mehr zur Salzsäule erstarrt im »Abschied vom Proletariat«, dem Bild, dem sie von ihm im Guten wie im Bösen nachhängt in der mythologisierten Vergangenheit.

Als 1936, mitten in der Kette jener Katastrofen, VICTOR SERGE aus einem der inneren Kreise der konterrevolutionären Hölle in der SU knapp entronnen nach Frankreich kam, fand er dort in der gesamten Linken diese kennzeichnende Fixierung auf das im Osten konzentrierte Spektakel vor: damals »entstand eine Bezeichnung für das Gefühl von Kraft und Vertrauen in die Zukunft, das die Volksfront hatte entstehen lassen: eine 'Euphorie', sagte man.« ( ERINNERUNGEN ... S.370 ) Als einziger von seinen revolutionären Freunden riet ihm damals BORIS SOUVARINE , über die SU nicht euphorisch sondern ikonoklastisch zu berichten, »die nackte Wahrheit, so stark wie möglich, so brutal wie möglich! Wir erleben einen Ausbruch gefährlicher Dummheit!« Doch alle anderen, die pro«sovjetisch«, pro-«KP« gestimmten Linken unisono: »Schreiben Sie nichts über die SU, es wäre zu bitter ... Es ist die Geburtsstunde einer Hoffnung ohne Grenzen! ( ... ) Für sie [nämlich den populären mainstream um die Volksfront-Bewegung, kurz: die ganze Linke] bleibt die SU ein reiner Stern. Ausserdem würde man Ihnen nicht glauben ...« ( V.SERGE S.367 )

Wenige revolutionäre Communist/inn/en arbeiteten mit ihm beharrlich gegen die Vielzahl von Fälschungen an, die das Bild der SU als Vaterland der Werktätigen etc., als »unser Verbündeter« bis zur Vollendung der Katastrofe reproduzierten: »Die entsetzliche Maschine funktionierte weiter, die Intellektuellen und die Politiker wandten sich von uns ab, die Meinung der Linken war stumm und blind. ( ... ) Manchmal rief ich ihnen selbst erbittert zu: 'Erklären Sie mir doch das Gewissen der großen Intellektuellen und der westlichen Parteiführer, die das alles schlucken, Blut, Absurdität, Führerkult, ein demokratisches Grundgesetz, dessenn Verfasser man sofort erschiesst!'» ( V.SERGE, S.376 ) Stumm und blind ist insbesondere die BRD-Linke in ihrem nachhaltigen apologetischen Affekt auch heute noch, verbiesterte deutsche Meister im Verdrängen. Mit irgendeiner Variante des »Abschieds vom Proletariat« wurde die eigene Proletarisierung verdrängt; die keineswegs revolutionäre Vergangenheit und Zukunft des Irrealsozialismus pflegt man mit der Beschwörung von »Antikommunismus« abzuwehren.

Die genuin deutsche Fertigkeit im Verdrängen jedoch hat uns als BRD-Linke zu speziellen Abwehrkünstler/inne/n gemacht: als »Neue Linke« in den Sixties entstanden, gehörte die doppelte Entlastung von der mental-historischen Schuldverstrickung in die Deutsche Misere zur entscheidenden Funktion des Links-«Radikalseins« der ersten Generationenfolgen nach den NS-Elterngenerationen. Wer sich mit dem historischen Hauptfeind der Alten apologetisch identifizierte: »den Kommunisten«, der SU (oder »Rotchina«), der/die stellte sich automatisch auf die Seite der Opfer des NS, evtl. sogar am eigenen »Leibe« bis hin zum »Berufsverbot«... So konnte relativ einfach die wirkliche, schmerzhafte, langwierige und echt radikale Auseinandersetzung mit der individuellen und »kollektiven« Schuldhaftigkeit in der weitergehenden Deutschen Misere vermieden werden: man/frau stand ja per Entscheidung fortan stets auf der richtigen Seite.

Der Feind meines Feindes ist mein Freund, oder so ähnlich. Kein Wunder, dass der stereotype Anti-«Antikommunismus«-Reflex die typischen BRD-Linken alle und jegliche Wirklichkeit des Irrealsozialismus von vornherein nur vermittelt über den Vergleich mit dem NS-Syndrom wahrnehmen lässt, und zwar gerade so, als wäre die Anerkennung der Existenz eines GULag-Systems etc. per se tendenzielle Auschwitzleugnung. Auf diesen Pawlowschen Reflex, der in Deutschland nur ganz besonders »hysterisch« ausgeprägt ist, spekuliert genau auch ein STÉPHANE COURTOIS mit seiner tendenziell antisemitischen und kriminalisierend antikommunistischen Funktionalisierung des Materials für das SCHWARZBUCH ... -

Die zweite Entlastungsfunktion für BRD-Linke lag und liegt in der Möglichkeit weiterer Verdrängung besonders barbarischer und grausamer Massenbehandlung durch besondere historische Herrschaftsformen der bürgerlichen Gesellschaft. Das Entsetzliche am Gestus (z.B. auch in den 12 THESEN ZUR KP ) anti-«antikommunistischer« linker Schreibe (typisch für Publikationsorgane wie konkret z.B.) ist die Fühllosigkeit, das Desinteressement gegenüber dem Leiden, das den Menschen (- »dem Menschen«, wie mit KARL MARX oder den Situationisten, darf man ja sowieso nicht mal denken in einer Linken, für die der »Antihumanismus« des Strukturleninisten ALTHUSSER zum verbindlichen akademischen Befähigungsnachweis autonomer Korrektheit gehört) von solchen bürgerlichen Durchsetzungsregimes angetan worden ist.

Da wird noch um jedes gefälschte oder gegenseitig hin- und hergeschobene Foto, um jede Ziffer mit einer Inbrunst gefeilscht und gepokert, die mit ihrer triumfierenden Pose immer wieder verrät, dass es ihr kein bisschen um die historische Wahrheit (für die solche Massengräberarbeit selbstverständlich nötig und ehrenwert, ja revolutionär ist) sondern ums Hinüberschieben, Loswerden der gewissermaßen »eigenen« Hekatomben geht. Als wäre mit dem Nachweis einer Fotofälschung, einiger Nullen zuviel usw.usf. die ganze Wirklichkeit der GULag-Gesellschaft rehabilitiert, ihr wahres Bild schon »wieder« hergestellt.

Das Feindbild stimmt nach jedem dieser vermeintlichen Siege über den »Antikommunismus« = NS schon tendenziell wieder für dieses linke deutsche ideologische Bewusstsein. Tatsächlich ist der Feind lediglich halbiert worden: und sei es, dass »der Realsozialismus«, weil er sich so nannte, als das immerhin kleinere Übel dasteht. Diese ur- sozialdemokratische Bewusstseinslage der falschen Alternative, die ur-bürgerliche Situation der demokratischen Scheinwahl zwischen zwei Übeln, ermöglicht diesen pseudoradikalen Linken mindestens dreierlei: das deutschgewohnte weitere »problemlose« Verdrängen der menschlichen und proletarischen Opfer »auf der richtigen Seite« (weil nicht sein kann, was nicht sein darf; weil zur Regel eben auch Ausnahmen gehören; weil Späne fallen wo gehobelt wird; kurz: weil sowas erstens gefälscht, erstunken und erlogen sein muss und zweitens eben historisch notwendig war - und sein wird!); zugleich das Ausleben - vorerst in der Rhetorik - der sadistischen Impulse, die nur bei den »Antikommunisten« schuldbesetzt sind: bei den Prokommunisten aber sind sie ja nicht nur gestattet sondern historisch in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft »leider« notwendig, ja sogar mehr als »gerecht«. (Die Weltgeschichte ist das Weltgericht - so HEGEL , SCHILLER , BUKHARIN und manch andere terroristisch-teleologischen Geschichtsfilosofen des Bürgertums jakobinistischer Provenienz..-

Bei DANIEL DOCKERILL verwundert die einsinnige Zuspitzung seiner THESEN ausgerechnet auf die Notwendigkeit (!!) der Ausdehnung des Arbeitszwangs auf »die Kapitalisten« und überhaupt auf jeden letzten Winkel der modernen Gesellschaft - damit diese nicht noch schneller zusammenbricht als die russische Wirtschaft unter dem Regime der BOLSHEVIKI - ebenso, wie die einstweilige Milde und »Gerechtigkeit« dieser seiner Arbeitslagerutopie fürs 21.Jahrhundert uns fürs erste erleichtert ... - TROTSKI gibt gewiss für alle terroristischen »Notwendigkeits«-Szenarios das klassische Bild und wohl auch die aktuelle lkone her, in der eine ausglühende neobolshevikische Durchmarschfantasie ihr LENIN istisches Sichhinwegsetzen, ihren jakobinistischen Drang, übers konkrete, reale Proletariat und sonstwelche unwilligen Massen als einer Vendée hinwegzuschreiten, unbewusst als Ranküne am deutschen, westlichen »total verspiesserten« Proletariat, »das die bolshevikische Revolution im Stich gelassen hat« und »antikommunistisch« immer wieder verrät, auf dem Papier exekutieren kann. Aber das linke Unbewusste, das aus dieser Wunschprojektionsfigur eine allzu deutliche Sprache spricht, lässt sich am besten in den Worten des Ur-Jakobiners SAINT-JUST - mit dem man TROTSKI zu seiner Genugtuung auch verglichen hat -, dem Zeitgenossen des MARQUIS DE SADE als radikalster Citoyen, ausdrücken: »Je marcherais volontiers au milieu des bourreaux les pieds dans le sang et dans les larmes«.)

Drittens aber dient dieser linke Abwehrmechanismus der Perpetuierung der linken Ohnmacht, richtiger: der Ohnmacht des communistisch-revolutionären Elements in- und ausserhalb der Linken. Denn die Negativfixierung auf die »antikommunistische« Rhetorik lähmt und absorbiert das revolutionäre Element, hält es in der Passivität, in der Bornierung des permanenten bloßen Reagierens aufs Spektakel der Anti-Utopie fest (- d.h. die Reaktion sagt z.B.: »Der Kommunismus = die Utopie; also nie wieder Utopie!« - unsere Linken daraufhin: »Es lebe die Utopie! Wir lassen uns nicht auch noch unser bisschen Utopie wegnehmen!!« Revolutionäre Aufgabe der Communist/inne/n ist es selbstverständlich, wissenschaftlich und ad hominem zu zeigen, dass und wie die proletarische Revolution und communistische Realbewegung alles andere als utopisch sind.

Die Reaktion fabriziert verstärkt Bilder einer Notgemeinschaft der »sozialen Gerechtigkeit«. Daraufhin bereichern unsere Linken emsig dieses Gerechtigkeitsspektakel mit mehr oder minder reformistisch-utopistischen Gerechtigkeitstüfteleien möglichst in Mark und Pfennig (siehe z.B. aktuell die »Existenzgeld«-Forderung, vor allem aber ihre Begründungen) und führen sie gegen die revolutionäre Aufgabe ins Feld, »schon« hier und heute die realen Möglichkeiten communistischer Produktion und Verteilung zur Debatte zu stellen (was das Ansetzen an strategischen Minimalforderungen und -maßnahmen ja keineswegs aus- sondern vielmehr einschliesst ... ).- Oder: Seit die Bourgeoisie zur immer offeneren Propagierung von direkter Zwangsarbeit neben der Lohnarbeit übergeht, weil nur Arbeit frei macht von der Arbeitslosigkeit, floriert spiegelverkehrt dazu in der Linken die Vision von der »Abschaffung der Arbeit!«, den unglücklichen Arbeitslosen werden die glücklichen zugesellt ...

Dieses arbeitsteilige Spektakel der Konfusion ist direkt gegen die Ansätze proletarisch-communistischer Wahrnehmung der Möglichkeit zur Emanzipation der menschlichen Arbeit gerichtet - Befreiung von der Waren-/Lohn-Form, die sie als letzte historische Erscheinung der Zwangsarbeit das Kapitalverhältnis reproduzieren lässt ... - An diesem letzten aktuellen Beispiel ist besonders deutlich, wie das Kleben an der dualistischen Pseudonegation der spektakulären Immanenz die vielbeschworene »linke Politik« zur Ohnmacht der unmittelbaristischen Reaktion-auf-die-Reaktion, d.h. zur Verdoppelung der herrschenden Reaktion durch ihr linkes Spiegelbild verdammt). Der Anti-«Antikommunismus« entspringt und dient nichts anderem als der warenspektakulären, kontemplativen Grundfigur linker Passivität.

Im Bescheidwissertum und Besserwissen linker Spezialisten auf der Tribüne und dem Forum des Anti-«Antikommunismus« erschöpft man sich selbstgefällig und fertigmacherisch im Denunzieren von Details des Terrors der bürgerlichen Geschichts-Welt, deren Einspeisen ins umso abschreckendere, konterrevolutionärere Spektakel der Bagatellisierung (ob NS- »oder« SU-System für den Gattungswerdungsprozess verheerender, »singulärer« waren ... ) nur die Wahrnehmung, das Begreifen des Ganzen blockiert und die bewusste communistische Aktivität durch »antiantikommunistische« passive Wahl zwischen zwei kapitalistischen Durchsetzungsregimes ersetzt.

»Das zuschauende Bewusstsein, als Gefangener eines verflachten Universums, das durch den Bildschirm des Spektakels beschränkt ist, hinter den sein eigenes Leben verschleppt worden ist, kennt nur noch die Scheingesprächspartner, die es einseitig mit ihrer Ware und der Politik ihrer Ware unterhalten. Das Spektakel in seiner ganzen Ausdehnung ist sein eigenes 'Spiegelzeichen'».( GUY DEBORD: DIE GESELLSCHAFT DES SPEKTAKELS. THESE 218 ).

Das Spektakel der Anti-Utopie, des Anti-«Kommunismus«, d.h. die spiegelsymmetrisch reproduzierten Bilder von der wirklichen Bewegung, die den jetzigen Zustand aufhebt, als utopisch, d.h. »nirgendwo« real und nur um den Preis vernichtenden Terrors gegen die Realität realisierbar, hat in der Repräsentation des Irrealsozialismus, der sich als die einzig mögliche Wahrheit des »real existierenden Sozialismus«, als einzig realistischer Weg zum Kommunismus ausgab und von der Reaktion ausgegeben wird (»Das war der Kommunismus.«), sein mit rechten und linken Vorzeichen zusammenwirkendes Nullsummenspiel gegen den wirklichen, den möglichen Communismus etabliert, der erst als bewusster, wissenschaftlicher Communismus dieses spektakuläre Spiel des rechten und des linken Flügels der bürgerlichen Gesellschaft auffliegen lassen kann.

Die Linke wird nicht imstande sein, die spektakulären Spielregeln zu durchbrechen, aus ihrer Zwickmühle der Ohnmacht heraus zur revolutionären Dialektik und ihrer praktischen Anwendung, der Strategie, zu finden, oder sie müsste aufhören Linke zu sein. Als Linke ist sie dem Unmittelbarismus in der Praxis verfallen, wie sie dem jakobinistischen, unwissenschaftlichen Utopismus in der Theorie frönen muss, da sie nur bürgerlich-demokratistischen ldealismus, den ewig-bürgerlichen Radikalismus der Freiheit-Gleichheit-Geschwisterlichkeit kennt, die sie »bis ans Ende« durchsetzen will.

Die materialistische historische Analyse wird von ihr dabei ebenso dem bloßen Willen geopfert wie das Proletariat selbst, wenn es dem linken Trieb zur unmittelbaren Durchsetzung der bürgerlichen politischen Ideale entgegensteht; der bolshevikische politische Triebdurchbruch war und bleibt Nachbild und Vorbild des jakobinistischen Archetypus der Linken. Das links-«radikale« idealistische Triebziel fällt aber im Triebhaushalt deutscher Linker mit dem Drang zur Entlastung, Freisprechung vom Schuldzusammenhang der Deutschen Misere, der NS-Hypothek zusammen. Die »unbedingte« Apologie des »realsozialistischen« Gegenbildes zur Realität der deutschen Geschichte ist von daher dem BRD-linken Bewusstsein als sein unbewusster Subtext eingeschrieben, es duldet kein anderes Bild, keinen anderen Text als den Imperativ unmittelbaren Reagierens auf den »antikommunistischen« Text der Bourgeoisie, der Rechten, obwohl sie, die Linke, immer nur deren Echo bleiben kann, deren bürgerliche »radikale'' Ergänzung.

Der Taktizismus und Pragmatismus der LENIN istischen Jakobiner-«mit-dem-Volk«, seine voluntaristisch-theokratische Verkörperung in »der Partei LENINS « und der Reihe weiterer mythologischer Figuren, seine Projektion ins Bild »der« Organisation als »Kampfpartei«, als institutionalisierte Repräsentation der zumindest theoretisch-revolutionär angeblich Ohnmächtigen, des durch sein vorgebliches Sprachrohr permanent entmündigten Proletariats (»Die Wahrheit« usw.!) alle diese Wesenszeichen der »realsozialistischen« Staatspartei sind auch Wesenszeichen der deutschen Linken, deren Triebwunsch sich das Proletariat nie gefügt hat. So schlug der rechte idealistische deutsche Furor in den »linksradikalen« antideutschen (»Bomber HARRlS do it again«) und antiproletarischen um ( FRANZ SCHANDL: DAS PROLETARIAT ALS FEIND DES KOMMUNISMUS usw.). Entsprechend tragend ist die unmittelbaristische Nervosität, die spektakuläre Langeweile (siehe z.B. den revolutionären communistischen Psychoanalytiker OTTO FENICHEL: ZUR PSYCHOLOGIE DER LANGEWEILE in: AUFSÄTZE Bd.I, FRANKFURT/M-BERLIN-WIEN 1985 ): von daher ihr ebenso penetrantes wie unfruchtbares »Was tun, was tun, was tun!!«

Der Anti-«Antikommunismus« ebenso wie »Antifa« (als spektakulärer Lifestyle, der die echte kollektive Assoziation natürlich nur einfärbt und deformiert) dient diesem Typus des/der Linken lediglich zur Rationalisierung seiner/ihrer beständigen Scheinaktivität und neurotischen Rituale, womit er/sie ihren spektakulären Reizhunger, seine/ihre spezifische Triebspannung zu lösen versucht. Diese Lösung, der Triebwunsch, findet sich im Bilde »der« Organisation als Fetisch bzw. in der Projektion »der Partei«, der mythischen »KP«, die es endlich, sobald wir sie einmal hätten, bringen soll: den Furor »der Gerechtigkeit«, »Gleichheit« usw. und »unserer Utopie«, die apokalyptische Reinigung von aller eigenen (deutschen) Schuldhaftigkeit ...

Mit dem wirklichen erforderlichen Parteibildungsprozess des Proletariats hat diese Entlastungsfantasie des unmittelbaristischen Organisationsfetischismus und Praktizismus so wenig zu tun wie der stereotype anti-«antikommunistische« Reflex mit dem Kampf für die Bewusstheit über den Communismus als wirkliche Bewegung, die den jetzigen Zustand aufhebt. Die Apologetik des »realen Sozialismus« interessiert sich garnicht für die wirkliche Bewegung und den jetzigen Zustand, sie beteiligt sich vielmehr an der Last der toten Vergangenheit in Gestalt ihrer spektakulären Bilderreproduktion als Alb, als mythische Wiederkehr, die wir zu wiederholen hätten. Die Proletarisierten, die zur wirklichen Aktivität, zur Praxis der Theorie (Waffe der Kritik) und dadurch auch zu einer angemessenen praktischen Theorie sich hinaufarbeiten, zum wissenschaftlichen Communismus also, müssen wohl oder übel die Toten ihre Toten begraben lassen, wollen wir nicht unter den Leichenbergen der Rechten und der Linken begraben werden. Die Kritik der Waffen, die praktische Theorie, »dort, wo sich der Dialog bewaffnet hat, um seinen eignen Bedingungen zum Siege zu verhelfen« (so das letzte Wort des situationistischen SPEKTAKEL -Buchs), kann allein die Emanzipation von den materiellen Grundlagen des Anti-«Kommunismus«-Spektakels sein.

»Wenn die Logik des falschen Bewusstseins sich nicht selbst wahrheitsgemäß erkennen kann, so muss die Suche nach der kritischen Wahrheit über das Spektakel auch eine wahre Kritik sein. Sie muss praktisch unter den unversöhnlichen Feinden des Spektakels kämpfen und zugeben, dort abwesend zu sein, wo sie abwesend ist. Der abstrakte Wille zur unmittelbaren Wirksamkeit erkennt die Gesetze des herrschenden Denkens, den ausschliesslichen Gesichtspunkt der Aktualität an, wenn er sich den Kompromittierungen des Reformismus oder der gemeinsamen Aktion pseudorevolutionärer Trümmerhaufen ergibt. Dadurch hat sich der Wahn [le délire] in derselben Position wiederhergestellt, die ihn zu bekämpfen vorgibt. Die über das Spektakel hinausgehende Kritik muss vielmehr zu warten wissen.« ( GUY DEBORD: DIE GESELLSCHAFT DES SPEKTAKELS. THESE 220 )

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Communistischer Parteibildungs-Prozess: 
nicht »KP«-für-sich sondern Klasse-für-sich

Das antikommunistische Delirium, bekanntlich »die Grundtorheit des Jahrhunderts«, hat das pro-bolshevikische Spektakel »der KP« zum nicht viel weniger törichten spiegelbildlichen Gegenentwurf - so geistert seit über 150 Jahren für die gesamte Reaktion der bürgerlichen und vorbürgerlichen Welt, auch für unsere eigenen Bewusstseinstrübungen als Proletarisierte, »das Gespenst des Kommunismus«. Dieses Gespenst figuriert in dem Märchen von einer Repräsentation des Proletariats, die es weiter zum Objekt entmündigt, und verdeckt die historische Wahrheit vom Proletariat-das-sich-selbst-aufhebt, setzt also das Subjekt der communistischen Revolution zum Nichts herab. In der Tat: das Proletariat ist revolutionär oder es ist nichts.

Dem Märchen vom Gespenst des Kommunismus, das die Organisationen des Proletariats heimsucht als abgesonderte, von den Interessen des Proletariats getrennte, die proletarischen Bewegungen nach besonderen, sektiererischen Prinzipien modelnde »KP« - wie es der unglückselige LENIN sche Prototyp des bolshevikischen Wiedergängers geworden ist -, dieser verschwörungsutopischen Legende hat das vor 150 Jahren von KARL MARX formulierte MANIFEST des wissenschaftlichen Communismus klipp und klar die historische Wirklichkeit der vor sich gehenden Parteibildungsbewegung des Proletariats selber entgegengehalten: Die proletarische Bewegung ist die selbständige Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl; der Fortschritt der gesellschaftlichen Produktivkräfte setzt trotz der Isolierung der Arbeiter/innen durch die Konkurrenz tendenziell in immer erneuten Formen ihre revolutionäre Vereinigung durch die Assoziation, eine bei Strafe des Untergangs jeweils notwendige Organisation der Proletarier/innen zur Klasse und damit zur politischen Partei. Da diese ebenso notwendig durch die kapitalistische Konkurrenz unter den Arbeitern selbst jeden Augenblick wieder gesprengt wird, mithin durch keinerlei institutionalisierbare Repräsentanz ersetzt und garantiert werden kann (das wäre eine idealistische Illusion und ist auch seit 150 Jahren - besonders tragisch und teuer erkauft durchs Beispiel der BOLSHEVIKI - widerlegt worden), hängt die Rekonstruktion-in-Permanenz der revolutionären Assoziation, d.h. der Parteibildungsprozess des Proletariats zur Klasse-an-und-für-sich entscheidend ab von seinem bewusst-communistischen Element.

Die wissenschaftlichen Communist/innen bewegen sich in den notwendigen Organisationsformen des proletarischen Parteibildungsprozesses als der entschiedenste, permanent weitertreibende Teil und Repräsentant der internationalen Gesamtbewegung in ihrer vielfältigen Praxis, aus dem einzigen Grunde, weil und indem sie immer zugleich die Praxis der Theorie (= theoretische Praxis), deren organisatorische Avantgarde sie zu sein versuchen, als bewusste Ausdrücke, verallgemeinerte theoretische Sätze des existierenden Gesellschaftsklassenkampfes in der offenen prozessierenden historischen Totalität sich selbst und allen Proletarisierten erarbeiten und der assoziierten Erschliessung, dem bewaffneten Dialog als Waffe der Kritik der enteigneten Geselischaftsklasse selber verfügbar zu machen versuchen.

Die Zusammenfassung dieser Theorie bleibt: die dringende Notwendigkeit des gewaltsamen Umsturzes aller bisherigen Gesellschaftsordnung zwecks Wahrnehmung der längst durch die kapitalistische Welt-Geschichte hergestellten Möglichkeit der freien Assoziation freier und selbstbestimmter Produzent/inn/en im Weltmaßstab, d.h. Übergang zur communistischen Produktionsweise, ohne Klassenunterschiede und Ausbeutung irgendwelcher Menschen, ermöglicht durch die Aufhebung des gesellschaftlichen Klasseneigentums, nämlich des kapitalistischen Privateigentums an den gesellschaftlichen Produktions- und Lebensbedingungen, und damit zugleich Aufhebung der auf dem Tauschwert, der Wert- und Warenform beruhenden Produktionsweise von Lohnarbeit/Kapital und Staat.

Dieser theoretische Ausdruck der auf diese Aufhebung schon längst praktisch blind-spontan in negativen Formen drängenden Bewegung wird von den wissenschaftlichen Communist/inn/en bewusst, der wirklichen Dialektik entsprechend, in begriffene, bewusst lernende, experimentierende Theorie der Praxis innerhalb der kämpfenden Bewegungen umzusetzen versucht: als Entwicklung der Selbsttätigkeit, Selbständigkeit der Assoziierten über den spontanen Karakter der Sisyfos-Arbeit der Organisierung hinaus, zur Möglichkeit des bewussten Überschreitens der überlieferten Eigentumsverhältnisse, indem mit den sie stützenden überlieferten Ideen, Gewohnheiten usw. radikal gebrochen werden kann.

Also besteht die communistische Theorie und Praxis in der permanenten Arbeit ihrer revolutionären dialektischen Vermittlung, deren Organisierung im Handgemenge der spontanen Gesellschaftsklassenkämpfe als Arbeit an der proletarischen Selbstassoziation zum Qualitätssprung im internationalen Parteibildungsprozess. Es ist auf der elementarsten Ebene die vorwärtstreibende Teilnahme an der Arbeit des Sisyfos, der den Felsblock immer wieder hinaufrollen muss (Konkurrenz haut immer wieder Assoziation auseinander), auf der theoretischen Praxisebene die Arbeit des Prometheus, der für die Menschen das Feuer entwendet, aber zuletzt doch selber an den Felsen geschmiedet bleibt (Praxis der Theorie bleibt zunächst immer nur theoretisch), und auf der entwickeltsten Ebene die Arbeiten des Herakles, der List anwendet und auch den Prometheus befreit (revolutionäre Situationen können herkulische Kräfte der Proletarisierten an verschiedenen Angriffspunkten kooperativ entfesseln, wenn das bewusste Element vorgearbeitet hat und die Leute List anwenden und lernfähig geworden sind: Theorie der Praxis wird freigesetzt und in Anwendung gebracht. Dann könnte die Situation genutzt und revolutionär in erweiterte Aneignungsaktionen gewendet werden.)

Als wissenschaftliche Communist/inn/en können wir uns weniger denn je zuvor das Aufwärmen von Illusionen über diesen befreienden Arbeitsprozess leisten: er ist durch nichts und niemanden zu ersetzen. Der Parteibildungsprozess des Proletariats, das Bewusstmachen der unter unseren Augen vor sich gehenden geschichtlichen Bewegung, des Communismus als Tendenz und daseiende Möglichkeit muss - bei Strafe des Untergangs vieler proletarisierter Menschen abermals - vom Proletariat, im Proletariat selber herausgearbeitet, hervorgetrieben werden - das haben wir theoretisch wissenschaftlich auszudrücken und zu organisieren. Alles andere bleibt utopisch und verantwortungslos: der eitle Versuch einer Erschleichung des »Kommunismus« als »realsozialistisches« Spektakel in Neuauflage durchs Vehikel einer orthodoxen hierarchischen Institution; die Versuchung eines voluntaristischen Überspringens des mühseligen und halsbrecherischen, langwierigen (auch wenn es wieder mal viel zu rasch über uns hereinbrechen und uns überfordern wird - soviel ist gewiss!) komplizierten Parteibildungsprozesses des Proletariats heute, der communistischen Assoziation, durch den »Aufbau« eines mythologisierten Surrogats, das Abziehbild einer separaten »Kampfpartei« (»KP«). Ein solcher »Abkürzungsschleichpfad« neo-MListischer Elitenbildner wäre das Gegenteil zur wirklichen communistischen »Nordwestpassage der Revolution«, die wir in und mit dem Proletariatsprozess unserer Zeit finden müssen und die irgendwo in den waren-, lohn- und staatsfetischistischen Nebelregionen der kollektiven Psyche, des eingeschläferten proletarischen Bewusstseins verborgen vor uns liegt.

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