Klaus Winter: Monopolkapitalismus und Finanzkapital. (1c+d)
1. Das monopolistische Stadium des Kapitalismus
c) Marx zur »freien Konkurrenz«
Die Existenz einer allgemeinen Mehrwertrate, die Marx bei der Verwandlung des Profits in Durchschnittsprofit voraussetzt, veranlaßte ihn zu folgender Bemerkung: »Dies setzt Konkurrenz unter den Arbeitern voraus und Ausgleichung durch ihre beständige Auswanderung aus einer Produktionssphäre in die andere. Solch eine allgemeine Rate des Mehrwerts - der Tendenz nach, wie alle ökonomischen Gesetze - ist von uns als theoretische Vereinfachung vorausgesetzt; in Wirklichkeit aber ist sie tatsächliche Voraussetzung der kapitalistischen Produktionsweise, obgleich mehr oder minder gehemmt durch praktische Friktionen, die mehr oder minder bedeutende lokale Differenzen hervorbringen, wie z. B. die Heimatsgesetzgebung (settlement laws) für die Ackerbautagelöhner in England. Aber in der Theorie wird vorausgesetzt, daß die Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise sich rein entwickeln. In der Wirklichkeit besteht immer nur Annäherung; aber diese Annäherung ist um so größer, je mehr die kapitalistische Produktionsweise entwickelt und je mehr ihre Verunreinigung und Verquickung mit Resten früherer ökonomischer Zustände beseitigt ist.« [72]
Marx geht hier von zwei Seiten auf die Existenz einer allgemeinen Mehrwertrate ein. In der Theorie wird vorausgesetzt, daß sich die ökonomischen Gesetze rein entwickeln, und damit wird auch eine allgemeine Mehrwertrate vorausgesetzt. In der Wirklichkeit setzt dies Konkurrenz unter den Arbeitern voraus und ihre freie Bewegung von einer Sphäre in die andere. Das Ergebnis beider Voraussetzungen ist aber dasselbe: in der Theorie wird die allgemeine Mehrwertrate als Gesetz formuliert, in der Wirklichkeit erscheint eine in allen Zweigen gleiche Mehrwertrate als praktisches Resultat der Konkurrenz. Wenn man also voraussetzt, daß die Konkurrenz ihre volle Wirkung getan hat, so kann ihr Resultat dem Inhalt nach kein anderes sein als das, was unabhängig von der Konkurrenz als Gesetz formuliert wird. »Begrifflich ist die Konkurrenz nichts anderes als die innere Natur des Kapitals, seine wesentliche Bestimmung, erscheinend und realisiert als Wechselwirkung der vielen Kapitalien aufeinander, die innere Tendenz als äußerliche Notwendigkeit.« [73]
Welche Rolle spielen nun die Hindernisse, die »praktischen Friktionen«, die der freien Bewegung im Wege stehen und sie hemmen? Zunächst scheint die freie Konkurrenz - angesichts dieser Hindernisse - an äußere Voraussetzungen gebunden, die unabhängig vom Kapital vorhanden sein können oder auch nicht, von denen es aber abhängt, ob die Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise mittels der Konkurrenz durchsetzbar sind oder nicht. Die freie Konkurrenz scheint abzuhängen von dem - mehr oder weniger zufälligen - Fehlen von Hindernissen. Fehlen jegliche Hindernisse, dann kann sich die Konkurrenz frei entfalten, und die Gesetze können sich verwirklichen. Treten Hindernisse auf, dann wird die Konkurrenz beschnitten, und die Gesetze verwirklichen sich nur begrenzt. Nehmen die Hindernisse zu, dann nimmt die Konkurrenz ab, und mit ihr schwindet der Realitätsgehalt der Gesetze dahin.
Von der von Marx erwähnten Heimatsgesetzgebung bis zum Stahlwerkverband gibt es natürlich eine kaum überschaubare Vielfalt von Hindernissen. Wenn man die Existenz der freien Konkurrenz nun mit dem Fehlen von Hindernissen begründet, so erscheint die theoretische Annahme von Marx, daß die Gesetze sich rein entwickeln, als recht willkürlich. Was Marx hier in der Theorie voraussetzt, soll zum Ausdruck bringen, daß die Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise sich als notwendige Tendenzen wirklich durchsetzen. Ist aber die freie Konkurrenz nur die Folge des Fehlens von Schranken, dann wird die Notwendigkeit selbst, mit der sich die Gesetze durchsetzen, in Frage gestellt. Vielmehr erscheinen die Gesetze selbst als Folge der Freiheit der Konkurrenz, als abhängig davon, ob Konkurrenz ohne Einschränkung existiert oder nicht.
In Lenins Schrift »Karl Marx« drückt sich dasselbe Verständnis der Konkurrenz darin aus, daß z. B. das Gesetz des Ausgleichs der Profitraten aus der freien Konkurrenz abgeleitet wird. Lenin schreibt: »Kapital von ‘hoher organischer Zusammensetzung’ (d.h. mit Überwiegen des konstanten Kapitals über das variable in einem den gesellschaftlichen Durchschnitt übersteigenden Ausmaß) ergibt eine Profitrate, die niedriger ist als die durchschnittliche. Kapital von ‘niedriger organischer Zusammensetzung’ ergibt eine Profitrate, die höher ist als die durchschnittliche. Die Konkurrenz zwischen den Kapitalen, ihr freies Abwandern aus einem Produktionszweig in den anderen gleichen in beiden Fällen die Profitrate zur durchschnittlichen aus. Die Summe der Werte aller Waren einer gegebenen Gesellschaft fällt mit der Summe der Warenpreise zusammen; aber in den einzelnen Unternehmungen und in den einzelnen Produktionszweigen werden die Waren unter dem Einfluß der Konkurrenz nicht zu ihren Werten verkauft, sondern zu den Produktionspreisen, die dem aufgewandten Kapital plus Durchschnittsprofit gleich sind.« [74]
Die einzige Erklärung, die Lenin hier für den Durchschnittsprofit gibt, ist der Einfluß der Konkurrenz, die freie Wanderung der Kapitale. Damit ist aber weder erklärt, welche Profithöhe sich als Resultat der Ausgleichsbewegungen einstellt, noch, warum dieses Ergebnis mit Notwendigkeit (als Folge der inneren Natur des Kapitals) zustande kommen muß. Die Höhe der »allgemeinen Profitrate wird unabhängig von der Konkurrenz durch das Verhältnis des gesamtgesellschaftlichen Mehrwerts zum gesellschaftlichen Gesamtkapital bestimmt; als durchschnittliche Rate des Profits ist sie zugleich die notwendige Profitrate, weil in ihr der Profit wirklich als vom Kapital (nicht von den Arbeitern) produziert erscheint, indem gleiche vorgeschossenen Wertgrößen (unabhängig von ihrer organischen Zusammensetzung aus konstantem und variablem Kapital) gleich große Profite liefern. In ihr manifestiert sich die Herrschaft des Werts und damit des Kapitals über den Reproduktionsprozeß und über den Arbeiter und verwirklicht sich die Selbstverwertung des Werts. Die Konkurrenz ihrerseits wird von dieser Notwendigkeit der allgemeinen Profitrate bestimmt. Indem sie ungleiche Profitraten ausgleicht, führt sie das Gesetz aus, erklärt es aber nicht.« (...)indem wir von einer notwendigen Rate des Profits sprechen, wollen wir eben die von den Bewegungen der Konkurrenz unabhängige Profitrate kennen, welche ihrerseits die Konkurrenz reguliert.« [75]
In Lenins Darstellung erscheint das Gesetz des Durchschnittsprofits nur als Ergebnis der freien Konkurrenz, d. h. die Notwendigkeit der allgemeinen Profitrate scheint sich aus der Möglichkeit freier, unbeschränkter Wanderung der Kapitale zu ergeben. Wenn Lenin auch in der Imperialismusschrift nicht ausdrücklich zum Gesetz der allgemeinen Profitrate Stellung nimmt, so steht doch - nach der in »Karl Marx« gegebenen Erläuterung - einer Beschneidung dieses Gesetzes nichts entgegen, sobald die freie Konkurrenz »unmöglich geworden ist, nachdem sie die Monopole erzeugt hat« [76]. Seit die Monopole zu Beginn des 20. Jahrhunderts »das völlige Übergewicht« [77] gewonnen haben, schwindet »der Kapitalismus der freien Konkurrenz« [78] dahin; daß nun der Wert die Produktion nicht mehr bestimmen und regeln kann, erscheint dann als eine konsequente Folgerung, - ein Gedanke, den Lenin in der Form zum Ausdruck bringt, daß die Warenproduktion »in Wirklichkeit bereits untergraben ist« [79].
Marx hat dieses Verständnis der freien Konkurrenz direkt kritisiert; »Die freie Konkurrenz (...) ist noch nie entwickelt worden von den Ökonomen, soviel von ihr geschwatzt wird und so sehr sie die Grundlage der ganzen bürgerlichen, auf dem Kapital beruhenden Produktion. Sie ist nur negativ verstanden worden: d.h. als Negation von Monopolen, Korporationen, gesetzlichen Regulationen etc. Als Negation der feudalen Produktion. Sie muß aber doch auch etwas für sich sein, da bloß 0 leere Negation ist, Abstrahieren von einer Schranke, die z. B. in der Form von Monopol, natürlichen Monopolen etc. sofort wieder aufersteht.« [80]
Dieses nur negative, inhaltslose Verständnis, das die von Marx kritisierten bürgerlichen Ökonomen von der freien Konkurrenz haben, erklärt sich in gewissem Grade daraus, daß die Konkurrenz sich historisch im Niederreißen feudaler Beschränkungen entwickelte. Daß diese Auffassung dennoch unzureichend ist, zeigen die Monopole, eine Schranke, die auch nach der Negation feudaler Behinderungen »sofort wieder aufersteht«. Es ist nur eine inhaltslose Tautologie zu sagen, daß die Konkurrenz dann frei ist, wenn sie auf keine Schranken trifft; mit dem Gedanken, daß die ökonomischen Gesetze sich deshalb verwirklichen, weil die Konkurrenz keine Schranken hat, erhält diese Tautologie nur den Schein einer inhaltlichen Begründung. Daß im Sinne von Marx die Konkurrenz auch »etwas für sich« ist, ihren eigenen, positiv bestimmten Inhalt hat, wurde bereits festgestellt: sie ist »nichts anderes als die innere Natur des Kapitals, seine wesentliche Bestimmung«. Darüber hinaus ist sie die Form, in der sich dieser Inhalt als notwendige Tendenz verwirklicht: »die innere Natur des Kapitals, (...) erscheinend und realisiert als Wechselwirkung der vielen Kapitalien aufeinander, die innere Tendenz als äußerliche Notwendigkeit« [81].
Die volle Existenz dieser Form - uneingeschränkte Konkurrenz - ist zwar eine Bedingung für die Verwirklichung der inneren Natur des Kapitals, aber die immanenten Gesetze des Kapitals wären überhaupt keine Gesetze - sich mit Notwendigkeit realisierende Tendenzen -, wenn sie nicht auch die Bedingungen ihrer Verwirklichung schaffen würden. Die uneingeschränkte Konkurrenz gehört daher zu den »Verwirklichungsbedingungen des Kapitals, die es selbst mehr und mehr produzieren muß« [82], sie ist »darum nicht die Voraussetzung für die Wahrheit der ökonomischen Gesetze, sondern die Folge - die Erscheinungsform, worin sich ihre Notwendigkeit realisiert.« [83] Freie Konkurrenz bedeutet daher nicht eine bloße Abstraktion von Schranken oder Abwesenheit von Monopolen als gedachte oder zufällig gegebene Voraussetzung für die Realität der Gesetze, sondern schließt die Tendenz der Überwindung gegebener Schranken und Befreiung von Hindernissen ein. Als solche bringt sie die innere Notwendigkeit, die in den Gesetzen des Kapitals theoretisch formuliert wird, in der Wirklichkeit als äußere Notwendigkeit zum Ausdruck. In diesem Sinne sagt Marx über das Gesetz der allgemeinen Profitrate: »Es ist die stete Tendenz der Kapitale, durch die Konkurrenz diese Ausgleichung in der Verteilung des vom Gesamtkapital erzeugten Mehrwerts zu bewirken und alle Hindernisse dieser Ausgleichung zu überwältigen.« [84]
Dieses positive Verständnis der Konkurrenz hat gleichzeitig Konsequenzen für die Rolle, die die Einzelkapitale spielen. Der einzelne Kapitalist - auch das Kartell - scheint zunächst durchaus selbständig und souverän zu agieren. Er strebt nicht von sich aus danach, die Waren zu ihrem Produktionspreis zu verkaufen oder bloß denselben Profit wie alle anderen zu machen, sondern er versucht mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, so hoch wie möglich zu verkaufen, so billig wie möglich einzukaufen und größtmögliche Profite zu erzielen. Auch in der Entscheidung, was oder wieviel er produziert, scheint er »nur durch seine Willkür geleitet« [85]. In dieser Regellosigkeit, in der dem einzelnen Kapitalisten die Produktion überlassen bleibt, setzen sich die inneren Gesetze nur in der Form des gegenseitigen Drucks der Kapitale aufeinander durch, der dem einzelnen als von außen kommender, von anderen Kapitalisten herrührender Zwang erscheint. Die »Wirkung der einzelnen Kapitalien aufeinander bewirkt eben, daß sie als Kapital sich verhalten müssen; das scheinbar unabhängige Wirken der Einzelnen und ihr regelloses Zusammenstoßen ist grade das Setzen ihres allgemeinen Gesetzes (...) und Aufheben der scheinbaren Unabhängigkeit und selbständigen Bestehens der Einzelnen.« [86] Die Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Schranken, die die Konkurrenz an Einzelkapitalen findet und die die Realisierung der Gesetze begrenzen, erweist sich damit als scheinbar, sie werden - wenigstens »soweit das Ganze der Produktion auf dem Kapital beruht« [87] - in der Tendenz aufgehoben.
Zwischen dem positiven Verständnis der Konkurrenz als der Form, in der sich die inneren Gesetze mit Notwendigkeit verwirklichen, und der Aufhebung der scheinbaren Willkür und Selbständigkeit der einzelnen Kapitale besteht hier - in der Auffassung von Marx - ein enger Zusammenhang. In beidem drückt sich aus, daß die Produktion auf dem Kapital beruht und durch dessen innere Gesetze bestimmt wird. Derselbe enge Zusammenhang besteht zwischen Lenins nur negativem Verständnis der Konkurrenz und der Allmacht der Monopole. Die Vorstellung von einem monopolistischen Stadium beruht darauf, daß die Monopole eine eigenständige Grundlage dieses Stadiums darstellen, die »tiefste ökonomische Grundlage« des Imperialismus. Angesichts ihrer Existenz ist die freie Konkurrenz »unmöglich geworden«, sie ist im Begriff, durch die Monopole abgelöst zu werden: »ökonomisch ist das Grundlegende in diesem Prozeß die Ablösung der kapitalistischen freien Konkurrenz durch die kapitalistischen Monopole.« [88] Das Kapital produziert also in immer geringerem Umfang die Bedingungen seiner eigenen Verwirklichung, der die Monopole unüberwindbare Schranken in den Weg stellen. Indem so das Monopol als ein Kapital auftritt, das die freie Konkurrenz beschneidet, aber nicht umgekehrt der Konkurrenz und damit den Gesetzen des Kapitals unterworfen wird, wird auch die scheinbare Unabhängigkeit und Selbständigkeit der Einzelkapitale nicht mehr aufgehoben; die scheinbare Willkür verwandelt sich in eine wirkliche. Nicht die immanenten Gesetze erscheinen jetzt den Produktionsagenten als »übermächtige, sie willenlos beherrschende Naturgesetze« [89], vielmehr wachsen umgekehrt einige der Produktionsagenten »zu allmächtigen Monopolinhabern« [90] an. »Durch die Monopolinhaber werden alle diejenigen abgewürgt, die sich dem Monopol, seinem Druck, seiner Willkür nicht unterwerfen.« [91] Daß diese »Art neue Gesellschaftsordnung« nicht mehr auf dem Kapital, dessen Gesetzen die Bewegung der Einzelkapitale unterworfen ist, beruht, wird an dieser Charakterisierung der Monopole deutlich.
Die positive Natur der Konkurrenz hat Kestner richtiger dargestellt, indem er sie als eine notwendige, dem Verwertungstrieb der Kapitale entspringende Tendenz zur Aufhebung der Kartelle bzw. ihrer Monopolstellung betrachtete. Aus diesem positiven Verständnis ergibt sich die defensive Natur des »Organisationszwangs«, der Abwehrmaßnahmen des Kartells. Ihn als »Zwang zur Unterwerfung unter die Monopolverbände« zu bezeichnen, hat seine Wurzel in einer inhaltslosen, weil nur negativen Vorstellung von der Konkurrenz, die dem Monopol unterliegt, weil sie keinen eigenen Inhalt hat, nicht als notwendige Form und wesentliche Bestimmung des Kapitals begriffen wird.
d) Die Beschneidung objektiver Gesetze
Die Ablösung der freien Konkurrenz durch die Herrschaft der Monopole betrachtet Lenin auch als eine Folge der Konzentration, die im Bankwesen vor sich geht. In diesem Sinne zitiert er Schulze-Gävernitz: »Die Börsenherrschaft unserer Großbanken (...) ist nichts als ein Ausdruck des voll organisierten deutschen Industriestaates. Wird damit das Gebiet der automatisch wirkenden Wirtschaftsgesetze beschnitten und damit das Gebiet bewußter Regelung durch die Banken außerordentlich erweitern, so wächst damit die volkswirtschaftliche Verantwortung weniger leitender Köpfe in Ungemessene.« [92] Was Lenin daran falsch findet, ist nicht die Illusion, als könnten durch die Entwicklung des Bankwesens objektive Gesetze beschnitten werden; er akzeptiert die These der »bewußten Regelung« durch die Banken. Erst bei der Frage, in wessen Interesse diese »bewußte Regelung« vorgenommen wird, beginnt seine Kritik. Er stellt fest, was Schulze-Gävernitz »zu vertuschen sucht, nämlich, daß diese ‘bewußte Regelung’ durch die Banken im Schröpfen des Publikums durch ein Häuflein ‘voll organisiertet Monopolisten besteht. [93]
Schulze-Gävernitz hat an die Konzentration der Banken Zukunftsperspektiven geknüpft, die Hilferdings Idee von einem »Generalkartell« ähnlich sind. »Mit den Bankengruppen entstehen Zentralstellen im Mittelpunkte der Volkswirtschaft (...) Diese Zentralstellen geben in wachsendem Maße den nationalen Ersparnissen die Richtung, und zwar um so stärker, je mehr die Anlagekapitalien in Effektenform, die Betriebskapitalien in Depositenform gegossen werden. Von hier aus wird das Gebiet der blind waltenden Wirtschaftsgesetze schrittweise zurückgedrängt zugunsten bewußter Anordnung - das Gebiet der Natur zugunsten des Reiches der ‘Freiheit’ im Sinne unserer klassischen Philosophie - auch Marxens!« [94] Die schrittweise Zurückdrängung der »blind waltenden Wirtschaftsgesetze« innerhalb des Kapitalismus - eine Prognose, die der Autor nur vermeintlich mit Marx, gewiß aber mit Hilferding teilt - findet ihre Krönung In einem Generalkartell der Banken: »Denken wir uns die aufgewiesenen Entwicklungstendenzen bis zum letzten erreicht: das Geldkapital der Nation in den Banken vereinigt, diese selbst kartellmäßig verbunden, das Anlagekapital der Nation in Effektenform gegossen (...)« [95] Volle Organisation des deutschen Industriestaats und bewußte Regelung der gesamtgesellschaftlichen Produktion durch ein Bankenkartell sind damit vollendet. Doch ausschließlich auf Marx wollte sich Schulze-Gävernitz nicht stützen; es folgt ein längeres Zitat, (das Lenin in der Imperialismusschrift wiedergibt) [96] von Saint-Simon, einem französischen Vertreter des utopischen Sozialismus, der die Banken dazu berufen sah, die gesamtgesellschaftliche Produktion zu leiten und zu regulieren. Solche Vorstellungen hatte Marx als »Illusionen über die wunderwirkende Macht des Kredit- und Bankwesens« bezeichnet, die »aus völliger Unkenntnis der kapitalistischen Produktionsweise und des Kreditwesens als einer ihrer Formen (entspringen).« [97]
Aber auch Schulze-Gävernitz konnte - im Unterschied zu Hilferding, der auf seinen Geld- und Kreditillusionen ein Theoriegebäude errichtet - seiner subjektiven Begeisterung für die Macht der deutschen Banken nur in Nebenbemerkungen und speziellen Abschnitten freien Lauf lassen. Das Material, das er in seinem Buch über »die deutsche Kreditbank« liefert, untermauert seine Ahnungen von einem »Reich der Freiheit« auf dem Boden kapitalistischer Verhältnisse keineswegs. Wenn er z. B. die Möglichkeit der Reichsbank erläutert, den allgemeinen Diskontsatz festzustellen - worin sich in der Tat die besondere Macht der Zentralbank zeigt -, belehrt er den Leser: »Aber aller menschlichen Willkür - ob der Großdiskonteure, ob der Reichsbank - sind durch die allgemein wirtschaftlichen Bedingungen enge Grenzen gesetzt« - und er verweist auf die Abhängigkeit des Zinsfußes von der Konjunktur. [98] Die »Börsenherrschaft der Banken« wird daher auch mit Fragezeichen versehen: »Es ist vielleicht zuviel gesagt, von einer ‘Börsenherrschaft der Großbanken zu sprechen. Aber ihr Einfluß ist weitreichend. Früher wollten die Banken als ‚Reportgeber‘ lediglich Zins verdienen; heute treiben die Großbanken, in deren Händen sich die Reportkapitalien immer mehr sammeln, mittels der Festsetzungen der Reportbedingungen bewußte ‘Reportpolitik’.« [99] Das ist eine der wenigen Tatsachen, aus denen Schulze-Gävernitz auf die Beschneidung der objektiven Gesetze schließt. Das Reportgeschäft ist eine Kreditform, deren sich die Banken auf der Grundlage des Terminhandels an der Börse bedienen. Und wenn der Einfluß der Banken auf die Festlegung der Reportbedingungen zu der Hoffnung verleitet, mit dem Reportgeschäft könnten die »automatisch wirkenden Wirtschaftsgesetze beschnitten« werden, so geht Schulze-Gävernitz doch keineswegs an der Tatsache vorbei, daß die Reportsätze vom Diskontsatz abhängig sind, da »der Diskontmarkt und der Reportmarkt in enger Verbindung« stehen. Aber die »Macht der allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnisse, die Ohnmacht menschlicher Willkür gegenüber dem Diskontsatz« war für ihn wiederum ein »sonnenklare(r) Tatbestand«. [100]
Hier - in der Beschreibung von »Tatbeständen«, nicht in dem Traum von einer schrittweisen Zurückdrängung der ökonomischen Gesetze befindet sich der Autor der »deutschen Kreditbank« in Übereinstimmung mit Marx, der seinerseits die Abhängigkeit des Zinsfußes vom industriellen Zyklus dargestellt hat, und hier verlieren sich die empirischen Belege und Anlässe für die Behauptung, daß der »alte Kapitalismus (...) von einem neuen Kapitalismus abgelöst« [101] wird, wie Lenin schreibt. Dem kritischen Leser des Buches, das einen lehrbuchartigen Abriß des deutschen Bankwesens vor dem ersten Weltkrieg gibt, stellt sich die These von einer »bewußten Regelung« der Wirtschaft und der Beschneidung ihrer objektiven Gesetze als eine äußerlich hinzugefügte Ideologie dar, als subjektive Wertung, die da anfängt, wo die Beschreibung der Tatsachen aufhört (und für die eigene Abschnitte vorgesehen sind, meist unter dem Titel: »Die volkswirtschaftliche Bedeutung (...)«).
Auch Lenin hat beides voneinander getrennt: er schreibt über das Buch: »In der Art eines Lehrbuchs, nach Paragraphen, offenbar größtenteils Geschwätz und ‘Systematik’. Enthält auch Interessantes. Völlig vom Geist des ‘Imperialismus’ durchdrungen.« [102] Wenn man sich fragt, was Lenin bewogen hat, gerade diesen »Geist«, die ideologische Bewertung der ökonomischen Entwicklung, als Beleg für »den neuen Kapitalismus mit der Herrschaft des Monopols« zu zitieren, stößt man auf die theoretischen Voraussetzungen, von denen Lenin ausging. Zum einen geht, wie wir gesehen haben, die Beschneidung der objektiven Gesetze aus dem negativen Verständnis der freien Konkurrenz direkt hervor, womit gleichzeitig der bewußten Herrschaft der Monopole Raum geschaffen wird. Auf derselben Grundlage hatte Hilferding die Entwicklung des Kapitalismus als den Weg zur Entstehung der »bewußt geregelten Gesellschaft in antagonistischer Form« [103] charakterisiert. Schulze-Gävernitz zeichnet denselben Gang der Entwicklung - es fehlt nur die »antagonistische Form«. Auf dieser theoretischen Basis mußte Lenin es als zutreffend ansehen, daß »das Gebiet der automatisch wirkenden Wirtschaftsgesetze beschnitten und das Gebiet bewußter Regelung durch die Banken außerordentlich erweitert wird«. Seine Kritik setzt daran an, daß Schulze-Gävernitz die »antagonistische Form« nicht erwähnt, in der die bewußte Regelung vor sich geht und die »im Schröpfen des Publikums durch ein Häuflein ‘voll organisierter’ Monopolisten besteht«.
Fussnoten
- MEW 25, S. 184
- Karl Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie (Rohentwurf), Berlin 1974, (im folgenden: GR) S. 317
- LW 21, S. 55
- MEW 25, S. 872
- LW 22, S. 295
- S. 304
- S. 223
- S. 211
- GR, S. 317
- GR, S. 317
- S. 454
- S, 450
- MEW 25, S. 769
- S. 887
- GR, S. 550
- S. 307
- LW 22, S. 270
- MEW 25, S. 839
- LW 22, S. 214
- LW 22, S. 210
- LW 22, S. 222
- ebd.
- Gero von Schulze-Gävernitz, Die deutsche Kreditbank, Tübingen 1922 (unveränderter Abdruck aus »Grundriß der Sozialökonomik«), S. 145
- Schulze-Gävernitz, a. a. O., S. 146; vgl. LW 22, S. 309
- LW 22, S. 309
- MEW 25, S. 621; Schulze-Gävernitz kommentiert das Zukunftsbild Saint-Simons mit den Worten: »Marxismus anders, und doch nur in der Form anders, als Marx ihn sich dachte!« (a. a. O., S. 146; vgl. LW 22, S. 309) Lenin vermerkt dazu am Rand seines Auszugs: »auch Marxismus!!!«(LW 39, S. 35)
- Schulze-Gävernitz, a. a. O., S. 76 f.
- ebd. S. 100
- ebd. S. 79
- LW 22, S. 223
- LW 39, S. 34
- Rudolf Hilferding, Das Finanzkapital. Frankfurt am Main - Köln, 1968, S. 322 / ders., Das Finanzkapital, Berlin, 1947, S. 319. Im folgenden wird in derselben Reihenfolge nach beiden Ausgaben zitiert.