aus: Kommunistische Streitpunkte - Zirkularblätter - Nr. 2 - 21.01.1999

Zwi Schritkopcher, Dezember 1998

Wider den erschlichenen »Kommunismus« (1. Teil)

Zu den 12 Thesen von Daniel Dockerill: »150 Jahre KP«. Erste spontane Vorüberlegungen zu einer Entgegnung

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Inhalt 1. Teil:

Inhalt 2. Teil:

Inhalt 3. Teil:

 

»Wir haben bei Gründung der Internationalen ausdrücklich den Schlachtruf formuliert: Die Befreiung der Arbeiterklasse muss das Werk der Arbeiterklasse selbst sein. Wir können also nicht zusammengehn mit Leuten, die es offen aussprechen, dass die Arbeiter zu ungebildet sind, sich selbst zu befreien, und erst von oben herab befreit werden müssen, durch philanthropische Groß- und Kleinbürger.« (Karl Marx, Friedrich Engels: Zirkularbrief 18. Sept. 1879, MEW 19, S.165)

»Die Kohärenz dieser Gesellschaft kann nicht verstanden werden ohne eine totale Kritik, die durch das umgekehrte Projekt der befreiten Kreativität, der Herrschaft aller Menschen über ihre eigene Geschichte auf sämtlichen Ebenen erhellt wird. Dies ist die in Taten umgesetzte Forderung aller proletarischen Revolutionen, eine Forderung, die bisher stets besiegt wurde von den Spezialisten der Macht, die die Revolutionen übernehmen und sie zu ihrem Privatbesitz machen.

Wenn man heute dieses Projekt und diese Kritik, die untrennbar sind (da jeder Begriff den anderen erhellt), wiederaufnimmt ( ... ) ist es zuerst notwendig, die Niederlage des gesamten revolutionären Projekts im ersten Drittel unseres Jahrhunderts in ihrem ganzen Ausmaß und ohne irgendeine tröstende Illusion zu erkennen sowie ebenso seine offizielle Ersetzung in jeder Region der Welt wie auch in allen Bereichen durch einen verlogenen Schund, der die alte Ordnung nur verdeckt und ausstattet. Die Herrschaft des bürokratischen Staatskapitalismus über die Arbeiter ist das Gegenteil vom Sozialismus: dieser Wahrheit hat der Trotzkismus nie ins Gesicht blicken wollen. Sozialismus gibt es nur dort, wo die Arbeiter selbst unmittelbar die gesamte Gesellschaft verwalten; es gibt ihn weder in Russland noch in China noch anderswo. Die russische und die chinesische Revolution wurden von innen besiegt. (...)

Die kommenden Revolutionen stehen vor der schweren Aufgabe, sich selbst zu verstehen. Sie müssen ihre eigene Sprache völlig neu erfinden und sich gegen alle Rekuperationsversuche verteidigen, die man für sie vorbereitet... Für die neue revolutionäre Strömung geht es darum, überall, wo sie auftaucht, damit zu beginnen, die gegenwärtigen Experimente des Protests und die Menschen, die sie tragen, miteinander in Verbindung zu setzen. Es wird darum gehen, die kohärente Basis ihres Projekts gleichzeitig mit diesen Gruppen zu vereinigen. Die ersten Gesten der einsetzenden revolutionären Epoche konzentrieren in sich einen neuen - offenen oder verborgenen - Inhalt der Kritik an den gegenwärtigen Gesellschaften sowie neue Kampfformen; wie Gespenster erscheinen in ihnen auch die unreduzierbaren Augenblicke der gesamten alten, uneingelöst gebliebenen revolutionären Geschichte wieder.« ( Situationistische Internationale: Adresse an die Revolutionäre ... aller Länder. Juli 1965 Dt. in: S.I. Nr. 210, 1966, S. 189-194 Bzw. 184-188)

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To begin with :

die Jahrhundertwende-Lüge. Bei dem von den wissenschaftlichen Communist/inn/en leider kaum angemessen diskutierten »Schwarzbuch des Kommunismus« ist die ins Gesicht springende Lüge an dieser Materialsammlung nur der Titel sowie das ihm entsprechende ideologische Drumherum (Vorwort etc.).

Wahrheitsgemäß müsste der Titel lauten: Die »kommunistischen« Parteien an der Arbeit. Als kompakten Anfang zu einer Bestandsaufnahme hätten wir Communist/inne/n diese Materialsammlung und Streitschrift allererst zu begrüßen statt apologetisch abzuwehren. Und als Schwarzbuch würde es dann überhaupt erst von uns als wissenschaftlichen Communist/inn/en fortzuschreiben sein. Erst damit könnte der unzureichende und verlogene, z.T. offen antikommunistisch (und vom Herausgeber zugleich antisemitisch) motivierte bürgerliche Vorstoß zu einer wissenschaftlichen Bilanz der Revolutionsversuche im 20. Jh. in die längst fällige kollektive radikale Selbstkritik der Communist/inn/en gewendet werden, d.h. in eine Selbstkritik des wissenschaftlichen Communismus an seiner eigenen utopisch-kommunistischen Vorgeschichte bis heute, seinen theoretischen und praktischen Illusionen, Verstellungen und Verirrungen, mit einem Wort: an seiner bisherigen Unreife.

Diese Unreife aber wahrzunehmen und zu kritisieren heisst, die kapitalistischen Verhältnisse als Wurzel der Barbarei noch schärfer erfassen, noch radikaler kritisieren, in der noch die meisten proletarischen Versuche zu ihrer Überwindung bisher selber hängenblieben; die Notwendigkeit und realen Möglichkeiten, verpassten revolutionären Chancen, aufzuweisen für den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung, gerade weil sie die subjektive, psychische, mentale, kulturelle Unreife der Menschen im selben Maße gegen die Befähigung zum Communismus ausbrütet, wie sie die sachlichen und ebenfalls mentalen Produktivkräfte offensichtlich schon längst fertig ausgebrütet hat und täglich perfektioniert, welche unsere Befähigung zu communistischer Produktion und Verteilung schon längst als »die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt«, manifest und überreif hat werden lassen.

Die Unzulänglichkeiten, Halbheiten und Unreife der proletarischen Revolutionsversuche grausam-gründlich selbst kritisieren hiesse angesichts ihrer »KP«-Gestalten im zurückliegenden Jahrhundert vor allem, den geschlossenen bürgerlichen Verblendungszusammenhang zu kritisieren, wie er den Fetischformen der kapitalistischen Produktionsweise entspringt; das allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation in seiner vollen Auswirkung auf »die destruktive Partei« (MEW 2, S.37), auf den/die Proletarier/in, auf dieses Negative der bürgerlichen Gesellschaft, krasser denn je zuvor deutlich zu machen in seinen konkret-historischen Besonderheiten im Jahrhundert des bürgerlichen Totalitarismus: des Totalitarismus der Wert- und Warenform, der reellen Subsumtion der Arbeit und der Natur unters Kapital, des Totalitarismus der Mehrwertproduktion, der Konkurrenz, die noch den entschiedensten Ausbruchsbewegungen der Proletarisierten ihr Muttermal, ihr Verhaltensgesetz aufgeprägt hat: nämlich

»eine der Akkumulation von Kapital entsprechende Akkumulation von Elend. Die Akkumulation von Reichtum auf dem einen Pol ist zugleich Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Brutalisierung und moralischer Degradation auf dem Gegenpol, dh. auf Seiteder Klasse, die ihr eignes Produkt als Kapital produziert. Dieser antagonistische Charakter der kapitalistischen Akkumulation« - »dass in denselben Verhältnissen, in denen die Entwicklung der Produktivkräfte vor sich geht, sich eine Repressionskraft entwickelt« (MEW 23, S.675) -,

geht mit sämtlichen Folgelasten und Folgekosten einschliesslich absichtlich oder unabsichtlich Hungergetöteten, gezielt genozidal oder »nur kriegsbedingt« Ausgerotteten, absichtlich oder »bloß ökonomisch« durch Zwangsarbeit Vernichteten ... aufs Schuldkonto der bürgerlichen Produktionsweise, des kapitalistischen Weltsystems. Ein für allemal. Nur löst uns diese Feststellung nicht die analytische Fragestellung auf, wie und warum die »kommunistischen Parteien« wider Willen und Bewusstsein von Organisationen des Proletariats im 20.Jh. direkt zu Werkzeugen und Exekutoren des kapitalistischen »Weltgeists«, der Logik ebendieses weltumfassend-totalitären Akkumulationsregimes geworden sind. 

Dass sie das wurden, ist offenbar, und die Miserabilität der »KP«-apologetischen linken Abwehrversuche, die sich der wirklichen Herausforderung dieses Schwarzbuches gar nicht stellen mögen, besteht genau darin, dass sie in die Falle der Schein-Alternative gehen, die ihnen ein Zahlenfetischist (diesmal: der antisemitisch relativierende und desingularisierende Courtois) gestellt hat: indem sie ausschliesslich auf dieser Ebene an der Hekatomben-Waage mit solchen Wissenschaftlern Weltgericht spielen - waren es jetzt an die 60 Mio. Tote allein in der SU, wie ein Courtois will, oder stimmen wir nicht lieber einem Merl zu, dass »die zum Teil sehr hohen Schätzungen drastisch nach unten korrigiert, die niedrigen ( ... ) etwas angehoben werden müssen«, ja klar stimmen wir ihm alle nur zu gerne zu, ja also dann sieht ja alles schon wieder viel besser aus -- merken deutsche Linke nicht nur nicht, dass sie auf links nichts anderes als die Verdrängungsfigur der Auschwitzleugnung reproduzieren: als GULag-Leugnung; sie merken auch nicht, wie sie in der spezialistenhaften Fixierung auf Quantifizierung und Fälschung (gewiss muss derartige Spezialforschung auch geleistet werden) immer weiter von den wirklichen historischen und aktuellen Problemstellungen, vom eigenen wissenschaftlichen Denken und Kommunizieren abgelenkt und abgehalten werden. Wir lassen uns damit zum Publikum eines pseudowissenschaftlichen Spektakels machen, zu Parteigänger-Zuschauern in dem ewig-bürgerlichen »Rechts-Links«-Nullsummenspiel. Mit dem uns wirklich-historisch abgeforderten revolutionären Parteiergreifen und wissenschaftlichem Communismus hat das nichts zu tun.

KARL MARX pflegte selber so gut wie nie vom »wissenschaftlichen Sozialismus« bzw. Communismus zu sprechen, denn für ihn war das eine Tautologie: der theoretische Ausdruck der wirklichen Bewegung des Communismus gilt dem Historischen Materialisten als ebenjene Wissenschaft-in-Progress, die revolutionäre Praxis und Theorie zu vereinigen bestimmt ist. Als man MARX später einmal auf die Formel vom Wissenschaftlichen Sozialismus (als gleichsam von ENGELS geprägtem Markenzeichen) festzulegen versuchte, hat er diese genau für seine ursprüngliche Auseinandersetzung mit dem »utopischen Sozialismus« gelten lassen. Aber bereits das Hochstilisieren zur »einzig wissenschaftlichen« Schule des Communismus bzw. Sozialismus überliess MARX den Sektierern und Utopisten selber, so den doktrinären deutschen Frühsozialisten in der »Deutschen Ideologie«: »Der wahre Sozialismus, der auf der 'Wissenschaft' zu beruhen vorgibt, ist vor allen Dingen selbst wieder eine esoterische Wissenschaft.« Gerade eine solche wurde dann »der Marxismus« unter den Händen der »Orthodoxie« und schliesslich, ab der Einbalsamierung von LENIN und der Erfindung des »Leninismus« durch STALIN, der »Marxismus- Leninismus«, den auch ALTHUSSER'S Axt nicht mehr von der staatstragenden und parteidienenden Universitätswissenschaft zu trennen vermochte.

Für MARX dagegen »sind die Sozialisten und Kommunisten die Theoretiker der Klasse des Proletariats. Solange das Proletariat noch nicht genügend entwickelt ist, um sich als Klasse zu konstituieren, und daher der Kampf des Proletariats mit der Bourgeoisie noch keinen politischen Charakter tragt, solange die Produktivkräfte noch im Schoße der Bourgeoisie selbst nicht genügend entwickelt sind, um die materiellen Bedingungen durchscheinen zu lassen, die notwendig sind zur Befreiung des Proletariats und zur Bildung einer neuen Gesellschaft - solange sind diese Theoretiker nur Utopisten, die, um den Bedürfnissen der unterdrückten Klassen abzuhelfen, Systeme ausdenken und nach einer regenerierenden Wissenschaft suchen. Aber in dein Maße, wie die Geschichte vorschreitet und mit ihr der Kampf des Proletariats sich deutlicher abzeichnet, haben sie nicht mehr nötig, die Wissenschaft in ihrem Kopfe zu suchen; sie haben nur sich Rechenschaft abzulegen von dem, was sich vor ihren Augen abspielt, und sich zum Organ desselben zu machen. Solange sie die Wissenschaft suchen und nur Systeme machen, solange sie im Beginn des Kampfes sind, sehen sie im Elend nur das Elend, ohne die revolutionäre umstürzende Seite darin zu erblicken, welche die alte Gesellschaft über den Haufen werfen wird Von diesem Augenblick an wird die Wissenschaft bewusstes Erzeugnis der historischen Bewegung, und sie hat aufgehört, doktrinär zu sein, sie ist revolutionär geworden.« (MEW 4,143) 

In diesem letzteren, dialektisch zum proletarisch-communistischen Konstitutions- und Praxis- Prozess hin offenen, exoterischen (und nicht orthodox-doktrinären esoterischen) Wissenschaftsbegriff ab MARX soll im folgenden emfatisch der Ausdruck »wissenschaftlicher Communismus« wiedereingeführt werden: als bewusste Abgrenzung gegen den utopischen Bourgeois- Sozialismus, Staats-, Katheder-Sozialismus zugleich, der im Westen als links- sozialdemokratische und marxologische universitätslinke Konfusionsideologie, im Osten als einstiger »Marxismus-Leninismus« den ganzen linken Flügel der bürgerlichen Gesellschaft ideologisch gesäugt, gebrütet und hochgezogen hat und gegen die unter unseren Augen vor sich gehende geschichtliche Bewegungimmer erneut in Stellung bringt. So dass diese Bewegung selber von ihrem eigenen, dem gesellschaftlichen wissenschaftlichtheoretischen Moment mehr denn je enteignet ist und es als fremde, feindliche Macht sich gegenüber sieht: Wissenschaftlichkeit ist zum Gespött, revolutionäre Theorie zum Schimpf und bösen Verdacht geworden, zum buckligen Männlein der spektakulären Rekuperation und zur buckligen Zwergin unterm Schachbrett der antispektakulären Strategie. 

Da aber die wirkliche Bewegung, die den kapitalistischen Zustand aufhebt, vom historischen Durchbruch Pariser Commune datiert, allererst ihre politische Form, die revolutionäre Diktatur des Proletariats, die schon kein Staat im eigentlichen Sinne mehr war, wird im folgenden auch immer vom modernen antistaatlichen Communismus, im Unterschied zum bürgerlich konfundierten »Kommunismus« staatsfetischistischer Provenienz, die Rede sein. Die historische objektive und subjektive Reife oder Unreife für den endlich von der Arbeiterklasse selber durchzusetzenden bewussten Communismus ist eben wissenschaftlich gerade an den Überwindungsmöglichkeiten all der Fetischformen unserer Gesellschaftlichkeit zu beschreiben, zu analysieren und zu bemessen, die als unser bürgerliches Bewusstsein, kapitalistischer Common-Sense, unsere gesellschaftlich-menschlichen Produktionskräfte nurmehr durchscheinen, aber immer noch nicht durchbrechen, immer noch nicht sie freiwillig-bewusst assoziieren lassen.

Die im jetzt ausgehenden Jahrhundert global gewordene spektakuläre Warenproduktion hat sich seit dem Zusammenbruch des östlichen bürokratisch- kapitalistischen konzentrierten Spektakels endgültig zum integrierten Spektakel (nämlich Integration des östlichen mit dem westlichen, dem diffusen Spektakel des consumer capitalism der einstigen pax americana) transformiert, was sowohl der klassischen Fetischdreifaltigkeit der kapitalistischen Warenproduktion (Trinitarische Form - siehe MEW 25, 822) als auch dem Staats-, Recht-, Politik-Fetischismus eine bisher nicht gesehene historische Bindekraft verleiht. Das Bild, die Repräsentation des wirklichen gesellschaftlichen Lebens, des gesellschaftlichen Seins scheint in diesem Stadium der kapitalistischen Akkumulation das Bewusstsein des gesellschaftlichen Individuums in einem zum omnipotenten und in einem zum irrealen, total ohnmächtigen und total verlassenen Wesen, ja das gegenständliche Wesen zum Unwesen zu machen - täglich, stündlich, in jedem Augenblick des Überlebens in der konkurrenzgetriebenen Lohnabhängigkeit. Je reifer das Gesellschaftsindividuum für die communistische Produktionsweise ist, um so unreifer droht das gesellschaftliche Individuum in der Partikularität seiner hochentfremdeten Bilderproduktion zu werden. Die Religionskritik eines FEUERBACH und MARX ist aktueller denn je geworden. Die Auseinandersetzung mit »dem Kommunismus« findet in dieser Dialektik statt, in dieser Debatte sind die angedeutete Überreife und Unreife der wirklichen Bewegung ebenso verschränkt. 

Diese Unreife lässt sich wiederum in ein Wort fassen: die Parteivorstellung. 

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Partei als spiegelverkehrtes Bild vom Proletariat

Die apriori Verwechslung des realen Selbstbefreiungsprozesses des Proletariats - als Parteibildungsprozess und Selbstaufhebungsprozess in einem -, d.h. der communistischen Revolution, mit dem Entwicklungsgang derjenigen historisch empirischen Gebilde, welche sich KP nennen, ist wissenschaftlich gesehen der Grundausdruck dieser Unreife, d.h.: dieses Apriori (Identifizierung von »KP« mit Emanzipation des Proletariats und Aufbruch zum bewusst gemachten Communismus) ist selbst schon ein plumper Denkfehler; schon hierin ist der wissenschaftliche Communismus ausgeschaltet, weil elementarstes wissenschaftliches Denken aussetzt. Die Ineinssetzung von irgend vorfindlicher »KP« mit realer communistischer Revolutionsbewegung, Parteibildung der Arbeiterklasse selbst, wird damit sofort zur bloßen Glaubenssache.

Die Thesen von DANIEL DOCKERILL: 150 JAHRE KP unternehmen es tatsächlich noch einmal, ein solches Apriori zu setzen. Sie machen stillschweigend die Identität von historisch- empirischen »KP«-Apparaten und proletarischer Revolution, Parteibildungsprozess des Proletariats zur Klasse-für-sich im 20.Jh., zur nicht mehr in Frage zu stellenden Voraussetzung, zum »Axiom«. Ebenso stillschweigend setzen sie den - von DANIEL DOCKERILL an anderer Stelle ausgesprochenen Vorwurf als Erpressung ein, wer diese Identität anzweifele, sei »antikommunistischer« bzw. »bolschewistenfresserischer« (auch dies wieder in der gleichen apriori-Identischsetzung) Renegat am Communismus. Der-/diejenige strebe in Richtung Konterrevolution statt in Richtung communistische Revolution.

Würden wir dieses Apriori, dieses links wie rechts gängige »Axiom« akzeptieren, dann würden wir keine echte Selbstkritik und vor allem keine wissenschaftliche Diskussion mehr führen/beginnen können sondern nur noch Apologetik dessen, »wie es nun einmal gewesen ist« ( »Vergangenes historisch artikulieren heisst nicht, es erkennen, 'wie es denn eigentlich gewesen ist'. Es heisst, sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt. Dem historischen Materialismus geht es darum, ein Bild der Vergangenheit festzuhalten, wie es sich im Augenblick der Gefahr dem historischen Subjekt unversehens einstellt. Die Gefahr droht sowohl dem Bestand der Tradition wie ihren Empfängern. Für beide ist sie ein und dieselbe: sich zum Werkzeug der herrschenden Klasse herzugeben. In jeder Epoche muss versucht werden, die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen. (...) Die jeweils Herrschenden sind aber die Erben aller, die je gesiegt haben. Die Einfühlung in den Sieger kommt demnach den jeweils Herrschenden allemal zugut. Damit ist dem historischen Materialisten genug gesagt. Wer immer bis zu diesem Tage den Sieg davontrug, der marschiert mit in dem Triumphzug, der die heute Herrschenden über die dahinführt, die heute am Boden liegen. Die Beute wird, wie das immer so üblich war, im Triumphzug mitgeführt. ( ... ) Der historische Materialist rückt daher nach Maßgabe des Möglichen von ihr ab. Er betrachtet es als seine Aufgabe, die Geschichte gegen den Strich zu bürsten.« WALTER BENJAMIN: THESEN VI,VII Über den Begriff der Geschichte)

»die Geschichte der Parteitage der Sieger ist die Geschichte des Kommunismus, des realen Sozialismus, der proletarischen Revolutionen im 20. Jahrhundert gewesen!« Mit dieser historistisch-opportunistischen Version aber würden wir auch der Lüge am Schwarzbuch »des Kommunismus« voll ins Messer laufen sowie Vorschub leisten, nach einem MAO -Wort: »Wenn der Feind sagt: schrecklich, schrecklich!, dann sagen wir: großartig, großartig!« (oder wenigstens: »längst nicht so schrecklich wie...«, oder: »C'est la guerre. C'est la revolution.« oder schlicht: »Alles Lüge, Verleumdung, Fälschung.«) Damit würden wir übrigens nicht allein den wissenschaftlichen Grundanspruch des Kommunismus ab Karl Marx aufgeben, sondern schon im Ansatz die zugleich damit formulierte »Lehre, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei«, den entsprechenden materialistisch- ethischen »kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«, durch zynische Apologetik des realen »Sozialismus« ersetzen, in denen der Mensch konkret genau dies war und ist (Kuba, Nordkorea, China, Vietnam die ja nach der Logik dieser THESEN ebenfalls als Übergangsgesellschaften mit automatischem Kurs auf Kommunismus bei ihrem staatsdoktrinären Selbstverständnis zu nehmen und gegen »das kapitalistische Lager« und das »Versagen« von dessen Proletariat allemal noch zu verteidigen wären).

Auch gerade die grausam-gründliche Selbstkritik proletarischer Revolutionen hat zur Voraussetzung die Kritik der Religion - in diesem, unserem Fall der »KP«- Religion. Die Legende von der Repräsentation des Proletariats durch »die Partei« LENIN schen Zuschnitts ist der bis heute von vielen Kommunist/inn/en unangetastete Kern dieser »Diesseitsreligion« sie ist der wirkliche »Mythus des Zwanzigsten Jahrhunderts« und hat ihre Wirkmächtigkeit noch längst nicht verloren, im Gegenteil. Gegenwärtig, bei der Aufgabe und historischen Chance einer fundamentalen Neuorientierung-als-Rekonstruktion des wissenschaftlichen Communismus ab MARX - d.h. allererst im kollektiven Zurück-zu- MARX! als Kooperation für den subversiven Durchbruch einer MARX - Renaissance (LUKÁCS 1970) - als die Grundlegung und Voraussetzung in Permanenz eines Neuaufbruchs zur organisierten Parteibildung des neuzusammengesetzten Proletariats für den direkten Übergang zum Communismus, steht für uns deshalb die bewusste Alternativentscheidung am Anfang: »Es rettet uns k/ein/ höh'res Wesen, k/ein/ Gott, k/ein/ Kaiser, k/ein/ Tribun, k/eine/ KP. Uns aus dem Elend zu erlösen, können wir /nicht/nur selber tun.«

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Staatsfetischismus

Die wissenschaftliche theoretische Kritik ab MARX weist auf, dass der Glaube an ein Höheres Wesen als Erlöser über den Menschen, also die Religion (insbesondere jüdisch-christlicher Prägung), untrennbar ist vom gesellschaftlichen Monopol der Produktions- und Lebensbedingungen (Privateigentum): von dem durch verallgemeinerten Geldkristall herrschenden Verhältnis Kapital/Lohnarbeit; untrennbar ist von Familie als Patriarchat; untrennbar ist vom vollendeten, modernen Staat als bürgerlichem Gewaltmonopol, kristallisierter Sfäre des Rechts und der Politik.

Aus dieser Vierfaltigkeit »des Monopols«, wie KARL MARX sie im Anschluss an CHARLES FOURIER schon früh wissenschaftlich zusammenfassend auf den Begriff bringt, ist besonders die Staats-, Rechts-, Politik- Dimension für die unwissenschaftliche Vorstellungswelt der »Partei« als Repräsentation des Proletariats analytisch hervorzuheben: Diese »Diesseitsreligion« befriedigt das im Kapitalismus täglich und stündlich bei jedem Menschen hervorgetriebene religiöse Bedürfnis, die religiöse Entfremdungsform, nämlich im wesentlichen durch den unbedingten Glauben an die durch nichts zu ersetzende Rolle des modernen Staats als dem höheren, ja höchsten Wesen, welches die Erlösung vom Kapitalismus für uns, für die Proletarisierten, für die ganze Gesellschaft (Welt) letztinstanzlich zustandebringen könne. Dass wir selber dazu imstande seien durch unmittelbar gesellschaftliche konkrete Übereinkunft, ist diesem sich selbst als Gesellschaftsindividuum entfremdeten Bewusstsein schlechthin unvorstellbar, sein Horizont bleibt die abstrakte Vorstellung:

»Der Staat - das sind wir doch alle. Wir selbst, die Gesellschaft - das ist doch der Staat.« Es ist nun dieser tiefsitzende, als fetischistische »Alltagsreligion«(MEW 25, 838) durch den kapitalistischen Augenschein immer nur noch bestätigte Glaube an die entscheidende und alleinseligmachende Mittler-Rolle bzw. gar Schöpfer- und Lenker-Stelle der politischen Sfäre, welche die bürgerlich-vereinzelten, der Konkurrenz unterworfenen konkreten Individuen abstrakt-gesellschaftlich als Ganzes repräsentiert, die konzentriert verkörpert in der Partei-als-Repräsentation ihren noch einmal aufs äusserste entfremdeten Widerschein findet. 

Die tiefsitzend unbewusste Vorstellung von »der Partei« als konzentriertester Einheit von politisch-staatlicher Emanzipation und religiösem Messianismus ist auf der Basis der sich entfaltenden bürgerlichen Gesellschaft ganz folgerichtig:

»Hat der Standpunkt der politischen Emanzipation das Recht, ( ... ) vom Menschen überhaupt die Aufhebung der Religion zu verlangen?« Mit dieser Frage eröffnet KARL MARX (1844) in »ZUR JUDENFRAGE« (gegen das virtuell antisemitische Buch des Linkshegelianers BRUNO BAUER »DIE JUDENFRAGE« gerichtet) den Angriff auf den linken, d.h. in der Tradition des Jakobinismus, der bürgerlichen Staats- und Politik-Vorstellung, des Demokratismus befangenen, bis heute ungebrochenen bürgerlichen Revolutionsmythos und zeigt, »dass der Mensch auf einem Umweg, durch ein Medium, wenn auch durch ein notwendiges Medium sich befreit, indem er sich politisch befreit. ( ... )

Die Religion ist eben die Anerkennung des Menschen auf einem Umweg. Durch einen Mittler. Der Staat ist der Mittler zwischen dem Menschen und der Freiheit des Menschen. Wie Christus der Mittler ist, dem der Mensch seine ganze Göttlichkeit, seine ganze religiöse Befangenheit aufbürdet, so ist der Staat der Mittler, in den er seine ganze Ungöttlichkeit, seine ganze menschliche Unbefangenheit verlegt. Die politische Erhebung über die Religion teilt alle Mängel und alle Vorzüge der politischen Erhebung überhaupt. Der Staat als Staat annulliert zum Beispiel das Privateigentum, der Mensch erklärt auf politische Weise das Privateigentum für aufgehoben, ( ... ) Ist das Privateigentum nicht ideell aufgehoben, wenn der Nichtbesitzende zum Gesetzgeber des Besitzenden geworden ist? (...) Dennoch ist mit der politischen Annullation des Privateigentums das Privateigentum nicht nur nicht aufgehoben, sondern vorausgesetzt. ( ... )

Der politische Staat verhält sich ebenso spiritualistisch zur bürgerlichen Gesellschaft wie der Himmel zur Erde. Er steht in demselben Gegensatz zu ihr, er überwindet sie in derselben Weise wie die Religion die Beschränktheit der profanen Welt d.h., indem er sie ebenfalls wieder anerkennen, herstellen, sich selbst von ihr beherrschen lassen muss. ( ... ) Der Widerspruch, in welchem sich der religiöse Mensch mit dem politischen Menschen befindet, ist derselbe Widerspruch, in welchem sich der Bourgeois mit dem Citoyen , in welchem sich das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft mit seiner politischen Löwenhaut befindet. ( ... )

Die politische Emanzipation ist allerdings ein großer Fortschritt; sie ist zwar nicht die letzte Form der menschlichen Emanzipation überhaupt, aber sie ist die letzte Form der menschlichen Emanzipation innerhalb der bisherigen Weltordnung. Es versteht sich, wir sprechen hier von wirklicher, von praktischer Emanzipation. ( ... ) Aber man täusche sich nicht über die Grenze der politischen Emanzipation.

Die Spaltung des Menschen in den öffentlichen und den Privatmenschen, die Dislokation [Versetzung, Verschiebung] der Religion aus dem Staat in die bürgerliche Gesellschaft, sie ist nicht eine Stufe, sie ist die Vollendung der politischen Emanzipation, die also die wirkliche Religiosität des Menschen ebensowenig aufhebt als aufzuheben strebt. ( ... ) Die Zersetzung des Menschen ( ... ) in den religiösen Menschen und den Staatsbürger (...) ist keine Umgehung der politischen Emanzipation, sie ist die politische Emanzipation selbst, sie ist die politische Weise, sich von der Religion zu emanzipieren. Allerdings: in Zeiten, wo der politische Staat als politischer Staat [d.h. als radikale Demokratie: in der Jakobiner-Diktatur der Französischen Revolution 1793..., die hier gemeint ist, und in der »demokratischen Diktatur« der bolshevikischen »Jakobiner-mit-dem-Volke« (LENIN) 1917.... um deren Karakter wir uns streiten] gewaltsam aus der bürgerlichen Gesellschaft heraus geboren wird, wo die menschliche Selbstbefreiung unter der Form der politischen Selbstbefreiung sich zu vollziehen strebt, kann und muss der Staat bis zur Aufhebung der Religion, bis zur Vernichtung der Religion fortgehen, aber nur so, wie er zur Aufhebung des Privateigentums, zum Maximum [von der Jakobinerdiktatur unter ROBESPIERRE 1794 festgelegte Höchstlöhne und Höchstpreise] zur Konfiskation, zur progressiven Steuer, wie er zur Aufhebung des Lebens, zur Guillotine fortgeht.

In den Momenten seines besonderen Selbstgefühls sucht das politische Leben seine Voraussetzung, die bürgerliche Gesellschaft und ihre Elemente, zu erdrücken und sich als das wirkliche widerspruchslose Gattungsleben des Menschen zu konstituieren. Es vermag dies indes nur durch gewaltsamen Widerspruch gegen seine eigenen Lebensbedingungen, nur indem es die [politische, radikal-demokratistische, jakobinistisch-bolshevikische, ewig-linke] Revolution für permanent erklärt, und das politische Dilemma endet daher ebenso notwendig mit der Wiederherstellung der Religion, des Privateigentums, aller Elemente der bürgerlichen Gesellschaft, wie der Krieg mit dem Frieden endet.«

Und wie »der Kommunismus« dieses Jahrhunderts mit seiner ebenso notwendigen, hämisch-bürgerlich vorgelegten Bilanz im vorläufigen »Schwarzbuch«. Aber die bornierte Identität und Nichtidentität des Staatsfetischismus mit dem Religiösen muss noch radikaler deutlich gemacht werden: wurzelt doch die leninistische »Partei«-Repräsentation als durch und durch jakobinistischer Staat-in-nuce wie ihr revolutionstheoretisches proton pseudos (= Grundirrtum, »erste Lüge«) von der menschlichen Emanzipation mittels radikalisierter Politik in der Entfremdungswirklichkeit des demokratisch vollendeten Staats selber als

»die wirkliche Ausführung des menschlichen Grundes der Religion« ; und darin, dass »der vollendete Staat wegen des Mangels, der im allgemeinen Wesen des Staates liegt, die Religion unter seine Voraussetzungen zählt, ( ... ) zeigt sich die Unvollkommenheit selbst der vollendeten Politik in der Religion. ( ... ) Der demokratische Staat, der wirkliche Staat, bedarf nicht der Religion zu seiner politischen Vervollständigung. Er kann vielmehr von der Religion abstrahieren, weil in ihm die menschliche Grundlage der Religion auf weltliche Weise ausgeführt ist. ( ... )

Die Religion bleibt das ideale, unweltliche Bewusstsein seiner Glieder, weil sie die ideale Form der menschlichen Entwicklungsstufe ist, die in ihm durchgeführt wird. Religiös sind die Glieder des politischen Staats durch den Dualismus zwischen dem individuellen und dem Gattungsleben, zwischen dem Leben der bürgerlichen Gesellschaft und dem politischen Leben; religiös, indem der Mensch sich zu dem seiner wirklichen Realität jenseitigen Staatsleben als seinem wahren Leben verhält; religiös, insofern die Religion hier der Geist der bürgerlichen Gesellschaft, der Ausdruck der Trennung und der Entfernung des Menschen vom Menschen ist indem in ihr [der politischen Demokratie] der Mensch - nicht nur ein Mensch, sondern jeder Mensch - als souveränes, als höchstes Wesen gilt, aber der Mensch (...), wie er durch die ganze Organisation unserer Gesellschaft ... sich selbst verloren, veräussert, unter die Herrschaft unmenschlicher Verhältnisse und Elemente gegeben ist, mit einem Wort, der Mensch, der noch kein wirkliches Gattungswesen ist.

Das Phantasiegebilde, der Traum, das Postulat des Christentums, die Souveränität des Menschen, aber als eines fremden, von dem wirklichen Menschen unterschiedenen Wesens, ist in der Demokratie sinnliche Wirklichkeit, Gegenwart, weltliche Maxime. ( ... ) Wir haben also gezeigt: Die politische Emanzipation von der Religion lässt die Religion bestehen, wenn auch keine privilegierte Religion. ( ... ) Die Emanzipation des Staates von der Religion ist nicht die Emanzipation des wirklichen Menschen von der Religion. ( ... ) Die politische Revolution löst das bürgerliche Leben in seine Bestandteile auf, ohne diese Bestandteile selbst zu revolutionieren und der Kritik zu unterwerfen. Sie verhält sich zur bürgerlichen Gesellschaft, zur Welt der Bedürfnisse, der Arbeit, der Privatinteressen, des Privatrechts als zur Grundlage ihres Bestehens, als zu einer nicht weiter begründeten Voraussetzung, daher als zu ihrer Naturbasis. (...)

Alle Emanzipation ist Zurückführung der menschlichen Welt, der Verhältnisse, auf den Menschen selbst. Die politische Emanzipation ist die Reduktion des Menschen, einerseits auf das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, auf das egoistische unabhängige Individuum [homme als homme bourgeois], andererseits auf den Staatsbürger [homme citoyen], auf die moralische Person. Erst wenn der wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt und als individueller Mensch in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen Gattungswesen geworden ist, erst wenn der Mensch seine forces propres [ = seine eigenen Kräfte, Wesenskräfte] als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat und daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht.«

(KARL MARX: ZUR JUDENFRAGE. MEW 17, S. 347-387; hier zit. aus DEUTSCH-FRANZÖSISCHE JAHRBÜCHER (1844), LEIPZIG, 1981, S.270-290f)

Für diese Kritik an der politischen Form, an der Staatlichkeit schlechthin (denn der bürgerliche Staat, die Demokratie ist der vollendete, historisch-wirklich »zu seinem Begriff gekommene« Staat schlechthin, die fertige Staatsmaschinerie, als welche sie dann KARL MARX 1871 (MEW 17, 542f) der Revolution und Diktatur des Proletariats gegenübergestellt sieht) und an der staatsfetischistisch-politizistischen Einbildung, die soziale Emanzipation wäre mit der politisch-staatlichen Formhypostase bereits vollbracht - demgegenüber haben sämtliche Parteigläubigen des Leninismus nur gereiztes Unverständnis und offene Verachtung übrig. für sie ist das alles bloßes idealistisches Menschheitsgedusel, unpraktisches Filosofastern des »unreifen, frühen, junghelianischen« KARL MARX und vor allem apolitisch-halbanarchistische Organisationsfeindlichkeit ...

Wie soll der staatsfetischistische Selbstbezug auf die alleinseligmachende Kraft der politischen Organisation einen Ansatzpunkt für die Auflösung der Repräsentationsfixierung bieten, wenn die Ablehnung, Ignoranz und Ranküne gegenüber der Selbsttätigkeit der Arbeiterklasse diese geschlossene Vorstellungswelt gerade konstituiert?! Jede/r Gläubige will glauben und nicht zweifeln an dem, was sein Heilsbedürfnis (das immer zutiefst ein unbewusst auf die eigene Person bezogenes ist - vgl. G.LUCÁCS: DIE EIGENART DES ÄSTHETISCHEN übers religiöse Bewusstsein gegenüber dem wissenschaftlichen und dem ästhetischen, wo das religiöse mit dem Alltagsbewusstsein diese unmittelbare pragmatische Ich-Orientierung gemeinsam hat) befriedigt und ihn/sie stabilisiert; in die messianische Diesseits-Erlösungsvorstellung von »der« uns befreienden politischen Organisation schiessen sämtliche Affekte unserer entfremdeten Partikularität im Kapitalismus ein, die im Dienste der wissenschaftlichen Distanzierungsleistung des Subjekts gegenüber dem Objekt der Erkenntnis/Praxis ja suspendiert werden müssen. Deshalb begegnet der staatsfetischistisch Gläubige dem Ungläubigen immer wieder mit dem Grundvorwurf, dass dieser ja garnicht die Erlösung von dem Übel wirklich wolle, sonst würde er sich ja dem Höchsten Wesen und dem Mittler der Befreiung, eben »der« (in der Regel schon vorhandenen) politischen Organisation freiwillig unterstellen, seine Interessen und sein Handeln von ihm repräsentieren lassen. »Du willst ja nur nicht praktisch Partei ergreifen!«

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Aufs Fest des Höchsten Wesens folgt der Thermidor

So predigen KARL KAUTSKY und LENIN , die Gründungsväter der Orthodoxie (Rechtgläubigkeit) im westlichen und östlichen »Marx«-Ismus, das Proletariat könne sich nicht aus eigener Kraft aufheben, die Befreiung der Arbeiter könne nicht das Werk der Arbeiterklasse selbst sein, sondern stattdessen einzig das Resultat einer Organisation von Gralshütern »der Orthodoxie« - sei's »revolutionären Intellektuellen« im Unterschied, ja theorie-tragenden Gegensatz zu den theorie-impotenten und wehrlos der bürgerlichen Ideologie ausgeliefert-bleiben-müssenden, also zu erlösenden Arbeiter/inne/n; sei's »Berufsrevolutionären« - , die sich als »die Partei des Proletariats« institutionatisiert mit der Aufgabe, das Proletariat in- und ausserhalb dieser Partei von der bürgerlichen Ideologie zu befreien, zur Eroberung des Staats zu erziehen und zur Ausübung der »eigenen« Staatsmacht heranzuziehen ...

Wobei sich diese Partei-der-Revolutionsfunktionäre ( LENIN: »Gebt uns eine Organisation von Revolutionären, und wir werden Russland aus den Angeln heben!«) selber schon von Anbeginn als archimedischen Punkt der Revolution, damit als Keim und Speerspitze des »Volksstaats« (so die klassisch sozialdemokratische Formel des Staatsfetischismus, die LENIN so nicht übernehmen konnte) bzw. »proletarischen Staats« versteht ( LENIN: Wenn 130 000 Großgrundbesitzer Russland regiert haben, dann werden 240 000 Bolsheviki es erst recht regieren können!). Es handelt sich dann um einen Staatsparteistaat, wie er schon in dieser Parteistaatspartei vorgebildet ist (»demokratischer Zentralismus«: die nichtproletarischen Klassen, so LENIN in DER LINKE RADIKALISMUS; DIE KINDERKRANKHEIT... , - so ungefähr das einzige marxistische Buch, das VOM HITLER -Regime nicht verboten wurde -»rufen beständig innerhalb des Proletariats Rückfälle in kleinbürgerliche Charakterlosigkeit, Zersplitterung, Individualismus, abwechselnd Begeisterung und Mutlosigkeit hervor. Innerhalb der politischen Partei des Proletariats sind strengste Zentralisation und Disziplin notwendig, um dem zu widerstehen, um die organisatorische Rolle des Proletariats (das aber ist seine Hauptrolle) richtig, erfolgreich und siegreich durchzuführen. ... Wer die eiserne Disziplin der Partei des Proletariats (besonders während seiner Diktatur) auch nur im geringsten schwächt, der hilft faktisch der Bourgeoisie gegen das Proletariat.« usw. Das schrieb LENIN , kurz bevor er das revolutionäre Proletariat von Kronstadt - faktische Avantgarde der »Dritten Revolution« und zu jenem Zeitpunkt faktischer Repräsentant des ganzen proletarischen und bäuerlichen Russlands für den faktischen Übergang zur proletarischen Rätediktatur als faktisches Bündnis mit der Bauernschaft zwecks faktische Orientierung auf Kommunismus erster Fase - mit eben dieser Art Begründung zusammenschiessen liess: »faktische Hilfe für die Konterrevolution«...

VICTOR SERGE , damals auf seiten der KPR(BOLSHEVIKI) , hat in seinen ERINNERUNGEN konzentriert festgehalten, wie die Tragik des LENIN schen parteistaatsparteilichen Jakobinertums sich erfüllte: »In diesen schwarzen Tagen sagte LENIN wörtlich zu einem meiner Freunde: 'Das ist der Thermidor. Aber wir werden uns nicht guillotinieren lassen. Wir machen selbst Thermidor.' » VICTOR SERGE: ERINNERUNGEN EINES REVOLUTIONÄRS, PARIS 1951, DT.: WIENER NEUSTADT' 1974; S.150 ). Die institutionalisierte Repräsentation des Proletariats, eine ganze Zeit lang wohl noch mit dem Proletariat als Subjekt scheinhaft identisch ( VlCTOR SERGE selbst schrieb damals: »Die Revolution hat kein anderes Gerüst [als »die Partei«, sprich Autokratie der BOLSHEVIKI ] und ist nicht mehr fähig, sich von Grund auf zu erneuern.« S. 148 ), »muss« sich historisch-dialektisch, d.h. »bei Strafe des Untergangs« ( KARL MARX ) als »die Partei des« selber gegen das historisch einzig mögliche Subjekt aktiv wenden und am Proletariat, am einzig möglichen wirklichen Subjekt der communistischen Revolution dessen historisch vorläufige Niederlage selber exekutieren. Die »Repräsentanten« stehen dann denen, die sich nicht mehr repräsentieren lassen können, als vermeintlicher »Fünfter Kolonne« der Konterrevolution gegenüber, in der das Proletariat mitsamt der Bauernschaft und der wirklichen Konterrevolution zu »einer feindlichen reaktionären Masse«, einer Vendée von »Bolshevistenfressern« eingeebnet ist. 

»Die Partei hat im Oktober 1917 die Macht in Russland erobert und sie formell den Sovjets übergeben. Der Primat der Partei wurde so durch die Macht der Tatsachen in der Geburtsstunde der Sovjetmacht ein für allemal begründet ... Der formelle Sieg der Sovjetmacht in Russland war gleichzeitig das Zeichen ihrer Unterordnung unter die Parteidiktatur, am Tage ihres höchsten Triumphes begann schon die Entmachtung der Räte, und das Banner des Roten Oktober 'Alle Macht den Räten!' erwies sich bald als bittere Illusion.« ( O.ANWEILER: DIE RÄTEBEWEGUNG IN RUSSLAND 1905-1921, LEIDEN 1958, S. 233f, ZIT, IN: GÖTZ EISENBERG, WOLFGANG THIEL: FLUCHTVERSUCHE. GIESSEN 1973, S.85 ) 

»Die Härte der objektiven Dialektik« ( LUCÁCS 1970 ) führt jede Parteistaatspartei unweigerlich an den historischen Moment heran, wo sie die wesentliche Nichtidentität von Repräsentation und Subjekt selbst auf tragisch-unausweichliche Weise explosiv exekutieren muss: »Wer - wen«, will sie nicht vom sich aufhebenden Proletariat »gefressen« werden, das sich dieser politischen Repräsentationsform u.a. auch eine Zeit lang bedient haben mag (denn: benutzte die bolshevikische Partei die Sovjets oder nicht vielmehr die Sovjets die Partei, als diese, historisch vorwärtstreibend-emanzipatorisch, in Gestalt des »Militärkomitees des Petrograder Sovjet« für den Gesamtrussischen Sovjetkongress kurzerhand die Staatsgewalt eroberte? Gerade dieser glorreich-geistesgegenwärtige bolshevikische Novemberstaatsstreich ist keine historische Legitimation dafür, dass und wie die etatistische LENIN-TROTSKI-SINOVJEV-STALIN -Riege die BOLSHEVIKI nach und nach und zwar sehr bald schon gegen die wirkliche Macht der Sovjets, gegen die Fabrikkomitees, und in der Partei selbst gegen die LINKEN KOMMUNISTEN 1918, die DEMOKRATISCHEN ZENTRALISTEN 1919, die ARBEITEROPPOSITION 1920/21 führte - bis zum endgültigen Thermidor (10.Parteitag, kurz nach der Vernichtung des Dritten, proletarischen Revolutionsherds in Kronstadt) und bis zum »18. Brumaire« des von LENIN hochgepäppelten STALIN .

»Alle die Bedingungen der Liquidierung des Zarismus, die in der stets unbefriedigenden theoretischen Debatte der verschiedenen Tendenzen der russischen Sozialdemokratie seit zwanzig Jahren in Betracht gezogen worden waren - Schwäche der Bourgeoisie, Gewicht der Bauernmehrheit, entscheidende Rolle eines konzentrierten und schlagkräftigen, aber im Lande höchst minoritären Proletariats - zeigten endlich ihre Lösung in der Praxis durch eine Gegebenheit, die in den Hypothesen nicht vorhanden gewesen war: die revolutionäre Bürokratie, die das Proletariat führte, gab, indem sie den Staat ergriff, der Gesellschaft eine neue Klassenherrschaft. Die rein bürgerliche Revolution war unmöglich, die 'demokratische Diktatur der Arbeiter und Bauern' [so die ursprüngliche Formel von LENIN ] machte keinen Sinn, die proletarische Macht der Sovjets konnte sich nicht gleichzeitig gegen die Klasse der besitzenden Bauern, gegen die nationale und internationale Reaktion der Weissen und gegen ihre eigene Repräsentation behaupten, die als Arbeiterpartei der absoluten Herren des Staates, der Wirtschaft, der Rede und bald auch des Denkens entäussert und entfremdet war.

Die Theorie der Perrnanenten Revolution von Trotski und Parvus, der sich Lenin de facto im April 1917 anschloss, war die einzige, die für die im Verhältnis zur gesellschaftlichen Entwicklung der Bourgeoisie zurückgebliebenen Länder wahr wurde, aber dies erst nach der Einführung dieses unbekannten Faktors: der Klassengewalt der Bürokratie. Die Konzentration der Diktatur in den Händen der obersten Repräsentation der Ideologie [sprich: Orthodoxie]wurde in den zahlreichen Auseinandersetzungen innerhalb der bolshevikischen Führung am konsequentesten von Lenin verteidigt.

Lenin hatte gegenüber seinen Gegnern jedesmal insofern recht, als er die Lösung unterstützte, die die vorangegangenen Entscheidungen der minoritären absoluten Macht implizierten: die den Bauern staatlich verweigerte Demokratie musste auch den Arbeitern verweigert werden, was darauf hinauslief, sie auch den kommunistischen Gewerkschaftsführern und in der ganzen Partei, und schliesslich bis hoch in die Spitze der hierarchischen Partei zu verweigern, ( ... ) Die revolutionäre Ideologie [ hier i. S. v. orthodoxer »Marx«-Ismus, »marxistisch-leninistischer« Verkehrung der wirklichen Verhältnisse], dh. die Kohärenz des Getrennten - dessen größte voluntaristische Anstrengung der Leninismus bildet - , die die Verwaltung einer Realität innehat, die sie abweist, wird mit dein Stalinismus - wieder zu ihrer Wahrheit in der lnkohärenz gelangen. ( ... ) Die Ideologie, die sich hier materialisiert, hat nicht die Welt ökonomisch verändert wie der zum Stadium des Überflusses gelangte Kapitalismus: sie hat lediglich die Wahrnehmung polizeilich verändert.« ( GUY DEBORD: DIE GESELLSCHAFT DES SPEKTAKELS. THESEN 103, 105 )

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Jakobiner mit dem Proletariat - Proletariat mit Jakobinern ?

Das Lieblingszitat aller kapitalistischen und bürokratischen Führungskräfte bis heute, LENINS »Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.« - meint ausschliesslich die Kontrolle der Staatspartei und des Parteistaats über und gegenüber Proletariat und Bauern sowie deren Organ(isation)en, keinen Augenblick umgekehrt! Es ist das staatskapitalistische Vermächtnis dieses »proletarisch«-jakobinistischen Partei- und Staatsgründers; im Zweifelsfalle wenden sich die »Jakobiner-mit-dem-Volke« gegen das Volk (diesen ULBRICHT -Jakobinismus finden wir gegenwärtig noch bei unseren »antideutschen« »Antinationalen« und linken Bomber-Harris-Liebhabern wieder, für die »Volk« wie »Proletariat« bequemerweise sowieso nichts als reaktionäre »Konstrukte« sind, und er spukt auch noch in den Beschimpfungen eines angeblich korrumpierten westlichen, namentlich deutschen Versager-Proletariats in DANIEL DOCKERILLS THESEN , das die Bolsheviki habe hängen lassen und deshalb für den ganzen Schlamassel verantwortlich zu machen sei).

Wäre es da nicht besser, der Staat löste das Volk, die Partei löste das Proletariat, die Theorie löste das revolutionäre Subjekt auf und wählte ein anderes? Was aber den historisch-materialistischen Blick auf das Fänomen des LENIN ismus noch immer wieder verstellt und verwirrt, ist die Tatsache, dass zwar vordergründig »der Leninismus« ebenso wie »der Marxismus- Leninismus«, diese beiden Synonyma, rein garnichts anderes als die Erfindung STALINS (1924) und damit ebenso synonym mit dem Stalinismus, untrennbar von diesem sind (- so nannte der pro-leninistische LUKÁCS mit richtigem historisch-dialektischem Gespür seine späten Versuche zur Analyse des Stalinismus entgegen der eigenen Intention einer radikalen Trennung von LENINS und STALINS System doch nicht etwa »Marxismus-Leninismus und Stalinismus«, sondern ganz korrekt MARXISMUS UND STALINISMUS (1967) ), - dass jedoch zugleich, tiefergehend, der historische und theoretische Gehalt des LENIN schen Revolutionskonzepts hinsichtlich seiner praktisch-politischen Aktivität, seinem tatsächlichen gesellschaftlich-ökonomischen Wirken »in der Resultante« und dem ZUSAMMENHANG SEINER GEDANKEN (GEORG LUKÁCS 1924) unabweisbar schon in Zügen echter proletarisch-communistischer Revolution zum Vorschein kam. »Vor-Schein« eher, im Sinne von ERNST BLOCHS Adaption der HEGEL schen Dialektik in Richtung auf den ontologischen Aufweis des »Noch-nicht-Seins«. Wir sehen dieses »Fleisch vom Fleische« der echten communistischen Bewegung des Proletariats an LENIN , d.h. an »seinem System«, in folgenden Dimensionen:

»Die Aktualität der Revolution: dies ist der Grundgedanke Lenins und zugleich der Punkt, der ihn entscheidend mit Marx verbindet. Denn der historische Materialismus, als begrifflicher Ausdruck des proletarischen Befreiungskampfes, konnte auch theoretisch nur in einem geschichtlichen Augenblick erfasst und formuliert werden, als seine praktische Aktualität bereits auf die Tagesordnung der Geschichte gestellt war. In einem Augenblick, wo im Elend des Proletariats nach Marx' Worten nicht mehr bloß das Elend selbst, sondern jene revolutionäre Seite, 'welche die alte Gesellschaft über den Haufen werfen wird,' sichtbar geworden ist. (...) Der historische Materialismus hat also - bereits als Theorie - die weltgeschichtliche Aktualität der proletarischen Revolution zur Voraussetzung. In diesem Sinne, als objektive Grundlage der ganzen Epoche und zugleich als Gesichtspunkt ihres Verstehens, bildet sie den Kernpunkt der Marxschen Lehre. Jedoch ( ... ) die'orthodoxen' Verteidiger von Marx kommen hier seinen 'Kritikern' auf halbem Wege entgegen.
Kautsky erklärt Bernstein gegenüber, dass man die Entscheidung über die Diktatur des Proletariats ruhig der Zukunft (einer sehr fernen Zukunft) überlassen könne. Lenin hat auf diesem Punkte die Reinheit der Marxschen Lehre wiederhergestellt. Er hat sie jedoch zugleich gerade hier deutlicher und konkreter gefasst.

Und dies bedeutet, dass die Aktualität der proletarischen Revolution nunmehr nicht nur als weltgeschichtlicher Horizont über die sich befreiende Arbeiterklasse gespannt ist, sondern, dass die Revolution bereits zur Tagesfrage der Arbeiterbewegung geworden ist. (...) Die Aktualität der Revolution bestimmt den Grundton einer ganzen Epoche. Erst diese Beziehung der einzelnen Handlungen auf dieses Zentrum, das nur aus der genauen Analyse des gesellschaftlich-geschichtlichen Ganzen gefunden werden kann, macht die einzelnen Handlungen revolutionär oder konterrevolutionär. Die Aktualität der Revolution bedeutet mithin: jede einzelne Tagesfrage im konkreten Zusammenhang des gesellschaftlich geschichtlichen Ganzen zu behandeln; sie als Momente der Befreiung des Proletariats anzusehen. (...) Die Entwicklung des Kapitalismus hat die proletarische Revolution zur Tagesfrage gemacht. Das Herannahen dieser Revolution hat Lenin nicht als Einziger gesehen. Er unterscheidet sich jedoch nicht nur an Mut, Hingebung und Opferfähigkeit von jenen, die im Augenblick, wo die von ihnen selbst theoretisch als aktuell verkündete proletarische Revolution praktisch-aktuell geworden ist, feige ausgekniffen sind, sondern zugleich an theoretischer Klarheit von den besten, ahnungsvollsten und hingebendsten Revolutionären unter seinen Zeitgenossen. Denn selbst diese haben die Aktualität der proletarischen Revolution nur in der Weise erkannt, wie sie im Zeitalter von Marx für diesen erkennbar gewesen ist: als Grundproblem der ganzen Epoche. Sie waren aber unfähig, diese ihre - aus weltgeschichtlicher, aber nur aus weltgeschichtlicher Perspektive - richtige Erkenntnis zur sicheren Richtschnur sämtlicher Tagesfragen, der politischen wie der ökonomischen, der theoretischen wie der taktischen, der agitatorischen wie der organisatorischen Fragen zu machen. Diesen Schritt zur Konkretisierung des nunmehr ganz praktisch gewordenen Marxismus hat Lenin als Einziger vollzogen. ( GEORG LUKÁCS: LENIN - STUDIE ÜBER DEN ZUSAMMENHANG SEINER GEDANKEN. 1924 NEUWIED UND BERLIN 1967, S.9ff )

Dass der frühe LUKÁCS hier im Überschwang den revolutionären Realpolitiker KARL MARX ebenso krass verfehlt und verkleinert wie LENINS mindestens ebenbürtig praktisch engagierten und theoretisch weitsichtigen Kombattanten LEON TROTSKI (auf dessen Theorie und Taktik der proletarischen »permanenten Revolution« LENIN ja selber erst, eher pragmatisch, im April 1917 einschwenkte, dessen Nähe zu den Selbstorganisationsorganen des Proletariats er nie erreichte und von dessen praktisch-organisatorischer Power er nicht nur entscheidend abhängig war, sondern wirklich nur träumen konnte - nicht zufällig war sein allerletzter, hilfloser Revolutionsversuch gegen die selbstgeschaffene bürokratisch-monströse STALIN sche Parteikreatur die testamentliche Einsetzung TROTSKIS als Parteistaats-Führer) und viele, bedeutendste Zeitgenoss/inn/en jener weltrevolutionären Fase aufs ungerechteste zurücksetzt, soll uns hier im Augenblick nicht kümmern (denn dass auch sogar LUKÁCS sich im tiefsten Grunde bloß vom epochalen Tageserfolg des bolshevikischen Novembercoups bestechen lässt und dieser Jahrhundertverblendung zeitlebens unterliegt, ist eine lässliche Sünde und psychologisch zu verstehende Schwäche seiner Generation von Revolutionär/inn/en.

Schwerer fällt schon, darüber hinwegzugehen, dass die an dem leider garnicht so einzigartigen managerialen Unsympath und philiströs-männerischen Hyperfunktionär (schaut man ihn sich nämlich nüchtern materialistisch-historisch näher an; siehe z.B. nur CLARA ZETKIN: GESPRÄCHE MIT LENIN dem realbürokratischen Omnipotenz-Prototypen ULJANOV , den hier LUKÁCS mythisch-prästalinistisch überhöht, gerühmte »Opferfähigkeit« sich nicht allein auf ihn selber, sondern stets zugleich auf Genoss/inn/en und später Hekatomben bäuerlicher und proletarischer Menschen (die Kronstädter sind ja nur eine für uns heute sichtbare Episode; die TsheKa ist und bleibt die eigentlich beständige, fundierende Schöpfung seiner selbst und seiner Partei, der innerste, tragende und weiterwuchernde Kern des »Sovjet«-Staats: LENINS Skelett-im-Schrank) bezieht. Aber auch darauf kommt es hier nicht an, denn in diesem Schatten geht das Licht der historischen Figur wiederum nicht auf (ebensowenig wie umgekehrt). In dieser zugestanden: mythologisierten - Figur LENIN ist vielmehr allererst wie in jedem Mythos »das Wahrwort« freizulegen, herauszusprengen, das vom »Lügenwort«, von der bloßen Legende historisch-analytisch getrennt werden muss, um den historischen Gehalt zu retten.- diese Figur verkörpert dann in Wirklichkeit »den ideellen Gesamtrevolutionär« einer bestimmten historischen Fase der proletarisch kommunistischen Emanzipationsbewegung und ihres Übergangskarakters, ihrer Halbheiten, Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, mit einem Wort: ihrer Un-/-Reife -- nicht ökonomistisch-deterministisch, aber historisch materialistisch verstanden.

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Revolutionäre Organisation im Werden: Urbild & Nachbild

Angesichts des leninistischen Jahrhundert- Desasters gilt es auf keinen 'Fall dem Fehlschluss, der Versuchung eines billigen Spontaneismus, eines wohlfeilen Menshevismus zu erliegen. Denn der Spontaneismus, auch der von ROSA LUXEMBURG sowie etlichen Rätekommunisten erfüllt allemal noch den Vorwurf, den LUKÁCS 1924 so formuliert hat, als er -wohlbemerkt- sein idealtypisches Bild »der Partei Neuen Typs«, seiner idealtypisch-leninschen Konzeption von »der« revolutionär-communistischen Organisation, wie sie sein sollte, zeichnet: 

»Sowohl die alte - auch von Kautsky vertretene - Auffassung, dass die Organisation die Voraussetzung des revolutionären Handelns bildet, wie jene Rosa Luxemburgs, dass sie ein Produkt der revolutionären Massenbewegung ist, erscheinen als einseitig und undialektisch. Die die Revolution vorbereitende Funktion der [hier immer: idealtypischen! nicht real-leninistischen] Partei macht aus ihr zu gleicher Zeit und in gleicher Intensität Produzent und Produkt, Voraussetzung und Frucht der revolutionären Massenbewegungen. Denn die bewusste Aktivität der Partei [! s.o.] beruht auf einer klaren Erkenntnis der objektiven Notwendigkeit der ökonomischen Entwicklung, ihre strenge organisatorische Abgeschlossenheit lebt in einer steten, fruchtbaren Wechselwirkung mit den elementaren Kämpfen und Leiden der Massen. Dieser Wechselwirkung ist Rosa Luxemburg stellenweise ganz nahe gekommen. Sie verkennt aber das bewusste und aktive Element an ihr. Darum ist sie ausserstande gewesen, den springenden Punkt derLeninschen Parteikonzeption: diese vorbereitende Funktion der Partei zu erkennen; darum musste sie alle daraus folgenden organisatorischen Prinzipien in der gröbsten Weise missverstehen. 

Die revolutionäre Situation selbst kann natürlich nicht ein Produkt der Tätigkeit der Partei sein. Es ist ihre Aufgabe, vorauszusehen, welche Richtung die Entwicklung der objektiven, ökonomischen Kräfte einnimmt, worin die den so entstehenden Lagen angemessene Verhaltensweise der Arbeiterschaft besteht. Sie hat, dieser Voraussicht entsprechend, die Massen des Proletariats auf das Kommende und auf seine Interessen diesem gegenüber geistig, materiell und organisatorisch soweit wie möglich vorzubereiten. Die Ereignisse und die Lagen, die in ihrer Folge entstehen, sind aber Produkte der sich blind und naturgesetzlich auswirkenden ökonomischen Kräfte der kapitalistischen Produktion. Jedoch auch hier nicht in mechanisch-fatalistischer Weise. ( ... ) Sie hängen von der Umwelt ab, in der sie sich abspielen werden.

In dieser Ganzheit spielen aber die spontan-elementar losbrechenden oder bewusst geleiteten Handlungen der Klassen eine entscheidende Rolle. Und je aufgewühlter eine Gesellschaft ist, je mehr ihre 'normale' Struktur aufgehört hat, richtig zu funktionieren, je stärker ihr sozial-ökonomisches Gleichgewicht gestört ist, das heisst, je revolutionärer eine Situation ist, desto entscheidender wird ihre Rolle. Daraus folgt, dass die Gesamtentwicklung der Gesellschaft im Zeitalter des Kapitalismus keineswegs in einer einfachen, geradlinigen Richtung erfolgt. Es ergeben sich vielmehr aus der Zusammenwirkung dieser Kräfte im gesellschaftlichen Ganzen Situationen, in denen eine bestimmte Tendenz sich verwirklichen kann -, wenn die Situation richtig erkannt und entsprechend ausgewertet wird. Aber die Entwicklung der ökonomischen Kräfte, die dem Anschein nach unwiderstehlich auf diese Situation hingetrieben hat, verfolgt, wenn diese versäumt wird, wenn ihre Konsequenzen nicht gezogen werden, keineswegs ebenso unwiderstehlich die bisherige Linie, sondern schlägt sehr oft ins Entgegengesetzte um. (Man stelle sich die Lage Russlands vor, wenn die Bolschewiki im November 1917 nicht die Macht ergriffen, nicht die Agrarrevolution zu Ende geführt hätten. Eine 'preussische' Lösung der Agrarfrage wäre unter einemkonterrevolutionären, aber im Vergleich zum vorrevolutionären Zarismus modern-kapitalistischen Regime nicht vollständig ausgeschlossen gewesen.)

Erst wenn die geschichtliche Umwelt, in der die [idealtypisch beschaffene] Partei des Proletariats zu wirken hat, erkannt ist, kann ihre Organisation wirklich begriffen werden. Sie beruht auf den ungeheuren, welthistorischen Aufgaben, die die Untergangsepoche des Kapitalismus dem Proletariat stellt (...) Die Massen können aber nur handelnd lernen, nur im Kampf ihrer Interessen bewusst werden. In einem Kampf, dessen ökonomisch-soziale Grundlagen sich inewigem Wechsel befinden, in dem sich deshalb die Bedingungen und Mittel des Kampfes ununterbrochen verändern. ( ... )

Die Partei muss also einerseits die theoretische Klarheit und Festigkeit haben, um allen Schwankungen der Massen zum Trotz, selbst eine vorübergehende Isolierung riskierend, auf dem richtigen Wege zu bleiben. Sie muss aber andererseits zugleich so elastisch und lernfähig sein, um aus jeder, wenn auch noch so verworrenen Äusserung der Massen die den Massen selbst unbewusst gebliebenen revolutionären Möglichkeiten herauszulesen. ( ... ) Zugleich jedoch bedeutet es, dass diese Forderung der Schmiegsamkeit auch auf die Organisation selbst ununterbrochen angewendet werden muss. Eine Organisationsform, die in einer bestimmten Lage für bestimmte Zwecke nützlich gewesen ist, kann bei veränderten Kampfbedingungen geradezu ein Hindernis werden. Denn es liegt im Wesen der Geschichte, stets Neues zu produzieren. Dieses Neue kann nicht durch eine unfehlbare Theorie im voraus errechnet werden: es muss im Kampf, aus seinen ersten sich zeigenden Keimen erkannt und bewusst zur Erkenntnis gefördert werden.

Es ist keineswegs die Aufgabe der [idealtypischen, rein proletarisch-communistischen] Partei, irgendwelche abstrakt ausgeklügelte Verhaltensweise den Massen aufzudrängen. Sie hat im Gegenteil vom Kampf und von den Kampfmethoden der Massen ununterbrochen zu lernen. Sie muss aber auch im Lernen aktiv, die folgenden revolutionären Aktionen vorbereitend, tätig sein. Sie muss das von den Massen spontan, aus richtigem Klasseninstinkt Erfundene mit der Totalität der revolutionären Kämpfe verknüpfen, bewusstmachen; sie muss, nach Marx' Worten, den Massen ihre eigenen Aktionen erklären, um auf diese Weise nicht nur die Kontinuität der revolutionären Erfahrungen des Proletariats zu bewahren, sondern auch die Weiterentwicklung dieser Erfahrungen bewusst und aktiv zu befördern. Die Organisation hat sich als Instrument in die Ganzheit solcher Erkenntnisse und der aus ihnen entspringenden Handlungen einzufügen. Tut sie es nicht, so wird die von ihr unerkannte und darum unbeherrschte Entwicklung der Dinge sie zersetzen. Darum ist jeder Dogmatismus in der Theorie und jede Erstarrung in der Organisation verhängnisvoll für die Partei [- wie LUCÁCS sie konzipiert und dem realen Leninismus unterschiebt zu der Zeit, wo sich genau dieses »Verhängnis« endgültig erfüllte!]. 
( ... )

Die Leninsche Organisation ist insofern selbst dialektisch - also nicht nur Produkt der dialektischen Geschichtsentwicklung, sondern zugleich ihr bewusster Förderer - , als auch sieselbst zugleich Produkt und Produzent ihrer selbst ist. ( ... ) Es ist kein stellvertretendes Handeln für die Klasse, sondern das Aufgipfeln des Handelns der Klasse selbst. Die Partei, die die proletarische Revolution zu führen berufen ist, tritt deshalb nicht fertig an ihren Führerberuf heran: auch sie ist nicht, sondern sie wird. Und der Prozess der fruchtbaren Wechselwirkung zwischen Partei und Klasse wiederholt sich - freilich verändert - in der Beziehung der Partei zu ihren Mitgliedern. Denn, wie Marx in seinen Feuerbach- Aphorismen sagt: 'Die materialistische Lehre, dass die Menschen Produkte der Umstände und der Erziehung, veränderte Menschen also Produkte anderer Umstände und geänderter Erziehung sind, vergisst, dass die Umstände eben von den Menschen verändert werden und dass der Erzieher selbst erzogen werden muss.' [aus: These 3 ad Feuerbach, MEW 3, S.5]«

( G.LUKÁCS: LENIN - STUDIE ... (1924) 1967, S.30-35; Unterstreichungen sowie Zusätze in [ ] von mir - Zwi) 

Gerade diese letzte dialektische Zuspitzung auf die historische revolutionäre Organisation im Werden, in der und mittels derer permanent »die Erzieher selbst erzogen werden« vom Proletariat, dessen bloßer immer vorwärts treibender, internationalistischer und sich bewusst wissenschaftliche Einsicht in den Gang der kapitalistischen Totalität erarbeitender Teil sie ist, also niemals »die Gesellschaft in zwei Teile - von denen der eine über ihr erhaben ist - sondieren« (aus These 3 ad Feuerbach weiter), niemals als unmündige Masse behandeln und »repräsentieren«, niemals die proletarischen Bewegungen modeln wird, sondern »lediglich« ihnen ihre eigenen Aktionen erklären, sich selbst bewusstmachen hilft - alle diese hier entwickelten Maximen zeigen heute nur noch auf, was die reale »Partei LENINS « gerade nicht, zumindest nicht hinreichend gewesen ist. Was LUKÁCS in seiner typischen »listig äsopischen Apologie« schon damals, am frischen Grab des historischen LENIN und der zementenen Totgeburt des stalinistischen »Leninismus«, aber eigentlich aufweist, sind die revolutionären Wesensmerkmale einer jeden proletarisch-communistischen Organisation sui generis, wie sie etwa noch ein halbes Jahrhundert später die »Minimale Definition der Revolutionären Organisation(en)« der Situationistischen Internationale notwendig abdeckt und neu formuliert. Ihr zufolge 

»... besteht die unmittelbare Aufgabe der Revolutionäre darin, die Grundsätze der Räte- Organisation festzusetzen, die in allen Ländern im Entstehen begriffen sind (...,) eine egalitäre und wirkliche Debatte einzuleiten. Aus ihr werden nur die ausgeschlossen, die sich weigern, sie in dieser Form zu stellen, und diejenigen, die sich heute im Namen eines subanarchistischen Spontaneismus zu Feinden jeder Organisationsform erklären und nur die Fehler und die Konfusion der alten Bewegung reproduzieren - diese Mystiker der NichtOrganisation, seien es Arbeiter, die durch einen allzu langen Aufenthalt bei trotzkistischen Sekten entmutigt wurden, oder Studenten, die in ihrer elenden Lage gefangen bleiben und unfähig sind, dem bolschewikischen Organisationsmodell zu entgehen.

Selbstverständlich befürworten die Situationisten die Organisation - davon zeugt die situationistische Organisation selbs. Diejenigen, die ankündigen, sie seien mit unseren Thesen einverstanden, indem sie der S.I. gleichzeitig einen verschwommenen Spontaneismus zuschreiben, können nicht einmal lesen. Gerade, weil die Organisation nicht alles ist und es nicht ermöglicht, alles zu retten bzw. zu gewinnen, ist sie unerlässlich. Im Gegensatz zu dem, was der Schlächter Noske (in: 'Von Kiel bis Kapp') über den 6.Januar 1919 schreibt, konnten die Massen nicht deswegen 'Berlin an diesem Tag um Mittag nicht in ihre Gewalt bekommen', weil sie 'Schönredner' hatten statt 'entschlossene Führer', sondern weil die autonome Organisationsform der Fabrikräte eine derartige Entwicklungsstufe der Autonomie noch nicht erreicht hatte, dass sie 'entschlossene Führer' und eine getrennte Organisation zur Herstellung der Verbindungen hätten entbehren können. Ein weiterer Beweis ist das schmachvolle Beispiel vom Mai 1937 in Barcelona: Dass als Antwort auf die stalinistische Provokation so schnell zu den Waffen gegriffen wurde, dass aber auch dem, von den anarchistischen Ministern erteilten, Ergebungsbefehl so schnell gehorcht werden konnte, sagt viel über die enorme Fähigkeit zur Autonomie der katalanischen Massen und gleichzeitig über das, was ihnen noch an Autonomie fehlte, um siegen zu können. Auch morgen entscheidet noch der von den Arbeitern erreichte Grad an Autonomie unser Schicksal. Die im Entstehen begriffenen Räte-Organisationen werden es also nicht versäumen, die von der VII. S.I.-Konferenz gebilligte 'Minimale Definition der Revolutionären Organisationen' [siehe in: SITUATIONISTISCHE INTERNATIONALE NR.11/1967 , S.304ff] anzuerkennen und wirklich als ein Minimum für sich wiederaufzunehmen. (...) Es gibt heute einige Organisationen, die heimtückisch behaupten, sie seien keine. Durch diese Erfindung können sie es gleichzeitig vermeiden, sich um die einfachste Klärung der Grundlage zu kümmern, auf der sie die ersten besten zusanwxnbringen (indem sie sie auf magische Weise 'Arbeiter' nennen); so ist es weiter möglich, den Halbmitgliedern von der informellen Führung keine Rechenschaft abzulegen, die allein schaltet und waltet; irgend etwas zu sagen und vor allem jede andere mögliche Organisation und jede von vornherein verdammte theoretische Aussage zu verurteilen, indem man alles in einen Topf wirft.« (SITUATIONISTISCHE INTERNATIONALE Nr.12/1969 , S. 402f, 405) 

Es sind Wesen, Substanz und Grundprinzipien dieser in der Tat notwendigen »Organisation-im-Werden«, die LUKÁCS »der Parteikonzeption LENINS « stillschweigend unterstellte, als er sie idealtypisch zur minimalen Definition jeder proletarisch-revolutionären Organisation für den Communismus werden liess. In Wirklichkeit legte er damit - auch für uns nach allem, was im dadurch geprägten Jahrhundert an Desillusionierung möglich geworden ist - umgekehrt das Ungenügen, ja die Lüge, aber doch auch wahre Gestalt der LENIN schen Partei gemessen an ebendiesen communistischen Organisationskriterien bloß: theoretisch kam sie in WOMIT BEGINNEN? , WAS TUN? , EIN SCHRITT VORWÄRTS - ZWEI SCHRITTE ZURÜCK usw. noch nicht einmal an die von ihr bei LUKÁCS entworfene Reflektion heran! Und praktisch: da hat sie auf Russland beschränkt allerdings ihr Bestes und Äusserstes geleistet, nämlich die radikalste bürgerliche Diktatur der »Jakobiner mit dem Volk« durchzusetzen, also der zeitweilig möglichen politischen Doppelrepräsentation von Bourgeoisie (die als große und grundbesitzverbundene selber im Interesse der bürgerlichen Revolution auszuschalten war!), einschliesslich Kleinbürgertum (vor allem bäuerliches), einerseits - und Proletariat (selbst noch in großem Ausmaß mit Dorfarmut und Parzellenbauerntum verbunden und vernabelt) andererseits, um endlich die halbasiatische Stagnation zu durchbrechen und die Völker des Russischen Reichs in die Dynamik der kapitalistischen Akkumulation hineinzustürzen: die »Zivilisierung mit barbarischen Mitteln«, wie LENIN das nannte, heraus aus »der verfluchten Rückständigkeit« und »Oblomowerei«...

Dieses Regime hatte einen historischen Moment hindurch tatsächlich den Karakter einer»Regierung der Arbeiterklasse« (KARL MARX) , eben aufgrund des Zusammengehens, »ja bis zu einem gewissen Grad sogar Verschmelzen« (LENIN) mit dem Proletariat in Gestalt der Sovjets. Diese vorübergehende relative Identität von bürgerlicher und proletarischer Mission, bürgerlicher und proletarischer Diktatur, bürgerlich-radikaler (jakobinistischer) und radikal proletarischer (communistischer) Organisation ist in der Doppelgestalt der »Partei LENINS « so dialektisch historisch verkörpert, dass die herkömmlichen dualistischen Deutungsmuster (entweder nur als rein bürgerliche oder nur als rein proletarische Gestalt) hinfällig und gleichermaßen unhistorisch-verfehlt bleiben ( - das gilt tendenziell auch für meine eigene Skizze DAS PROLETARIAT ALS ERZIEHUNGSOBJEKT - KURZER LEHRGANG in ÜBERGÄNGE 4/1997 , S.97f).

Bleiben die Deutungen des LENIN -Fänomens hängen in der - allerdings zunächst notwendigen! - analytischen Zerlegung in bürgerlichen und proletarischen Anteil, wobei die Akzentuierung - als solche ebenso notwendig! - dann aber das jeweils Nichtidentische aus dem identischen Ganzen herauslöst und verabsolutiert, historisch extrapoliert, anstatt als historischen Übergang zu dialektischer Darstellung zu synthetisieren und damit approximativ zur begriffenen Totalität zu konkretisieren, dann »erklären« solche Deutungsurteile alles und verstehen gar nichts. Was wir versuchen müssen zu verstehen - in einer dialektisch-hermeneutisch-fänomenologischen Anstrengung materialistischer Wissenschaft -, ist das reale historische Problem des bürgerlich-proletarischen Doppelprojekts der LENIN, TROTSKI e.a., eine solche notwendig bürgerliche Revolution nachzuholen (»ein- und überholen!«), die von Anbeginn ihrer proletarischen Durchsetzung bewusst über ihren bürgerlichen und demokratischen Inhalt hinausgetrieben und als Übergang in den Communismus (erste Fase), sprich »revolutionärer Sozialismus« ( MARX ), durchgeführt werden soll:

»Dieser Sozialismus ist die Permanenzerklärung der Revolution, die Klassendiktatur des Proletariats als notwendiger Durchgangspunkt zur Abschaffung der Klassenunterschiede überhaupt zur Abschaffung sämtlicher Produktionsverhältnisse, worauf sie beruhen, zur Abschaffung sämtlicher gesellschaftlicher Beziehungen, die diesen Produktionsverhältnissen entsprechen, zur Umwälzung sämtlicher Ideen, die aus diesen gesellschaftlichen Beziehungen hervorgehen.« (MEW 7, 89f) 

An dieser programmatischen Permanenz allein sind Konzeption wie Resultate des Projekts der BOLSHEVIKI zu bemessen. 

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Führerstaat als Avantgarde des Staatskapitalismus

Diese Repräsentationsform für die proletarische Klasse hat also das Doppelgesicht von Höherem Wesen als Tribunat nach der einen Seite (- gern und treffend wird LENIN ja als »Tribun« gekennzeichnet, so z.B. bei G.LUKÁCS (1967) , der von seiner »hinreissenden Massenwirkung« spricht: 

»Wieder im Gegensatz zu den bisherigen Typen großer Revolutionäre ist er ein Volkstribun ohnegleichen, ohne (..) alles Phrasenhafte, alles Gespreizte, alles Übertriebene. Es ist aber wieder bezeichnend, dass auch diese politisch-menschliche Ablehnung alles 'Exorbitanten' bei ihm eine objektiv-philosophische Begründung erhält: 'Denn jede Wahrheit kann ... wenn man sie übertreibt, wenn man die Grenzen ihrer wirklichen Geltung überschreitet, zur Absurdität werden, ja sie muss unter solchen Umständen unvermeidlich zur Absurdität werden.'« Dieser Tribun verkörpert strengstens Mittelmaß, Mitte und Vermittlung zwischen den zusammengehenden Klassenaufträgen. In ihm hatte die russische Revolution ihren »Robespierre« gefunden, wie der sozialdemokratische Westler PLEKHANOV in paternatistisch-orthodoxer Schwärmerei für den jungen ULJANOV treffend bemerkte.

»Lenin war als marxistischer Denker nur der konsequente und treue Kautsyaner, der die revolutionäre Ideologie [»Ideologie« bei den Situationisten immer nur im pejorativen Sinne von »falschem, verkehrten Bewusstsein«] dieses 'orthodoxen Marxismus' unter den russischen Bedingungen anwandte, die die reformistische Praxis nicht zuliessen, welche im Gegenteil von der II.Internationalen durchgeführt wurde. Die äussere Führung des Proletariats, die vermittels einer den zu 'Berufsrevolutionären' gewordenen Intellektuellen unterstellten disziplinierten, geheimen Partei handelt, besteht hier in einem Beruf, der mit keinem Führungsberuf der kapitalistischen Gesellschaft paktieren will (übrigens war das politische Regirne des Zarismus ausserstande, eine solche Öffnung zu bieten, deren Basis in einem fortgeschrittenen Stadium der Macht der Bourgeoisie besteht). Sie wird also zum Beruf der absoluten Führung der Gesellschaft. (...) Die Ergreifung des staatlichen Monopols der Repräsentation und der Verteidigung der Macht der Arbeiter, die die bolshevikische Partei rechtfertigte, liess sie zu dem werden, was sie war: Partei der Eigentümer des Proletariats, diedie bisherigen Formen des Eigentums im wesentlichen beseitigte.« ( GUY DEBORD: DIE GESELLSCHAFT DES SPEKTAKELS. THESEN 98,102 )

Mit STALIN wurde der »Klassenführer« und »Massenführer« dann zur Figur des Volksführers, Führers (voshd), Vater des Vaterlandes (zugleich der Werktätigen im Weltmaßstab) und schliesslich Welt-Heiland wie Weltenrichter ( ERNST BLOCH 1937: »Stalin, Richtgestalt der Liebe«) - und als Staatsdespotie nach der anderen Seite ( LENIN definiert die Diktatur des Proletariats als die in letzter Instanz an nichts als Gewalt gebundene Herrschaft der Partei, ja des Führers »der Klasse« - d.h. ohne Arbeiterdemokratie, Arbeiterkontrolle usw. Verwirklicht war diese Diktatur schon ab 7.12.1917, der Gründung - direkt durch LENIN - der »Allrussischen Ausserordentlichen Kommission zur Bekämpfung der Konterrevolution und Sabotage«, WTsheKa, dieses Geheimstaats-im-Staate, der wie auch seine Nachfolgeformen OGPU, NKWD, MWD, MGB ... bis KGB direkt dem Befehl des Partei- Führers unterstehen, ist dieser Geheimpolizei- Orden doch »Schwert und Schild der Partei«.) Es ist das Doppelgesicht des Staatsfetischismus: 

»Der grundlegende ( ... ) Satz des Marxismus, dass die Menschen ihre Geschichte selbst machen, erhält im Zeitalter der Revolution, nach der Ergreifung der Staatsmacht, eine sich stets steigernde Bedeutung, wenn auch selbstredend seine dialektische Ergänzung durch die Bedeutung der nicht selbstgewählten Umstände zu seinem Wahrbleiben unerlässlich ist. Das bedeutet praktisch, dass die Rolle der Partei in der Revolution - der große Gedanke des jungen Lenin - im Zeitalter des Übergangs zum Sozialismus noch größer und entscheidender wird, als sie es in der vorbereitenden Epoche gewesen ist. ( ... ) Diese Bedeutung der aktivgeschichtlichen Rolle der Partei des Proletariats ist ein Grundzug der Theorie und deshalb der Politik Lenins, den er nicht müde wird immer wieder hervorzuheben und seine Bedeutung für die praktischen Entscheidungen zu betonen. So sagt er am XI. Parteitag, als er die Gegner der staatskapitalistischen Entwicklung bekämpft hat: 'Der Staatskapitalismus ist jener Kapitalismus, den zu beschränken, dessen Grenzen festzustellen wir imstande sein werden; dieser Staatskapitalismus ist mit dem Staate verbunden, und der Staat, das sind Arbeiter, der vorgeschrittenste Teil der Arbeiter, die Avant- Garde, das sind wir... Und das hängt schon von uns ab, wie dieser Staatskapitalismus sein wird.' Darum ist jeder Wendepunkt in der Entwicklungzum Sozialismus stets und in entscheidender Weise zugleich ein inneres Problem der Partei. Eine Umgruppierung der Kräfte, eine Anpassung der Parteiorganisationen an die neue Aufgabe: die Entwicklung der Gesellschaft in dem Sinne zu beeinflussen, den die sorgsame und genaue Analyse des Ganzen vom Klassenstandpunkt des Proletariats ergibt. Darum steht in der Rangordnung der entscheidenden Mächte im Staate - der wir sind - die Partei auf der allerhöchsten Stufe.« (G.LUKÁCS (1924): LENIN - STUDIE ..., S. 83f Hervorhebungen von ihm!) 

In seiner genuin bürgerlichen Ausprägung, klassisch bei den Jakobinern ( MARAT - L'AMI DU PEUPLE als Volkstribun und republikanischer »Diktator« in spe; ROBESPIERE - L'INCORRUPTIBLE der »Kleinen Leute«, zuletzt HoherPriester »des Höchsten Wesens und der Natur«), setzen die Ausgebeuteten und Unterdrückten ihre eigene Macht. sich selbst als politische Personifikation gegenüber, die zugleich ihr Repräsentant wie messianische Mystifikation ist: der politische Mittler, Heiler, Anwalt, Erlöser (»hinreissende Massenwirkung« gerade bei schlichtester, ja ärmlicher Volkstümlichkeit der Erscheinung; als Arzt, Advokat Intellektueller, Schullehrer, ehemaliger Priester, der aber herabgekommen ist, um sich »fürs Volk zu opfern«). Dessen lkone wird alsbald zum Fetisch, der die gesellschaftliche Selbsttätigkeit »des Volkes«, »des Proletariats« zunehmend mehr ersetzt, lähmt (unter dem Anschein, sie zu stimulieren), erdrückt und schliesslich abwürgt (als Opfernder MONSIEUR MAXIMUM, dann Gekreuzigter im »Thermidor« und als Auferstandener und Würger im »Brumaire«) als dass er sie noch ausdrückt.

Die Revolution schlägt damit irgendwann um in Konterrevolution, zunächst selber noch im Namen »der Revolution«, ihrer Rettung, Konsolidierung, Regulierung auf die »Mitte« hin. Nicht also, ohne dass bestimmte Resultate, soziale Gehalte der Revolution in die Konterrevolution eingehen, von dieser aufgehoben, erbeutet, geplündert, rekuperiert werden. Dieses gesetzmäßig-dialektische Umschlagen von revolutionärem und konterrevolutionärem Moment ineinander ist jeweils nicht einfach in seinen fliessenden Übergängen zu periodisieren und lässt sich nicht durch das theoretische Postulat »Revolution in Permanenz!« wegdekretieren.

Das konkrete »Wie« ist entscheidend, nicht der Nachdruck des Willens allein (d.h. der »revolutionäre« Terror): wie kann jeweils in der historischen Situation das Moment der Konterrevolution (wieder) in ein Moment der Revolution gewendet werden, so dass die permanente Revolution auch wirklich gerettet wird und weitergehen kann. Umgekehrt: selbst z.B. die » Dritte, proletarische Revolution«, die in der RSFSR 1921 von Kronstadt auszugehen »drohte«, konnte nach Einschätzung einiger kommunistisch-pro-bolshevikischer Zeitzeugen (hier sei vor allem verwiesen auf VICTOR SERGE: ERINNERUNGEN ...KAPITEL VIIl sowie S.392f! ) gerade dadurch in ein Moment der Konterrevolution verwandelt werden, dass das Regime der Bolsheviki die Einigung auf revolutionärer Seite (durch Verhandlungen, Aussprache, Vermittlung, die allemal möglich gewesen sind, ja von den Kronstädtern gesucht und gefordert wurden!) vereitelte; genauso wie gegenüber der revolutionären MACHNO -Bewegung ( VICTOR SERGE S.103f, 137-141, 160 ) , deren sich das Regime im Kampf gegen die Weissen effektiv verbündet bediente, die es aber im selben Zuge wortbrüchig zu Fall brachte und diese revolutionären Bewegungen regelrecht gewaltsam auf die Seite der Konterrevolution zu treiben versuchte, wo diese Arbeiter, Matrosen, Bauern usw. sich keineswegs befanden, - nur um deren revolutionäre Anliegen als »die Partei«, d.h. das unumschränkt herrschende staatliche Regime, mit dem 10.Parteikongress zu übernehmen (Beendigung des »Kriegskommunismus«; VICTOR SERGE S.154-157, 177 ) , das konterrevolutionäre Moment, Beseitigung der Rätemacht und damit Diktatur der Arbeiterklasse selbst, aber erst recht rnithilfe dieses revolutionären Moments zu konsolidieren. Indem so das konterrevolutionäre Moment zum übergreifenden gemacht wurde (auch dies als nicht ganz klar und einfach zu periodisierender Prozess), vollzog sich mit Willen und Bewusstsein der bolshevikische Thermidor, später Brumaire usw. usf. Damit wird die Mittlerrolle des Staats / der Partei zum Selbstzweck, die Revolution entlässt ihre Kinder als Konterrevolutionäre, die ihre Eltern fressen; die Diktatur des Proletariats, soweit sie es dem Klassengehalt nach wirklich jemals war, wird ersetzt durch die Diktatur der bürgerlichen Partei und ihrer »Transmissionsriemen«, durch einen bürgerlichen Staat, also wieder ganz und gar »Staat im eigentlichen Sinne«, den Staat schlechthin, fertige Staatsmaschine, Boa Constrictor und schmarotzenden Auswuchs an der bürgerlichen, wieder und sich erneuernden bürgerlichen, Gesellschaft, mithin einen bürgerlichen Staat neuen Typs (in der SU nach LENlNS eigener Analyse letzter Hand noch dazu ein bürgerlich-zaristisches Gemisch), in welchem die Repräsentanten des proletarischen Elements und der kommunistischen Revolutionsperspektive »ersaufen wie die Fliege in der Milch«, bevor ihre letzten Reste von der offenen Konterrevolution des bonapartistischen STALIN -Staats wie späte BABOUVISTEN gejagt und ausgerottet werden. 

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Der zeternde Profet

Bei diesem ganzen Vorgang vom Weiterbestehen eines zwar »bürokratisierten« (- als ob es auch nur eine Sekunde ohne Bürokratie gegeben hätte! Der »unbürokratische« Gründungsakt der TsheKa ist das beste Beispiel von deren Dominanz ab ovo des bolshevisierten »Sovjet«-Staats ... VICTOR SERGE S. 95f, 116ff ) , »deformierten« »Arbeiterstaats« (das ist begrifflich nichts als die Verengung des »Volksstaats« auf die Arbeiter, und die definiert LENIN als »Arbeiter, vorgeschrittene Arbeiter, wir«, also auch nur wieder die Parteiarbeiter=Bürokraten selbst - deformiert ist hier lediglich der Begriff des Staats!) zu sprechen, ist krampfhafter trotskistischer Selbstbetrug und Betrug an eben den dieser Staatsräson zum Opfer freigegebenen revolutionären kommunistischen Proletariern, denen man nach Bedarf wie Trotski dem Kronstädter Proletariat zuruft: »Wir werden euch abknallen wie die Karnickel.« Der bewaffnete Profet hat damit genau der Entwaffnung seiner eigenen Opposition den Weg vorgezeichnet und deren Abknallen in den NKWD-Hinterhöfen und Komlntern- Schmutzecken von China bis Spanien, was das Gezeter über den STALIN -Staat von dieser Seite ebenso schrill wie unglaubwürdig klingen lässt. ( VICTOR SERGE über TROTSKI, mit dem er in der SU zusammen kämpfte und verfolgt wurde: 

» Unser Programm der unbeugsamen Opposition sollte sich bis 1937 nicht ändern; es war die Reform des Sovietstaats durch die Rückkehr zur Arbeiterdemokratie.« ERINNERUNGEN ... S.289. 

V.SERGE beschreibt kennzeichnend sowohl das Format von TROTSKI, dessen nicht minder mitreissende, »immer mit einer wesentlich aus dem Willen kommenden Leidenschaft« gespeiste Führerqualität, S. 110 , wie dessen zeitweilige Klarsicht, so z.B.: »ich erinnerte mich, gegen Trotski selbst [1937/38], eines Satzes von verblüffendem Scharfsinn den er, glaube ich, 1914 geschrieben hatte: 'Der Bolshewismus wird ein gutes Instrument zur Eroberung der Macht sein können, aber danach werden seine konterrevolutionären Aspekte offenbar werden...'» S. 393 , oder als TROTSKI in größerer Hellsicht als LENIN, schon im Februar 1920 das Ende der Zwangsrequirierungen vorschlug, d.h. des »Kriegskommunismus« S.136, 162. Als auch TROTSKI'S Taktiererei und Op(por)timismus hinsichtlich dem »Weg zum Sozialismus« 1926 (14.Parteitag) ... : »Und wenn wir ausgeschlossen werden? - [1926/27] Trotski erklärte, dass uns 'in Wirklichkeit nichts von unserer Partei trennen'könne.« S.247 - Was VIKTOR SERGE über den »Verzicht« TROTSKI'S auf Putsch 1925/26 sagt, S.263f , galt alles schon für den Putsch gegen den KRONSTÄDTER SOVJET 1921. - 1927/28 ist der Schlächter von Kronstadt und Militarisierer der Arbeit (mit SINOVJEV und KAMENJEV ) plötzlich für die Unabhängigkeit der Gewerkschaften und fürs Streikrecht; die Plattform spricht sich dafür aus, »den Räten wieder Leben einzuflößen und vor allem [!] die Partei und die Gewerkschaften neu zu beleben«!! »Die Opposition verlangte in aller Unschuld ... Anwendung der ausgezeichneten Entschliessungen über die innere Demokratie, die 1921 und 1923 gefasst worden waren« ! S .252 - Jetzt stand die Opposition ohne die von ihr mit-enthauptete Arbeiterklasse da: »Die Masse der Arbeiter zeigte sich gleichgültig für unsere Streitigkeiten. Die Leute wollten in Frieden leben.« S.248 - 1928: »Oppositionelle und Offizielle überboten sich in der Treue zur Partei, wobei die Oppositionellen bei weitem aufrichtiger waren... ( ... )

Aus seinem Exil in Alma Ata behauptete Trotski, dieses Regime bleibe das unsere, proletarisch, sozialistisch, wenn auch krank, und die Partei, die uns ausstiess, ins Gefängnis warf, die anfing uns zu ermorden, blieb die unsere und wir verdankten ihr weiterhin alles; nur für sie durften wir leben, denn nur durch sie konnten wir der Revolution dienen. Wir waren besiegt durch den Parteipatriotismus; die Partei forderte unsere Empörung heraus und stellte uns gegen uns selbst.« S. 274 - »1928 und 1929 schlossen sich viele Oppositionelle der 'Generallinie' an, schworen ihren Irrtümern ab, da man ja, wie sie sagten, 'trotzdem unser Programm anwendete' - und auch wieder, weil es besser war, sich zu unterwerfen und Fabriken zu bauen, als die großen Grundsätze [die Arbeiterdemokratie etc., S.O.] in der erzwungenen Untätigkeit der Gefangenschaft zu verteidigen. - Der Drang zur Unterwerfung riss 1928 und 1929 die Mehrzahl der 5000 (bis 8000) verhafteten Oppositionellen mit. (...) Die Rechtsopposition [ BUKHARIN, RYKOW, TOMSKI ] war mehr ein Geisteszustand als eine Opposition, und zu Zeiten umfasste sie mit der Sympathie des ganzen Landes die große Mehrheit der Beamtenschaft. Ende 1928 schrieb uns Trotski aus Alma Ata, da die Rechte die Gefahr eines Abgleitens zum Kapitalismus bedeute, müssten wir gegen sie das 'Zentrum' stützen - Stalin. Stalin liess bis in die Gefängnisse hinein bei denFührern der Linksopposition sondieren: ' Werdet ihr mich stützen, wenn ich euch wieder in die Partei aufnehme?' » S. 283f 

»Wir [auf den Gefängnishöfen, den letzten Zufluchtsorten der freien sozialistischen Forschung in der UdSSR,] waren [1930 ... ] untröstlich zu erfahren, dass sich Trotski, von seinem Parteipatriotismus schlecht beraten, in mehreren wichtigen Fragen arg getäuscht hatte. Nach Blumkins Hinrichtung, einem regelrechten Verbrechen der GPU, verteidigte er noch das Prinzip der Inquisition. Später hielt er 'die Sabotage, die Verschwörungen' der Techniker und der Mensheviken für wahr, weil er sich nicht vorstellen konnte, bis zu welchem Grade der Unmenschlichkeit, des Zynismus und der Psychose unser Polizeiapparat gelangt war. ( ... ) S.291 - Am 14.8.1936 wird der »Prozess der 16« angekündigt, gegen SINOVJEV, KAMENJEV, SMRNOV e.a.: »Ich verstand, und schrieb es sofort, dass dies der Anfang zur Ausrottung der ganzen alten revolutionären Generation war.« VIKTOR SERGE S.372 - Dem SU-Lager knapp entronnen, erkennt der 1938 mit TROTSKI Brechende im Exil das Verfehlte der Gründung durch und Fixierung auf den Sektenführer der »IV.Internationale«: 

»Unsere Oppositionsbewegung in Russland war nicht trotzkistisch gewesen, denn wir gedachten sie nicht an eine Persönlichkeit zu binden, da wir ja gerade gegen den Führerkult rebellierten. Der Alte war für uns nur einer unserer größten Genossen, ein Älterer, dessen Gedanken wir freimütig diskutierten. Jetzt, zehn Jahre später, nannten ihn winzig kleine Parteien ( ... )'unseren ruhmreichen Führer', und wer immer in den Kreisen der 'IV.Internationale' sich erlaubte, Einwände gegen seine Thesen zu erheben, wurde prompt ausgeschlossen und mit genau den gleichen Ausdrücken beschimpft, die die Bürokratie in der UdSSR gegen uns gebraucht hatte.« Darin erweist sich »der Trotzkismus« als Spiegelbild des »Marx«-Ismus-Leninismus-Stalinismus mitsamt dem dazugehörigen, ihn immunisierenden »Apparat« (egal wie groß oder wie klein): auch dieser »eine Verteidigung der doktrinären Orthodoxie, die einen gewissen Demokratismus nicht ausschloss, obgleich sie von Grund auf autoritär war. Diese beiden miteinander verschmolzenen Tendenzen hatten zwischen 1923 und 1928 der starken Persönlichkeit Trotzkis eine mächtige Aureole gegeben. Wenn er sich, aus der SU verbannt, als Ideologen eines erneuerten Sozialismus im Geiste der Kritik hingestellt hätte, der weniger die Verschiedenheit der Meinungen als den Dogmatismus fürchtete, so hätte er vielleicht eine neue Größe erlangt. Aber er war derGefangene seiner eigenen Orthodoxie, um SO mehr, als man es ihm als Verrat anrechnete, dass er gegen sie verstoße. Er wollte in der Welt ausserhalb Russlands der Fortsetzer einer Bewegung sein, die in Russland selbst erledigt wag zweimal getötet: durch die Pistolenschüsse der Henker und durch die Veränderungen der Mentalität.« VICTOR SERGE ERINNERUNGEN ... S. 392ff )

Wenn nun, im letzten Jahrzehnt des Jahrhunderts der Konterrevolution, das trotzkistische Sektenwesen zum ersten und letzten Mal seine historische Chance gekommen glaubt, da es vermeintlich jenseits von gut und böse der leninistischen Pseudorevolution das letzte Aufgebot stellt, ist das längst gefällte Urteil über den tragischen »Profeten« zur Kenntnis zu nehmen, der sowohl Geburtshelfer wie Totengräber des Sovjet als bedeutendster gescheiterter Selbstregierungsform des revolutionären Proletariats gewesen ist. Als »der deformierte Arbeiterstaat« SU im August 1968 mit der einst von TROTSKI geschaffenen »Roten Armee« und »Warschauer-Pakt«-Truppen die inzwischen ebenso »deformierte« CSSR überfallen und okkupiert hatte, weil das dortige Proletariat die Deformation endgültig satt hatte und u.a. mit einer offenen Kritik des LENIN ismus begonnen hatte, »weil er logischerweise zum Stalinismus führt«, wie es manche ausdrückten, - da konnte die SITUATIONISTISCHE INTERNATIONALE vorläufig urteilen: 

»Es sieht so aus, als ob die Geschichte der letzten zwanzig Jahre sich als einzige Aufgabe gestellt hätte, Trotzkis Analyse der Bürokratie zu widerlegen. Selbst Opfer einer Art 'Klassensubjektivismus', wollte Trotzki sein ganzes Leben lang die stalinistische Praxis nur als Abweichung einer Schicht von Usurpatoren, als eine 'Thermidor-Reaktion' betrachten. Als ldeologe der bolshevikischen Revolution konnte Trotzki nicht zum Theoretiker der proletarischen Revolution während der stalinistischen Restauration werden. Er weigerte sich, die Bürokratie an der Macht als das zu erkennen, was sie ist, nämlich eine neue ausbeutende Klasse, und so versagte sich dieser Hegel dir verratenen Revolution eine wirkliche Kritik an ihr. Die theoretische und praktische Ohnmacht des Trotzkismus - in allen seinen Varianten war zum großen Teil in dieser Erbsünde seines Meisters schon enthalten. ( ... )

Man verändert keine Gesellschaft, indem man den Apparat ändert, sondern indem man sie von Grund auf umwälzt. Von da an [d.h. im »Prager Frühling«] wurde die bolshevikische Auffassung einer die Arbeiterklasse führenden Partei kritisiert und nach der autonomen Organisationdes Proletariats verlangt - was Todesnähe für die Bürokratie bedeutete. Für sie kann tatsächlich das Proletariat nur als imaginäre Macht vorhanden sein, sie würdigt es soweit herab - bzw. sie versucht es -, bis es nur noch ein Schein ist, aber sie will, dass dieser Schein existiert, und sie glaubt an seine Existenz. Indem sie ihre Macht auf den Formalismus der Ideologie gründet, macht die Bürokratie ihren Inhalt aus ihren formalen Zielen und gerät damit überall in Konflikt mit den wirklichen Zielen. Dort, wo sie sich des Staates und der Ökonomie bemächtigt, dort, wo das allgemeine Interesse des Staates ein besonderes und folglich ein wirkliches Interesse wird, fängt die Bürokratie an, gegen das Proletariat zu kämpfen, so wie jede Konsequenz gegen das Vorhandensein ihrer Voraussetzungen kämpft. (...)

Die emotionale Bindung an diese oder jene Persönlichkeit gehört zur Epoche des Elends des Proletariats, d.h. zur alten Welt.« fügten sie noch hinzu, wobei sie schon gar nicht mal so sehr noch diese Ikone im Auge hatten ( S.I. Nr.12, S.365, 369, 371 bzw. S.284, 287, 290 ).

»Die leninistische Illusion hat heute nur noch in den verschiedenen trotzkistischen Richtungen eine Basis, in denen die ldentifizierung des proletarischen Projekts mit einer hierarchischen Organisation der Ideologie unerschütterlich die Erfahrungen alt ihrer Ergebnisse überlebt. Die Distanz, die den Trotzkismus von der revolutionären Kritik der gegenwärtigen Gesellschaft trennt, erlaubt ihm auch seine respektvolle Distanz gegenüber Positionen, die bereits falsch waren, als sie sich in einem wirklichen Kampf abnutzten. Trotzki blieb bis 1927 mit der hohen Bürokratie von Grund aus solidarisch und versuchte gleichzeitig, sich ihrer zu bemächtigen, um sie zur Wiederaufnahme einer wirklichen bolshevikischen Aktion im Ausland zu bewegen (es ist bekannt, dass er damals sogar verleumderisch seinen Kampfgefährten Max Eastman verleugnete, um mitzuhelfen, das berühmte 'Testament Lenins' zu verheimlichen, das dieser bekannt gemacht hatte). Trotzki wurde durch sehne grundlegende Perspektive verurteilt, denn im Moment, in dem die Bürokratie sich selbst in ihrem Ergebnis als konterrevolutionäre Klasse im Inland erkennt, muss sie sich auch dazu entscheiden, im Ausland im Namen der Revolution tatsächlich konterrevolutionär zu sein, so wie im Inland. Der spätere Kampf Trotzkis für eine IV.Internationale enthält die gleiche Inkonsequenz. Er hat sich sein ganzes Leben lang geweigert, in der Bürokratie die Macht einergetrennten Klasse anzuerkennen, weil er während der zweiten russischen Revolution ein bedingungsloser Anhänger der bolschevikischen geworden war. Als Lukács 1923 in dieser Form die endlich gefundene Vermittlung zwischen Theorie und Praxis zeigte, bei der die Proletarier nicht mehr 'Zuschauer' der Ereignisse sind, die in ihrer Organisation geschehen; sondern sie bewusst gewählt und erlebt haben, beschrieb er als tatsächliche Verdienste der bolschewikischen Partei all das, was die bolschewikische Partei nicht war. (...)« ( GUY DEBORD: DIE GESELLSCHAFT DES SPEKTAKELS. THESE 112 )

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Pseudo-Entstaatlichung

Ob bewaffneter oder unbewaffneter »Profet« oder Tribun, Führer der Klasse und der Massen, Wohlfahrts- und Sicherheitsausschuss, Generalsekretariat, Kommissariate und Inspektion, TsheKa und »Wachhund der Revolution« (DSJIERSHINSKI) - die »Jakobiner mit dem Volk« sind aufgrund ihres eingefleischten Staatsfetischismus - der »proletarische« Staat als Repräsentant, die Partei »des Proletariats« als einziger Mittler ( TROTSKI: »Dampfzylinder«) der Revolution, wenn nicht ihr Schöpfer selbst ( LENIN: »Gebt uns eine Organisation ... und wir werden ...«) und jedenfalls als letztinstanzlicher Heiliger Geist »Orthodoxie« ( LENIN: » Der Marxismus ist allmächtig, weil er wahr ist.«) - von vornherein immer nur auf einem Weg: auf dem Weg der politischen Revolution »bis ans Ende« (LENIN) , d.h. zur Verwirklichung des homme citoyen. Dieser ist aber die bloße Kehrseite des homme bourgeois, und der Glaube an die trinitarische Form (Grundeigentum, Kapital, Lohnarbeit als Quellen allen Reichtums) seine Alltagsreligion. Die jakobinistische Staats-Religion ist die konzentriert politische Form dieses Fetischglaubens an die Fetischgestalten der bürgerlichen Welt: ihre Projektion als Verkörperung des idealtypischen homme citoyen in Gestalt des verallgemeinerten staatsbürgerlichen Tugendmenschen, der die ganze Abstraktion der Gesellschaft als Staat verinnerlicht hat, und der die abstrakte, politische Gesellschaftlichkeit, Allgemeinheit »lebt« - dient vom Sansculotten bis zu STAKHANOV , dem Arbeitersoldaten TROTSKIS , dem LEI FENG und Parteirebellen MAO ZEDONGS und dem Neuen Menschen aus POL POTS »Altvolk« ... als das ideelle Stimulans staatsbürgerlicher Revolution i.S.v. radikaler »Demokratie bis ans Ende«. 

LENINS »STAAT UND REVOLUTION«, sein Lob der Subbotniks in »DIE GROSSE INITIATIVE« usw. definiert am klarsten diese bürgerliche Kommunismusvorstellung, als freiwillige »unentgeltliche« (sic) Mehrarbeit für den Staat (sic), als Entwicklung einer Gesellschaft von Staatsbürgern-ohne-Staat, weil sie diesen »überflüssig machen« (- das hilft erklären, wodurch die meisten ehemaligen MLer/innen hierzulande so bruchlos zu Anbeter/inne/n und Exekutor/inn/en »der Zivilgesellschaft« und deren »Enstaatlichungs«- Version, »der Bürgergesellschaft« geworden sind: als Staatsfetischist/inn/en von jeher hatten sie zur Vorstellung einer falschen »Rücknahme der Staatsgewalt in die Gesellschaft« als ihre Verinnerlichung, »Überflüssigmachung« durch eine citoyen/nes-Gesellschaft aus mehr oder weniger netten Blockwart- und Zivilbereitschaftsbull/inn/en - »Sozialismus ist machbar, Nachbar!« - keinen weiten Weg). Die Denunziant/inn/engesellschaft des »Sozialismus real« und die Mobbing-Gesellschaft des »Kapitalismus mild« schlagen überall dialektisch ineinander um, bevor sie konvergent in eine Art Faschismus-mit- menschlichem-Antlitz übergehen oder in situationistischer Begrifflichkeit: das diffuse Spektakel der westlich-kapitalistischen affluent society und das konzentrierte Spektakel des östlichen, bürokratischen Kapitalismus sind allmählich ins integrierte Spektakel der postmodernen kapitalistischen one-world des ausgehenden 20.Jahrhunderts übergegangen. Er scheint nur noch das Bild des globalen »Despotismus der Freiheit« abstrakter Konkurrenten der totalen Warenproduktion zu sein, ein hermetisch allumfassendes Spiegelbild seiner selbst als einer subjektlosen Herrschaft - contradictio in adiecto - und schrankenlos manipulierbares gesellschaftliches Sein-als-Schein, das inzwischen auch das restlinke Bewusstsein restlos ideologisch aufzusaugen im Begriff ist, siehe die »unwiderstehliche« 10-jährige Wirkungsgeschichte eines Grüppchens wie der KRISIS bzw. eines spätstrukturalistischen akademischen Aussenseiters wie POSTONE ... ).

LENINS Kommunismusvorstellung, zugleich eine der bürgerlichen Zivilisierung - selbst mit barbarischen Mitteln (wenngleich das auch schon ihr klassisch-westliches Janusgesicht gewesen ist - aber durch ebendieses westliche »Kaudinische Joch«, MEW 19, S.243, 385, 389ff, 392ff, 405, dessen Umgehbarkeit MARX sah und LENIN nicht, versuchten die BOLSHEVIKI eben die »verflucht rückständige, kulturlose« Bauernbevölkerung zu zwingen als durchs Nadelöhr der westlichen Zivilisation, wobei es zu sowas wie einer staatskapitalistischen Erneuerung der halbasiatischen Despotie kommen »musste«: eben »ein bürgerlich-zaristisches Gemisch« weit über den allesverschlingenden Parteistaatsleviathan hinaus, in dem die revolutionär-bolshevikische »Fliege ertrinken würde«), kommt im wesentlichen nicht über die Selbstdisziplinierung des warenproduzierenden homme bourgeois (Bauer und Lohnarbeiter) durch den staats-politischen homme citoyen (Staats-Partei-Arbeiter) hinaus:

»Das 'Kommunistische' beginnt erst dort wo die Subbotniks aufkommen, d.h., wo in großem Ausmaß unendgeldliche,von keiner Behörde, von keinem Staat genormte Arbeit von Einzelnen[! nicht etwa: der Gesellschaft selbst in Assoziations-, Kooperationsformen, die jegliche Staatlichkeit hinter sich lassen] zum Nutzen der Gesellschaft [einer gigantischen, staatsmonopolistischen Art Aktiengesellschaft, die diesen Einzelnen gegenübersteht als abstrakt-besonderes Gemeinwesen über ihnen, dessen Nutzen allein diese Arbeitsbienen verinnerlicht hätten: wenn es so etwas wie »Gesellschafts«-Fetischismus geben sollte, hier haben wir ihn!] geleistet wird. [Und nun rückt LENIN ausdrücklich präzisierend von der historisch-materialistisch konkretisierenden Russland-Perspektive eines MARX ab - die er immer ko-menshevistisch ignoriert hat -, von der echten rudimentären radikalen Basis-Kooperation direkt-communistischer Gesellschaftlichkeit auf kapitaltechnologischer Stufenleiter: denn wo bliebe da der Staat, seine Partei?!:] Das ist nicht die nachbarliche Hilfe, wie es sie auf dem Lande stets gegeben hat, sondern im großen organisierte und unendgeltliche Arbeit für gesamtstaatliche Bedürfnisse. Daher wäre es richtiger, wenn das Wort ' kommunistisch' nicht nur zur Bezeichnung der Partei[weil dieser Kern, dieses Rückgrat des »Sovjet«-Staates, diese »Wir sind der Staat = das Proletariat«-Gemeinschaft ja bereits diese Art Kommunismus darstellt, verkörpert und vorlebt - aufgrund des Brotkartenmonopols und der TsheKa z.B. - als wahrhaft materielle und ideelle kommunistische Nomenklatura!] sondern auch auf solche wirtschaftlichen Erscheinungen in unserem Leben, und ausschliesslich auf sie, angewandt würde, bei denen etwas Kommunistisches praktisch verwirklicht wird.« ( LENIN: REFERAT ÜBER DIE SUBBOTNIKS, DEZEMBER 1919 )

Also ausschliesslich auf ökonomische »Erscheinungen« unentgeltlicher Arbeit (Mehrarbeit natürlich) Einzelner für den bereits »kommunistischen« Parteimonopol-Staat. Die »einzig und allein kommunistisch zu nennenden« Subbotniks, - nicht etwa Kommunen oder dergleichen, denn das würde zu sehr an die von MARX und auch ENGELS avisierte russische Bauerngemeinde erinnern, jene für die russischen Westler und sogenannten »Marxisten« - nur »verflucht rückständige«, theoretisch und praktisch mit Gewalt wegzukriegende Form der »nachbarschaftlichen Hilfe, die es auf dem Lande stets gegeben hat« - und die den sovjetischen Massen bis heute als Parzellen-Mikroökonomie ein wesentliches Stück Überlebensbasis gegenüber dem »kommunistischen« wie »postkommunistischen« Staatsmoloch geblieben scheint! - also ausschliesslich diese politisch stimulierten, gewissermaßen bloß abstrakt-politökonomischen Praxis-«Erscheinungen« im Dienste der bereits als kommunistisch definierten politischen Überbau-Erscheinung werden dieser, als Basis sich setzenden, lediglich »ökonomisch«-praktisch hinzugefügt.

»Die Organisation des Proletariats nach dem bolshevikischen Modell, die aus der russischen Rückständigkeit und dem Verzicht der Arbeiterbewegung der fortgeschrittenen Länder auf den revolutionären Kampf entstanden war, traf auch in der russischen Rückständigkeit alle Bedingungen, durch welche diese Organisationsform zur konterrevolutionären Verkehrung geführt wurde, die sie bewusstlos in ihrem Urkeim enthielt; und der wiederholte Verzicht der Masse der europäischen Arbeiterbewegung auf das Hic Rhodus, hic salta! der Periode 1918-1920, dieser Verzicht, der die gewaltsame Zerstörung ihrer radikalen Minderheit einschloss, begünstigte die vollständige Entwicklung des Prozesses, und so konnte sich dessen verlogenes Ergebnis vor der Welt als die einzige proletarische Losung behaupten. Die Ergreifung des staatlichen Monopols der Repräsentation und der Verteidigung der Macht der Arbeiter, die die bolshevikische Partei rechtfertigte, liess sie zu dem werden, was sie war : die Partei der Eigentümer des Protetariats, die die vorherigen Formen des Eigentums im wesentlichen beseitigte.« ( GUY DEBORD: DIE GESELLSCHAFT DES SPEKTAKELS. THESE 102 )

Sogar der späte LUKÁCS , dessen Marxismus-Renaissance-Projekt (1970) weit über seine LENIN -Loyalität hinausgreift, sollte noch in der Perspektive des »kommunistischen« Nur-«Citoyen« befangenbleiben (was der BUDAPESTER SCHULE , seinen Streberschüler/innen angeführt von AGNES HELLER , die Hintertür in die postmodernistische marktwirtschaftssozialistische Zivilgesellschaftsideologie posthum offenliess).

Und selbst noch bei den Situationisten hat sich bis in die 1970er ein Rest Vision auf ein neues, communisches »Florenz« als Nachbild gehalten.

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»Realpolitik«, Politik-Abstinenz oder revolutionäre Politik

Das andere Gesicht des Staatsfetischs ist der Sfäre des homme bourgeois, als dem »Opfer«, Objekt des homme citoyen, zugewandt: »soll« und muss doch der Staat die ökonomische Sfäre in ihrem fundamentalen Zerrissensein (Privateigentum der gesellschaftlichen Produktions- und Lebensbedingungen, darauf beruhende Spaltung in Gesellschaftsklassen) bändigen, verklammern, zusammenhalten und -zwingen, gewaltsam und friedlich-schiedlich zu einer künstlich-naturwüchsigen, entfremdet-entfremdenden Einheit der Gesellschaft vermitteln, zu einer abstrakten Gesellschaftlichkeit über der wirklichen Gesellschaft. Da die kapitalistisch-verallgemeinerte Warenproduktion ihre wachsenden und schliesslich antagonistischen Widersprüche produziert, hat der moderne Staat die Funktion, diese Widersprüche als »geschäftsführender Ausschuss der Kapitalistenklasse« und »ideeller Gesamtkapitalist« zu unterdrücken, möglichst unsichtbar zu machen, als Grundmuster des roten Teppichs der erweiterten kapitalistischen Reproduktion beständig auf dessen Unterseite zu halten - wodurch er sie um so mehr verschärft und umschlagen, auf die Oberseite treten lässt .

Die Sfäre von Staat/Recht/Politik besteht aus dem Geschäft dieser Verschärfung - selbst da und gerade da, wo sie im revolutionären Parteibildungsprozess des Proletariats notwendig früher oder später, »bei Strafe des Untergangs«, auch bewusst beschritten und genutzt wird, um den versteckten und offenen Krieg der zwei Hauptklassen der bürgerlichen Gesellschaft bewusst zur Aufhebung aller, auch der politisch- rechtlich-staatlichen, Sfären dieser Gesellschaft hin zu führen. Während alle bürgerliche Politik auf die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Sfärentrennung gerichtet ist und zwar dahingehend, dass die politisch-rechtlich-staatliche Sfäre alle übrigen, vor allem die ökonomische (»politische Ökonomie«! usw.) regulierend beherrscht, kontrolliert und durchdringt, ja als rechte oder linke ordo regelrecht vorübergehend »unterdrücken«, subordinieren kann (»Bonapartismus«, »National-Sozialismus« u.a.), ist alle revolutionäre communistische Politik im Parteibildungsprozess und Klassenkampf des Proletariats stets unablässig mehr oder weniger bewusst auf die Zerstörung, Zersetzung, Aufhebung i.S.v. Vernichtung, Abschaffung dieser ganzen besonderen, getrennten abstrakt-gesellschaftlichen Sfäre selbst gerichtet, in der sie sich zwangsläufig noch bewegt und bewusst bewegen muss. Das spürt und »weiss« das feindliche Lager (Kriterium »Politikfähigkeit«!) gegenüber jedem selbständigen Schritt und Akt des Proletariats in die politische und in der politischen Sfäre ganz instinktsicher jedesmal und bezichtigt diese revolutionären Insassen des Trojanischen Pferds »Politik« der Zerstörungsabsicht zu recht.

Die Politik ist durchaus nicht der »Leviathan« der bürgerlichen Mythologie, dieses ihr Bild allein, sei's als von der Revolution zu verschmähendes Kinderspielzeug sei's als sie notwendig verschlingendes Monster, als welchem die Anarchisten ihr seit jeher aufsitzen (zwischen Politikabstinenz und Regierungsanarchismus in allerlei opportunistischen Abstufungen. Urform: BAKUNINs Negativfixierung auf dämonisierte »Staatlichkeit« im undialektischen Dualismus zur »Anarchie« einerseits, seine eigene Zarenbeichte und sein informeller Untergrundzarismus andererseits. In jedem Falle: »Ich hasse den Kommunismus, ( ... ) Ich bin kein Kommunist, weil der Kommunismus zugunsten des Staates alle Kräfte der Gesellschaft konzentriert und absorbiert, weil er unvermeidlicherweise das Eigentum in den Händen des Staates konzentriert. Ich hingegen ( ... ) bin Kollektivist und keineswegs Kommunist. » 1868) 

Die politische Sfäre ist lediglich der bewegteste, am wenigsten berechenbare »Komplex ideologischer Praxis«innerhalb der komplexen dialektischen Totalität des gesellschaftlichen Seins (bis zum Communismus), den G.LUKÁCS in ZUR ONTOLOGIE DES GESELLSCHAFTLICHEN SEINS (1970) im Kapitel über »Das Ideelle und die Ideologie« zusammen mit der Rechtssfäre analysiert. Dort zeigt er historisch-genetisch (und einige Passagen sollen bei dieser Gelegenheit einmal zitiert werden), wie 

»diese Gebiete der gesellschaftlichen Tätigkeit sich allmählich zum Eigenleben innerhalb der gesellschaftlichen Arbeitsteilung differenzieren müssen. Anfangs beschäftigt sich die Gesamtheit der Gemeinschaft mit dem Austragen derartiger Konflikte, wenn sie jeweils aktuell werden; später müssen bereits Einzelne oder ganze Gruppen zu ihrer Lösung gelegentlich oder ständig delegiert werden, bis schliesslich ( ... ) diese Differenzierungen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung sich durchsetzen. Das bedeutet im sachlichen Sinn, dass mehr oder weniger rationell zusammenhängende Systeme ausgearbeitet werden müssen, um die im Alltag des gesellschaftlichen Lebens immer wieder auftauchenden Konflikte den Interessen der Gesellschaft entsprechend auszutragen. Dass dabei ( ... ) diese Interessen mit denen der gerade herrschenden Klasse tendenziell zusammenfallen, versteht sich von selbst. Und der Ausdruck tendenziell führt gerade ins Zentrum der Probleme des Klassenkampfes, denn dessen Inhalt ist in sehr vielen Fällen die Entscheidung darüber, wie, nach welchen Prinzipien etc., die verallgemeinerte Weise der Austragung der Konflikte beschaffen sein soll. (Man denke an die Kämpfe um das Streikrecht.) 

Schon aus dieser Allgemeinheit der Austragungsart folgt, dass die Rechtssphäre ihre Aufgabe im System der Arbeitsteilung - je entwickelter diese ist, desto entschiedener - nur erfüllen kann, wenn sie alle Tatsachen des gesellschaftlichen Lebens zu einer extremen Zugespitztheit der Entäusserung führt. ( ... ) Das Recht könnte unmöglich jenes wichtige Mittel zum Austragen der gesellschaftlichen Konflikte im Alltagsleben der Menschen werden, wenn es nicht ununterbrochen an ihre gesellschaftlich spontan entstehenden Überzeugungen über dieselben Inhalte appellieren könnte. Denn nur dadurch, dass solche Konflikte massenhaft vermieden werden, indem die Einzelmenschen infolge der Wirkung spontaner Gebote - von denen der Gewohnheit bis zur Moral - auf Handlungen verzichten, die der jeweiligen gesellschaftlichen Reproduktion in die Quere kommen könnten, entsteht die sozial reale Möglichkeit der rechtlichen Regelung. ( ... ) Jedoch gerade dieser Untergrund von vielseitigen Wechselwirkungen konstituiert die Rechtssphäre als eine wesentlich gesetzte, im Gegensatz zu den spontanen Regelungsprinzipien von Gewohnheit und Moral, und eben diese gesellschaftliche Beschaffenheit bringt das Bedürfnis nach einer Spezialistenschicht hervor, die dieses Setzungsgebiet verwaltet, kontrolliert, weiterbildet etc.

Damit erhält der ldeologiencharakter des Rechts eine spezifische Ausprägung. Da es ein elementares Lebensinteresse von solchen Spezialistenschichten ist, ihre Tätigkeit im Gesamtkomplex als eine möglichst gewichtige erscheinen zu lassen, treten durch solche Bearbeitungen die ideologischen Abweichungen des Rechts von der ökonomischen Wirklichkeit immer stärker hervor. Gerade weil, wie ENGELS [MEW 37,491] ausführt, diese Tätigkeit 'wieder' auf die ökonomische Basis zurückwirkt und sie innerhalb gewisser Grenzen modifizieren kann, erfährt derspezifisch ideologische Gesichtspunkt ununterbrochene Steigerungen. Ja in der Selbstdarstellung der in diesem Bereich entstehenden weiteren Spezialisierungen (Rechtswissenschaft, Rechtsphilosophie etc.) werden Inhalt und Form des Rechts oft rein fetischistisch zu selbstherrlichen Menschheitskräften erstarrt. [... Wobei] die stärksten Widerstände gegen eine seinsmäßig richtige Erfassung der Ideologien gerade solche Spezialistenschichten auszulösen pflegen.

Einerseits wird der Standpunkt vertreten, als ob jenes Verhalten, dass die teleologische Setzung einer Ideologie bestimmt, ein unablösbarer Bestandteil des Seins des Menschen als Menschen wäre und nicht bloß eine Folgeerscheinung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung auf bestimmten Stufen.

Andererseits, freilich in engem Zusammenhang damit, wird die reale Verknüpftheit von Wesen und Erscheinung als nichtexistent beiseitegeschoben, als Wesen sollen 'rein geistige' ideologische Verhaltensweisen gelten, während der wirkliche Kampf der wirklichen Menschen um ihre Existenz als verächtliche Niederung des Daseins in den Hintergrund geschoben wird. Erst so werden die Wertbestimmungen des Rechts zu einer Ideologie im pejorativen Sinn. (...)

Noch komplizierter ist es, die Stelle der politischen Praxis im Gebiet der Ideologie ( ... ) zu bestimmen. ( ... ) Eine Definition zu geben, d.h. gedanklich formell die Grenze zu fixieren, wo Politik anfängt bzw. aufhört, ist unmöglich.

GOTTFRIED KELLER sagt einmal mit einem gewissen Recht, alles sei Politik. Richtig verstanden bedeutet das, dass es schwer ist, einen Typus gesellschaftlicher Praxis auch nur sich vorzustellen, der unter bestimmten Umständen nicht zu einer wichtigen, eventuell sogar schicksalhaften Frage der ganzen Gemeinschaft erwachsen könnte. [... D.h.,] dass Politik in gänzlich anderem Sinn eine Lebenssphäre in der Gesellschaftist als jene, die - wie das Recht - von der Arbeitsteilung als solche abgegrenzt und mit den dazu nötigen Fachleuten versehen wird; andererseits wäre es aber ebenfalls eine Übertreibung, diese mit dem Leben direkt verwobene Allgemeinheit allzu wörtlich zu nehmen. Politik ist ein universeller Komplex der gesellschaftlichen Totalität, aber einer der Praxis, und zwar der vermittelten Praxis, der deshalb unmöglich eine so gleichartig spontane und permanente Universalität haben kann wie etwa die Sprache als primäres Organ der Aneignung der Welt durch Vergegenständlichung der Objekte sowie der sie entäussernd setzenden und aneignenden Subjekte.

Politik ist eine Praxis, die letzten Endes auf die Totalität der Gesellschaft gerichtet ist, jedoch so, dass sie unmittelbar die gesellschaftliche Erscheinungswelt als Terrain des Veränderns, d.h. des Erhaltens oder Zerstörens des Jeweiligen in Gang setzt, jedoch die so ausgelöste Praxis ist unvermeidlich auf vermittelte Weise auch vom Wesen bewegt, und intentioniert, ebenfalls vermittelt, auch auf das Wesen. Die widerspruchsvolle Einheit von Wesen und Erscheinung in der Gesellschaft gewinnt in der politischen Praxis eine deutliche Gestalt.

Vom unmittelbaren Standpunkt der politisch gemeinten teleologischen Setzungen ist die untrennbare Verbundenheit und Einheit von Wesen und Erscheinung sowohl ihr unausweichlicher Ausgangspunkt wie ihr notwendig gesetztes Ziel. Aber gerade wegen dieser unmittelbar gegebenen Einheit von Wesen und Erscheinung ist die politische Praxis in ihrer Beziehung zum Wesen, die ihre Effektivität letzten Endes, freilich nur letzten Endes, entscheidet, eine vermittelte. Darum hebt diese unmittelbare Form der Einheit die vorhandenen Widersprüche nicht auf. ENGELS [MEW 37, 490f] beruft sich mit Recht darauf, dass die Politik in konkreten Einzelfällen sehr wohl eine gegenteilige Richtung einschlagen kann, als es die gerade wirksame ökonomische Entwicklung fordert, wobei er mit Recht bemerkt, dass in solchen Fällen, nach Umwegen, Schaden etc., die ökonomische Wirklichkeit sich doch durchsetzt. Man würde jedoch an der wahren seinsmäßigen Beschaffenheit dieser widersprüchlichen Einheit vorbeigehen, wenn man die Vorstellung hätte, dass es sich um die einfache Wechselwirkung in-sich-abgeschlossen-einheitlicher Komplexe handeln würde. Es ist vielmehr von sehr verschiedenen komplexen Wechselwirkungen in beiden Sphären die Rede, was zur Folge hat, dass das gegenseitige Aufeinanderwirken von Wesen und Erscheinung die allerverschiedensten Formen annehmen muss. ( ... ) Die historischen Erfahrungen zeigen, dass die politischen Interessen der Regel nach unmittelbar auf die Bevölkerungsbewegung gerichtet sind, und die Förderung (oder eventuell die Hemmung) der Produktion, die hier einen qualitativen Wendepunkt erlebt, vollzieht sich mittels jener Maßnahmen, die unmittelbar jene betreffen.

Hier zeigt sich wieder, dass das Kriterium für die historische Funktion und Bedeutung der Ideologie nicht in der sachlich-wissenschaftlichen Richtigkeit ihres Inhalts, als treuer Widerspiegelung der Wirklichkeit, liegt, sondern in Art und Richtung ihrer Einwirkung auf jene Tendenzen, die die Entwicklung der Produktivkräfte auf die Tagesordnung gesetzt haben. Es wäre aber unrichtig, die Ablehnung der erkenntnistheoretischen Maßstäbe in der Ideologienfrage nunmehr, ins entgegengesetzte Extrem verfallend, als reine gedanken- und ideenlose Pragmatik aufzufassen.

Die ideologischen Inhalte der politischen Entscheidung sind keineswegs gleichgültig in dem Sinne, als ob ausschliesslich der momentane praktische Erfolg entscheiden und es auf die bestimmenden Gründe überhaupt nicht ankommen würde. Im Gegenteil. Bei allen politischen Entscheidungen gibt es zwei sachlich verschiedene, wenn auch in der Wirklichkeit oft ineinander übergehende Motive, die als Kriterien gelten können. Das erste ist, was LENIN als das nächste Kettenglied zu bezeichnen pflegte, nämlich jener Knotenpunkt von aktuellen Tendenzen, dessen entschiedene Beeinflussung eine ausschlaggebende Wirkung auf das Gesamtgeschehen auszuüben fähig ist . Das ist nicht immer, ja konkret nur ausnahmsweise, die gerade fällige unmittelbare Veränderung im Wesen selbst. Im konkreten Geschichtsverlauf wird sie nur selten überhaupt erkannt, ja es gibt Situationen, in denen auch das klarste Wissen um sie keine bewegende, entscheidungbringende Macht haben könnte. Man denke an die russische Revolution von 1917. LENIN hatte darüber keine Zweifel, dass die objektiven Bedingungen einer sozialistischen Umwälzung mit dem Zusammenbruch des Zarismus im Februar gegeben waren. Er hat diese seine Überzeugung auch immer verkündet, er hätte aber auch mit der besten Propaganda für diese Perspektive sie doch nicht unmittelbar verwirklichen können, wenn er das 'Kettenglied' der gegebenen Etappe der Entwicklung nicht in der Friedenssehnsucht bei allen Werktätigen und in dem Wunsch nach Land bei den Bauern erkannt hätte.

Die beiden Parolen 'Land und Frieden' konnten - nur nach ihrem nackten Gehalt betrachtet - auch in der bürgerlichen Gesellschaft als verwirklichbar vorgestellt werden. Die politische Genialität LENINs bestand dabei darin, den Gegensatz zu erkennen, dass sie einerseits die unstillbar leidenschaftliche Sehnsucht breitester Massen gebildet haben, dass sie aber andererseits für die russische Bourgeoisie praktisch unannehmbar waren und unter den gegebenen Umständen auch von den kleinbürgerlichen Parteien keine Unterstützung, ja nicht einmal eine passive Duldung erhalten konnten. So wurden politische Zielsetzungen, die an sich die bürgerliche Gesellschaft garnicht Umstürzen müssten, zu einem Sprengstoff, zum Vehikel der Herbeiführung einer Situation, in welcher die sozialistische Revolution erfolgreich herbeigeführt werden konnte. Freilich haben wir einen Fall betrachtet, bei welchem das reale Ziel klar vor den Augen des verwirklichenden Politikers stand. Dieses Kriterium bewahrt aberauch dann seine Geltung, wenn eine derart adäquate Einsicht des Ziels nicht vorhanden ist.

(...)

Damit ist aber nur das erste, das unmittelbare Kriterium für die politisch-ideologische Praxis umschrieben, das Kriterium dafür, wie ein realer, letzthin ökonomisch verursachter Konflikt mit politischen Mitteln überhaupt ausgetragen werden kann. Dazu tritt nun ein zweites Problem: welche Dauer eine solche Lösung haben wird und kann. ( ... ) In der Unmittelbarkeit der politischen Praxis können rein demagogische Ideologien eine derart starke unmittelbar-praktische Stoßkraft erhalten, dass sie geeignete Mittel zur Austragung einer Krise zu sein scheinen; es genügt dabei, an die Machtergreifung HITLERS zu denken. Allein gerade hier zeigt es sich, dass ein solches Kriterium allein nicht ausreicht. Das ergibt sich daraus, dass ( ... ) die politische Praxis zwar simultan auf die Einheit von Erscheinung und Wesen der Gesellschaft als Ganzem gerichtet ist, jedoch diese unmittelbar nur in ihrer Unmittelbarkeit erfassen kann, was zumindest die Möglichkeit in sich schliesst, dass sowohl das intentionierte wie das von der teleologischen Setzung getroffene Objekt auf eine Welt der Erscheinung gerichtet bleibt, die das Wesen eher verdeckt als offenbart. Darum würde es das totale Phänomen der politischen Praxis nicht erschöpfen, wenn man bei der Analyse ausschliesslich ihre unmittelbare Effektivität als Kriterium betrachten würde, obwohl diese fraglos ein wichtiges, ja unentbehrliches Moment ihrer Totalität bildet. ( ... ) Es würde aber eine Oberflächlichkeit der Betrachtung herbeiführen, dieses an sich höchst wichtige Motiv der unmittelbaren Effektivität zu verabsolutieren, wie dies bei den theoretischen Wortführern der sogenannten Realpolitik der Fall zu sein pflegt.

Hier muss die objektiv ontologische Betrachtung der Geschichte auf jene Kausalketten achten, die eine jeweilige politische Entscheidung auslöst.

Wenn wir von Dauer gesprochen haben, so war damit natürlich keine abstrakte, quantitativ bestimmbare Zeitspanne gemeint, sondern die Frage, ob die, mit welcher Bewusstheit immer, in der teleologischen Setzung in Gang gebrachten neuen kausalen Momente auf die ausschlaggebenden, in Krise geratenen ökonomischen Tendenzen einwirken. Dauer kann also nur insofern ein Kriterium für eine politische Entscheidung abgeben, als deren Folgen deutlich bezeugen, ob sie, mit welcher ideologischen Begründung immer, auf bestimmte reale Tendenzen der gesellschaftlichen Entwicklung aufzutreffen imstande war, ob und wie die von ihr ausgelösten Kausalreihen auf diese Entwicklung einwirkten. Es ist klar, dass, je größer die hier entstehende Divergenz ist, desto weniger Dauerhaftigkeit allgemein in der Entscheidung selbst enthalten sein wird. Insofern erfüllt sich die Effektivität politischen Handelns erst in der Dauer. Erst diese zeigt an, dass der aktuelle Erfolg nicht nur eine flüchtige momentane Gruppierung der Kräfte zustandezubringen vermochte, die zum unmittelbaren Austragen einer krisenhaften Situation auszureichen schien, sondern zugleich den hinter den akuten Verwirk [Iich]ungen wirkenden wesentlichen Kräften ebenfalls einen wirksamen Impuls gab.

Freilich muss auch dies gesellschaftlich-geschichtlich konkret verstanden werden, und das stellt eine untrennbar zusammengehörige Verdoppelung dar: vor allem setzt sich das ökonomisch-sozial Notwendige, das Wesen im historischen Prozess durch: alle Entscheidungen und Taten, seien sie genial oder stümperhaft, ehrlich oder verbrecherisch, können bloß beschleunigend oder auf Umwege lenkend auf ihn einwirken. ( ... ) Und das Wesen, da es Wirklichkeit ist, lässt sich von seinem Geradesosein in der Verwirklichung niemals ganz loslösen. Die Konkretheit solcherEntwicklungen ergibt also eine widerspruchsbeladene Einheit der objektiven gesellschaftlichen Determiniertheit Lind des prägenden Einflusses der zur Aktivität mobilisierten Menschen auf das Geradesosein der dabei entstehenden sozialen Struktur und Dynamik. Beide widersprechenden Entwicklungsfaktoren kann man unschwer begreifen. ( ... ) Die Schwierigkeit, diesen Widerspruch als Einheit zu apperzipieren und zu deuten, entspringt weniger aus der Sache selbst als aus falschen, fetischisierenden gedanklichen Einstellungen, wobei es aufs gleiche hinausläuft, ob vulgärmarxistisch ein Prozess völlig unabhängig von der treibenden Aktivität der Menschen oder der in eine fremde Wirklichkeit 'geworfene', zum einsamen Entschluss, zur Freiheit 'verdammte' Einzelmensch zum Fetisch gemacht wird. Um vorerst an einem unmittelbaren Moment die unausweichliche Wechselbeziehung dieser Gegensätzlichkeit anzudeuten, sei bloß darauf hingewiesen, dass die Effektivität im Austragen der Konflikte ohne Mobilisieren und Organisieren einer jeweils ausschlaggebend gewordenen Schicht der Bevölkerung praktisch unmöglich ist (... - ...) man darf dabei nur nicht vergessen, dass eine politische Entwicklung nie den immanent geschlossenen Ablauf einer Arbeitssetzung haben kann, dass vielmehr die Widersprüche, die bei der Realisierung offenbar werden, neue Entscheidungen erfordern, zu deren [effektiver] Beschaffenheit auch die ursprünglich richtigen keinerlei Garantie zu bieten imstande sind. So ist die Dauer der Wirkung zwar in der Tat ein Kriterium der gesellschaftlichen Richtigkeit der politischen Setzungen, aber kein im vorhinein rationell erkennbares. Erst die Geschichte kann darüber - immer post festum - ein gültiges Urteil abgeben.

Damit sind wir aber erst bei der Einleitung zur Einleitung des Verständnisses für diesen widerspruchsvollen - und nur in seiner Widersprüchlichkeit adäquat erfassbaren - Prozess, angelangt. Das fetischisierte Denken der offiziellen Wissenschaft ist - eingestanden oder schamhaft verschwiegen - stets darauf ausgerichtet, die ontologisch relevante Historizität der typischen gesellschaftlich-menschlichen Verhaltensweisen in eine 'Ewigkeit', in ein 'Perennieren' des Gehalts zu verwandeln, in welcher die dynamische Kontinuität des wirklichen Prozesses zu einer letzten Endes gleichbleibenden 'Substanz' erstarrt. Dass auf dem Gegenpol derselben Mentalität etwa im ( ... ) Strukturalismus wiederum die einzelnen Etappen zu einer statischen Einzelheit ohne Genesis und ohne Ausfechtungen von Wandlungen fetischistisch erstarren, zeigt die tiefe Abneigung der zu extrem arbeitsteiligen Spezialisten differenzierten Wissenschaftler, dialektisch widersprüchliche Komplexe der Wirklichkeit als seiende anzuerkennen. Hier muss nun mit allen solchen Vorurteilen gebrochen werden, als existiere eine Politik, die ihre ausschlaggebenden Wesenszüge von Anfang bis heute ohne umstürzenden Wandel unverändert bewahrt hätte, oder als wäre Politik einfach ein Moment der jeweiligen Struktur, deren Charakteristikum auf andere Strukturen überhaupt nicht übertragbar sein könne.«

( G.LUKÁCS: ZUR ONTOLOGIE ... II, 428-443 - Unterstreichungen von mir) 

LUKÁCS zitiert nun MARX: ZUR JUDENFRAGE (MEW 1,368) , wo dieser erstmals die politische Revolution, die revolutionäre Politik der Bourgeoisie kennzeichnet, »welche den politischen Staat als allgemeine Angelegenheit, d.h. als wirklichen Staat konstituierte« und damit die politische Sfäre schlechthin, den Staat schlechthin in seiner verallgemeinerten, modernen fertigen historischen Gestalt als zu vernichtendes Objekt und Angriffsziel für die kommende soziale Revolution der ganzen bürgerlichen Gesellschaft, ihren Menschen, ihrer Negation, dem Proletariat, von nun an gegenübersetzt. Diese Negation interessiert den gläubigen Leninisten LUKÁCS hier zwar nicht weiter, der dafür mit der positiv-wissenschaftlichen historisch-ontologischen Bestimmung revolutionärer politischer Notwendigkeit, Möglichkeit und Spielräume fortfährt und »den subjektiven Faktor« einbezieht, also im Vorfeld der historisch heranrückenden communistischen Aufhebung des Politisch-Rechtlich-Staatlichen verweilt; um so mehr interessiert uns Heutige gerade diese »Etappe«; der späteren Fragestellung von MARX (MEW 19, S.28):

»Welche Umwandlung wird das Staatswesen in einer kommunistischen Gesellschaft untergehn [= undergo: englisch für »durchmachen; durchlaufen«] - fügen wir hinzu: und wie wird es untergehn!? »In anderen Worten, welche gesellschaftlichen Funktionen bleiben dort übrig, die jetzigen Staatsfunktionen analog sind? Diese Frage ist nur wissenschaftlich zu beantworten«, so setzt MARX selber an, spricht also von »dem zukünftigen Staatswesen der kommunistischen Gesellschaft« (indem er sich auf das Gerede vom Staat im sozialdemokratischen Programmentwurf, den er kritisiert, einen Augenblick lang terminologisch notgedrungen einlässt) als von einer bloßen Analogie! Damit ist von MARX noch zuletzt eindeutig dem Staatsfetischismus, der »in der demokratischen Republik das Tausendjährige Reich sieht«, der Todesstoß versetzt: da die historisch notwendige Diktatur des Proletariats ihre Staatlichkeit zu nichts anderem als der revolutionären Umwandlung der kapitalistischen in die kommunistische Gesellschaft einsetzt, setzt sie diese logisch und historisch für ihre Selbstaufhebung eben als Staat ein, d.h. ihre Tätigkeit als politische Übergangsperiode besteht in nichts anderem als der Umwandlung des noch verbliebenen Staatswesens in bloß noch irgendwie staats analoge Funktionen kommunistischer Gesellschaftlichkeit.

Zusammen mit Politik und Staatlichkeit wird in dieser Übergangsfase das gleiche, d.h. bürgerliche Recht aufgelöst, mit seiner Aufhebung in die kommunistische Fase »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!« (MEW 19, S.21) verschwindet aber nicht nur das gleiche Recht, als notwendiger Maßstab für gleiche Quanta abstrakter Arbeit, der Form nach, sondern zugleich damit seine Kehrseite als (angesichts der naturgemäßen Ungleichheit der konkret Arbeitenden) »Recht der Ungleichheit, seinem Inhalt nach, wie alles Recht«: d.h. Aufhebung jedes Rechts als historischer Eigensfäre, bis auf analoge rudimentäre Funktionen. 

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