Christoph Hering  (Verlag Peter Lang, Frankfurt 1983):

Die Rekonstruktion der Revolution.

Walter Benjamins messianischer Materialismus in den Thesen »Über den Begriff der Geschichte« ( 1 2 3 4 5 6 )

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Inhalt

  1. Vorwort
  2. Einleitung
  3. Theologischer »Zwerg« und Materialistische »Puppe«:
    Benjamins Projekt einer theologischen Erneuerung des Historischen Materialismus
  4. »Vergangenheit« und »Erlösung«: Zur »messianischen« Verantwortung der Gegenwart
    1. Der Anspruch der Vergangenheit auf »Erlösung«
    2. Exkurs: Benjamin und Marx 1
    3. »Materialistischer« und »historistischer« Umgang mit der Vergangenheit
    4. Die »Gegenwart« des Faschismus:
      Extremster und konsequentester Ausdruck prinzipieller geschichtlicher Entfremdung
  5. »Paradies« und »Sündenfall«: zur prinzipiellen Entfremdung des geschichtlichen Fortschreitens …
    1. Die Aporie des »Engels der Geschichte«
    2. Die Fundierung des Fortschrittsbegriffs in der »Idee der Katastrophe«
    3. Exkurs: Benjamin und Marx II
  6. »Sozialdemokratie« und »Klassenkampf«: Die Revision des Historischen Materialismus
    1. Die sozialdemokratische Verfälschung zentraler Marxscher Begriffe
    2. Die Entmündigung d. Proletariats als revolutionärer Klasse
    3. Exkurs: Benjamin und Adorno
    4. Die Ersetzung materialistischer Dialektik durch positivistisch- naturwissenschaftliche Eindimensionalität
    5. Exkurs: Historischer Materialismus und messianische Theologie
  7. »Kontinuum« und »Revolution«: Die Rekonstruktion geschichtlicher Gegenwart
    1. »Jetztzeit« statt »homogene und leere Zeit«
    2. Der »Tigersprung ins Vergangene« als Zurückgewinnung verschütteter »jetztzeitiger« Vergangenheit
    3. Exkurs: Fortschritt und Revolution
    4. Die Rekonstruktion von klassenkämpferischem »Kalender« und »kontinuumssprengender« Identität
    5. Gegenwart als »stillgestellte« Zeit bzw. materialistische Besonderheit statt historistische Abstraktion
    6. »Monadische« Vergangenheit und »jetztzeitige« Gegenwart
    7. Exkurs: Zur »Monade«
  8. »Theologie« Und »Historischer Materialismus«: Die menschliche Geschichte unter dem Aspekt ihrer »messianischen« Revolutionierbarkeit
    1. »Messianische« Radikalität und »richtiges Leben«
    2. Exkurs: Materialisierte Theologie
    3. Die »Messianisierung« des Historischen Materialismus
    4. Der »Dienst« der Theologie oder die Materialisierung des »Messianismus«
  9. Nachwort
  10. Bibliographie
  11. Ausführliches Inhaltsverzeichnis

 

II. »Vergangenheit« und »Erlösung«: Zur »messianischen« Verantwortung der Gegenwart

1. Der Anspruch der Vergangenheit auf »Erlösung«

a) Die »Neidlosigkeit der Gegenwart gegen ihre Zukunft«

Die II. These beginnt mit einem Zitat Lotzes, in dem dieser eine bemerkenswerte »‘allgemeine Neidlosigkeit der Gegenwart gegen ihre Zukunft‘« feststellt. Benjamin nimmt diesen Gedanken auf und interpretiert ihn ausführlich:

»Diese Reflexion führt darauf, daß das Bild von Glück, das wir hegen, durch und durch von der Zeit tingiert ist, in welche der Verlauf unseres eigenen Daseins uns nun einmal verwiesen hat. Glück, das Neid in uns erwecken könnte, gibt es nur in der Luft, die wir geatmet haben, mit Menschen, zu denen wir hätten reden, mit Frauen, die sich uns hätten geben können. Es schwingt, mit anderen Worten, in der Vorstellung des Glücks unveräußerlich die der Erlösung mit. Mit der Vorstellung von Vergangenheit, welche die Geschichte zu ihrer Sache macht, verhält es sich ebenso.« (These II)

Die »Neidlosigkeit der Gegenwart gegen ihre Zukunft« hat ihren berechtigten Grund darin, daß die Inhalte, worauf sich der Neid beziehen könnte, immer konkreter Erfahrung entstammen und daß selbst die illusionärste Wunschphantasie, die sich auf Zukunft bezieht, zutiefst von konkret möglichem, wenn auch oft gerade nicht erlebtem, versäumtem Glück »tingiert« ist.

[29] Diesen Zusammenhang von individuell-konkreter Glücksvorstellung und allgemeiner Geschichtspraxis hat Greffrath gültig herausgearbeitet: »Das Bild von Glück ist kein zeitloses, das als unbestimmte Hoffnung über der Zukunft läge. Es entzündet sich vielmehr an den Versäumnissen der eigenen Vergangenheit, an dem, was in ihr mißlungen, unvollendet, unbemerkt geblieben ist ... Diese Beziehung zwischen Versäumnis und Erfüllung überträgt Benjamin von der Erfahrung der individuellen Geschichte auf die kollektive Geschichte der Menschheit.« (Greffrath, aaO., S. 209).

Eine solche Bestimmung von »Glück« verweist auf fundamentale Konsequenzen: Zum einen ist »Glück« eindeutig als substantiell profanes festgehalten; der darin eingeschlossene materialistische Anspruch kennzeichnet damit jegliche Art z.B. mythischer, ästhetischer oder heilsgeschichtlicher Versöhnungsangebote als letztlich ideologische Surrogate. Zum anderen wird dementsprechend das Bild der Zukunft total von der falschen Vorstellung befreit, in ihr werde die Vergangenheit einfach hinter sich gelassen und das ganz andere und neue Leben in Aussicht stehen. Orientiert sich Glück am Erlebten, dann hat Benjamin recht, wenn er formuliert, daß »in der Vorstellung des Glücks unveräußerlich die der Erlösung« mitschwingt. Denn nicht da, wo das Fortschreiten in die Zukunft die Vergangenheit »vergangen« sein läßt und »neuem« Glück entgegeneilt, stellt sich wahres Glück her, sondern nur dort, wo diese Zukunft dem konkret Versäumten, Verweigerten, Unentwickelten, Mißlungenen das prinzipielle Recht auf Erfüllung (25) bzw. Erlösung einräumt und aus der Substanz dieses verhinderten Glückes die Inhalte für das konkrete geschichtliche Fortschreiten bezieht.[29] (Die Art eines geschichtlichen Weitergehens, das die »Trümmer« der Vergangenheit unversöhnt läßt und die bloße Zukunft zum »Fortschritt« an sich fetischisiert, wird dann in der berühmten IX. These vom »Engel der Geschichte« als eine in Wahrheit »einzige Katastrophe« entlarvt). Wo »Glück« in idealistischer Projektion allein der Zukunft überlassen bleibt, verfällt das Leben der Abstraktion und geht seiner materialistischen Wahrheit verlustig: Immer schon ein konkretes zu sein und allein aus seinem gewordenen »Hier und Jetzt« die Bestimmungen seiner Zukunft zu beziehen. Deshalb lenkt der »Neid« auf einen richtigen Weg: Er läßt sich eben nicht vom konkret Erlebten abbringen und Zukunft interessiert ihn nur, wo sie erlebte Realität weder unterschlägt, noch von ihr - mit dem illusionären Versprechen auf zukünftigen Trost - ablenkt. (»Paradies« und »klassenlose Gesellschaft« können unter bestimmten Voraussetzungen genau diese Art der illusionären Ablenkung beinhalten: Hinter deren Versprechen zukünftiger Entschädigung verbirgt sich sehr oft nichts anderes als die totale Preisgabe gegenwärtigen Glücksanspruchs. Das Leben wird zum Opfer und das einzelne Individuum - angesichts des »Jenseits« bzw. der »Revolution« - zum gleich-gültigen Moment).

Gerade weil Glück sich in Benjamins Reflexion eben nicht von der Zukunft her definieren läßt, sondern aus seiner bereits erlebten Realität heraus, bedarf es wegen der damit verbundenen Gefahr, daß deren so glückskonstitutiven Inhalte dem Vergessen ausgeliefert werden können, umso dringender der »Erlösung«, sollen nicht wesentlichste Teile seiner selbst für immer verloren gehen; genau das wurde jede Art zukünftigen Glücks zum a priori reduzierten und darin unmenschlichen machen. In solcher Zukunft wäre vergangene Geschichte teilweise oder ganz negiert - wie z.B. in der christlichen Vorstellung vom jenseitigen Glück, das letztlich nichts mehr mit diesseitiger, weltlicher Realität zu tun hat; und die Preisgabe der eigenen geschichtlichen Tradition käme endlich einer totalen Entmündigung der Menschen gleich. Und wo Zukunft sich quasi jenseits der Vergangenheit bilden soll, hat die Selbstentfremdung der Menschen ihre extremste Gestalt angenommen: Abgespalten von der eigenen Geschichte konsti-(26)tuiert sich diese ihre Zukunft über ihre Köpfe hinweg bzw. hinter ihrem Rücken und zwingt sie, als »Glück« zu deklarieren, was in Wahrheit Ausdruck der »Katastrophe« ist. Eindimensional fixiert auf die Zukunft und herausgenommen aus der Totalität geschichtlicher Erfahrungen, wie sie in der Vergangenheit aufbewahrt sind, bleibt ihnen keine theoretische Armatur mehr, mit der sie dieser Ausgeliefertheit an den status quo der jeweiligen Zukunft kritisch begegnen und die damit verbundene Verwechslung von Glück mit Entfremdung zur Einsicht bringen könnten.[30]

b)  Zukunft als »erlöste« Vergangenheit

[30] Die kapitalistische Realität liefert signifikanteste Beispiele dieser Verkehrung von Entfremdung in Glück. Je weiter dort der Verlust von revolutionärem Geschichtsbewußtsein fortschreitet und die kapitalistisch organisierte Gesellschaft unter dem Mystifikationsetikett »freiheitlicher Demokratie« zur naturwüchsig-harmonischen hypostasiert wird, desto dominierender wird auch die Verklärung der alltäglichen Katastrophe zum Glück – Benjamin spricht später in der VIII. These vom »Ausnahmezustand«, der »die Regel ist«. Augenfälliges Beispiel für die ideologische Verklärung von Entfremdung in Glück präsentiert der auf immer raffinierterer Ebene sich reproduzierende Zirkel von Glücksversprechen in der kapitalistischen Werbung und Surrogat-Befriedigung im Warenkonsum. Vom Konsumenten wird erwartet, daß er seine psychische und ökonomische Ausbeutung als Fortschritt und so als »Glück« genießt.

[31] Das inhaltliche Verhältnis von Vergangenheit und Zukunft bzw. Gegenwart muß für Benjamin unbedingt unterschieden werden vom abstrakten Modell des puren Zeitablaufes: »Während die Beziehung des Einst zum Jetzt eine (kontinuierliche) rein zeitliche ist, ist die der Vergangenheit zur Gegenwart eine dialektische, sprunghafte.« (GS 1, 3, 5. 1242f., N 2a, 3). Ein Gedankengang, der im folgenden weitreichendste Konsequenzen hat für Benjamins Entfaltung seines Begriffes von menschlicher Geschichte bzw. Fortschritt. »Die Gegenwart aus dem Kontinuum der historischen Zeit heraussprengen: Aufgabe des Historikers.« (GS 1, 3, S. 1244, Ben-Arch, Ms 481).

[32] »Diese Gegenwart ist, so seltsam das klingen mag, der Gegenstand einer Prophetie. Dieselbe verkündet also nicht Künftiges. Sie gibt nur an, was die Glocke geschlagen hat... Der Historiker... erschaut seine eigne Zeit im Medium von verflossenen Verhängnissen.« (GS 1, 3, 5. 1250 Ben-Arch, MS 444).

Der so dunkle Anfang dieser II. These beginnt seine Funktion zu erhellen. Benjamins Rekurs auf die Reflexion von »Neid« und »Glück« dient ihm dazu, in bewußter Irritation den Weg für eine Einsicht zu bereiten, in der die ideologische Vorstellung eines linearen Zeitablaufes - Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft - aufgesprengt wird und einer differenzierteren Konzeption weichen muß.[31] Wie sich der Neid auf ein konkret Erlebtes bezieht und in seiner Zukunftsorientiertheit - er will haben, worüber er gegenwärtig nicht verfügt - gleichzeitig den Blick aufs Gewesene zurückwendet, so muß ebenso auf fundamentaler geschichtlicher Ebene die Bewegung in die Zukunft unter dem Aspekt der Berücksichtigung von Vergangenheit konstruiert werden. (27)

Deswegen kann Benjamin die Vorstellung von »Glück«, wie er sie oben entwickelt hat, mit der Vorstellung von »Vergangenheit« auf eine Ebene bringen und beide in ihrem Anspruch auf »Erlösung« miteinander analogisieren:

»Die Vergangenheit führt einen heimlichen Index mit, durch den sie auf die Erlösung verwiesen wird. Streift denn nicht uns selber ein Hauch der Luft, die um die Früheren gewesen ist? ist nicht in Stimmen, denen wir unser Ohr schenken, ein Echo von nun verstummten? haben die Frauen, die wir umwerben, nicht Schwestern, die sie nicht mehr gekannt haben? Ist dem so, dann besteht eine geheime Verabredung zwischen den gewesenen Geschlechtern und unserem. Dann sind wir auf der Erde erwartet worden. Dann ist uns wie jedem Geschlecht, das vor uns war, eine schwache messianische Kraft mitgegeben, an welche die Vergangenheit Anspruch hat.« (These II)

Von großer Bedeutung für die weitere Interpretation ist es hier, daß man das genaue Zentrum dieser II. These erkennt, in der es explizit um Vergangenheit und Zukunft geht, wobei jedoch genau die Zeitebene ausgespart bleibt, um die primär verhandelt wird: Die Ebene echter geschichtlicher Gegenwart bzw. deren aktuelles Fortschreiten in die Zukunft. Wie nämlich die richtige Vorstellung von »Glück« sich der idealistischen Projektion ihrer Wünsche in die Zukunft entschlagen muß und in konkreter Endlichkeit dem Anspruch verwehrten, nichteingelösten Glücks zu folgen hat, so verweist ebenso die korrekte Bestimmung von »Vergangenheit« auf eine Leistung der jeweiligen gegenwärtigen Generation, die ihr aktuelles Fortschreiten in der Sorge um die Integration vergangener Ansprüche in ihre eigene Gegenwart fundieren muß.[32] Und wie die Vorstellung von »Glück« ihre materialistische Valenz und damit für Benjamin prinzipiell ihre Wahrheit verliert, wenn sie sich vollständig dem Mythos der Zukunft ausliefert, so geht ebenso die menschliche Geschichte ihrer wesentlichen Substanz verlustig, wenn zum Vergangenen erklärt und dem Vergessen ausgeliefert wird, was ihr konkretes Fundament ausmacht. Denn wo der Begriff der Geschichte erst dort zu seiner Wirklichkeit kommen soll, wo eigentlich nur noch vom Ende der Geschichte geredet werden kann - in der geschichtslosen Zukunft paradiesischer Erlösung, da ist »Geschichte« längst keine Bezeichnung mehr für menschliche Praxis, sondern meint in Wahrheit deren Negation. Geschichte schließt Zukunft zwar immer ein; diese jedoch darf für Benjamin keine un- oder übermenschliche sein und sie gelingt nur dann, wenn in ihr nichts von erlebter geschichtlicher Erfahrung preisgegeben wird und wenn sie einer Gegenwart entspringt, in der die Totalität der bisherigen Geschichte wie in einem Brennpunkt zusammenfällt. Eine solche Totalität erlebter, konkreter geschichtlicher Erfah-(28)rung jedoch ist in Benjamins Konzept wesentlich auch Erfahrung des nicht-eingelösten Glücksanspruches, der Abwesenheit und Verhinderung, des Mißlingens und des potentiell Möglichen, aber noch nicht Realisierten. Das, was nicht erlebt werden konnte, ist hier ebenso wichtig wie das, was sich Wirklichkeit geben konnte. Und so ist diese Totalität, die hier zum Thema wird, eben gerade nicht identisch mit der Summe des »positiv« Geschehenen.

Das »Ziel« der Geschichte ist für Benjamin nicht die Zukunft; eine solche Konzeption entfremdet in seinen Augen die Geschichte ihrer selbst. Einzig und allein kann es um die Herstellung und Gewährleistung eines geschichtlichen Zustandes gehen, in dem Geschichte wirklich und aktuell ihrem Begriff entspricht und eine Qualität gesellschaftlicher Praxis repräsentiert, in der die Menschen identisch mit sich und der von ihnen hergestellten Geschichte sind und als Herrn im eigenen Haus ebenso selbstbewußt wie unentfremdet die Produktion ihres gesellschaftlichen Lebens organisieren. Deshalb ist es verständlich und legitim, wenn Benjamin die »Neidlosigkeit der Gegenwart gegen ihre Zukunft« zum archimedischen Punkt macht und seine Geschichtskonzeption in einer Gegenwart zentriert, die um ihre Vergangenheit Sorge tragen muß und das Werk deren »Erlösung« zum ureigensten Anliegen zu machen hat: Das »Ziel« der Geschichte liegt dann einzig in der Herstellung konkreter gelingender Geschichte und zukünftiger Fortschritt bestimmt sich nur daraus ‚ in wie weit es der jeweiligen gegenwärtigen Generation gelingt, in ihrer eigenen aktuellen geschichtlichen Bewegung die Totalität aller bisherigen Geschichte mitaufzurichten, d.h. Vergangenheit in sie zu integrieren: Diese Integration ist Voraussetzung ihrer »Erlösung« bzw. diese immer auch schon selbst.[33] (Mit dem Begriff der »Jetztzeit« kennzeichnet Benjamin ab der XIV. These dann diesen Zustand aktueller unentfremdeter 00Gegenwart).

[33] »Wir beanspruchen von den Nachgebornen nicht Dank für unsere Siege, sondern das Eingedenken unserer Niederlagen.« (GS 1, 3, 5. 1240, Ben-Arch, MS 446).

[34] Die Verwendung der Erlösungskonzeption für einen endlichen, konkreten Geschichtszustand macht deutlich, daß Benjamin - wie oben schon angeschnitten eben keiner Vorstellung von zukünftiger Erlösung im Sinne eines mythischen deus ex machina nachhängt, der im Nachhinein kraft seiner unumschränkten Autonomie zusammenfügt, was bis zuletzt disparat und zertrümmert war, sondern dass für ihn jeder einzelne geschichtliche Augenblick vom Werk der »Erlösung« geprägt und getragen sein muß. Nur wo dies innerhalb konkreter Geschichte geschieht, vermag dann auch die Bewegung in die Zukunft Erlösung zu verwirklichen.

[35] Mit Recht verweist Greffrath darauf, daß Benjamin die Fähigkeit, sich in gegenwärtiger Praxis der Vergangenheit »erlösend« anzunehmen, zum Prüfstein einer gültigen Geschichtstheorie macht und daß seine Hinwendung zum Historischen Materialismus gerade auf der Hoffnung bzw. dem Urteil begründet ist, daß er dazu potentiell in der Lage ist: So ist die Integration der Vergangenheit »die Bedingung, unter der Benjamin dem Historischen Materialismus eine Chance auf Gewinn einräumt, und zugleich die, unter der er selbst sich auf den Boden dieser Theorie stellt.« (Greffrath, aaO., S. 208).

Unter diesen Voraussetzungen ist es nur konsequent, daß Benjamin im obigen Zitat die gegenwärtige Generation auf ihre Vergangenheit verpflichtet und ihr als zentrale Aufgabe bei ihrer geschichtlichen Praxis die Berücksichtigung deren Erlösungsanspruches auferlegt. Und es ist wichtig, daß nicht nur der Vergangenheit auf Grund ihrer konkreten Endlichkeit ein legitimes Recht auf »Erlösung«[34] zugesprochen wird, sondern daß die jeweilige gegenwärtige Generation ebenfalls (29) über eine erlösende, »messianische« Kraft verfügt, »an welche die Vergangenheit Anspruch hat«. Das bedeutet, daß es die Menschen sind, die - auch wenn diese »messianische« Kraft nur »schwach« ist - die Erlösungsarbeit ins Werk setzen und vorantreiben müssen; denn nur wenn es ihnen gelingt, in die eigene Gegenwart die Vergangenheit einzubringen, bewegen sie sich in unentfremdeter geschichtlicher Totalität.[35] Und genau auf diesen Zustand unentfremdeten Geborgenseins im geschichtlichen Ganzen zielt dann die folgende III. These ab, in der am heilsgeschichtlichen Erlösungsmodell exemplarisch vorgeführt wird, daß Geschichte erst dann ihrem Begriff entspricht, wenn es in ihr kein Verdrängtes mehr gibt und die Menschen über sämtliche geschichtlichen Erfahrungen verfügen können.

c)  Gegenwart als das geschichtliche Ganze

»Der Chronist, welcher die Ereignisse hererzählt, ohne große und kleine zu unterscheiden, trägt damit der Wahrheit Rechnung, daß nichts was sich jemals ereignet hat, für die Geschichte verloren zu geben ist. Freilich fällt erst der erlösten Menschheit ihre Vergangenheit vollauf zu. Das will sagen: erst der erlösten Menschheit ist ihre Vergangenheit in jedem ihrer Momente zitierbar geworden. Jeder ihrer gelebten Augenblicke wird zu einer citation à l‘ordre du jour - welcher Tag eben der jüngste ist.« (These III)

Die »Wahrheit« des »Chronisten« besteht darin, daß menschliche Geschichte immer nur das Ganze sein kann und daß die jeweilige historische Besonderheit eigentlich nur unter solchen Umständen »Geschichte« genannt werden kann, wenn in ihr das Allgemeine unreduziert und erfahrbar erhalten ist. Allein unter dieser Voraussetzung uneingeschränkter Geltung von geschichtlicher Realität - gegenwärtiger oder vergangener, die gegenwärtige konstituiert - bleibt die Gefahr gebannt, daß Teile des geschichtlichen Ganzen abgespalten werden und daß nur mehr ein Sektor als das Ganze gelten soll. (Genau das geschieht z.B. innerhalb bürgerlicher Gesellschaftstheorie wenn sie an der kapitalistischen Produktionsweise Ausbeutung und Entfremdung unterschlägt und die zum Fortschritt par excellence hypostasierte »revolutionäre« Entfaltung der Produktivkräfte zum Beweis für das funktionierende Ganze erklärt und wie Geschichte an sich bzw. wie Naturgeschichte behandelt).

[36] In verschiedenen Versionen reflektiert Benjamin den Zustand einer Welt nach dem »jüngsten Tag« und in allen Varianten wird deutlich, daß es sich dabei keinesfalls um eine Situation handelt, in der Geschichte bzw. Vergangenheit keine konstitutive Rolle mehr spielen - ganz im Gegenteil, sie bilden deren wesentliche Substanz: »Die messianische Welt ist die Welt allseitiger und integraler Aktualität. Erst in ihr gibt es eine Universalgeschichte. Aber nicht als geschriebene, sondern als die festlich begangene. Dieses Fest ist gereinigt von aller Feier. Es kennt keinerlei Festgesänge. Seine Sprache ist integrale Prosa, die die Fesseln der Schrift gesprengt hat und von allen Menschen verstanden wird ...« (GS 1, 3, 5. 1238, Ben-Arch, Ms 470). Diese Welt ist nicht jenseits von Geschichte, sondern diese in ihrer höchsten Ausformung. Die Menschen in ihr befinden sich in einem Zustand aufgehobener Entfremdung und in ihrer Besonderheit verfügen sie gleichzeitig über sämtliche Potenzen ihrer individuellen und kollektiven Geschichte. Wo es keiner »Feiern« und keiner heiligen »Schrift« mehr bedarf, da beginnt profanes richtiges Leben.

[37] Was »echte historische Existenz« bedeutet, verdeutlicht Benjamin am Bild der »ewigen Lampe«: »Sie ist das Bild der erlösten Menschheit - der Flamme, die am jüngsten Tage entzündet wird und ihre Nahrung an allem findet, was sich jemals unter Menschen begeben hat.« (GS 1, 3, S. 1239, Ben-Arch, Ms 445); bzw.: »Sie zitiert das Gewesene - die Flamme, die einmal entzündet wurde - in perpetuum, indem sie ihm immer neue Nahrung gibt.« (GS 1, 3, 5. 1245, Ben-Arch, Ms 483). Dem analog läßt sich der Begriff der Gegenwart beschreiben, wie Benjamin ihn hier entwirft: Sie hat Vergangenheit am Leben zu erhalten; in ihr darf »die Flamme, die einmal entzündet wurde«, nicht erlöschen; und indem sie dafür sorgt, entzündet sie auch immer wieder die Flamme der »erlösten Menschheit«. Deshalb ist es die wichtigste Aufgabe des Geschichtsschreibers, jeden Augenblick nach dem Modell des »jüngsten Tages« zu konstruieren, so daß Gegenwart zum »messianischen« Zustand »allseitiger und integraler Aktualität« wird. (Siehe vorausgehende Anmerkung). Und so besehen »partizipiert jeder Begriff der Gegenwart am Begriff des jüngsten Tages« (GS 1, 3, 5. 1245, Ben-Arch, Ms 483). Er entzündet die Flamme der »erlösten Menschheit«.

[38] »Der jüngste Tage ist eine rückwärts gewandte Gegenwart.« (GS 1, 3, 5. 1232, Ben-Arch, Ms 1105).

[39] Interessant und auf Grund der Benjaminschen Kenntnis durchaus auch als Folie mitgedacht ist der Zusammenhang zwischen dem Verfahren der Psychoanalyse und der Sorge des historischen Materialisten um die zu erlösende Vergangenheit. Insofern die psychoanalytische Theorie und Therapie u.a. davon ausgeht, dem Individuum die Erfahrungen und die darin eingeschlossenen psychischen Energien seiner eigenen Vergangenheit, die auf Grund traumatischer Eindrücke der Verdrängung anheim fallen mußten, wieder zugängig zu machen und aus der Abgespaltenheit ins Bewußtsein zurückzuholen, zielt auch sie auf die Herstellung eines Zustandes autonomer Verfügbarkeit über die eigenen Kräfte ab: Der einzelne Mensch soll hier in die Lage versetzt werden, sich wirklich seiner eigenen Geschichte bemächtigen und aus ihr heraus leben zu können. Glück - geschichtliches wie individuelles - bestimmt sich dann danach, in wie weit die Vergangenheit der Gegenwart integrierbar ist: »Glücklichsein heißt ohne Schrecken seiner selbst innewerden zu können.« (GS IV, 1,5. 113).

(30) Dieses Ganze jedoch entspricht - folgt man der inneren Konsequenz dieses Ansatzes - ebenso erst dann seinem Begriff, wenn es endgültig über die abgeschlossene Summe sämtlicher geschichtlicher Fragmente verfügen kann. Ein Zustand, wie er sich logischerweise nur denken läßt als das Ende von Geschichte überhaupt, wenn sich alle historische Endlichkeit vollständig in »Erlösung«, und d.h.: In unendliche und uneingeschränkte Präsenz transzendiert hat. Benjamins weist hier selbst darauf hin, daß der Zeitpunkt einer solchen Umwandlung mit dem metaphysisch-theologischen Datum des »jüngsten Tages« zusammenfällt. Und unter diesem Blickpunkt scheint die von Benjamin verwendete heilsgeschichtliche Erlösungskonzeption in letzter Konsequenz doch wieder von Geschichte wegzuführen. Sie tut dies jedoch nur, wenn man unterschlägt bzw. unberücksichtigt läßt, daß erstens dieser »jüngste Tag«, so wie Benjamin ihn versteht, eine »messianische Welt« einleitet, die auf keinen Fall als ebenso geschichtslos gedacht werden darf wie die des christlichen Jenseits oder Paradies,[36] und daß zweitens und das ist hier Benjamins zentraler Gedanke - dieser »jüngste Tag« bereits in jedem geschichtlichen Augenblick als Vorbild enthalten sein und praktiziert werden muß. In ihm nämlich verwirklicht sich »echte historische Existenz«.[37] Und genau aus diesem Grund würdigt er die Vorgehensweise (31) des »Chronisten« als im Kern richtige: Indem dieser alles »hererzählt ...‚ was sich jemals ereignet hat«, vollzieht er bereits innerhalb geschichtlicher Endlichkeit das Prinzip des »Jüngsten Tages«, an dem alles zur Debatte steht, was geschichtliche Realität war.

Was am heilsgeschichtlichen Konzept noch utopisch-irreal ist, darf deshalb nicht wortwörtlich und unvermittelt mit Benjamins Position identifiziert werden. Wie bei allen Beispielen, die Benjamin zur Entwicklung seiner Gedanken einführt, muß man auch hier davon ausgehen, daß es ihm immer darauf ankommt, gerade an der Theologie und an deren scheinbar so indiskutabel-metaphysischen Spekulationen Denkansätze aufzudecken, die - konkret gewendet und ihrer mythischen Verstellung entkleidet - eine enorme materialistische Sprengkraft enthalten und dem »historischen Materialismus« einen entscheidenden »Dienst« erweisen können. Aus diesem Grund darf die letzte und orthodoxe theologische Konsequenz dieses Vorbildes nie davon ablenken, daß sie bei Benjamin eigentlich erst in ihrer Profanisierung ihre wahre Kraft entfalten und von ihm zur Beweisführung herangezogen werden kann.

Das heilsgeschichtliche Erlösungskonzept - hier übertragen auf die profane Tätigkeit des »Chronisten«, der alles aus der Vergangenheit zu seinem Recht kommen« lassen will - impliziert für Benjamin ganz offensichtlich das Modell einer Gegenwart, die in jedem ihrer Momente über sämtliche Erfahrungen und Potenzen verfügt, die in sie aus der Vergangenheit eingelassen sind. (Der »jüngste Tag« ist das idealtypische Vorbild einer solchen Gegenwart).[38] Bzw. negativ formuliert: In einer solchen Gegenwart ist es nicht mehr möglich, daß gegenwartskonstitutive Momente aus der Vergangenheit sich autonomisieren und weder wahrnehmbar noch kontrollierbar Entfremdung und geschichtliche Ohnmacht produzieren. »Erlöst« ist in ihr immer schon partiell die Menschheit vom »Schicksal«, daß ihre eigene Geschichte sich gegen sie selbst wendet.

Auch wenn die innere Logik dieses Konzepts zur Folgerung zwingt, daß »erst der erlösten« Menschheit... ihre Vergangenheit in jedem ihrer Momente zitierbar geworden« ist, weil die konkrete Geschichtsbewegung ja immer wieder neue endliche, »erlösungsbedürftige« Geschichtsfragmente produziert, so verpflichtet die Benjaminsche Auslegung dieser Konzeption jede Generation dieses Menschengeschlechts gleichzeitig auf die Einsicht, daß diese vollständige »Erlösung« am »jüngsten Tag« das Grundmodell für jeden einzelnen geschichtlichen Augenblick abgibt: Profane Geschichte organisiert sich hier nach dem Muster der endgültig erlösten und das fordert von den Produzenten dieser profanen Geschichte, daß sie ihre geschichtlich-gesellschaftliche Praxis an diesem Vorbild zu (32) orientieren haben. Ihre Praxis muß »erlösende« Qualität annehmen.[39]

d) Die »messianische »Dimension der Gegenwart

Mit Abschluß dieser III. These läßt sich bereits gut erkennen, unter welchen Gesichtspunkten die »Theologie« vom »historischen Materialismus« in »Dienst« genommen werden kann und ihm dadurch entscheidende Elemente zu seiner Verstärkung liefert. Die »Theologie« ist für Benjamin deshalb so wertvoll, weil sie im Konzept, daß Vergangenheit der »Erlösung« bedarf, eine Vorstellung von Zeit und Fortschritt aufbewahrt, die - materialistisch weitergedacht - sowohl positivistischer Linearität wie vulgärmaterialistischer Zukunftsgläubigkeit entgegensteht. Und insofern dieses hier entwickelte Erlösungskonzept Zeit und Fortschritt aus aktueller, profaner Geschichtsgegenwart heraus bestimmt und diese zum Ziel der menschlichen Anstrengungen macht, führt es auf Positionen zurück, die zu Benjamins Zeit innerhalb der politischen Bewegungen, die sich offiziell am »historischen Materialismus« orientierten, vollständig dem Revisionismus verfallen und auch in Vergessenheit geraten waren. Das in die aktuelle Geschichte hineinverlagerte Erlösungskonzept rekonstruiert bei Benjamin ein Bewußtsein von Gegenwart, das sich weder an die Zukunft ausliefert, noch gleichgültig der eigenen geschichtlichen Tradition gegenübersteht bzw. diese, als wäre sie eine tote, zur musealen Versteinerung degradiert. Die Errichtung einer Gegenwart, in der ohne metaphysischen Rest über die ganze Geschichte entschieden wird und in der die Menschen, im vollen Besitz all ihrer geschichtlichen Potenzen, Zukunft als jeweils erlöste Vergangenheit produzieren, ist Benjamins Intention. Die »Theologie« liefert ihm hierzu das Vorbild einer erlösenden, erlösten Gegenwart; und der historische Materialismus wird - wie sich bereits in der folgenden IV. These zeigen wird - dieser erlösenden, »messia-(33) nischen« Gegenwart die konkrete geschichtliche Gestalt geben.[40]

[40] Die »Theologie«, die Benjamin für den »historischen Materialismus« in »Dienst« zu nehmen beabsichtigt, ist mit Sicherheit zutiefst geprägt von jüdischer Tradition. Jedoch nicht ausschließlich und schon gar nicht in Identifikation mit ihr als etablierter, praktizierter Religion. Die Konzeption des »Messias« als »Überwinder des Antichrist« später in These VI - Kombination von jüdischer und christlicher Begrifflichkeit - zeigt zum einen Benjamins Unbefangenheit im Umgang mit Theologie und enthält zum anderen den unbedingt beherzigenswerten Hinweis, Benjamin nicht auf die eine oder andere Position festzunageln bzw. überhaupt den Terminus der »Theologie« zu einseitig als enge Disziplin zu fassen. Greffraths Einschätzung trägt diesem Sachverhalt sehr gut Rechnung: »Benjamin sucht den Historischen Materialismus und eine Erfahrung zu integrieren, die er theologisch nennt. Von orthodoxer Theologie ist sie weit entfernt.« (Greffrath, aaO., 5. 208).

[41] Der Zusammenhang zwischen Zurückgewinnung der Vergangenheit, bzw. Sorge um sie, aktueller klassenkämpferischer Praxis und messianischer Erlösung findet sich in verschiedenen Variationen in Benjamins Entwürfen und bestätigt nur die unbedingte Zusammengehörigkeit dieser Elemente. Die Verfügbarkeit über Vergangenheit - Grundbedingung unentfremdeter, messianischer Gegenwart -  hat ihre unverzichtbare politische Dimension: »Der Eintritt in dieses Gemach ((der Vergangenheit)) fällt mit der politischen Aktion strickt zusammen; und er ist es, durch den sie sich, wie vernichtend immer, als eine messianische zu erkennen gibt.« (GS 1, 3,S. 1231, Ben-Arch, Ms 1098 v).

In dem er das, was im theologischen Erlösungskonzept ideell-utopisch dargestellt ist, aus seiner metaphysischen Beschränkung zu befreien versteht und es sozusagen »vom Kopf auf die Füße« stellt, erweist er sich als der eigentliche verantwortungsvolle Agent dieses Anspruches der Vergangenheit auf diese »schwache messianische Kraft« der Gegenwart. Denn: »Der historische Materialist weiß darum«, daß dieser »Anspruch nicht (billig) abzufertigen« (Th. II) ist; wobei als »billig« jeder Versuch einzustufen ist, der diesem Anspruch auf idealistisch, nicht-konkret-geschichtlicher Ebene gerecht werden will. Und er weiß nicht nur darum, sondern er verfügt auch über die einzige adäquate Konzeption, mit der diesem »Anspruch« geschichtlich Genüge geleistet werden kann:  Die Konzeption des »Klassenkampfes«.[41]

Deswegen ist der Übergang von den »theologischen« Thesen II und III zur »revolutionären« These IV., die eben diesen »Klassenkampf« zu ihrem zentralen Thema macht, alles andere als gewalttätig, sondern ganz im Gegenteil organisch und überzeugend. Er widerlegt alle Einwände, die Benjamins Aufgreifen des Historischen Materialismus zur Äußerlichkeit degradieren wollen.

e)  Der »Klassenkampf« als adäquates Mittel der »Erlösung«

»Der Klassenkampf, der einem Historiker, der an Marx geschult ist, immer vor Augen steht, ist ein Kampf um die rohen und materiellen Dinge, ohne die es keine feinen und spirituellen gibt.« (These IV) (34)

[42] Insofern die IV. These die Aufgabe hat, das Konzept des »Klassenkampfes« in den vorher entwickelten theologischen Rahmen einzuführen, bezeichnet sie natürlich eine entscheidende Schlüsselstelle, an der über das weitere Verständnis der Intentionen Benjamins grundlegend entschieden wird. Eine Interpretation des Hegelzitats, wie sie z.B. Kaiser vornimmt, verhindert bereits hier den Zugang zu den folgenden Thesen und führt auf irreversible Abwege: »Hegels Satz bringt Handeln und Empfangen dergestalt zusammen, daß dem Handelnden etwas in Aussicht gestellt wird, was jenseits des Handelns und seiner Zielsetzung liegt: Dem, der nach Nahrung und Kleidung trachtet, wird das Reich Gottes zufallen.« (Kaiser, aaO., S. 19). Diese lineare Paraphrase beraubt die Hegelsche Aussage ihres listigen dialektischen Kerns. Denn immerhin verbindet sie zwei bis dahin disparate Teile miteinander und wenn man genau hinsieht, muß man bemerken, daß Hegel vom »Reich Gottes« bereits ablenkt und den Schwerpunkt der Reflexion auf menschliche Praxis verlagert. Eigentlich entwertet er dieses »Reich Gottes« und entbindet die Menschen von ihrer theologischen Sorge, indem er ihnen die Beschwichtigung und Versicherung zukommen läßt, daß ihrer gelingenden Praxis. auch noch das »Reich Gottes« in Aussicht steht. In letzter Konsequenz sollen bei Hegel die Menschen ganz zu ihrer geschichtlichen Praxis zurückfinden und das »Reich Gottes« ruhig auch Gottes Sorge sein lassen. Auch wenn Kaiser durchaus sieht, dass »Praxis ... stattfinden (muß), ehe das entstehen kann, was jenseits der Praxis ist« (Kaiser, aaO., S. 20), nötigt ihn- seine falsche Einschätzung dieses »Reichs Gottes« letztlich doch dazu, die Seite der menschlichen Praxis zur gleichgültigen und akzidentiellen zu machen. Daß er dabei nicht mehr zu der Frage kommen kann, wie diese Praxis denn auszusehen habe, entspringt dieser inneren Logik seines Ansatzes. Deshalb führt auch seine richtige Formulierung in dem Punkt, daß dieses »Reich Gottes« bei Hegel »vom Menschen ermöglicht, aber nicht herbeigeführt« (Kaiser, aaO., 5. 20) wird, unmittelbar anschließend in die Irre, wenn sie es nicht mehr für nötig hält, das »Ermöglichen« in seiner bestimmten Form festzuhalten. Daß Hegel - und dann natürlich Marx - genau auf diesen Punkt hinlenken wollten, um die menschliche Geschichte aus ihrer falschen idealistischen Abstraktheit zu befreien, geht hier wieder als wichtige Einsicht verloren. Kaiser richtet die alte abstrakte Dichotomie von menschlichem Handeln an sich und »Reich Gottes« auf, wo auch Hegel längst auf das Verhältnis von konkret-bestimmtem Handeln und »Reich Gottes« aus ist. Daß bei Marx dieses »Reich Gottes« ganz in geschichtliche Profanität aufgelöst wird, führt nur die Hegelsche Konsequenz zu Ende, die bereits in ihrem zentralen Ansatz die menschliche Arbeit zum Prius erhebt und damit - in Umkehrung der alten theologischen Konzeption - das »Reich Gottes« zum Akzidentiellen erklärt. Denn wo richtig für »Kleidung und Nahrung« gesorgt ist, da kommt das »Reich Gottes von selbst«. Die theologische Problematik hat sich unter der Hand in eine gesellschaftspolitische verwandelt.

[43] So ist z.B. die Geschichte der europäischen Museen ein beeindruckendes Beispiel für diese Form des Beutemachens durch die »Sieger«: Die imperialistische Ausplünderung nicht-europäischer Länder hatte ohne Zweifel einen ihrer zentralen Zwecke in der Intention, mit deren »Kulturgütern« die eigene Herrschaft zu verherrlichen und ästhetisch zu verklären.

Die Einführung des Marxschen Konzepts des »Klassenkampfes«, bzw. dessen Anschluß an die »theologischen« Ausführungen der vorangehenden Thesen leuchtet nach dem oben Entwickelten unmittelbar ein. Abgekürzt könnte man sagen: Die bei Marx ausgeführte Theorie geschichtlicher Praxis materialisiert genau die Stelle im theologischen Modell, wo dieses - trotz seiner prinzipiellen Relevanz - in mythischer Abstraktion befangen ist. Führt das messianische Erlösungskonzept, wie Benjamin es oben entwickelt hat, zurück auf aktuelle Gegenwart, aus der heraus sowohl die Erlösung der Vergangenheit betrieben, wie auch der richtige Weg in die Zukunft vorbereitet werden, dann übernimmt der Historische Materialismus hier die entscheidende Aufgabe der konkreten Bestimmung dieser Gegenwart. Und nimmt man zum obigen Zitat aus dieser IV. These noch das davorgesetzte Hegel-Zitat hinzu - »‘Trachtet am ersten nach Nahrung und Kleidung, so wird euch das Reich Gottes von selbst zufallen.‘ Hegel, 1807«,  dann erhält die Intention Benjamins, die theologische Erlösungskonzeption in konkreter menschlicher Praxis zu fundieren, schärfste Kontur. Die »feinen und spirituellen« Dinge gibt es ebensowenig wie das »Reich Gottes« ohne die Sorge um die gelingende Reproduktion konkreten Lebens und auch wenn Hegel sagt, daß das »Reich Gottes von selbst zufallen« wird, so verknüpft er es dennoch unübersehbar mit konkreter menschlicher Praxis, die sich »am ersten« um konkrete materielle Bedürfnisse zu kümmern und diese zu befriedigen habe.[42] Wobei sich Benjamin hier entschieden die Marxsche Radikalisierung zu eigen macht, daß diese Sorge um »Nahrung und Kleidung« unter den bestehenden geschichtlichen Bedingungen sich innerhalb des Klassenkampfes zu bewähren hat. (35)

Der Fortgang der IV. These klärt das Verhältnis dieser »feinen und spirituellen« Dinge zur »messianischen Kraft« der Gegenwart, »an welche die Vergangenheit Anspruch« hat. Wobei jedoch die ganz entscheidende Einschränkung berücksichtigt werden muß, mit der diese »feinen und spirituellen« Dinge gegen ein vorschnelles, oberflächlich-konformistisches Verständnis abgesichert werden. Der Ausgangspunkt bleibt die Konzeption, daß die »feinen und spirituellen Dinge« eine Funktion des Kampfes um die »rohen und materiellen« sind:

»Trotzdem sind diese letztern im Klassenkampf anders zugegen denn als die Vorstellung einer Beute, die an den Sieger fällt. Sie sind als Zuversicht, als Mut, als Humor, als List, als Unentwegtheit in diesem Kampf lebendig und sie wirken in die Ferne der Zeit zurück. Sie werden immer von neuem jeden Sieg, der den Herrschenden jemals zugefallen ist, in Frage stellen.« (These IV)

Ganz sicher sind die »feinen und spirituellen Dinge«, an die Benjamin hier denkt, in nur ganz beschränktem Maß mit den traditionellen Kulturgütern zu identifizieren, wie sie sich im Laufe der menschlichen Geschichte auf dem Fundament materieller Reproduktion herausgebildet haben; eine derartige Gleichsetzung wäre ein folgenschweres Mißverständnis. Gerade der Umstand, daß diese Kulturgüter Von den jeweiligen »Siegern« ja wirklich wie eine Beute einverleibt werden können und ihrer Herrschaft kulturellen Glanz verleihen müssen[43] , trifft auf die von Benjamin ins Auge gefaßten »feinen Dinge« nicht zu. (36)

Was im »Klassenkampf« an »feinen Dingen« entsteht, verweigert sich gerade erfolgreich derartigen Möglichkeiten herrschaftslegitimatorischer Verwertung:

Sie lassen sich nämlich weder wie Sachen inventarisieren noch verfügen sie überhaupt über jene Form geistig-ästhetischer Objektivation, die sie so von klassenkämpferischer Praxis abtrennbar macht, daß sie quasi frei transportierbar und verfügbar werden könnten. Die »Feinheit« und »Spiritualität« dieser Eigenschaften erweist sich gerade darin, daß, sie eben »immer von neuem jeden Sieg, der den Herrschenden jemals zugefallen ist, in Frage stellen« und daß sie offensichtlich auch nur dort ihre »messianische« Kraft entfalten, wo klassen-kämpferische Praxis konkret stattfindet.

Die Eigenschaft, den Zwecken der »Sieger« unintegrierbar zu sein, wird ergänzt durch eine nicht minder wichtige: Was im Klassenkampf an »feinen und spirituellen Dingen zugegen« ist, verfügt über die für Benjamins Konzept so entscheidende Fähigkeit, »zurück« in die »Ferne der Zeit« zu wirken und dort die Korrektur bzw. »Erlösung« vergangener Unrechts-Geschichte ins Werk zu setzen. (Und zwar, indem sie »jeden Sieg, der den Herrschenden jemals zugefallen ist, in Frage stellen«).

[44] Kunst mag zwar auch die Aufhebung der Entfremdung in der menschlichen Geschichte zu ihrem innersten Anliegen haben, aber nichtsdestoweniger ist es nicht sie, die einen solchen Zustand herbeizuführen vermag. Dieser Illusion hat Benjamin niemals das Wort geredet. So lobt er z.B. an Mehning dessen realistische Bewertung der Leistungsfähigkeit von Kunst angesichts der anstehenden Aufgebe des Proletariats: »‘In seinen Befreiungskampf vermag sie nicht tief einzugreifen‘.« (GS II, 2,481f.).

Hiermit hat die Benjaminsche Konzeption bereits sehr deutliche Konturen angenommen. Die »Erlösung« der Vergangenheit erweist sich auf materialistischer Ebene als die Erlösung der menschlichen Geschichte vom Prinzip der Klassenherrschaft, deren Fortschreiten nur im Wechsel der »Sieger« besteht und im jeweiligen Neuen nichts anderes reproduziert als die alte Entfremdung. Diese Erlösung vollzieht sich innerhalb aktueller geschichtlicher Gegenwart, die im Kampf gegen die eigenen gegenwärtigen »Sieger« Qualitäten freisetzt, die auch die vergangenen Siege revidierbar machen und damit der Vergangenheit die ihr zustehende »messianische« Hilfe zukommen lassen können. Deswegen ist es verständlich und konsequent, daß Benjamin bei der Beschreibung dieser »spirituellen Dinge«, von denen »messianische« Wirkung ausgehen soll, eben nicht Vorstellungen aus der Ästhetik heranzieht, sondern auf psychische Fähigkeiten anspielt, die unmittelbar mit konkret-politischer Praxis verknüpft sind.[44] »Zuversicht, Mut, Humor, List, Unentwegtheit« sind genau jene psychologischen Faktoren, die der Kampf gegen die oft erdrückende und entmutigende Übermacht der »Sieger« verlangt, und nur wenn die jeweilige gegenwärtige Generation, die diesen Kampf zu führen hat, über derartige Qualitäten verfügt, (37) vermag sie sowohl die theoretischen wie praktischen »Kontinuen« aufzusprengen, in und hinter denen sich die Klassenherrschaft verschanzt hat.[45]

f)  Die »heliotropischen« Momente des Erwachens im »Gewesenen« und ihre Integration in die Gegenwart

[45] Daß, Tiedemann diese von Benjamin anvisierten Eigenschaften so selbstverständlich auf Ästhetisches bezieht, schafft eine Enge, in der Benjamins wahre Intention vollständig verfälscht wird: »Die sogenannten Kulturgüter fallen zwar als ‘Beute an den Sieger‘, doch entzieht solche Beute sich dem Gebrauch, sie entflieht dem Materiellen, um ‘als Zuversicht…` auf die andere Seite, die Seite dessen überzugehen, was wahrhaft das Andere wäre.« (R. Tiedemann, Studien zur Philosophie Walter Benjamins, Frankfurt 1965, S. 103). Zum einen muß man davon ausgehen, daß diese Eigenschaften eben gerade nicht »Beute« werden können, weil sie dem Sieger gar nicht integrierbar sind, zum anderen ist es gewiß nicht ihr wesentliches Merkmal, daß sie sich dem »Gebrauch« entziehen und dem »Materiellen« entgegenstehen. Im Gegenteil: Daß Benjamin hier gerade Begriffe verwendet wie »Mut, Humor, List, Unentwegtheit« und eben nicht Begriffe aus der Ästhetik, auf die Tiedemanns Ausführungen zutreffen könnten, dokumentiert sehr überzeugend den absoluten Praxisbezug dieser »feinen und spirituellen Dinge«. Sie sind »im Klassenkampf… zugegen«, wie Benjamin unmißverständlich formuliert, und würden in ihrer Ästhetisierung, die sie vom »Materiellen« des Klassenkampfes wegführt, ihre originäre Substanz korrumpieren. Es wird damit keineswegs in Abrede gestellt, daß es auch innerhalb der »sogenannten Kulturgüter« - die ja erst zu solchen zugerichtet werden - erhebliche herrschaftsfeindliche Potenzen gibt, die sich dem Gebrauch durch die »Sieger« erfolgreich verweigern und auf der Seite der Unterdrückten als »Zuversicht« etc, zu Buche schlagen. Entscheidender in diesem Zusammenhang ist jedoch, daß man dem obigen Zitat von Benjamin kein Konzept unterschiebt, das allein in der Kunst bzw. den »Kulturgütern« echte Menschlichkeit stellvertretend aufbewahrt sieht. Tiedemanns bzw. Adornos Eskapismus in die Kunst als einziger Stellvertretung von Menschlichkeit ist entschieden nicht Benjamins Position.

[46] Und seine Methode, »Unscheinbarstes« bzw. Nicht-Scheinbares zum Aufscheinen zu bringen, ist für Benjamin der des Physikers durchaus vergleichbar, wenn dieser eine Lichtqualität sichtbar macht, die dem bloßen Auge verborgen ist: »Der historische Materialist, der der Struktur der Geschichte nachgeht, betreibt auf seine Weise eine Art von Spektralanalyse. Wie der Physiker ultraviolett im Sonnenspektrum feststellt, so stellt er eine messianische Kraft in der Geschichte fest.« (GS 1, 3, 8. 1232, Ben-Arch, Ms 1099).

[47] Dazu ausführlich in Kapitel VI.

[48] Wie sehr ein orthodox- »proletarischer« Standpunkt differenzierte, äußerlich »unscheinbare« Wahrheit geradezu verstellt, hat Benjamin sehr eindringlich an Baudelaire vorgeführt: »Baudelaire war ein Geheimagent. Ein Agent der geheimen Unzufriedenheit seiner Klasse mit ihrer eigenen Herrschaft. Wer ihn mit dieser Klasse konfrontiert, der holt mehr heraus als wer ihn vom proletarischen Standpunkt aus als uninteressant abtut.« (W.B., Fragment über Methodenfragen einer marxistischen Literatur-Analyse, in: Kursbuch 20, Frankfurt 1970, S. 3). Nicht weniger hinderlich ist ein ästhetisches Vorurteil, das nur der Kunst zugestehen will, über die Sensibilität eines »Traumbewußtseins« zu verfügen, »in der das Neue in phan-(39)tastischer Gestaltung sich vorbildet. Michelet: ‘Chaque époque rêve la suivante.‘ Ohne diese phantastische Vorform im Traumbewußtsein entsteht nichts Neues. Seine Manifestationen  aber finden sich nicht allein in der Kunst. Es ist für das XIXte Jahrhundert entscheidend, daß die Phantasie allerorten über deren Grenzen hinaustritt.« (GS 1, 3, S. 1236, Ben-Arch, Ms 467).

[49] »Will man die Geschichte als einen Text betrachten, dann gilt von ihr, was ein neuerer Autor von literarischen sagt: die Vergangenheit habe in ihnen Bilder niedergelegt, die man denen vergleichen könne, die von einer lichtempfindlichen Platte festgehalten werden. ‘Nur die Zukunft hat Entwickler zur Verfügung, die stark genug sind, um das Bild mit allen Details zum Vorschein kommen zu lassen- ...‚. Was nie geschrieben wurde, lesen‘ heißt es bei Hofmannsthal. Der Leser, an den hier zu denken ist, ist der wahre Historiker.« (G5 1, 3, 5. 1238, Ben-Arch, Ms470).

[50] »Erlösung« entspringt nicht dem etablierten Allgemeinen, sondern dem »unscheinbaren« Besonderen, aus dem heraus erst »messianischer« Widerstand gegen das falsche Kontinuum entwickelbar ist: »Die Rettung hält sich an den kleinen Sprung in der kontinuierlichen Katastrophe.« (GS 1, 2, S. 683).

Weil es sich bei dem, was Benjamin im Auge hat, eben um keine offiziellen ästhetischen Werte bzw. Kulturgüter handelt, weist er im Folgenden umso eindringlicher darauf hin, wie sehr vor allem auch der historische Materialist seine Sinne dahingehend schärfen muß, daß derartige »unscheinbare« Phänomene überhaupt in den Bereich seiner Wahrnehmung gelangen ‚[46] (Traditionell ästhetische Sensibilität scheint unter solchen Bedingungen den Zugang durch konventionelle Erwartungshaltungen viel eher zu verstellen als zu öffnen). Denn aufgedeckt werden muß eine geschichtliche Kraft, in der sich eine prinzipielle und fundamentale Wende innerhalb der bisherigen menschlichen Geschichte vorbereitet: (38)

 »Wie Blumen ihr Haupt nach der Sonne wenden, so strebt kraft eines Heliotropismus geheimer Art, das Gewesene der Sonne sich zuzuwenden, die am Himmel der Geschichte im Aufgehen ist. Auf diese unscheinbarste von allen Veränderungen muß sich der historische Materialist verstehen.« (These IV)

Die Metaphorik dieser Passage bereitet nach dem, was oben entwickelt wurde, keine Schwierigkeiten mehr: Die Verbindung von »messianischer« Erlösungskonzeption und Klassenkampf in den vorausgegangenen Abschnitten weist der Interpretation den Weg und verpflichtet darauf, die »Sonne ...‚ die am Himmel der Geschichte im Aufgehen ist«, als die Kraft zu bestimmen, durch die sich die menschliche Geschichte von ihrer Entfremdetheit, die sich immer auch als Klassenherrschaft ausdrückt, zu befreien beginnt. Im »Aufgehen« begriffen sieht der historische Materialist hier ein neues geschichtliches Selbstbewußtsein der Menschen, das sie endlich doch zu Herrn der von ihnen ja immer schon produzierten Geschichte macht und sie in die Lage versetzt, der Schicksalsverfallenheit ihrer Existenz Einhalt zu gebieten, sie in ihrer spezifisch gesellschaftlichen Produziertheit zu erkennen und aufzusprengen, und der »messianischen« Tendenz hin zum »richtigen Leben« - in uneingeschränktem gesellschaftlich-geschichtlichen Sinn - Wirklichkeit zu geben. (Sowohl die »klassenlose Gesellschaft« wie auch das »messianische Reich« der Juden bezeichnet ja keinen ungeschichtlichen Zustand, sondern gerade den Beginn echten, unbehinderten Lebens, und deshalb gilt für beide Konzepte, daß sowohl die aufgehende »messianische« wie die »materialistische Sonne« dasselbe projektieren: Erlöste, d.h. unentfremdete und darin erst wirklich menschliche Geschichte.[47])

»Unscheinbar« sind diese neuen Qualitäten insbesondere auch deshalb, weil sie - wie oben ausgeführt - kaum etwas mit offiziellen Manifestationen zu tun haben und wegen dieser unrepräsentativen Gestalt vom herrschenden Konformismus teilweise total verdeckt werden. Und so können sowohl die Kulturgüter bzw. die daraus abgeleiteten Kulturvorstellungen - weil sie selbst diese »Sonne« zu sein beanspruchen - die Wahrnehmung ebenso behindern wie ein orthodoxer Vulgärmaterialismus, dessen borniert-handfeste Vorstellung von »revolutionär« derart »Unscheinbares« schon gar nicht mehr zu würdigen in der Lage ist.[48] (39)

Insofern nun das »Gewesene« an dieser im Aufgehen begriffenen »Sonne« sich ausrichtet, kann man sagen, daß es deren Bedeutung als eigene Intention bereits immer in sich getragen haben muß, und daß es deshalb möglich und nötig ist, diesem Vergangenen erneut zu aktuellem Leben zu verhelfen. Dem passiven Orientieren des »Gewesenen« an dieser aufgehenden »Sonne« muß jedoch die aktive Hilfe der Gegenwart entsprechen, die sich dieser noch eingeschlossenen Kräfte anzunehmen und sie zu befreien hat.[49]

Die Rückkehr der Gegenwart ins »Gewesene« - die XIV. These spricht dann vom »Tigersprung ins Vergangene« - muß so als eine dialektische Bewegung gedacht werden: Sie ist nur möglich, wenn die Gegenwart ihre eigene »schwache messianische Kraft« aktiv einsetzt, und sie konstituiert diese gleichzeitig durch die aus der Vergangenheit heraufgeholten und lebendig gemachten »unscheinbarsten« Potenzen, die der Gegenwart nun wieder »zitierbar« und damit verfügbar werden. Ergänzt wird das Interesse der »gewesenen Geschlechter« an ihrer »Erlösung« komplementär durch das Interesse des jeweiligen gegenwärtigen Geschlechts an sämtlichen Momenten aus der Vergangenheit, die auf die prinzipielle »Erlösung« der Geschichte hinarbeiten; denn deren erneute Zitierbarkeit stiftet einen Traditionszusammenhang, der unverstümmelt den Aspekt der bisherigen Geschichte repräsentiert, aus dem heraus »Erlösung« stattfinden kann. Sie wird gleichbedeutend sein mit der Aufsprengung der herrschenden »konformistischen« Kontinuen und sie findet umso mehr statt, je deutlicher die bisher »unscheinbar« gebliebene Tendenz zur bestimmenden und allgemein verbindlichen wird. Der historische Materialist hat diese Transformation ins Werk zu setzen; seine Arbeit ist dann gelungen, wenn die gegenwärtige Generation im aktiven Klassenkampf, dessen »feinen und spirituellen« Eigenschaften in die »Ferne der Zeit« zurückwirken, ihrer geschichtlichen Verantwortung die adäquate politische Gestalt verliehen hat.[50]  

(40) Dem steht jedoch immer noch ein »konformistisches« Bild von Vergangenheit entgegen. »Gewesenes« gibt es dort nur als versteinertes Fossil, und solange Vergangenheit unter diesem Aspekt betrachtet wird, gibt es für deren »feine und spirituelle Dinge« keine Chance auf neues Leben. Der Vergangenheit die Hilfe zukommen zu lassen, die aus ihr heraussprengt, was eben nicht abgeschlossen bzw. vergangen ist, verlangt eine radikale Korrektur dieser »konformistischen« Vorstellung. Die folgende V. These schafft die Voraussetzungen für diese Korrektur. (41)

Exkurs: Benjamin und Marx 1

Benjamins Konzept enthält - hier bereits in Ansätzen sichtbar - eine radikale Kritik an allen geschichtsphilosophischen Positionen, in denen die denkenden und handelnden Subjekte vollständig unter ein deterministisches Revolutionsprinzip subsummiert werden. Daraus nun schlichtweg und undifferenziert eine anti-marxistische Position Benjamins ableiten zu wollen - wie Kaiser es anhand dieses Materials tut, wird dem in Wahrheit komplexeren Sachverhalt nicht nur nicht gerecht, sondern verhindert von vornherein die viel weiterführendere Einsicht, daß die besondere kritische Identifikation mit Marx oft den eigentümlichen Gedankengang Benjamins umso marxistischer werden läßt; und das vor allem gerade in den Punkten, wo er kritisch verstärkt und zum eigentlichen Zentrum der Ausführungen macht, was bei Marx oft nur als Konsequenz enthalten ist oder mitgedacht wird, und dabei immer in Gefahr ist, von anderen, mehr abstrakten und allgemeinen Gesetzmäßigkeiten überlagert zu werden. So z.B. im Verhältnis von objektiven Zwangsgesetzen der kapitalistischen Ökonomie und subjektivem Bewußtsein der aktiven revolutionären Klasse. Man kann m.E. dem Verhältnis Benjamins zu Marx nur dann gerecht werden, wenn man sich nicht gewalttätig der expliziten und impliziten Absicht Benjamins verweigert, dem »historischen Materialismus« wieder auf die Beine zu helfen bzw. dem Besten und Wertvollsten im Marxschen Werk wieder seine volle Geltung zukommen zu lassen. Die in der Eingangsthese bildlich verschlüsselte Rekonstruktion des Historischen Materialismus durch die theologische Kritik des »historischen Materialismus« als einer »Puppe« hat die Maieutik zum Vorbild und nicht die Abtreibung.

Auf Grundsätzliches im Verhältnis Benjamin/Marx soll deshalb hier vorbereitend und vorbeugend schon hingewiesen werden:

a) Ohne Zweifel enthält Benjamins Werk auch berechtigte Kritik an Marx, wo dieser selbst Tendenzen deterministischen Denkens scheinbar das Wort redet, bzw. diesen - besonders innerhalb Engels‘scher Formulierungen - nicht mit der gewohnten kritischen Unbestechlichkeit begegnet. Aber dennoch ist Benjamins Verhältnis zu diesem - in einigen Passagen deterministisch gefährdeten - Marx sicher ein total anderes als zu den vulgärmaterialistischen Orthodoxien, die unter, dem Schlagwort des »historischen Materialismus« ausschließlich einem deterministischen Geschichtsontologismus nachhängen, der mit Marx ganz sicher nichts mehr gemein hat.

b) Aber auch bei explizit »anti-marxistischen« Zitaten bei Benjamin - sie lassen sich in den Varianten der GS durchaus finden - muß genauestens geprüft werden, wen sie wirklich zum Gegner haben, denn auch Benjamin ist selbst nicht ganz gefeit gegen eine fälschliche Identifikation von Marx und nachmarxscher Tradition. Seine persönliche Kenntnis des Marxschen Werkes war sicher - gemessen am heutigen theoretischen und nicht zuletzt auch editorischen (42) Standard - beschränkt, und manches, was Benjamin theologisch, bzw. »antimarxistisch« formulieren mußte, um den Fallstricken des »historischen Materialismus« zu entgehen, läßt sich heute durchaus auch oder sicher noch besser innerhalb des originär Marxschen Denkens formulieren.

Es ist wichtig, daß man diesen marx-integrativen Charakter in weiten Bereichen der Benjaminschen Kritik am »historischen Materialismus« erkennt und respektiert. Umso deutlicher wird dann ersichtlich, wo Benjamin originäre Kritik an Marx übt und wirklich Neues einführt, was ihn von Marx trennt, ohne deshalb schon anti-marxistisch zu sein.

Kaiser scheint derartige Überlegungen nicht zu kennen und behauptet frank, daß bei Benjamin in anti-marxistischer Wendung die »Fundamente der Basis-Überbau - Lehre... dadurch angegriffen ((werden)), daß er zwar den Untergang des Kapitalismus nach sozio-ökonomischen Gesetzen sich vollziehen läßt, den Sieg des Sozialismus aber von den Entscheidungen der kämpfenden unterdrückten Klasse abhängig macht ...‚ die nicht objektiv nach sozio-ökonomischen Kriterien bestimmt wird, sondern nach dem Verhalten und dem Bewußtseinsstand.« (Kaiser, aaO., S. 23/24, Anm. 58).

Wie gesagt: Marx ist nicht Stalin und Benjamin m.E. viel zu klug, als daß er die besondere Hervorhebung der Bedeutung der Subjekte innerhalb eines revolutionären Geschichtsprozesses als anti-marxistisch, bzw. unverträglich mit Marx einstufen würde. Will man hier den Gedanken der Kritik überhaupt sinnvoll anbringen, dann nur im Sinne der besonderen Betonung eines dem Marxschen Werk immanenten und zentralen Konzeptes, das jedoch durchaus in Gefahr ist, unterrepräsentiert zu werden. In dieser Hinsicht sorgt Benjamin hier nur dafür, daß die im Marxschen Beweisgang eingeschlossene, oft aber nicht ausgeführte oder speziell entwickelte Theorie der Funktion der revolutionären Subjekte in ihrer überragenden geschichts- bzw. revolutionskonstitutiven Bedeutung anerkannt wird. Denn - und das ist sogar den »deterministischen« Passagen bei Marx immanente Konsequenz - nur wo die proletarische Klasse echtes Klassenbewußtsein erringt, vermag sich überhaupt erst Widerstand gegen den Kapitalismus zu bilden. Den notwendig ideologischen Schein, den die kapitalistische Produktionsweise erzeugt - Marx spricht vom »Fetischcharakter« der Warenproduktion - zu durchbrechen und damit die scheinbar naturwüchsige Determiniertheit, die sich hinter dem Rücken der Produzenten durchsetzt, theoretisch und dann auch praktisch aufzuheben, ist erklärtes Ziel der Marxschen Revolutionstheorie. Selbstverständlich verlangt der Sozialismus als notwendige Voraussetzung die entwickelte Ökonomie des Kapitalismus als objektive Bedingung, aber gleichzeitig verlangt die revolutionäre Bewegung genauso unverzichtbar den selbstbewußt erkennenden und handelnden Menschen, der sich dieser objektiven Voraussetzungen planvoll und zielbewußt annimmt. Die Menschen haben ihre Geschichte immer schon selbst gemacht, dies jedoch noch nicht oder nur teilweise begriffen; darin liegt ihre spezifische historisch -(43) gesellschaftliche Determiniertheit, deren Aufhebung gerade bei Marx Sache der Menschen ist, die die Zeichen und Möglichkeiten ihrer Zeit verstanden haben. Und auf dieser Ebene deckt sich dieser von Marx verstärkte und weitergeführte Prozeß des Verstehens mit Benjamins Bild von »der Sonne..., die am Himmel der Geschichte im Aufgehen begriffen ist.« (44)

2.  »Materialistischer« und »historistischer« Umgang mit der Vergangenheit

a) Das »wahre Bild der Vergangenheit »als ein dynamisches

»Das wahre Bild der Vergangenheit huscht vorbei. Nur als Bild, das auf Nimmerwiedersehen im Augenblick seiner Erkennbarkeit eben aufblitzt, ist die Vergangenheit festzuhalten.« (These V)

Die Vergangenheit ist für Benjamin kein Gegenstand, dem gegenüber man sich wie vor einem unbewegten, toten Gegenstand kontemplativer Wahrnehmung überlassen kann, um ihn dann für immer und ewig in seiner »faktischen« Gestalt zu konservieren. Eine solche Erkenntnishaltung verfehlt von vornherein Vergangenheit und was sie fixiert, ist nichts anderes als die Totenmaske des Positivismus. Die Feststellung, daß es sich um ein »Bild der Vergangenheit« handelt, das »vorbeihuscht« und nur als »Bild, das auf Nimmerwiedersehen im Augenblick seiner Erkennbarkeit eben aufblitzt«, festgehalten werden kann, verlangt dagegen vom erkennenden Subjekt eine doppelte Leistung: Einmal hat es unbedingt die historische Chance des Erkennens wahrzunehmen; versäumt es diesen kairós, dann ist das »wahre Bild der Vergangenheit« auf »Nimmerwiedersehen« verloren. Zum anderen wird einem derart flüchtigen und bewegten Bild kaum eine Erkenntnishaltung gerecht werden, die darauf aus ist, das Erkannte anschließend sogleich in ein totes Faktum zu verwandeln, das ab diesem Zeitpunkt in immer gleichbleibender Gestalt jedem Interesse zur Verfügung steht.

An einem Ausspruch Kellers verdeutlicht Benjamin diesen prinzipiellen erkenntnistheoretischen Fehler:

»‘Die Wahrheit wird uns nicht davonlaufen‘ - dieses Wort, das von Gottfried Keller stammt, bezeichnet im Geschichtsbild des Historismus genau die Stelle, an der es vom historischen Materialismus durchschlagen wird. Denn es ist ein unwiederbringliches Bild der Vergangenheit, das mit jeder Gegenwart zu verschwinden droht, die sich nicht als in ihm gemeint erkannte.« (These V)

Für Keller scheint die geschichtliche Vergangenheit ein riesiges Arsenal vollendeter Ereignisse zu sein, aus dem man sich bedienen kann, wann immer man will. Aus Benjamins Sicht jedoch hat ein Historiker seinen Gegenstand längst verfehlt und verloren, wenn er das »Bild der Vergangenheit« derart als statisches und verwaltbares konzipiert. Der museale und inventarisierende Zugriff, der Vergangenheit wie einen Steinbruch behandeln will, dem man Fossile abgewinnen kann, basiert für ihn auf einer ebenso verhängnisvollen wie irreführenden Vorstellung, als seien Gegenwart und Vergangenheit so gegeneinander abgeschottet, daß es keinerlei lebendige Korrespondenz zwischen ihnen mehr gebe: Geschichte hat hier den Charakter einer permanenten Versteinerung von ehemaliger Gegenwart und je mehr sie die Gestalt eines »ewigen« Faktums annehmen (45) muß, das in seiner endgültigen Abgeschlossenheit den Historiker zum unberührten bzw. unbetroffenen Archivar degradiert, desto weniger vermag sie natürlich über Erfahrungen Auskunft zu geben, die jene »unscheinbarsten« Veränderungen dokumentieren könnten, die eine vermeintliche Abgeschlossenheit gerade auf-sprengen und auf die es Benjamin vorzüglich ankommt. Diesem historistischkonformistischen Geschichtsverständnis ist keine »Sonne« im Aufgehen; es kennt keine echte Zukunft, seine Vorstellung von Zeit ist, wie Benjamin später überzeugend herausarbeitet, »leer« (These XIIIf.).[51]

[51] Im Fuchs-Aufsatz formuliert Benjamin sinngemäß, daß der verdinglichten Geschichtsbetrachtung des Historismus »keinerlei echte, d.i. politische Erfahrung« mehr möglich ist. (GS II, 2, S. 477).

[52] »Wer in der Vergangenheit wie in einer Rumpelkammer von Exempeln und Analogien herumstöbert, der hat noch nicht einmal einen Begriff davon, wieviel in einem gegebnen Augenblick von ihrer Vergegenwärtigung abhängt.« (GS 1, 3, S. 1237f. Ben-Arch, Ms 471).

[53]  These V, Variante, GS 1, 3, S. 1247f., Ben-Arch, Ms 448.

[54] »Das Werk der Vergangenheit ist ihm nicht abgeschlossen. Keiner Epoche sieht er es dinghaft, handlich in den Schoß fallen, und an keinem Teil«, sagt Benjamin an anderer Stelle über den Historischen Materialismus. (GS II, 2, S. 477).

[55] Deshalb spricht Benjamin auch von der »Beunruhigung über die Zumutung an den Forschenden, die gelassene, kontemplative Haltung dem Gegenstand gegenüber aufzugeben, um der kritischen Konstellation sich bewußt zu werden, in der gerade dieses Fragment der Vergangenheit mit gerade dieser Gegenwart sich befindet… Geschichtliches Verstehen faßt der historische Materialismus als ein Nachleben des Verstandenen auf, dessen Pulse bis in die Gegenwart spürbar sind.« (GS II, 2, S. 467f.). Eine derart konzipierte Geschichtswissenschaft bildet ihren »Gegenstand nicht von einem Knäuel purer Tatsächlichkeiten, sondern von der gezählten Gruppe von Fäden ...‚ die den Einschuß einer Vergangenheit in die Textur der Gegenwart darstellen ... Der geschichtliche Gegenstand ... bietet nicht vage Analogien zur Aktualität, sondern konstituiert sich in der präzisen dialektischen Aufgabe, die ihr zu lösen obliegt.« (GS II, 2, S. 479).

Für Benjamin ist außer Zweifel, daß die historische Wahrheit »davonläuft«, wenn sie nicht im richtigen Augenblick erkannt und wenn sie nicht gleichzeitig in die Gegenwart integriert, bzw. »vergegenwärtigt« wird.[52] Diese hat sich in jener als »gemeint« zu erkennen, ansonsten erweist sich die Bemühung des Historikers um die Vergangenheit als vergebliche: Längst ist der geschichtliche Gegenstand, wenn der Historiker sich unzeitgemäß auf ihn bezieht, unerkannt auf »Nimmerwiedersehen« verschwunden und zum »unwiederbringlichen« geworden.

Der Versuch des Historikers Kellerscher Prägung, der Vergangenheit ihr endgültiges und damit ewig verfügbares Bild von sich selbst zu präsentieren, schlägt fehl angesichts des spezifisch dynamischen Charakters dieses historischen Gegenstandes; was ihm dieser Historiker zu verkünden hat, läßt ihn unbetroffen, weil es auch die Gegenwart unbetroffen läßt. Kellers Historiker hat keinen echten geschichtlichen Adressaten.

»Die frohe Botschaft, die der Historiker der Vergangenheit mit fliegenden Pulsen bringt, kommt aus einem Munde, der vielleicht schon im Augenblick, da es sich auftut, ins Leere spricht.«[53]

»Ins Leere spricht« sie, weil ihre positivistische Erkenntnismethode bzw. ihre statische Vorstellung von historischer Wahrheit keinen Raum läßt für die Einsicht in die bestimmte Offenheit bzw. Unabgeschlossenheit von Geschichte und die darin enthaltene »geheime Verabredung zwischen den gewesenen Geschlechtern und unserem«. Ein solches Wissen hat deshalb zur Voraussetzung, daß Vergangenheit weder als isolierter und abgeschlossener Zeitraum gedacht (46) wird[54] , noch daß diese Unvollendetheit einfach als ontologisch-allgemeine bestimmt ist, weil Geschichte eben linear zeitlich weiterschreitet. Die »Verabredung« zwischen Vergangenheit und Gegenwart besteht immer nur in einer ganz bestimmten Hinsicht, die offensichtlich ihren Inhalt aus ganz konkreten gesellschaftlich-historischen Konstellationen bezieht und deshalb auch nur dann, wenn eine solche Korrespondenz real stattfindet, zum Tragen kommen und »Erlösung« ins Werk setzen kann.[55]

b) Die »Gefahr« als erkenntnisproduzierende Perspektive

»Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen ‘wie es denn eigentlich gewesen ist‘. Es heißt, sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt. Dem historischen Materialismus geht es darum, ein Bild der Vergangenheit festzuhalten, wie es sich im Augenblick der Gefahr dem historischen Subjekt unversehens einstellt. Die Gefahr droht sowohl dem Bestand der Tradition wie ihren Empfängern. Für beide ist sie ein und dieselbe: sich zum Werkzeug der herrschenden Klasse herzugeben.« (These VI)

[56] Leopold v. Ranke, Über die Epochen der neueren Geschichte, Darmstadt 1970, S. 7.

[57] Deshalb kann Ranke prinzipiell auch von jeder geschichtlichen Epoche sagen: »…ihr Wert beruht gar nicht auf dem, was aus ihr hervorgeht, sondern in ihrer Existenz selbst, in ihrem eigenen Selbst.« (Ranke, aaO, S. 7).

Mit der Einführung der »Gefahr« als erkenntnistheoretisches Prinzip schafft Benjamin in der VI. These ein Bezugssystem, in dem sich Gegenwart und Vergangenheit ganz anders aufeinander beziehen lassen als im verdinglichten Konzept des Historismus, dem - wie Ranke es in exemplarischer Stellvertretung formuliert - »jede Epoche ... unmittelbar zu Gott«[56] ist und damit in letzter Konsequenz jeder einzelne geschichtliche Moment im Augenblick seines zeitlichen »Vergehens« bereits zur abgeschlossenen, endgültigen Einheit wird. Er weist weder über sich hinaus, noch gibt es an ihm einen Anspruch auf »Erlösung«; weil er bereits als abgeschlossen-sinnhafter gilt, gehört das ihm immanente (47) Leiden zum Spektrum göttlicher Vielfalt. Ebensowenig gibt es an ihm ein noch Unerledigtes und somit kennt er auch keine Zukunft, in der versöhnt und erlöst werden muß, was vormals noch auf »Glück« und unentfremdete Geltung verzichten mußte.[57]

Ein solches Konzept der Abgeschlossenheit, dessen historisches Erkenntnisinteresse zwangsläufig auf ein »wie es denn eigentlich gewesen ist« aus ist, dichtet natürlich gegen alle Erfahrungen ab, die der Gegenwart eine Verantwortung für ihre Vergangenheit zuweisen und in die Geschichte einen Maßstab einführen, der Gelingen und Sinnhaftigkeit von Geschichte daran bemißt, in wie weit gerade die Vergangenheit als »erlöste« in der Gegenwart zu ihrem Recht kommt. Wer sich jedoch so mit und in seiner Geschichte identisch fühlt, kennt keine »Gefahr«, die ihm und vor allem ihr drohen könnte; und genau dies ist der Punkt, an dem Benjamin seine radikale Kritik und Korrektur ansetzt. (Die Rankesche Konsequenz zu Ende gedacht, wäre selbst der Faschismus sinnhaft im Ganzen seiner Epoche aufgehoben und »unmittelbar zu Gott«; der Zynismus einer solchen Geschichtsbetrachtung ist unmittelbar einsichtig. Umso überzeugender läßt sich jedoch an diesem extremen Beispiel der Beweis führen, wie unverzichtbar die Kategorie der »Gefahr« für ein intaktes Geschichtsbild ist. Wer Geschichte unter dem Aspekt ihrer Gefährdung betrachten kann, muß sie nicht mehr schicksalhaft nehmen, wie sie sich ihm präsentiert, sondern ist in der Lage, ihren wahrhaft menschlichen Fortgang gegen die möglichen Gefahren einer katastrophischen Entfremdung abzusichern bzw. durchzusetzen).

[58] Bereits zu einem viel früheren Zeitpunkt - ca. 1928 - thematisierte Benjamin diesen, im wahrsten Sinn des Wortes, hieroglyphischen Umgang mit geschichtlichen Dokumenten, in denen sich niemand mehr als »gemeint« erkennen kann:
»Briefbeschwerer.Place de la Concorde: Obelisk. Was vor viertausend Jahren darein ist gegraben worden, steht heut im Mittelpunkt der größten aller Plätze. Wäre das ihm geweissagt worden - welcher Triumph für den Pharao! Das erste abendländische Kulturreich wird einmal in seiner Mitte den Gedenkstein seiner Herrschaft tragen. Wie sieht in Wahrheit diese Glorie aus? Nicht einer von Zehntausenden, die hier vorübergehen, hält inne; nicht einer von Zehntausenden, die innehalten, kann die Aufschrift lesen. So läßt ein jeder Ruhm Versprochenes ein, und kein Orakel gleicht ihm an Verschlagenheit. Denn der Unsterbliche steht da wie dieser Obelisk: er regelt einen geistigen Verkehr, der ihn umtost, und keinem ist die Inschrift, die darein gegraben ist, von Nutzen.« (GS IV,1,S.112).

[59] »Der landläufigen Darstellung der Geschichte liegt die Herstellung einer Kontinuität am Herzen. Sie legt auf diejenigen Elemente des Gewesenen Wert, die schon in seine Nachwirkung eingegangen sind. Ihr entgehen die Stellen, an denen die Überlieferung abbricht u(nd) damit ihre Schroffen u(nd) Zacken, die dem einen Halt bieten, der über sie hinausgelangen will.« (GS 1,3,5. 1242, Ben-Arch, Ms 473).

[60] Deshalb ist es konsequent, daß Benjamin die erkenntnistheoretische Valenz einer richtigen Geschichts-Schreibung, die sich gerade auch auf die unscheinbarsten Momente innerhalb der so gefährdeten Tradition des kritischen Erwachens versteht, an ein entschieden »destruktives« Element bindet. Dieses »destruktive oder kritische Element in der Geschichts-Schreibung kommt in der Aufsprengung der historischen Kontinuität zur Geltung…« bzw. »Dies destruktive Element in der Geschichts-Schreibung ist als eine Reaktion auf eine Gefahren-Konstellation zu begreifen, die sowohl dem Überlieferten wie dem Empfänger der Überlieferung droht.« (GS 1,3,S.1242, N 10, 1-2-3. Ben-Arch, Ms 473). Zu destruiren gilt es das konformistische Geschichtsbild der »Sieger«, unter dem die »messianischen »bzw. »rettenden« Momente des Geschichtsverlaufes begraben sind. »Das Kontinuum ist das der Unterdrücker«. (GS 1, 3, 5. 1244, Ben-Arch, Ms 481).

Sich mit der bestehenden Geschichte identisch zu fühlen bzw. ihr den Status unmittelbar sinnorientierter Abgeschlossenheit in jedem ihrer Augenblicke zuzusprechen, darin gipfelt für Benjamin die größte »Gefahr«, die den Menschen und ihrer Geschichte drohen kann. Denn wer mit Geschichte, wie sie sich z. B. in den etablierten, offiziellen Geschichtsbüchern darbietet, einverstanden ist, der macht sich nichts anderes zu eigen, als das Selbstverständnis der »Sieger« und wem jede geschichtliche Epoche »unmittelbar zu Gott« ist, den interessiert in Wahrheit keine Vergangenheit mehr; deren Erfahrungen sind ihm zu Hieroglyphen entartet, die unentziffert nur mehr exotische Denkwürdigkeiten abgeben.[58] Oder Benjamins Formulierung weitergedacht: In letzter Konsequenz verfügt er über keine »Erinnerungen« mehr bzw. diese sind nur noch blind und (48) sprachlos. Denn in der absoluten Identifikation mit dem jeweiligen geschichtlichen Geschehen als einem bereits sinnhaft abgeschlossenen, geht genau jener Sinn für die Momente verloren, die ein Korrektiv gegen den herrschenden Konformismus abgeben und in denen sich in Wahrheit die »Erlösung« der menschlichen Geschichte zur richtigen ankündigt und potentiell vorbereitet[59] . Und gerade weil diese Momente noch so »unscheinbar« und im Vergleich mit der bisherigen Geschichte der »Sieger« so verschwindend sind, ist ihre Existenz umso bedrohter, und man versteht hier unmittelbar Benjamins Einschätzung, daß »Gefahr« für die gesamte Menschheit »droht«, wenn der »Bestand der Tradition« ins Vergessen abgedrängt wird bzw. nur mehr in den Aspekten lebendig bleibt, wo er der herrschaftslegitimatorischen Artikulation der »Sieger« dient. Dann gibt es keine Chance mehr, den jeweiligen status quo - und gerade auch in seiner scheinbar so uneingeschränkten Gültigkeit und Machtentfaltung - als das in Wahrheit grundlegend »Verkehrte« zu entlarven, und korrigierend auf »Erinnerungen« zurückzugreifen, in denen die Tradition der Erfahrung prinzipieller gesellschaftlich-geschichtlicher Entfremdung aufbewahrt ist. Ohne diese Tradition des kritischen Erwachens und des revolutionär-antikonformistischen Widerstandes ist das historische Subjekt schutzlos der »Gefahr« ausgeliefert, daß es nicht nur sich und die leidvollen Erfahrungen vergangener Generationen an die »Sieger« ausliefert, die sie ungehindert für ihre Zwecke korrumpieren können, sondern daß - mit der Preisgabe aktiver Erlösungsarbeit - die gesamte Menschheitsgeschichte den Weg in die Katastrophe nimmt.[60] (49)

c) Die »Erlösung« der Vergangenheit als Überwindung des »Antichrist«

Geht man davon aus, wie oben bereits dargestellt, daß diese Erlösungsarbeit nur dann stattfindet, wenn die Menschen innerhalb ihrer eigenen Geschichte zu klassenkämpferischer Praxis gefunden haben, und daß die im Aufgehen begriffene »Sonne« die endgültige Befreiung der menschlichen Geschichte von den »Siegern« signalisiert, dann wird Benjamins Sorge um das »Bild der Vergangenheit« vollends verständlich: Nur wer Vergangenheit - individuelle wie kollektive - nicht bereits von vornherein als abgeschlossene sieht, vermag einen Zugang zu diesen Momenten innerhalb der bisherigen Vergangenheit freizuhalten, in denen das prinzipielle Problem gesellschaftlicher Entfremdung artikuliert wird und von denen ausgehend jeder Gegenwart die Erfahrung eines fundamental Unerledigten und Unversöhnten überliefert wird.

[61] Unter diesem Begriff faßt Benjamin u.a. alle Strategien und Konzepte zusammen, die auf die Legitimation und Absicherung des Selbstverständnisses der jeweiligen Sieger aus sind und die versuchen, einen bestimmten historischen Stand gesellschaftspolitischer Vorstellungen zu naturwüchsig-endgültigen zu hypostasieren. Ein Vorgang, wie er exemplarisch an aktuellen bundesrepublikanischen Versuchen eingesehen werden kann, »Grundgesetz« und bestehende »Demokratie« so festzuschreiben, als seien sie bis in alle Zukunft alternativlos.

[62] Diese so entscheidende Ergänzung des Bildes vom Messias als dem »Erlöser« durch das Bild des Kämpfers gegen den »Antichrist« bricht ideologische Konzepte ab, die omnipotent entweder im Geschichtsgang bereits prästabilierte Harmonie erkennen wollen oder der realen Geschichte ganz den Rücken kehren, im Vertrauen auf deren Irrelevanz angesichts jenseitiger Erlösung. Benjamins Koppelung von Messias und Antichrist enthüllt die Bedingungen von Erlösung und verweist darauf, was in die Betrachtung der Geschichte eingeführt werden muß, soll sie nicht dem Antichrist anheimfallen und damit der Katastrophe. Die Wahrnehmung der überaus realistischen Möglichkeit des Mißlingens lenkt den Blick auf die anstehende aktuelle Aufgabe: Die Kenntlichmachung der etablierten Geschichte als einem falschen, entfremdeten Kontinuum und dessen Aufhebung im aktiven Kampf, ohne den es keine Durchsetzung des Messianischen gibt. Deshalb erhebt Benjamin zur Forderung: »Die destruktiven Kräfte entbinden, welche im Erlösungsgedanken liegen.« (GS 1, 3, S. 1246, Ben-Arch, Ms 488).

[63] Kaisers Auslegung dieser Stelle ist exemplarisch für eine »wissenschaftliche« Strategie, die dem originären Benjamin-Text keine Chance läßt. Sie interpretiert theologische Motive bei Benjamin abgelöst von ihrer Kontext-Funktion und verfolgt sie in ihre theologischen Ursprünge, die Benjamin längst innerhalb seiner Argumentation auf eine materialistische Ebene gebracht hat. Kaiser: »Das eschatologische Modell vom Kampf gegen den Antichrist ist die exakte Bezeichnung dessen, was Benjamins Geschichtsphilosophie vom hegelisch-marxistischen Prozeßdenken entfernt und ihn dem eschatologischen Denken der jüdisch-christlichen Tradition annähert. Hier ist Geschichte ein Handeln Gottes mit dem mithandelnden Menschen, dessen siegreiches Ende zwar kraft Verheißung feststeht, aber nicht im Prozeß angelegt, sondern von Gott frei gesetzt und herbeigeführt ist; kein Ziel der Geschichte wird erreicht, sondern das Ende der Geschichte bricht herein.« (Kaiser, aaO., S. 28).    {weiter s.u.}

In eben diesem Punkt besteht die Möglichkeit einer wahrhaften Korrespondenz zwischen den Geschlechtern und eben deshalb ist es auch erkenntnistheoretisch legitim, daß sich die Gegenwart in der Vergangenheit als »gemeint« erkennen kann. Sie stößt dort immer wieder auf einen fundamentalen gesellschaftlichen Widerspruch, dessen Auflösung sich jede Gegenwart solange zur zentralen Aufgabe machen muß, bis er keine Chance mehr hat, der menschlichen Geschichte eine verkehrte, entfremdete Gestalt aufzuzwingen. Die Rekonstruktion dieser anti-konformistischen Tradition bezeichnet eine der wichtigsten Aufgaben des historischen Materialisten:

»In jeder Epoche muß versucht werden, die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen.« (These VI)

Der »Konformismus«[61] entfernt aus dem Bewußtsein die Erinnerungen an die »messianischen« Qualitäten innerhalb des Geschichtsablaufes und eliminiert damit die Impulse revolutionär-antikonformistischen Widerstandes aus dem »Bild der Vergangenheit«, das der wichtigste Zeuge dafür ist, daß die scheinbar so »homogenen Kontinuen« - wie Benjamin dann sagt (These XV) - »auf-gesprengt« werden können und müssen. (50)

Der Verlust dieser Überlieferung betrügt nicht nur die vergangenen Generationen um ihren Anspruch auf »Erlösung« von der »Gefahr«, daß ihre Leiden und Opfer angesichts eines fortschreitenden Konformismus nutzlos bzw. sinnlos werden, sondern mit ihm fällt auch die Gegenwart aus ihrer klassenkämpferischen Tradition heraus, die allein garantieren kann, daß das »messianische« Prinzip zum allgemein bestimmenden wird. Und wo das geschieht, haben sämtliche Vorstellungen von Zukunft nur mehr ideologisch-illusionären Charakter; sie beziehen sich auf Wünsche und Versprechen, denen die historisch entfremdete Realität diametral widerspricht und entgegensteht. Denn:

»Der Messias kommt ja nicht nur als der Erlöser; er kommt als der Überwinder des Antichrist.« (These VI)

Die materialistische Relevanz dieser theologischen Konzeption ist evident:

Allein wenn der Kampf gegen den Konformismus gelingt bzw. wenn die unscheinbarsten messianischen Geschichtsanteile so weit entwickelt werden, daß sie dem Konformismus der Sieger den endgültigen Garaus machen, erfüllt sich die Hoffnung auf eine sinnvolle menschliche Geschichte und in ebensolchem Maße das Versprechen der Theologie.[62] Denn für beide Ebenen gilt, daß der - theologische wie gesellschaftliche - »Messias« nie als Instanz mißdeutet werden darf, die über alles hinweg Erlösung dekretiert und durchsetzt, sondern die erst dann das ihr immanente Interesse verwirklichen kann, wenn sie vorher dessen Be- und Verhinderung beseitigt hat.[63] (51)

d) »Erlösung« und »messianisch«-revolutionäre Geschichtspraxis

{weiter Fussnote 63:} Wo es Benjamin darauf ankommt, auch innerhalb des theologischen Denkens die Forderung des Kampfes aufzudecken und damit »Erlösung« wie »richtiges Leben« davon abhängig macht, in wie weit bestimmte Voraussetzungen erfüllt werden, geht Kaiser auf diese Strukturgleichheit von »messianischem Reich« und »klassenloser, unentfremdeter Gesellschaft« gar nicht ein, sondern kapriziert sich auf ein Thema, das hier nur mitschwingt: Die »Eschatologie«. Und auch diese ist so, wie Kaiser sie entwickelt, sicher nicht die Benjamins: Denn weder ist Benjamins Theologie identisch mit traditionell orthodoxer, jüdischer wie christlicher, noch stehen sich bei ihm »Eschatologie« und »hegelisch-marxistisches Prozeßdenken« ausschließend gegenüber, zumal Kaiser undifferenziert Hegel mit Marx in einen Topf wirft, und dann beide auch noch vulgär-materialistisch einebnet. Benjamins Rückgriff auf die Theologie verfolgt hier keinen anderen Zweck, als die Momente des Kampfes wieder zurückzugewinnen, die für ihn bei keiner Konzeption von Zukunft - theologischer wie profaner - fehlen dürfen. Das angestrebte wie erwünschte »Ziel« ist für ihn unmittelbar an dessen bestimmte Erarbeitung geknüpft - nicht einmal der Messias vermag sich dieser Bedingung zu entziehen. Und somit geht es letztlich auch nicht um das »Ende der Geschichte«, sondern um deren richtige Gestaltung, damit sie überhaupt zur »erlösten« werden kann. Die »Eschatologie« verweist zurück auf ihre bestimmten Voraussetzungen: Weder in der Heils-Geschichte noch in der Menschheits-Geschichte läßt sich darüber hinweggehen. Wie die Menschen so muß auch der Messias den jeweiligen Antichrist beseitigen: Für beide gilt, daß es eben - so wie Benjamin Theologie und Materialismus konzipiert - keinen Automatismus bzw. keine Prozeßhaftigkeit gibt, die einen erlösten Zustand erreichen kann, ohne ihn in richtiger Weise vorbereitet zu haben. Benjamin korrigiert damit auch nicht den Marxismus durch die Theologie, sondern er korrigiert sowohl theologische wie materialistische Vulgarisierungen, insoweit sie diese ursprüngliche Wahrheit preisgegeben haben und auf Positionen regrediert sind, in denen die »Eschatologie« von ihrer eigenen Genese absieht. Nicht das »Ende« erweist sich als der archimedische Punkt, sondern der »Antichrist«, von dessen erfolgreicher Beseitigung alles weitere abhängt.

[64] Diese spezifische Verantwortung des materialistischen Historikers gegenüber den nicht-realisierten, verlorengegangenen oder unterdrückten »messianisch-revolutionären« Impulsen definiert sowohl seine eigene Position als »Geschichtsschreiber« neu wie auch den geschichtlichen Gegenstand und grenzt ihn dadurch deutlich ab vom »konformistischen« Selbstverständnis des bürgerlichen Historikers. Der Benjaminsche hat mit der Vorstellung, der Geschichtsschreiber sei möglichst neutral-kontemplativer Chronist und sein Gegenstand die Geschichte bzw. die Menschheit, gebrochen. Die in diesem Standpunkt eingeschlossene Haltung entlarvt er als falsche Abstraktion und deckt auf, daß sie in Wahrheit unweigerlich mit der Einfühlung in die »Sieger« einhergeht. Der »messianische« Gesichtspunkt dagegen, mit dem der materialistische Historiker an die Geschichte herangeht und der ihn mit einem Maßstab für Gelingen oder Mißlingen ausstattet, verweist ihn auf die konkreten Bedingungen, unter denen geschichtliche Wahrheit überhaupt zu haben ist: In der aktiven theoretischen und praktischen Durchsetzung des Anteils in ihr, der »erlösend-messianische« Qualität verkörpert; was den Kampf gegen ein herrschendes, konkretes Kontinuum, das dieser »messianischen« Qualität feindlich entgegensteht, einschließt. »Das Subjekt der Geschichte: die Unterdrückten, nicht die Menschheit.« (GS 1, 3, S. 1244, Ben-Arch, Ms 481); »Die Befugnis des Historikers hängt an seinem geschärften Bewußtsein für die Krise, in die das Subjekt der Geschichte jeweils getreten ist. Dieses Subjekt ist beileibe kein Transzendental-Subjekt sondern die kämpfende unterdrückte Klasse in ihrer exponiertesten Situation.« (GS 1, 3, 5. 1243, Ben-Arch, Mi 474); »Das geschichtsschreibende Subjekt ist von rechts wegen derjenige Teil der Menschheit, dessen Solidarität alle Unterdrückten begreift. Derjenige Teil, der das größte theoretische Risiko darum eingehen kann, weil er praktisch am wenigsten zu verlieren hat.« (GS 1, 3,S. 1234, Ben-Arch, MS 484).

Das »messianische Reich« hat also auch seine Voraussetzungen und deswegen ist es für Benjamin möglich, den Weg der menschlichen Geschichte nach dem theologischen Modell des Kampfes gegen den Antichrist zu konstruieren; und das ist umso notwendiger, je mehr das herrschende Geschichtsbewußtsein dieser Einsicht in die Notwendigkeit des Kampfes verlustig gegangen ist und sich damit vollständig dem Antichrist ausgeliefert hat. Wenn »Erlösung« bzw. richtige Zukunft davon abhängt, ob deren Gegenteil vorher überwunden wird, dann läßt sich ohne Zwang an die jeweilige gegenwärtige Generation die Forderung stellen, daß sie jene Tradition fortzuführen hat, die den Kampf gegen den Antichrist - in diesem Fall die entfremdete Klassengesellschaft - aktiv vorbereitet und vorangetrieben hat; wenn sie das erfolgreich tut, dann erlöst sie auch gleichzeitig die Vergangenheit und läßt der vergangenen Generation ihre »schwache messianische Kraft« zukommen. »Erlöst« wird an der Vergangenheit, was vom Konformismus überdeckt wird und in der Gegenwart keine Geltung mehr hat: Der revolutionäre Widerstand gegen den konformistischen Antichrist. Ist dieser Strang der menschlichen Geschichte in der Gegenwart wieder aufgenommen und zu voller Relevanz gebracht, dann ist auch dem Anspruch der Vergangenheit Genüge geleistet: Der aktuell rekonstruierte Klassenkampf »erlöst« den vergangenen revolutionären Impuls von dem Schicksal, unter dem Konformismus begraben zu werden und damit total dem Vergessen anheimzufallen. Und je mehr sich der aktuelle Klassenkampf entfaltet, desto umfassender kommt diese unterdrückte Vergangenheit auch zu ihrem Recht: Die klassenkämpferische Perspektive sprengt aus dem konformistischen Bild der Vergangenheit Fragmente heraus, deren »messianische« Struktur bisher verborgen war, und sie holt in die Zitierbarkeit herein, was vorher zur Sprachlosigkeit verdammt war.

Ist diese Linie der Überlieferung vom konformistischen Vergessen bzw. Verdrängen bedroht, steht die gesamte Menschheitsgeschichte auf dem Spiel, und deshalb ist bei Benjamin mit Recht das Verhältnis von konformistischem und messianisch-revolutionärem Anteil innerhalb der Gegenwart des Historikers der zutreffende Maßstab dafür, ob seine Arbeit gelingt oder ob er sich zum Komplizen der »Sieger« macht. Der materialistische Historiker muß die Vergangenheit darum immer unter der Perspektive der »Gefahr« für deren messianischrevolutionären Impuls betrachten: Wo sich diese nicht bis in die Gegenwart fortsetzen und dort auf einen aktuell geführten Klassenkampf stoßen, regieren eben nur die »Sieger« und die Preisgabe dieser Impulse produziert größte »Gefahr« für die Geschichte überhaupt. Der materialistische Historiker hat dafür zu sorgen, daß der Antichrist identifizierbar bleibt, und nur wenn er sich unbeirrt und unkorrumpierbar auf die Seite dieser unterdrückten messianischrevolutionären Vergangenheit stellt, und deren Kampf gegen den Antichrist auch in die eigene Gegenwart als unverzichtbaren und notwendigen überträgt, »erlöst« er die Vergangenheit und mit ihr seine Gegenwart bzw. die gesamte (53) Geschichte von der »Gefahr« totaler katastrophischer Entfremdung.[64] Wenn er diese Vergangenheit nicht mehr gegen den Konformismus zum Leben erwecken kann, gibt es auch keine Hoffnung mehr für die Zukunft:

»Nur dem Geschichtsschreiber wohnt die Gabe bei, im Vergangenen den Funken der Hoffnung anzufachen, der davon durchdrungen ist: auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein. Und dieser Feind hat zu siegen nicht aufgehört.« (These VI)

Um zum Ausgangspunkt zurückzukehren: Die Rettung bzw. »Erlösung« der Vergangenheit, ohne die es für Benjamin keine wirklich menschliche Geschichte geben kann, ist dem Konformismus des historischen Geschichtsschreibers für immer verstellt. Denn gerade das, was an dieser Vergangenheit lebendig und damit erlösbar ist - der revolutionäre Impuls, den Antichrist zu beseitigen, wird von ihm im »Wie-es-denn-eigentlich-gewesen-ist« versteinert und damit von jeglicher Reaktualisierung ausgeschlossen. Er überantwortet ohne Unterschied die gesamte Geschichte an das partielle Selbstverständnis und Interesse der »Sieger« und weil er sich nicht auf die »unscheinbaren« messianischen und antikonformistischen Impulse versteht, sind selbst die »Toten« nicht mehr »sicher«:

Ihr messianisch-revolutionäres Erbe, das sie der jeweils folgenden Generation als Möglichkeit und Verpflichtung übertragen, bleibt unterschlagen und damit werden ihre Leiden und Opfer zu sinnlosen. Nicht nur, daß die »Toten« dann (54) den »Feinden« ausgeliefert sind, die dieses Erbe zynisch korrumpieren und ihrem Hernschaftsanliegen einverleiben können: Die Auslieferung der »Toten« an den »Konformismus« signalisiert, daß auch die jeweilige Gegenwart kein Bewußtsein mehr von einem Kampf gegen den Antichrist hat, den es fortzuführen gilt. Mit dem Verlust der messianisch-revolutionären Tradition ist die gesamte geschichtliche Gegenwart an die Sieger übergegangen. Und wo der Weg in die messianische Vergangenheit abgeschnitten ist, gibt es, weil diese nicht mehr gerettet und »erlöst« werden kann, auch keine Rettung mehr durch die und in der Zukunft.

e) Der Verlust der »messianisch«-revolutionären Perspektive durch die historistische Methode der »Einfühlung«

Wenn Benjamin vom Geschichtsschreiber verlangt, daß er »dem Vergangenen den Funken der Hoffnung anzufachen« hat, folgt er nur der Konsequenz seiner Vorstellung von geschichtlicher Zeit, in der es »zwischen den gewesenen Geschlechtern und unserem« eine »geheime Verabredung« gibt, die darin besteht, daß die folgende Generation bestimmte Impulse der vorangehenden wieder aufnehmen und weiterführen soll.

Es wurde oben bereits herausgearbeitet, daß es sich hierbei um messianisch-revolutionäre Impulse handelt, in denen sich eine Befreiung von einer entfremdeten Geschichtsstruktur ankündigt und vorbereitet. Daraus läßt sich ersehen, daß Benjamins Konzeption an zentraler Stelle von der Vorstellung einer geschichtlichen Entwicklung bzw. eines geschichtlichen Fortschritts geprägt ist; allerdings nicht im Sinne positivistischer, vulgärmaterialistischer oder kapitalistischer Theorie. Der Gedanke der Entwicklung fixiert bei ihm nie - wie sich später noch eindeutiger zeigen läßt - eine Vorstellung permanenter und absoluter Perfektionierung, sondern den prinzipiellen Umschlag einer entfremdeten in eine unentfremdete Geschichte. Hängt von diesem prinzipiellen Fortschritt das Gelingen menschlicher Geschichte überhaupt ab, dann ist die historistische Empfehlung Fustel de Coulanges an den Historiker,

»wolle er eine Epoche nacherleben, so solle er alles, was er vom spätem Verlauf der Geschichte wisse, sich aus dem Kopf schlagen« (These VII),

für Benjamin nichts anderes als die geschichtsideologische Absegnung und Legitimation realer Entfremdung. Diese Empfehlung kappt die für ihn so entscheidende Korrespondenz zwischen Gegenwart und Vergangenheit und gibt somit jegliche Vorstellung eines Fortschritts oder auch Rückschritts innerhalb der menschlichen Geschichte auf. Damit jedoch wird auch kein Sensorium mehr ausgebildet, das in der Lage wäre, nicht-systemkonforme geschichtliche Momente wahrzunehmen und ihnen zu ihrem theoretischen wie praktischen Recht zu (55) verhelfen. Und wo es innerhalb der Zeitebenen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft keine Bezüge mehr gibt, wird jeder geschichtliche Moment bzw. jedes vereinzelte geschichtliche Material in einem scheinbar homogenen Punkt zusammengefaßt und dort eingesiegelt wie das Insekt im Bernstein. Natürlich kennt eine solche Auffassung von Geschichtsbetrachtung keine »negativen« Geschichtsmomente, deren Wahrheiten eben nur dann zu ihrer adäquaten Geltung kommen, wenn sie gegen das jeweils etablierte System des geschichtlichen Ablaufs sich artikulieren und durchsetzen können. Derartige Momente tauchen gar nicht erst auf bzw. werden vollständig naturalisiert, wenn die Vorstellung von Geschichte von dem Zwang bestimmt wird, man habe sich den »Verlauf der Geschichte... aus dem Kopf« zu schlagen. Ebensowenig gibt es innerhalb eines solchen poinitilistischen Systems Platz für ein Erlösungskonzept; denn alles ist ihm ja schon sinnhaft geborgen und eine Frage nach dem wahr oder falsch stellt sich nicht.

Mit diesem Verfahren jedoch hat - wie Benjamin sagt - der »historische Materialismus gebrochen« (These VII) und es ist hier gut einzusehen, wie komplementär und organisch sich Theologie und Materialismus in diesen Analogisierungen zueinander verhalten. Beiden ist die bestehende Geschichte nicht endgültig und beiden ist gewiß, daß eine kritik- und alternativlose Identifikation mit der bestehenden Form von menschlicher Geschichte einer Kapitulation vor dem »Antichrist«, bzw. materialistisch gewendet, vor der entfremdeten Klassengesellschaft gleichkommt. Theologie und historischer Materialismus kennen deshalb auf dieser abstrakten Ebene die Notwendigkeit einer »Erlösung« der menschlichen Geschichte von ihrer unversöhnten bzw. verkehrten Gestalt. (Wo die Analogie zwischen Theologie und Materialismus ihre Grenzen hat, wird von Benjamin später ausführlich herausgearbeitet).

Nach dem, was oben entwickelt wurde, leuchtet ein, daß der historische Geschichtsschreiber, wie ihn Fustel de Coulanges entwirft, sich automatisch und notgedrungen mit dem »Antichrist« identifizieren muß; denn wenn ihm der bestimmte Geschichtsablauf kein Problem mehr ist, und er ihn sich auch methodologisch »aus dem Kopf« zu schlagen hat, dann verzichtet er von vornherein auf ein »konstruktives Prinzip«, mit dem er sich gegen die scheinbar unüberschaubare und damit entmündigende Faktenflut historischer Dokumente zur Wehr setzen könnte und so in der Lage wäre, sie auf ihre progressive oder regressive Bedeutung zu befragen. Dadurch könnte er sich in der von ihm ja selbst mitproduzierten Geschichte als verstehendes und planendes Wesen re-etablieren und müßte ihr nicht wie einem unabwendbaren Schicksal begegnen. Wobei er sogar noch gezwungen wird, sich wahnhafter Strategien zu bedienen, um dieses Schicksal zum homogenen, sinnhaften Gebilde zu stilisieren und der Wahrnehmung dessen in Wahrheit katastrophischen Struktur entgehen zu können. (56)

Benjamin bezeichnet diese Art isolierender, pointilistischer Geschichtsbetrachtung als ein »Verfahren der Einfühlung«. Deren scheinbare Sensibilität ist jedoch eine gefährliche Täuschung: Sie entspringt nicht dem unbestechlichen Willen, dem Wesen der konkreten menschlichen Geschichte auf die Spur zu kommen, sondern ganz im Gegenteil der Resignation. Der sich in das isolierte - von seiner Vergangenheit wie seiner Zukunft abgeschnittene - historische »Faktum« einfühlende Historiker hat sich längst geschlagen gegeben und die Hoffnung fahren lassen, er könnte sich der Geschichte theoretisch bemächtigen. Daß er »Herr im eigenen Haus« sein könnte und müßte, ist ihm nicht mehr geläufig und so hat er seine Schwäche zur Tugend erklärt und ihr in der »Einfühlung« eine scheinbar vernünftige Erkenntnismethode adaptiert. Damit kaschiert er nichts anderes als seine

»Trägheit des Herzens, die acedia, welche daran verzagt, des echten historischen Bildes sich zu bemächtigen, das flüchtig aufblitzt.« (These VII)

Der in dieser »Trägheit des Herzens« eingeschlossene Verzicht, das scheinbar so Faktische als mögliche Täuschung zu entlarven und ihm das »echte historische Bild« entgegenzuhalten, verpflichtet den Historiker auf die positivistische Oberfläche geschichtlicher Überlieferung. Er muß als bare Münze nehmen, was sie ihm in den Mund legt, und seine Versenkung in sie führt ihn nicht auf tiefere Ebenen eines objektiven Geschichtsverständnisses, sondern in tiefere Identifikationen mit dem Selbstverständnis derjenigen, die für eben diese Überlieferung verantwortlich waren. Und hier wird auch unmittelbar einleuchtend, warum Benjamin in diesem Zusammenhang die mittelalterliche Theologie zitiert, der die »acedia«, die »Trägheit des Herzens« der »Urgrund der Traurigkeit« war: Die »Trägheit des Herzens« läßt sich auf das unmittelbar Vorgegebene wie auf ein Letztes, Unübersteigbares ein und eliminiert damit jeden Gedanken an eine Alternative zum Bestehenden. Aber nur wo dieses Bestehende als zeitweilige Verhinderung einer in ihr eingeschlossenen Alternative begriffen wird, gibt es Hoffnung für die Menschen. Andernfalls liefern sie sich der Katastrophe aus und ihre einfühlsame Differenziertheit ist nichts anderes als der sublimierte Ausdruck ihrer »Traurigkeit«. Denn mit dem Verzicht, der Alternative auf den Fersen zu bleiben, haben sie die Realität der »Sieger« akzeptiert und diese ist in Wirklichkeit nur eine Seite des geschichtlichen Ganzen. (Für die mittelalterlichen Theologen war diese bestehende Realität die des »Antichrist« und die Alternative dazu das »Reich Gottes«. Benjamin materialisiert dieses Konzept radikal.)

»Die Natur dieser Traurigkeit wird deutlicher, wenn man die Frage aufwirft, in wen sich denn der Geschichtsschreiber des Historismus eigentlich einfühlt. Die Antwort lautet unweigerlich in den Sieger.« (These VII) (57)

Die bestehende Geschichte ist eine Geschichte der Entfremdung und der Klassenkämpfe, wobei in der Regel nur diejenigen in der Lage waren, Geschichte zu schreiben, die sich als die jeweilige herrschende Klasse etablierten, fast nie jedoch die von jener Klasse Unterdrückten und Ausgebeuteten. Wer sich in diese Dokumente der herrschenden Klasse bzw. ihrer Selbstdarstellung »einfühlt«, kennt in Wahrheit nur einen Teil des Geschichtsganzen, den offenkundigen, »faktischen«, oberflächlichen. Der verborgene, unter dieser offiziellen Lesart verschüttete Anteil der Geschichte muß ihm unzugänglich bleiben und daß gerade in den »unscheinbarsten« verschütteten und unterdrückten Anteilen »messianische« Dimension und Kraft enthalten ist, liegt vollständig jenseits seiner Wahrnehmung und insofern er diese messianischen Anteile in der Geschichte gleichgültig behandelt und vom Ganzen absprengt, beraubt er nicht nur die Vergangenheit ihres Anspruchs auf »Erlösung«, sondern stärkt auch den gegenwärtig Herrschenden den Rücken, indem er sie vor der Sprengkraft der im Geschichtsganzen eingeschlossenen messianischen Momente bewahrt.

»Die jeweils Herrschenden sind aber die Erben aller, die je gesiegt haben. Die Einfühlung in den Sieger kommt demnach den jeweils Herrschenden allemal zu-gut.« (These VII)

Die Sieger haben ihre Kontinuität, und ihre Intention ist es allemal, aus dem Bild der Geschichte bzw. aus deren Überlieferung das zu entfernen, was ihren Herrschaftsanspruch als erzwungenen dechiffrieren und ihm den Charakter des homogen-natürlichen nehmen könnte. Und solange in der menschlichen Geschichte die klassenmäßige Entfremdung nicht prinzipiell aufgehoben ist, bzw. solange in ihr sich nur immer wieder die Sieger gegenseitig ablösen, besteht die permanente Gefahr, daß auch die Dokumente, in denen Entfremdung und Barbarei artikuliert werden, zu herrschaftslegitimatorischen und affirmativen Zwecken deformiert werden. Als »Beute« werden sie ins Repertoire der Herrschenden eingegliedert und versehen mit dem Prädikat »Kulturgüter« haben sie dort ihren garantierten und geschätzten Platz.

»Die Beute wird, wie das immer so üblich war, im Triumphzug mitgeführt. Man bezeichnet sie als die Kulturgüter. Sie werden im historischen Materialisten mit einem distanzierten Betrachter zu rechnen haben.« (These VII)

Die Vergangenheit kommt hier nur mehr insoweit zum Zug, als sie sich in die Bedürfnisse der »Sieger« einspannen läßt. Und sie interessiert diese auch nur da, wo sie scheinbar ewige Werte produziert hat, die dem, der sie in Besitz hat, den Schein von Glück und Rechtmäßigkeit verleihen. Das »Gewesene« ist hier weit davon entfernt, seinen innersten unerlösten Konflikt darstellen und in der Gegenwart reproduzieren zu können; ihrer anti-homogenen Kehrseite beraubt muß sie ihre ästhetische Dimension dazu hergeben, einer entfremdeten Gegenwart auch noch die Ahnung an ihre Erlösungsbedürftigkeit auszureden. (Wobei festgehalten werden muß, daß bürgerliche Kunst prinzipiell in Gefahr ist, in ihrem ästhetischen Ideal schlechte Realität kompensieren oder vergessen machen zu wollen.)

f) Die historistische Reduktion der Vergangenheit auf einen herrschaftslegitimatorischen Fetisch, demonstriert am Beispiel der »Kulturgüter«

Daß die Vergangenheit zur »Beute« werden kann, die im »Triumphzug« der »Sieger« mitgeführt wird, dazu bedarf es ihrer spezifischen Bearbeitung und Zurichtung. Oder anders formuliert: Sie wird nur dann zur affirmativ verfügbaren Beute, wenn sie elementarer Anteile beraubt wird und quasi einseitig auftreten muß. (Diese Zurichtung zum konformistischen Medium fällt von jeher denjenigen unter den geistigen Produzenten - den Intellektuellen - zu, die sich in Verkennung ihrer objektiv-revolutionären Funktion mit den Herrschenden identifizieren und als deren ideologische Handlanger auftreten).[65]

[65] Zu Benjamins Analyse der revolutionären Funktion der Intellektuellen: Siehe Hering, Der Intellektuelle...‚ aaO.

Die Verwandlung vergangener geistiger Produktion in ein »Kulturgut« enthält begrifflich die ganze Reduktion und gibt exemplarisch Auskunft über die Methode, wie Vergangenheit so von ihrer komplexen Heterogenität »gereinigt« werden kann, daß ihr keine Impulse mehr anzumerken sind, die die herrschende Gegenwart als entfremdete darstellen wollen bzw. die auf unentfremdete Gegenwart aus sind. Als scheinbarer Wert an sich erhebt sich das »Kulturgut« wie autonom und selbstgenügsam über alle gesellschaftlichen Widersprüche und muß den Anschein erwecken, als stehe es allen zur Verfügung bzw. halte für alle dieselbe Wahrheit parat. Der zum »Kulturgut« geronnene Ausdruck vergangener Generationen gibt keine Auskunft mehr über den heterogenen gesellschaftlichen Begründungszusammenhang, dem er entstammt, und der die Produktion von »Kultur« nur in unmittelbarer Nachbarschaft zur »Barbarei« ermöglicht. Und deshalb haben diese sog. »Kulturgüter«  - wie Benjamin ausführt - mit einem distanzierten Betrachter zu rechnen:

»Denn was er an Kulturgütern überblickt, das ist ihm samt und sonders von einer Abkunft, die er nicht ohne Grauen bedenken kann. Es dankt sein Dasein nicht nur der Mühe der großen Genien, die es geschaffen haben, sondern auch der namenlosen Fron ihrer Zeitgenossen. Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein.« (These VII) (59)

Indem das historistische Verfahren seinen geschichtlichen Gegenstand aus dem gesellschaftlichen Geschichtsganzen - das Vergangenheit, Gegenwart und mögliche Zukunft umfaßt - herauslöst, unterschlägt es z.B. am Gegenstand der Kultur ein Zweifaches: Einmal, daß diese »Kultur« die Kehrseite der »Fron« repräsentiert - eine Kombination, die nicht als unvermeidbares Übel genommen werden darf, und zum anderen, daß in ihr Hinweise auf diese barbarische Kehrseite enthalten sind, bzw. daß ihre ganze Existenz Dokument der noch nicht bewerkstelligten »Erlösung« von dieser »Barbarei« ist. Das zum »Kulturgut« zusammengeschrumpfte historische Dokument erfüllt dann eine fatale Aufgabe: Es fordert - kraft seiner angeblich übergeschichtlichen und übergesellschaftlichen Schönheit - zur Versöhnung auf, ohne daß der gesellschaftliche Widerspruch von individueller Sensibilität und allgemeiner Unterdrückung, der es konstituiert, angetastet werden soll. Selbst einem mit revolutionärer Sprengkraft versehenen Geschichtsablauf entstammend, muß es diesen wichtigen Teil an sich selbst vernichten und dazu herhalten, der Gegenwart Kontinuität und Homogenität einzureden. Statt ihr am eigenen Beispiel ihre Entfremdung vorzuführen, betreibt es die »Apologie« der verkehrten Welt, indem es mit seinem schönen Schein deren Widersprüche verkleistert.[66]

[66] »Die ‘Würdigung‘ oder Apologie ist bestrebt, die revolutionären Momente des Geschichtsverlaufs zu überdecken. Ihr liegt die Herstellung einer Kontinuität am Herzen.« (GS 1, 2, S. 658f.). »‘Würdigung‘ ist Einfühlung in die Katastrophe.« (GS 1, 3,S. 1246, Ben-Arch, Mi 488).

[67] »Als ein Inbegriff von Gebilden, die unabhängig, wenn nicht von dem Produktionsprozeß, in dem sie entstanden, so doch von dem, in welchem sie überdauern, betrachtet werden, trägt der Begriff der Kultur... einen fetischistischen Zug. Sie erscheint verdinglicht. Ihre Geschichte wäre nichts als der Bodensatz, den die durch keinerlei echte, d.i. politische Erfahrung im Bewußtsein der Menschen aufgestöberten Denkwürdigkeiten gebildet haben.« (GSII, 2, S. 477). »Wo der Historismus Genies und Helden feiert, wahrt der historische Materialist Distanz und müßte er die Feuerzange zu Hilfe nehmen.« (GS 1, 3,S. 1249, Ben-Arch, Ms 1073 v).

Der reale Grund der Unversöhntheit, dem das sog. »Kulturgut« entspringt, bleibt verschwiegen und unterschlagen. Oder wie Benjamin an anderer Stelle sagt: Das »Kulturgut« bzw. seine Rezeption vermittelt keine »echte, d.i. politische Erfahrung« mehr: Es ist nur mehr »Fetisch«.[67] Das jedoch ausschließlich im Dienste der herrschenden Klasse.

Es bedarf hier jedoch einer wichtigen Präzisierung. Kultur ist nicht unmittelbar identisch mit dem, was im Verlauf der bisherigen Argumentation »messianisch-erlösendes« Geschichtsmoment genannt wurde. Wie bereits bei der Interpretation der IV. These ausgeführt, sind die »feinen und spirituellen« nicht unbedingt ästhetische im klassischen Sinn. Benjamins Gedankengang ist differenzierter und wenn er die Deformierung der Kultur zum »Kulturgut« entwickelt, (60) so heißt das nicht, daß es ihm um eine Rekonstruktion der »wahren«, »echten« Kultur zu tun ist. Sie ist eben nicht, wie er eindringlich zu zeigen versucht, das ganz Andere als die »Barbarei«, sie ist gerade deren Kehrseite; und so besehen kann sie nur dann humane Funktion haben, wenn sie beredtes Dokument dafür bleibt, daß der gesamte Widerspruch aufzuheben ist und nicht nur eine Seite an ihm.

Kultur ist nicht das »messianische« Moment selbst, sie kann höchstens auf dieses in richtiger Manier verweisen. Und wie die These IV gezeigt hat, realisiert sich diese messianische Qualität nur unter der Bedingung des konkreten gesellschaftlich-geschichtlichen Kampfes gegen die klassenmäßige Entfremdung. »Messianisch« ist Kultur dann nur insoweit, als sie unbestechlich die Negation des verkehrten Ganzen fordert, und das schließt sie selbst mit ein. (Indem sie ihre eigene Aufhebung mitzudenken in der Lage ist, visiert sie eine Art von Kultur an, die sich nicht mehr der gesellschaftlichen Katastrophe »verdankt«, sondern aus einer unentfremdeten, klassenlosen Lebensform entspringt. Man wird diese Gebilde auch nicht mehr unter dem Etikett »Kultur« rubrizieren können, insofern mit »Kultur« das vom unmittelbaren materiellen Produktionsprozeß abgespaltene ganz Andere gemeint ist - gemäß der herrschenden Ästhetik).

g) Die »gegen den Strich gebürstete Geschichte«: Zur negativen Dialektik des historischen Materialismus

Die historistische Methode der einfühlenden Isolierung unterschlägt sowohl die barbarische Kehrseite an der Kultur, wie auch deren ganz spezifisch negative Humanität, die darum weiß, daß Kultur selbst in sich schon die Gefährdung trägt. Deren Vergewaltigung zum »Kulturgut« im Dienste der »Sieger« entspringt einer ihrer immanenten Möglichkeiten. Denn, als nicht-praktische Dimension des Widerstandes gegen die »Barbarei« zielt sie in ihrem ästhetischen Impetus auf individuelle Versöhnung mit der Katastrophe ab, wo kollektive Revolutionierung der gesellschaftlichen Verhältnisse das einzig adäquate Gegenmittel wäre. Diese immanente Problematik an der Kultur gilt es zu dechiffrieren: Ihr individualistisch nach Innen gerichteter antibarbarischer Impuls bedarf der materialistischen Wendung nach Außen. Nicht die Kultur als solche ist zu retten, sondern die in ihr eingeschlossene Energie des Widerstandes gegen die Entfremdung, der sie entstammt und die ein untrennbarer Bestandteil ihrer selbst ist.

Deshalb ist für den historischen Materialisten die Methode der Einfühlung auch so unannehmbar: Sie hindert ihn daran, diese komplizierte und verdeckte Wahrheit freizulegen und sich dem Sog der Verführung durch die scheinbare Evidenz der empirischen »Faktizität« zu entziehen. Seine Methode muß in der Lage sein, sowohl die entstehende Überlieferung der kulturellen Vergangenheit rückgängig zu machen, wie auch die kulturellen Gegenstände selbst in ihrer janusköpfigen (61) Gestalt zu entschlüsseln. Denn wie das Dokument der Kultur

»selbst nicht frei ist von Barbarei, so ist es auch der Prozeß der Überlieferung nicht, in der es von dem einen an den andern gefallen ist. Der historische Materialist rückt daher nach Maßgabe des Möglichen von ihr ab. Er betrachtet es als seine Aufgabe, die Geschichte gegen den Strich zu bürsten.« (These VII)

Der historische Materialist hat die spezifisch historische Abspaltung der geistigen Produktion von der materiellen und ihre Hypostasierung zur autonomen Kraft kritisch aufzulösen und er muß herausarbeiten, daß diese bestimmte Form kultureller Leistung ihren fatalen Preis hat. Nicht um die Rettung der Kultur geht es ihm, sondern um die Rettung der menschlichen Geschichte: Ein Unterfangen, das nur dann realisierbar ist, wenn es ihm gelingt, das zu rekonstruieren und lebendig zu machen, was innerhalb dieser barbarisch-kulturellen Heterogenität an messianisch-revolutionärer Sprengkraft sich bilden konnte und auf konkrete Einlösung bzw. Erlösung wartet.

Wenn er die Überlieferung zum Gegenstand seines Interesses macht, dann ausschließlich, um sich deren messianischer Energien anzunehmen und sie in aktueller revolutionärer Praxis aufgehen zu lassen. Seine primäre Aufgabe besteht darin, sie von der ihr anhaftenden fetischisierenden Ästhetisierung zu befreien und den ihr spezifischen schönen Schein in seiner gesellschaftlichen Bedeutung transparent zu machen. Das vergangene Spannungsverhältnis zwischen Barbarei und Kultur schlägt dann um in »echte politische Erfahrung«, die der Gegenwart des Rezipienten den messianischen Traditionszusammenhang mit den »gewesenen Geschlechtern« und deren Kampf gegen die Entfremdung zurückgewinnt; und mit dieser Zurückgewinnung der messianischen Momente der Vergangenheit begründet der historische Materialist Benjamins eine aktuelle Identität, aus der heraus der Kampf um das Gelingen menschlicher Geschichte wieder in selbstverantwortlicher Theorie und Praxis aufgenommen und entschieden werden kann. (62)

3.  Die »Gegenwart« des Faschismus: extremster und konsequentester Ausdruck prinzipieller geschichtlicher Entfremdung

a) Der »Ausnahmezustand« als die geschichtliche »Regel«

Für Benjamin ist seine eigene geschichtliche Gegenwart des faschistischen Schreckens keine »Ausnahmesituation«, die mit nichts zu vergleichen wäre und auch keine innere gesellschaftlich-geschichtliche Konsequenz hätte. In ihm erkennt er die permanente geschichtliche Tradition der Unterdrückung wieder und so steht er diesem Phänomen auch nicht ohne Erklärung gegenüber wie so viele aufrechte, aber hilflose Antifaschisten. Und wie ihm der Faschismus kein isoliertes Phänomen ist, so ist auch sein Mittel, ihn zu bekämpfen, kein spezielles, das außerhalb jeglicher sonstigen geschichtlichen Erfahrung und Praxis läge: Die »gewesenen Generationen« in ihrem verzweifelten Kampf um Emanzipation gegen ihre jeweiligen Unterdrücker weisen auch hier den Weg. Vorbildlich ist ihr revolutionärer Widerstand gegen die »Sieger« ihrer eigenen Zeit, weil er einen exemplarischen Beitrag darstellt innerhalb des größeren, und noch unvollendeten Kampfes gegen einen geschichtlich-gesellschaftlichen Zustand, der Faschismus immer einschließt, weil er auf prinzipieller Entfremdung und Klassenherrschaft beruht. Und so ist die faschistische Gegenwart nur aufs höchste verdichtete entfremdete Gegenwart, der mit der entschlossenen Wiederaufnahme des revolutionären Kampfes gegen jegliche Klassenherrschaft begegnet werden muß.

»Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, daß der ‘Ausnahmezustand‘ in dem wir leben, die Regel ist. Wir müssen zu einem Begriff der Geschichte kommen, der dem entspricht. Dann wird uns als unsere Aufgabe die Herbeiführung des wirklichen Ausnahmezustands vor Augen stehen; und dadurch wird unsere Position im Kampf gegen den Faschismus sich verbessern.« (These VIII)

Mit dieser Subsumierung des Faschismus unter einen allgemeinen gesellschaftlich-geschichtlichen »Ausnahmezustand« und mit der Kennzeichnung dieses generellen »Ausnahmezustandes« als einem Produkt der ungebrochenen Praxis der »Sieger«, wird es für Benjamin möglich, den wahren Gegner - in messianischer Terminologie: den »Antichrist« - auszumachen und als konkrete gesellschaftliche Kraft, die bekämpfbar ist, darzustellen. Die »Herbeiführung des wirklichen Ausnahmezustandes« müßte dann als die konkrete, wirkliche Aufnahme des gesellschaftlichen Konflikts verstanden werden, der in diesem »Ausnahmezustand« eingeschlossen ist und der bisher harmonisiert bzw. unterdrückt wurde.

Es geht um die Verwirklichung des Kampfes der »Unterdrückten« gegen die »Sieger«, um die Verwirklichung der revolutionären Möglichkeit, die im »Aus-(63)nahmezustand« potentiell immer schon vorhanden ist und nur noch der selbstbewußten Identität bedarf.[68]

b) Die »Herbeiführung des wirklichen Ausnahmezustandes« als die Durchsetzung echter revolutionärer Gegenwart

[68] Aberwitzig Tiedemanns Verstümmelung dieser Passage bei Benjamin: »... dieser ‘wirkliche Ausnahmezustand‘, den die Revolution herbeiführen soll, erscheint als das Andere zur Geschichte: nicht nur das Ende der Klassenkämpfe, sondern das von Geschichte selber: so hatte Marx sich den Abschluß der Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft nicht gedacht. Und die Revolution, die diesen Ausnahmezustand herbeiführte, wäre ebensowenig die von Marx erhoffte des Proletariats, sondern apokalyptische Zerstörung, eschatologisches Ende.« (R. Tiedemann, in: Materialien, aaO., S. 108).

Kein Wort von »Apokalypse« oder »Eschatologie« in Benjamins Text; er verwendet diese Begriffe nicht und ich denke, mit Recht und mit Absicht. Dagegen die explizite Parteinahme für die »kämpfende, unterdrückte Klasse«, die er dazu noch unmißverständlich »Subjekt der Geschichte« - nämlich der gelingenden, »messianischen« - nennt. (Siehe dazu GS 1, 3, S. 1243, Ben-Arch, Ms 474; und andere). Tiedemann unterschlägt und fälscht kaltblütig diese Sachverhalte. Dagegen suggeriert er beinahe pathologische Züge in Benjamins Denken und denunziert dessen Vorstellung von ‘Rettung« bzw. »Erlösung« von Vergangenheit im aktiv geführten Kampf der Gegenwart gegen den »Antichrist« als Maskerade, hinter der sich in Wahrheit apokalyptische Destruktionskonzeption verbirgt.

Man kann hier nicht mehr von Interpretationsdifferenzen reden. Tiedemanns Strategie - im folgenden noch deutlicher herausgearbeitet - ähnelt eher einem intellektuellen Amoklauf, dessen Ziel allein darin besteht, die einmal gefaßten und publizistisch etablierten Vorurteile - auch gegen erdrückendste Evidenz - als Wahrheit durchzusetzen.

[69] Zutreffend spricht Greffrath von der »Irrationalität des Nationalsozialismus« als der »Kehrseite der kapitalistischen Rationalität« (Greffrath, aaO., S. 202) und kennzeichnet den »Faschismus als die repressivste Form bürgerlicher Herrschaft«. (S.205).

Ist der Faschismus nur letzte Aufgipfelung der alltäglichen Entfremdung, dann ist die Durchsetzung einer gesellschaftlichen Praxis, in der diese alltägliche Entfremdung von Grund auf beseitigt wird, logische Konsequenz. Die faschistische Dimension der Geschichte ist jedoch für Benjamin deshalb so widerstandsfähig, weil diejenigen, die durchaus zum Widerstand entschlossen sind, auf ein Mittel bzw. auf ein geschichtliches Vorbild vertrauen, das Faschismus als organische Möglichkeit in sich trägt. Denn wenn die Gegner des Faschismus an einen »Fortschritt« glauben, wie er sich z.B. in den vor-faschistischen Jahrzehnten oder auch Jahrhunderten anbahnte, so setzen sie auf ein trojanisches Pferd. Sie sind deshalb dem Faschismus nicht gewachsen, weil sie dem »normalen« geschichtlichen, Fortschreiten nicht kritisch gewachsen sind; ihr Gegenmittel ist die Krankheit selbst bzw. mit Beelzebub wollen sie den Teufel austreiben. Damit haben sie ihre eigene Gegenwart entmündigt und an eine bestimmte geschichtliche Bewegungsform ausgeliefert, die unentfremdetes Handeln verhindert und einem ökonomischen Prinzip die Oberhand läßt. Denn der »Fortschritt«, auf den sie vertrauen und dessen Struktur sie gegen den Faschismus durchsetzen (64) wollen, ist identisch mit der bestimmten Form von Fortschritt, wie sie sich mit der rapiden Entfaltung kapitalistisch orientierter Ökonomie entwickelte.[69] Diese zur ultima ratio erheben zu müssen, stärkt dem Faschismus nur den Rücken:

»Dessen‘ Chance besteht nicht zuletzt darin, daß die Gegner ihm im Namen des Fortschritts als einer historischen Norm begegnen.« (These VIII)

Die Rückkehr zum etablierten »Fortschritt« der vorfaschistischen Geschichte verhindert genau das, was Benjamin als den einzigen Ausweg aus dem Dilemma bezeichnet: Die Durchsetzung radikaler revolutionärer Praxis, in der das Geschichtsganze auf der Tagesordnung steht und die Geschichtsbewegung selbst auf eine qualitativ neue Stufe gehoben werden kann. Gegenwart wäre dann nicht länger Funktion eines bestimmten normativen Prinzips, sondern Brennpunkt »kontinuumsssprengender« Praxis, wie Benjamin später sagt.

Indem der materialistische Historiker, wie Benjamin ihn sieht, die gesamte Geschichte - insofern sie von Klassenherrschaft gekennzeichnet ist - als »Ausnahmezustand« begreift und damit in der Besonderheit des Faschismus die barbarischste Ausprägung und Möglichkeit der geschichtlichen »Regel« ungebrochener Entfremdung wiedererkennen kann, bleibt er immun gegen die Verführung, wie sie von scheinbar positiven, nicht-barbarischen Beispielen bestehender Geschichtspraxis ausgeht; er verliert nie die eigentliche Aufgabe aus den Augen, die darin besteht, den »wirklichen Ausnahmezustand« herzustellen. Denn nur dann bleibt die Gefahr gebannt, daß auf Modelle von Fortschritt zurückgegriffen wird, die selbst - trotz oder auch gerade wegen ihrer scheinbaren Neutralität - zutiefst vom Grundwiderspruch einer entfremdeten und auf Klassenteilung beruhenden gesellschaftlichen Reproduktionsform beruhen. (Benjamins Kritik an der Sozialdemokratie, wie sie in Kapitel IV ausführlich zusammengefaßt ist, wird diese Gefahr der kritiklosen Identifikation eines bestimmten Fortschreitens innerhalb der Geschichte mit Fortschritt an sich vorführen). Der Benjaminsche Historiker wird sich nicht vorschnell und affirmativ auf empirische Unmittelbarkeit einlassen, bevor der uralte und fundamentale geschichtliche Konflikt nicht aufgehoben ist.

Deshalb besteht er mit Recht und aus innerster Konsequenz heraus auf einem unerschrockenen und unkorrumpierbaren Bild des bisherigen geschichtlichen Fortschritts als einer »Katastrophe« und deshalb vermag ihm die Theologie so gute Dienste zu leisten. Wie sehr sie auch in Bezug auf konkrete revolutionäre Praxis beschränkt sein mag, so fruchtbar ist andererseits ihr radikaler Erlösungsanspruch und ihr Bild von der Geschichte als einem kontinuierlich wachsenden »Trümmerhaufen«. (65)

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