Christoph Hering  (Verlag Peter Lang, Frankfurt 1983):

Die Rekonstruktion der Revolution.

Walter Benjamins messianischer Materialismus in den Thesen »Über den Begriff der Geschichte« ( 1 2 3 4 5 6)

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Inhalt

  1. Vorwort
  2. Einleitung
  3. Theologischer »Zwerg« und Materialistische »Puppe«:
    Benjamins Projekt einer theologischen Erneuerung des Historischen Materialismus
  4. »Vergangenheit« und »Erlösung«: Zur »messianischen« Verantwortung der Gegenwart
    1. Der Anspruch der Vergangenheit auf »Erlösung«
    2. Exkurs: Benjamin und Marx 1
    3. »Materialistischer« und »historistischer« Umgang mit der Vergangenheit
    4. Die »Gegenwart« des Faschismus:
      Extremster und konsequentester Ausdruck prinzipieller geschichtlicher Entfremdung
  5. »Paradies« und »Sündenfall«: zur prinzipiellen Entfremdung des geschichtlichen Fortschreitens …
    1. Die Aporie des »Engels der Geschichte«
    2. Die Fundierung des Fortschrittsbegriffs in der »Idee der Katastrophe«
    3. Exkurs: Benjamin und Marx II
  6. »Sozialdemokratie« und »Klassenkampf«: Die Revision des Historischen Materialismus
    1. Die sozialdemokratische Verfälschung zentraler Marxscher Begriffe
    2. Die Entmündigung d. Proletariats als revolutionärer Klasse
    3. Exkurs: Benjamin und Adorno
    4. Die Ersetzung materialistischer Dialektik durch positivistisch- naturwissenschaftliche Eindimensionalität
    5. Exkurs: Historischer Materialismus und messianische Theologie
  7. »Kontinuum« und »Revolution«: Die Rekonstruktion geschichtlicher Gegenwart
    1. »Jetztzeit« statt »homogene und leere Zeit«
    2. Der »Tigersprung ins Vergangene« als Zurückgewinnung verschütteter »jetztzeitiger« Vergangenheit
    3. Exkurs: Fortschritt und Revolution
    4. Die Rekonstruktion von klassenkämpferischem »Kalender« und »kontinuumssprengender« Identität
    5. Gegenwart als »stillgestellte« Zeit bzw. materialistische Besonderheit statt historistische Abstraktion
    6. »Monadische« Vergangenheit und »jetztzeitige« Gegenwart
    7. Exkurs: Zur »Monade«
  8. »Theologie« Und »Historischer Materialismus«: Die menschliche Geschichte unter dem Aspekt ihrer »messianischen« Revolutionierbarkeit
    1. »Messianische« Radikalität und »richtiges Leben«
    2. Exkurs: Materialisierte Theologie
    3. Die »Messianisierung« des Historischen Materialismus
    4. Der »Dienst« der Theologie oder die Materialisierung des »Messianismus«
  9. Nachwort
  10. Bibliographie
  11. Ausführliches Inhaltsverzeichnis

 

VI.  »Theologie« und »Historischer Materialismus«: die menschliche Geschichte unter dem Aspekt ihrer »messianischen« Revolutionierbarkeit

 

1.  »Messianische« Radikalität und »richtiges Leben«

a) »Messianischer« Erlösungsanspruch und profanes Glück

In der »Jetztzeit«, wie sie sich in den »monadischen Konstellationen« bildet und wie sie in den Zeit-«Samen« aufbewahrt ist, fallen die beiden Argumentationslinien Benjamins - die materialistische und die jüdisch-theologische  in einem Punkt zusammen und das ermöglicht hier eine abschließende und stringente Interpretation ihrer innersten Beziehung.

[172] »Glück ... gibt es nur in der Luft, die wir geatmet haben, mit Menschen, zu denen wir hätten reden, mit Frauen, die sich uns hätten geben können«. (These II).

[173] Da Kaiser und andere Interpreten genau diesen Sachverhalt gründlich verfehlen, ist ihnen notgedrungen der einzig sinnvolle Zugang zur Intention Benjamins mit Brettern vernagelt: »Kein Ziel der Geschichte wird erreicht, sondern das Ende der Geschichte bricht herein« (Kaiser, aaO., S. 28); oder: »Man kann nicht sagen, das messianische Reich bei Benjamin sei ‘zutiefst ahistorisch‘ ...‚ es ist als Ende der Geschichte Aufhebung der Geschichte, also metahistorisch« (Kaiser, aaO., S. 28, Anm. 61); und: »Jeder Augenblick wird der einer möglichen Revolution im messianischen Licht, Weltende wird jeder Augenblick« (Kaiser, aaO., S. 74).

Man braucht hier nur das Urteil des Fachtheologen Scholem dagegenzusetzen: »‘Man möge nicht etwa daran denken, daß in den Tagen des Messias irgend etwas vom natürlichen Lauf der Welt aufhören wird, oder eine Neugestaltung innerhalb der Schöpfung stattfinden wird ... ((Jedoch:)) ... In jenem Zeitalter wird es weder Hungersnot noch Krieg, noch Mißgunst, noch Zwietracht geben, denn man wird die irdischen Güter im Überfluß besitzen. Alle Welt wird kein anderes Anliegen haben, als Gott zu erkennen.‘ (Maimonides) ... Die messianische Zeit bringt negativ die Freiheit von der gegenwärtigen Knechtschaft Israels und als positiven Inhalt die Freiheit für die Erkenntnis Gottes.« (G. Scholem, Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum, in: Über einige Grundbegriffe des Judentums, Frankfurt 1970, S. 157f. Das »messianische Reich« schafft also die Voraussetzungen für das richtige Leben - bei den Juden natürlich im Sinne des richtigen und ungehinderten Einlassens auf Gott.

Insofern das »jetztzeitige« Bewußtsein dadurch gekennzeichnet ist, daß es sich immunisiert hat gegen die phantasmagorische Homogenität eines in Wahrheit »katastrophischen« gesellschaftlichen Fortschreitens und daß es - in der »klassenlosen Gesellschaft« - über einen radikalen und unkorrumpierten Begriff von gesellschaftlicher Freiheit verfügt, orientiert es das Bewußtsein der jeweiligen Gegenwart revolutionär am Grad der Entfernung der herrschenden Zustände von diesem Ziel klassenloser, unentfremdeter Lebensverhältnisse. Und der Grundgedanke Benjamins, der all dem zugrundeliegt, ist gerade in der fast utopisch anmutenden Absolutheit des hier entworfenen Anspruchs auf eine heile gesellschaftliche Welt bestechend und aber auch überzeugend: Nur wer über einen derart radikalen Begriff von gesellschaftlich richtigem Leben verfügt, vermag immer wieder dem konformistischen ldealisierungszwang zu widerstehen, voreilig bzw. resignativ gesellschaftliche Mängel als pure Natur auszugeben bzw. sie zur harmonischen und »homogenen« Fülle und Vielfalt des Lebens zu stilisieren. Nur im radikalen Anspruch auf Freiheit erhält sich für Benjamin der permanente und lebensnotwendige Impuls, der Gesellschaft abzuverlangen, was gesellschaftlich an ihr zu verändern und aufzuheben ist, und sie nicht aus der Verpflichtung zu entlassen, den Anspruch der Menschen auf profanes Glück einzulösen. Auch erteilt diese radikale Hinwendung zu Gesellschaft und Geschichte von vorn herein jeglicher Theologie eine Absage, die darauf aus ist, die Misere der Menschheit mit dem Versprechen auf jenseitige Wiedergutmachung zur akzeptierten Realität zu machen.[172] Die Theologie des jüdischen »Messianismus«, auf die Benjamin zurückgreift, bzw. die er in sein Konzept der Geschichte einführt, ist dann auch von wesentlich anderer Natur. (159)

Wo sie ins Spiel kommt, fungiert sie gerade als der unbestechliche Maßstab, an dem die gesellschaftlichen Verhältnisse den wahren Grad ihres Gelingens oder Mißlingens ablesen können. Diese Theologie stellt - wenn auch in exotischer Verkleidung - die zentralen Schlüsselgedanken bereit, die es dem gefährdeten und vielfältig verstümmelten »historischen Materialismus« ermöglicht, wieder an seine originär kritischen und »kontinuumssprengenden« Potenzen Anschluß zu finden, um damit wirklich zu der entscheidenden Kraft zu werden, die den theoretischen und praktischen Weg aus der geschichtlichen Entfremdung zu zeigen vermag. Die »messianische« Theologie wird in Benjamins Konzeption zum Garant der Unkorrumpierbarkeit und revolutionären Stärke des historischen Materialismus.

So lenkt deren Vorstellung von »Erlösung« - wie Benjamin sie zu interpretieren versteht - unmittelbar zu einem radikalen Konzept von profanem gesellschaftlichem »Glück«, (»Es schwingt ... in der Vorstellung des Glücks unveräußerlich die der Erlösung mit«.), und insofern diese jüdische Vorstellung von »messianischer« Erlösung explizit die diesseitige Dimension »richtigen Lebens« impliziert,[173] findet Benjamin hier eine innere Logik vor, die es ermöglicht, innerhalb theologischer Begrifflichkeit der Theorie von Gesellschaft und Geschichte eine derartige unerschrockene Radikalität zurückzugewinnen, wie sie den expliziten gesellschaftstheoretischen Konzepten seiner Zeit nicht mehr möglich ist. Denn wo die etabliert-konformistischen Gesellschafts- und Geschichtstheorien, (und zu ihnen müssen die vulgärmaterialistischen der sog. sozialistischen Länder gerechnet werden), die Menschen auf ein vorgegebenes »Kontinuum« affirmativ einschwören und die christliche Theologie die »Erlösung« von den gesellschaftlichen Leiden aus der konkreten Geschichte heraus ins geschichtslose Jenseits verlagert, stellt der jüdische Messianismus kritisch und vom »homogenen« Schein (160) unbeeindruckt diese bestehenden »Kontinuen« als immanent-erlösungsbedürftige in Frage und besteht auf einer grundsätzlich noch zu erlösenden Wirklichkeit. Weder gibt es bei ihm bereits das richtige »homogene« Kontinuum - sein Messias ist im Gegensatz zum christlichen ja noch gar nicht in die Geschichte eingetreten - noch will er das »messianische Reich« von der Profanität des konkreten menschlichen Lebens separieren[174] .

[174] Es gehört zu den Schlüsselstellen der mißglückten und verfälschenden Benjamin-Rezeption, daß sie diese fundamentale Differenz zwischen jüdischer und christlicher Theologie nicht konsequent genug berücksichtigt; und es entbehrt nicht der Groteske, daß gerade Scholem, dem die subtile Herausarbeitung dieser so wichtigen Differenz zu verdanken ist, nicht in der Lage ist, die von ihm selbst dargelegte, materialistische Dimension des jüdischen »Messianismus« in deren produktiver Weiterentwicklung und Entfaltung bei Benjamin würdigen zu können: »Es ist ein völlig anderer Begriff von Erlösung, der die Haltung zum Messianismus im Judentum und Christentum bestimmt ... Das Judentum hat, in allen seinen Formen und Gestaltungen, stets an einem Begriff von Erlösung festgehalten, der sie als einen Vorgang auffaßt, welcher sich in der Öffentlichkeit vollzieht auf dem Schauplatz der Geschichte und im Medium der Gemeinschaft, kurz, der sich entscheidend in der Welt des Sichtbaren vollzieht und ohne solche Erscheinung im Sichtbaren nicht gedacht werden kann.« (G. Scholem, Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum, aaO., S. 121)

Unterstellt man dieses Wissen auch dem Benjaminschen Konzept - und ich halte dies für absolut legitim, dann wird noch deutlicher, wie weit Kritiker der Verschränkung von »messianischer und profaner Zeit« noch hinter das zurückfallen, was bereits in orthodox-jüdischer Theologie Allgemeinwissen war, ganz zu schweigen von dessen subtiler Aneignung bei Benjamin. Wie oben schon behandelt, hält z.B. Engelhardt mit sichtlicher Unbelehrbarkeit an einer falschen Dichotomie dieser beiden Extreme fest und schleppt dieses Fehlurteil zum Schaden der weiteren Resultate durch seinen ganzen Aufsatz. »Messianische und profane Zeit bleiben in einem Spannungsverhältnis, und zwar so, daß es nicht gelöst gedacht werden kann durch Säkularisation. Hat, wie Benjamin meint, Marx in der Vorstellung der klassenlosen Gesellschaft die Vorstellung der messianischen Zeit säkularisiert, so hat er sie damit auch in das historische Kontinuum einbezogen.« (Engelhardt, aaO., S. 295) Hier sehe ich keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Marx und Benjamin; jedoch gegen Engelhardt läßt sich dessen unbedachte Verwendung des Begriffes des »Kontinuums« ins Feld führen, der, nach all den Anstrengungen, die Benjamin auf seine kritische Darstellung verwendet hat, hier nur auftauchen dürfte, wenn ihm gleichzeitig seine Problematik erhalten bliebe. Dieser läßt sich nämlich die wichtige Einsicht abgewinnen, daß bei Benjamin die »klassenlose Gesellschaft« als die säkularisierte »messianische Zeit« kein »Kontinuum« mehr zulassen würde, weil in ihr die Menschen zu Herrn ihrer eigenen Geschichte geworden sind und damit echte Subjektivität errichtet haben; was jedoch in keiner Weise bedeutet, daß diese »kontinuumsfreie« Zeit ungeschichtlich, bzw. nicht-geschichtlich wäre.

Vornehmlich zwei Züge am jüdischen Messianismus sind es, die ihn für seine Rekonstruktion von »historischem Materialismus« und geschichtlicher »Jetztzeit« so geeignet und wertvoll machen. Zum einen, daß im jüdischen Messianismus das jeweils vorfindliche »Kontinuum«, eben weil es mangelhaft ist, der immanenten »Erlösung« bedarf, die an die Stelle des entfremdeten »Kontinuums« unentfremdetes »richtiges Leben« setzt, (wobei Geschichte weder außer Kraft tritt, noch (161) im »Weltenende« untergeht). Zum anderen, weil innerhalb des mangelhaften »Kontinuums«, wie es der Messianismus sieht, die prinzipielle Offenheit besteht, daß »jede Sekunde die kleine Pforte (sein kann) durch die der Messias« in dieses »Kontinuum« eintreten und es zum »richtigen Leben« erlösen kann.

Benjamin findet hier ungebrochen die kritische Kraft der bestimmten Negation ebenso wieder wie die fundamentale Bewertung des einzelnen, besonderen Augenblicks als geschichtskonstitutiv entscheidende Umschlagstelle; anders formuliert: Im jüdischen Messianismus ist die Macht der »Kontinuen« bereits im Ansatz gebrochen bzw. eine solche kann sich gegen das Primat des besonderen, einzigartigen Augenblicks - in jedem kann der Messias kommen - erst gar nicht entfalten.[175] In diesen Vorstellungen vermag Benjamin ein Bewußtsein von Geschichte wiederzuentdecken, das zwar nur abstrakt Prinzipien einer unentfremdeten Geschichtstheorie enthält, wie er sie für eine materialistische in Anspruch nimmt, das jedoch deswegen in der materialistischen Weiterführung seines ab-(162) strakten Ansatzes nichts von seiner revolutionären Kraft einzubüßen braucht:

[175] Daß Benjamin sich dieses Konzept zu eigen macht und es unter dem Aspekt seiner Bedeutung für den Historischen Materialismus auswertet und umformuliert, führt keinesfalls in die Sackgasse, die Tiedemann hier zu sehen meint. So folgert er aus dem Zitat Benjamins, das dieser messianischen Konzeption seine generelle Gültigkeit zuspricht, illusionäre Realitätsverleugnung: »‘In Wirklichkeit gibt es nicht einen Augenblick, der seine revolutionäre Chance nicht mit sich führt‘ (1231): das ist keine Analyse der Wirklichkeit, sondern das ohnmächtige Dekret, daß das Rettende dennoch nah sei, gleichgültig wie verbaut es real, durch die Verfassung des Wirklichen sein mag.« (Tiedemann, in: Materialien, aaO., S. 109f.) Es ist schon absurd, Benjamin ein Konzept zu unterstellen, das scheinbar die Macht der Realität - noch dazu die der faschistischen um 1940 - im »messianischen« Handstreich außer Kraft zu setzen in der Lage ist. Wie oben ausführlich entwickelt, kommt es ihm ausschließlich darauf an, mit dem messianischen Prinzip der prinzipiellen Offenheit der Geschichte den »Historischen Materialismus« aus seiner Verfallenheit an Konzepte zu befreien, die dem herrschenden »Kontinuum« bereits »erlösende« Dimension und Fortschrittlichkeit zusprechen und die wahren »Subjekte historischer Erkenntnis« zu blinden Vollzugsorganen der Gesetzmäßigkeiten des autonomen »Kontinuums« degradieren.

Denn die Geschichte ist auch, auf schlicht empirischer Ebene argumentiert, ein einziges Dokument für den Sachverhalt, daß es das totale Regime der »Kontinuen« nicht geben kann; daß sich Widerspruch und Besonderheit immer wieder - graduell abgestuft - in ihm, gegen es zum Ausdruck bringen. Benjamins »Thesen« selbst sind beredtes Beispiel für den Widerstand gegen die »Katastrophe« in der »Katastrophe«. Das schiefe Bild entsteht nur, wenn man - wie Tiedemann und andere - die »revolutionäre Chance« allzu wortwörtlich und in unzulässiger Einengung mit der »großen« und noch dazu gelingenden »Revolution« identifiziert. Die »revolutionäre Chance« jedoch, das herrschende »Kontinuum« aufsprengen zu können, gibt es potentiell in »jedem Augenblick«, nur sind meistens gerade die »unscheinbarsten Veränderungen« die beweiskräftigsten Dokumente; in ihnen bildet sich jedoch die Tradition echter »Erlösung«.

Benjamin definiert damit keineswegs »die Revolution als Apokalypse« (Tiedemann, in: Materialien, aaO., S. 109); er besteht einzig und allein auf dem Prinzip negativer Dialektik unter allen Umständen.

[176] Konfrontiert mit diesen Ergebnissen einer sorgfältigen Analyse der Benjaminschen Gedankenführung richtet sich Tiedemanns schnoddrige Niveaulosigkeit jetzt selbst am gründlichsten: Für ihn ist »in den Thesen von 1940 Benjamins Vorstellung politischer Praxis eher die enthusiastische des Anarchismus als die nüchterne des Marxismus. Trüb mischen darin sich Bestandstücke des utopischen Sozialismus mit solchen des Blanquismus, um zu einem politischen Messianismus zusammenzutreten, der weder den Messianismus ganz ernst nehmen noch ernsthaft in Politik überführt werden kann.« (Tiedemann, in: Materialien, aaO., 5. 109) Kein einziger Halbsatz im gesamten Werk Benjamins stützt dieses Urteil schäbiger Denkleistung, wie sie Tiedemann hier unterstellt. An »Trübheiten« dieser Sorte ist jedoch in Tiedemanns »Werk« wahrlich kein Mangel. Es ist nur erschreckend, daß dieser Herr die vielleicht verantwortungsvollste Position in Bezug auf Nachlaßverwaltung und Edition des Benjaminschen Werkes innehat.

[177] »Im Grunde aber kann der Messias nicht vorbereitet werden. Er kommt plötzlich, unangemeldet und gerade wenn man ihn am wenigsten erwartet oder gar die Hoffnung längst aufgegeben hat«. (Scholem, Zum Verständnis, aaO., S. 135) »... kann der Mensch seine eigene Zukunft bewältigen? Und die Antwort des Apokalyptikers lautet hier: nein. Aber dieser Projektion des Besten im Menschen auf seine Zukunft, wie sie gerade der jüdische Messianismus in seinen utopischen Elementen so gewaltig herausstellte, wohnt die Verführung zur Aktion, der Aufruf zum Vollzuge, inne.« (Scholem, Zum Verständnis ..., aaO., S. 139).

Wie der jüdische Gläubige, der auf den Messias warten muß, weil sein »Kontinuum« eben noch falsches Leben repräsentiert, verweigert auch Benjamin den herrschenden »Kontinuen« das Prädikat der »Homogenität« und läßt sich nicht dazu korrumpieren, deren »katastrophische« Bewegung zu verleugnen oder zu idealisieren, bevor nicht deren gesellschaftliche Ursache innerhalb konkreter gesellschaftlich-geschichtlicher Wirklichkeit aufgehoben ist. Und wie der jüdische Gläubige verweigert auch Benjamins Materialist den herrschenden Geschichtskontinuen jegliche Möglichkeit, sich in ontologischer Unaufhebbarkeit und Zwangsläufigkeit zu präsentieren.[176]

Hier jedoch hat die Gemeinsamkeit zwischen jüdischem Messianismus und der Benjaminschen Geschichtskonzeption auch ihre deutliche Grenze: Denn während die »messianische« Erlösung - bei aller diesseitigen Dimension - im Judentum immer noch als »Erlösung« von Außen gedacht werden muß, der die Menschen doch passiv entgegensehen[177] , überschreitet Benjamin diese Beschränktheit und begründet mit der Integration der Marxschen Axiome vom aktiven »Klassenkampf« und der geschichtskonstitutiven Rolle menschlicher Praxis eine materialistische Geschichtstheorie, die das »messianische« Vorbild an entscheidender Stelle weit und explizit überschreitet und damit sowohl dessen Mängel wie auch die von Sozialdemokratie und Vulgärmaterialismus hinter sich läßt.

Benjamins materialistische Wendung der jüdischen Theologie impliziert die endgültige und restlose Integration der nach Außen projizierten »messianischen« Erlösungsmomente ins konkrete Innere der menschlichen Geschichte und genau (163) aus diesem Grund überschreitet Benjamin nirgends den materialistischen Rahmen, wenn er in der XVII. These an den »Monaden« sowohl die Attribute des »Messianischen« wie auch des »Revolutionären« erkennt. Denn insofern in den »monadischen Konstellationen« - wie oben ja ausführlich entwickelt wurde - die »Kontinuen« aufgesprengt werden und die Menschen sich ans »messianische« Werk ihrer »Erlösung« von gesellschaftlichen Entfremdungszusammenhängen machen, zielen auch sie aufs »richtige Leben« ab, verlegen dessen Herstellung aber entschieden in ihre eigene, revolutionäre Gesellschaftspraxis. Sie nehmen damit aktiv eine gesellschaftliche Konstellation wahr, in der die objektive - geistige und bzw. oder materielle - Sättigung einer geschichtlichen Situation die »messianische« und die »revolutionäre« Chance bereitstellt, in eine neue Qualität umzuschlagen und transformiert zu werden. Und allein die permanente »revolutionäre« Praxis vermag die »messianische« Möglichkeit der Geschichte zu garantieren: Denn solange die Menschen sich nicht von der Klassenherrschaft konkret gesellschaftlich emanzipiert haben, vermag sich ein unentfremdetes, messianisch »‘richtiges Leben« nicht einzustellen. (Oder wie Benjamin innerhalb jüdischer Vorstellungen formuliert: »Der Messias kommt ja nicht nur als der Erlöser; er kommt als der Überwinder des Antichrist«).[178] Andererseits bedarf um-(164)gekehrt die »revolutionäre« Praxis bei Benjamin unbedingt der »messianischen« Dimension: Denn allein ihre kompromißlose und absolut-utopische Vorstellung vom »erlösten, richtigen Leben« garantiert die Resistenz gegen verfrühtes Bescheiden mit und gegen kritiklose Harmonisierung geschichtlicher Verhältnisse, die noch wesentlich entfremdete sind. (Die herrschaftslegitimatorische Verteidigung der bürgerlichen Demokratie wie der bestehenden »sozialistischen« Staaten wie letzthinige Werte trägt deutlich derartige Züge des Verlustes einer unkompromittierbaren, kritischen Distanz). So besehen erweist sich das »messianische« Element bei Benjamin als der eigentliche Garant einer permanenten und unbeirrbaren »revolutionären« Praxis, ohne die eine Verfolgung »messianischer« Ziele ins Abseits geschichtsloser Utopie treibt[179] . (165)

[178] These VI. »Dem Begriff der klassenlosen Gesellschaft muß sein echtes messianisches Gesicht wiedergegeben werden, und zwar im Interesse der revolutionären Politik des Proletariats selbst.« (GS I, 3, S. 1232, Ben-Arch, Ms 1103). »Klassenlose Gesellschaft« bedeutet dann nicht mehr Endresultat eines langen, kontinuierlichen und automatisch sich vollziehenden Fortschrittsprozesses - verankert im gegebenen »Kontinuum«, sondern Resultat erfolgreich geführten Kampfes gegen Entfremdung bzw. »Anti-Christ«. Das »messianische« Element garantiert eine Vorstellung, in der die Menschen selbst wieder zu bewußten Produzenten ihrer eigenen Geschichte werden; das »Proletariat« kann innerhalb dieses »messianischen« Geschichtsbewußtseins wieder zum wahren und wirklichen »Subjekt historischer Erkenntnis« werden. Und dieses »Subjekt historischer Erkenntnis« wird gefeit sein gegen die gefährlichste aller Illusionen, daß die »klassenlose Gesellschaft« wie das »Paradies« unvermeidbar und gewiß sei. Es kennt die Möglichkeit des Scheiterns.

Tiedemann stellt hier wieder alles auf den Kopf: »Nicht also soll die revolutionäre Politik des Proletariats im Interesse der Errichtung der klassenlosen Gesellschaft eingesetzt werden, sondern, umgekehrt, diese ist nur ein Anlaß, revolutionäre Politik wieder ins Spiel zu bringen, eine Revolution um der Revolution willen zu machen.« (Tiedemann, in: Materialien, aaO., S. 109) Wenn »die revolutionäre Politik des Proletariats« nur dann zur »Klassenlosen Gesellschaft« führen kann, wenn sie sich - theoretisch wie praktisch - als echtes »Subjekt« gegen das existierende »Kontinuum« durchsetzt, dann geht es doch nicht um »eine Revolution um der Revolution willen«, sondern um die Erstellung eines Geschichtsbewußtseins, das prinzipiell die »Subjekte« nicht den »Kontinuen« zu unterwerfen bereit ist. Und das gilt mit Sicherheit auch für die »klassenlose Gesellschaft« selbst; sie wird nur dann ihrem Begriff entsprechen, wenn es in ihr eben kein »Kontinuum« im Benjaminschen Sinn mehr gibt, sondern ein geschichtlich-gesellschaftliches Verhältnis, in dem die Menschen eben echte »Subjekte« sind. (Im Konzept der »permanenten Revolution« ist dieses Wissen noch enthalten).

[179] Ich stimme mit Kittsteiner in diesem Punkt voll überein, wenn er sagt: »... so wird das Überdenken der Möglichkeiten von Praxis zum Angelpunkt der Interpretation der ‘Geschichtsphilosophischen Thesen‘, wollte man anders den Text nicht von vornherein aufgeben.« (Kittsteiner, aaO., S. 29) Gerade diese radikale Konsequenz wird bei Tiedemann wieder in spezifischer Weise zurückgenommen und ästhetisiert: »Solange jedoch das richtige Leben praktisch unverwirklicht ist, bleibt als einziger im emphatischen Sinn organisierter und organisierbarer Bereich der ästhetische übrig. Die Philosophie heute vermag einen emphatischen Fortschrittsbegriff allein noch in der Sphäre der Kunstwerke festzuhalten, darin liegt ihr Gegensatz zur traditionell-idealistischen, welche die Identität von Subjekt und Objekt für die Realität insgesamt behauptet ...« (Tiedemann, Studien,aaO., S. 107) Weder würde Benjamin den »Fortschrittsbegriff« allein im Residuum des »Ästhetischen« festgehalten wissen - nicht von ungefähr erwähnt Benjamin in der IV. These so »unscheinbare« Qualitäten wie »Zuversicht, Mut, Humor, List, Unentwegtheit«, die im »Kampf« »lebendig« sind, noch würde er die Qualität des »Organisierten« bzw. »Organisierbaren« allein auf »Kunst« beziehen. Denn die »monadischen« Konstellationen und Gegenstände, in denen bei Benjamin die »messianischen« Momente »richtigen Lebens« konkrete geschichtliche Gestalt angenommen haben, sind keinesfalls auf den Sonderfall ästhetischer »Monaden« reduzierbar: Allein schon eine äußerliche Aufzählung der geschichtlichen Zeugen, auf die Benjamin in Bezug auf die Freilegung »messianischer« Momente rekurriert, belehrt eines Besseren: Ein »emphatischer« Fortschrittsbegriff im Sinne »richtigen Lebens« enthüllt sich ihm genauso an Robespierre, Blanqui, dem jüdischen »Messianismus« oder an dem so »unscheinbaren« Ereignis der Turmuhren-Schützen wie z.B. an den großen ästhetischen Dokumenten eines Baudelaires. Tiedemanns scheinbar so subtile Interpretation tut in Wahrheit nichts weniger, als Benjamins eigentümlichste materialistische Position zu unterschlagen, um sie der ästhetischen Adornos unterzuordnen. Damit jedoch wird eine fundamentale Kontroverse unter den Teppich gekehrt: Denn wo Adorno seine Vorstellung von richtiger Praxis skeptisch-resignativ immer ausschließlicher der Hermetik und Esoterik ästhetischer Produktion angleicht, und in letzter Konsequenz gezwungen ist, die ästhetischen Gebilde zum »richtigen Leben« selbst zu hypostasieren, unterschlägt Benjamin niemals deren symbolische Repräsentanzfunktion Das »Humane« an den Kunstwerken verführt ihn nie dazu - auch nicht in der scheinbaren Ausweglosigkeit der faschistischen Realität von 1940, als alle »Politiker, auf die die Gegner des Faschismus gehofft hatten, am Boden liegen und ihre Niederlage mit dem Verrat an der eigenen Sache bekräftigen« (These X) - seine materialistische Aufgabe aus den Augen zu verlieren, die dort eingeschlossenen Impulse »richtigen Lebens« in konkrete gesellschaftliche Praxis zu überführen und deren »ästhetischem« Aufbegehren gegen die »Katastrophe« in der Form revolutionären Klassenbewußtseins und aktiver, kämpferischer Praxis die richtige materialistische Auflösung ihres Erlösungsanspruches zuzuweisen. Die »messianischen« Gegenstände sind ihm nichts weniger als die geschichtlichen Resourcen, aus denen heraus er seine Rekonstruktion revolutionären Klassenbewußtseins betreibt. Und im Gegensatz zu Adorno hat Benjamin durchaus an einem im »emphatischen Sinn organisierten und organisierbaren Bereich« revolutionärer Praxis festgehalten; seine dezidierte - durchaus auch an Brecht orientierte - Einschätzung der Aufgabe des Intellektuellen als einer der Vermittlung zwischen theoretischer und praktischer Negation der kapitalistischen Gesellschaft, bzw. zwischen »Intellektuellen« und »Arbeiterklasse« belegt diesen Sachverhalt eindrucksvoll. (Siehe dazu: C. Hering, Der Intellektuelle als Revolutionär, aaO.).

 

b) »Vorgeschichte« und »Geschichte« im jüdischen Messianismus und im Marxismus

[180] K. Marx, »Vorwort« zu »Zur Kritik der Politischen Ökonomie«,MEW 13, S. 9; (Hervorhebungen von mir).

[181] ibid.

[182] These XII. (Hervorhebungen von mir).

Wie mit dem »messianischen Reich« nicht das Weltende einsetzt, sondern das »richtige Leben«, so kennzeichnet auch der revolutionäre-kontinuumssprengende Durchbruch zur klassenlosen-kommunistischen Gesellschaft weder den Beginn eines paradiesischen Zustandes, noch das Ende profaner Wirklichkeit: Er fixiert einzig und allein den Übergang von einer entfremdeten, »katastrophischen« Bewegung der menschlichen Geschichte in eine unentfremdete. Während dort die Menschen der von ihnen selbst produzierten Geschichte wie äußerlich und damit entmündigt gegenüberstehen - der Grund dafür findet sich in der »antagonistischen Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses«,[180] nehmen hier die Menschen ihre eigene Geschichte wieder ganz in Besitz und produzieren in selbstbewußter, unentfremdeter Praxis deren Inhalte. Der Marxsche Gedanke, daß mit der Aufhebung der »bürgerlichen Produktionsverhältnisse« - (die er als die »letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses« bezeichnet) - die »Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft«[181] abgeschlossen ist bzw. die eigentliche selbstbewußte menschliche Geschichte erst beginnt deckt sich ziemlich mit dem, was Benjamin mit der Ausrichtung des »revolutionären« Konzepts am »messianischen« Ziel meint. Denn die Integration der »messianischen« Dimension in das materialistische Konzept von Geschichte ist bei ihm explizit mit der Rekonstruktion einer revolutionären Geschichtspraxis verkoppelt, in der es darum geht, den letzten und entscheidenden Schritt zur unentfremdeten und von Klassenherrschaft emanzipierten menschlichen Geschichte zu gehen und damit die gesellschaftlichen Voraussetzungen für das messianische »richtige Leben« oder den Beginn der eigentlichen Geschichte zu setzen. Aus der radikalen Kritik an der sozialdemokratischen Theorie und Praxis geht hervor, daß es Benjamin unbedingt auf die Wiederherstellung der Marxschen Einsicht ankommt, die bei den Sozialdemokraten der Revision verfallen war: (166) Daß die »kämpfende, unterdrückte Klasse selbst« das wirkliche »Subjekt historischer Erkenntnis« ist und daß eben diese Klasse unter den gesellschaftlichen Bedingungen kapitalistisch »bürgerlicher Produktionsverhältnisse« als die »letzte geknechtete, als die rächende Klasse auf((-tritt)), die das Werk der Befreiung im Namen von Generationen Geschlagener zu Ende führt«.[182] Deshalb halte ich es für durchaus legitim, die endgültige revolutionär-messianische Aufsprengung des »Kontinuums« bei Benjamin im Marxschen Sinne zu interpretieren, daß hier ebenfalls die »Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft« zu ihrem »Ende« geführt wird; denn hier wie dort handelt es sich um geschichtliche Verhältnisse, in denen sich die Menschen von ihrem eigenen Produkt derart entfremdet haben, daß es ihnen als autonomes »Kontinuum« entgegentritt und ihre Möglichkeit, »Subjekt historischer Erkenntnis« zu sein, negiert.

Wenn Benjamin sich diesen Marxschen Standpunkt zu eigen macht, daß mit der proletarischen Revolution die Chance gekommen ist, das »Werk der Befreiung zu Ende« zu führen, also Entfremdung und Klassenherrschaft vollständig aufzuheben, dann bewegt er sich ganz offensichtlich noch innerhalb desselben Koordinatensystems, mit dem Marx angeben konnte, unter welchen geschichtlich-gesellschaftlichen Bedingungen diese letzte große Revolution erst möglich geworden war. (Nichts deutet m.E. hier darauf hin, daß Benjamin diese profanen Bedingungen negieren oder unterschlagen wollte; seine Kritik an den Begriffen von »klassenloser Gesellschaft« und »Revolution«, wie sie in den »Notizen und Vorarbeiten« in GS I,3 entworfen ist, stellt für mein Verständnis nicht die Marxsche Analyse in Frage, daß es in der Geschichte der Menschheit die Entwicklung und Entfaltung eines Entfremdungszusammenhanges gibt, dessen Widersprüchlichkeit in der kapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaft so radikalisiert wird, daß ihre Aufhebung mit der Aufhebung der prinzipiellen geschichtlichen Entfremdung überhaupt zusammenfällt. Benjamins Kritik zielt m.E., wie unten noch ausführlicher entwickelt wird, auf die Interpretation dieses geschichtlichen Prozesses als einem automatisch-kontinuierlichen, garantierten und ontologisch-eschatologischen ab, in dem, genau besehen, die Menschen weder vor, noch während oder nach der Revolution wirklich als echte Subjekte fungieren. Es ist nach wie vor die »Geschichte« bzw. das ideologische Konzept von ihr, das der Errichtung von konkreter »messianischer Jetztzeit« im Wege steht).

Die Analogie von revolutionärem und messianischem Kampf um die echte Geschichte läßt sich hier also noch weiterführen, ohne diese kritische Differenz zwischen Benjamin und Marx zu verwischen: Insofern die »bürgerlichen Produktionsverhältnisse« die mit der Warenproduktion verbundenen »antagonistischen« Widersprüche bis zu dem Punkt vorangetrieben haben, daß die Aufsprengung dieses bürgerlich-kapitalistischen »Kontinuums« mit der Abschaffung der ökonomischen Entfremdung an sich zusammenfällt, - (im Gegensatz dazu hob z.B. der (167) Übergang vom Feudalismus zum Bürgertum diesen Entfremdungszusammenhang nur auf die Ebene einer neuen, wenn auch für die weitere Entwicklung entscheidenden Qualität) -‚ verankert diese »letzte« große »Revolution« das messianische Prinzip unentfremdeten »richtigen Lebens« als das maßgebende und lebenskonstitutive Prinzip innerhalb der Gesellschaftsstruktur selbst und kehrt damit das bisherige Verhältnis von messianischen und katastrophischen Anteilen in der bisherigen Geschichte diametral um. Was vorher oft nur in der unscheinbarsten Gestalt auftrat, und sich innerhalb der »homogenen Katastrophe« nur sporadisch, in exotischer und verschwindend-gleichgültiger Form zum Ausdruck bringen konnte - das messianische Moment des Gelingens von Geschichte bzw. »richtigem Leben« - wird hier zum entscheidenden und ausschließlichen geschichtskonstitutiven Prinzip gesellschaftlichen Lebens erhoben.

Innerhalb dieser nun strukturell »richtigen« Geschichte kann und muß dieses Leben jedoch auch wirklich geführt werden. Nichts vom Schlaraffenland steht hier in Aussicht, und es entbehrt nirgends der spezifischen Probleme, die unveräußerlich mit seiner konkret-materiellen Realität verbunden sind: Aber - und das ist das entscheidende - es ist befreit von den spezifischen Leiden, die die bisherige Entfremdung einer Klassengesellschaft notwendigerweise impliziert und es hat die »katastrophische« Bewegung zum »Stillstand« gebracht, die »unablässig Trümmer auf Trümmer häuft« (These IX).

[183] »Die klassenlose Gesellschaft ist nicht das Endziel des Fortschritts in der Geschichte sondern dessen so oft mißglückte, endlich bewerkstelligte Unterbrechung.« (GS I, 3, S. 1231, Ben-Arch, Ms 1098v).

Es ist bemerkenswert, daß Benjamin mit seinem so radikal »messianischen« Konzept, daß wirklich in jedem Augenblick der Messias kommen kann, so viel realistischer und profaner ist, als der offizielle »historische Materialismus«. (Und das muß vor allem auch gegen diejenigen Benjamin-Kritiker gesagt werden, die aus diesen Formulierungen Realitätsfremdheit und Geschichtsillusionismus ableiten wollen; ich denke, das Gegenteil läßt sich viel leichter und überzeugender belegen.) Gerade das »messianische« Element garantiert nämlich, daß »Revolution« und »klassenlose Gesellschaft« nicht unkonkrete, ungeschichtliche Züge annehmen, insofern sie als Zustände gedacht werden, die entweder von »der Geschichte selbst« inszeniert werden - und was wäre, kritisch zuendegedacht, ungeschichtlicher als das - oder ein »Endziel«[183]  in der Geschichte verankern, das ebenfalls in letzter Konsequenz ein Jenseits von echter Geschichte propagiert, bzw. diese zu einem vollendeten Ende kommen läßt, das sie damit außer Kraft setzt. In beiden Fällen herrscht eine Vorstellung von Fortschritt in der Geschichte vor, die, wie Benjamin scharfsinnig vorgeführt hat, auf einem Zeitmodell basiert, das er kritisch mit den Prädikaten »homogen und leer« versieht. Es kommt, und das artikuliert das Zentrum seiner Bedenken, ohne die Subjektivität der Menschen aus, und ein solcher Zustand läßt sich nur als »Katastrophe«, als Un-Geschichte, Vor-Geschichte, Entfremdung etc, beschreiben. (168)

Es ist dies m.E. auch der Punkt, an dem die Kritik an Benjamin, die ihm realitätsverleugnenden Anarchismus und messianisch-materialistische Trübheit vorwirft, endgültig ihre Glaubwürdigkeit verlieren muß. Die Warnung Benjamins, die »klassenlose Gesellschaft« nicht als »Endziel des Fortschritts in der Geschichte« zu sehen, schafft die Gewißheit, daß die Menschen echte Subjekte bleiben oder vielmehr wirklich zu solchen werden: Indem sie nämlich, auf Grund ihres erfolgreich geführten aktiven Kampfes gegen die »Katastrophe«, im »richtigen Leben« der »klassenlosen Gesellschaft« dieses Subjekt-Sein als zentrale geschichtskonstitutive Kraft durchgesetzt und verankert haben und nicht mehr an das »Kontinuum« delegieren, was allein Produkt ihrer Subjektivität und Besonderheit sein kann. (Setzen »Revolution« und »klassenlose Gesellschaft« dieses Primat des Subjekt-Seins und der damit gegebenen Besonderheit durch, dann entsteht wirklich und konkret die Möglichkeit, echte Geschichte herzustellen, in der die entfremdete Macht des »Kontinuums« gebrochen ist und in der eine »jetztzeitige« Zeitrechnung stattfindet, die »jede Minute sechzig Sekunden lang anschlägt.«[184] Denn jede Sekunde verfügt hier über ihre besondere Individualität; und diese hat ihre Bedeutung nicht mehr ans »Kontinuum« abzugeben oder sich diesem als verschwindendes Moment unterzuordnen).

[184] GS II, 1,S. 310.

[185] Es soll hier nicht noch einmal die Diskussion wiederholt werden, ob Benjamin den Marxschen Gedanken immer volle Gerechtigkeit widerfahren läßt. Seine Paraphrase der Marxschen Theorie von »Menschheitsgeschichte« und »klassenloser-Gesellschaft« ist hier nur insofern relevant, als sie genau zeigt, wogegen Benjamin mit aller Intensität argumentiert und kämpft. (Es mag durchaus möglich sein, daß diese seine Kritik auch auf originär Marxschem Boden erfolgreich geführt werden kann). »Bei Marx stellt sich die Struktur des Grundgedankens folgendermaßen dar: durch eine Reihe von Klassenkämpfen gelangt die Menschheit im Verlaufe der geschichtlichen Entwicklung zur klassenlosen-Gesellschaft. = Aber die klassenlose Gesellschaft ist nicht als Endpunkt einer historischen Entwicklung zu konzipieren. - Aus dieser irrigen Konzeption ist unter anderm, bei den Epigonen die Vorstellung von der ‘revolutionären Situation‘ hervorgegangen, die bekanntlich nie kommen wollte. = Dem Begriff der klassenlosen- Gesellschaft muß sein echtes messianisches Gesicht wiedergegeben werden, und zwar im Interesse der revolutionären Politik des Proletariats selbst.« (GS I,3,S. 1232, Ben-Arch, Ms 1103).

Benjamin spricht keiner Revolution das Wort, die ungeachtet profaner Realität in jedem Augenblick in ihrer höchsten und d.h. erfolgreichsten Form ins Werk gesetzt werden könnte. (Auch spricht seine Formulierung von den »unscheinbarsten ... Veränderungen« eine andere Sprache als die der bornierten Reduktion auf den großen Umsturz). Seine Argumentation verläuft negativ: In ihr verweigert er sich vehement und, wie ich meine, mit voller Berechtigung dem gefährlichen Konzept, die gesamte Menschheitsgeschichte als eine - immanent bereits stabilisierte und auf Gelingen programmierte - Fortschrittsentwicklung hin zur »klassenlosen Gesellschaft« und zum »Kommunismus«[185] zu beschreiben. (169)

In diesem Konzept besteht immer die Gefahr und die Wahrscheinlichkeit, daß die »Geschichte selbst« sich zum Subjekt macht und den wahren Subjekten auch noch die leiseste Ahnung ihrer geschichtskonstitutiven Bedeutung austreibt. Sie sehen sich mit einer Geschichtsbewegung konfrontiert, die sogar oder gerade in ihrer extremsten Entfremdung sich den Eindruck eines »Kontinuums« verleihen kann, das Fortschritt und endgültige Erlösung garantiert. Die »Geschichte«, mit der es die Menschen hier zu tun haben, ist identisch mit dem »Fortschritt«, der als »Sturm« den entsetzten »Engel der Geschichte« paralysiert und gefangen hält, und ihn mit sich in die Perpetuierung der »Katastrophe« reißt.

Benjamins Methode des »Tigersprungs ins Vergangene« und des Aufspürens von »monadologischen Konstellationen« - formuliert gegen eine Vergangenheits- bzw. Geschichtsbetrachtung, die vom Bild des »Kontinuums« bestimmt ist - weist einem viel subtileren und klügeren Verständnis von Geschichte den Weg. Sie zeigt, wie echte, unentfremdete Geschichte verschwindendes Moment ist, das nicht damit rechnen kann, automatisch und unter permanenter Perfektionierung sich zu entfalten und bis zu seiner Vollendung fortzuschreiten. Sie zeigt, wie die messianische Tradition auch verloren gehen kann und auch verloren geht.

Keinerlei echter Fortschritt setzt sich in diesen Geschichtskontinuen mehr durch, wenn die Subjekte aus ihren »Kalendern«, die ihnen das Eingedenken der messianisch-revolutionären Gegenwehr ermöglichen, herausgefallen sind. Und dementsprechend wird sich auch die »revolutionäre Situation« nicht einstellen, auch wenn die objektiven Möglichkeiten dazu gegeben wären, wenn die Menschen von ihnen nicht mehr wissen, daß sie sie selbst vorbereitet haben und daß sie sie ebenso aufgreifen wie herstellen, rekonstruieren wie weitertreiben müssen.

Wer ein derartiges Modell von automatisch sich vollziehendem Fortschritt hin zur »klassenlosen Gesellschaft« hat, der geht der so zentralen Einsicht verlustig, daß das Scheitern wie die totale Katastrophe ebenso möglich, wenn nicht sogar wahrscheinlicher sind als die »Erlösung«. Er wartet darauf, daß sich die »revolutionäre Situation« entfalte wie Natur und verliert bzw. verspielt alles an »messianischrevolutionärer« Möglichkeit, weil er nichts mehr davon weiß, daß diese »revolutionäre Situation« außerhalb seines konkreten Subjekt-Seins und dem damit geführten aktiven Kampf nichts ist als eine Phantasmagorie. (Das will gewiß nicht sagen, daß der Wille der Subjekte der Realität aufzwingen kann, was diese nicht als produzierte Wirklichkeit in sich trägt und möglich macht. Und das meint Benjamin auch nicht, wenn er die Kritik an Geschichts- und Fortschrittsvorstellungen vom Blickpunkt der mangelnden Subjektivität her angeht. Man sollte ihm zubilligen, gewußt und verstanden zu haben, daß die gesellschaftliche Totalität eines bestimmten geschichtlichen Zeitpunktes mehr ist als der Wille und die Entschlossenheit der Individuen, die in diesem Zeitpunkt Geschichte machen).

Wenn mit der »klassenlosen Gesellschaft« die Vorgeschichte beendet wird, d.h. die eigentliche Geschichte erst anfängt, dann bezeichnet sie sowohl einen Endpunkt wie gleichzeitig einen Anfang. Und mit Sicherheit: Sie kann nicht »End-(170)ziel« sein, in dem all das eingelöst wird, was geschichtlich gar nicht eingelöst werden kann, weil Geschichte selbst, ihrer innersten Bedeutung nach, Leben in seiner konkreten Widersprüchlichkeit und Begrenztheit ist und als »Endziel« konzipiert aufhören würde, Geschichte zu sein. (Soll der Begriff nicht vollständig seiner bestimmten Bedeutung entleert werden.) Die »klassenlose Gesellschaft« ist dagegen als vitaler Beginn zu denken, mit dem die Möglichkeit zu unentfremdetem, konkret-geschichtlichem Leben Wirklichkeit geworden ist. Sie beendet nicht einen an sich schon fortschrittlichen Prozeß mit seiner endgültigen und unüberschreitbaren Erhöhung; sie »unterbricht« die Perpetuierung der »Katastrophe«. Der Unterschied zwischen Vor- und wirklicher Geschichte besteht, wie oben ausführlich dargestellt, darin, daß in dieser die Menschen zu echten Subjekten und diese Subjekte wirklich Herrn im eigenen Hause geworden sind. Und Benjamins Bedenken die Marxsche Äußerung zur Revolution betreffend werden von da aus gesehen noch besser verständlich und enthüllen die Weisheit, die in ihrer listigen Metaphorik steckt:

»Marx sagt, die Revolutionen sind die Lokomotive der Weltgeschichte. Aber vielleicht ist dem gänzlich anders. Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zuge reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse.«[186]

[186] GS I, 3, S. 1232, Ben-Arch, Ms 1100.

 

[187] GS I, 3, S. 1236, Ben-Arch, Ms 469.

So besehen ist Benjamins Versuch der Rekonstruktion des »messianischen Gesichts« nicht nur der »klassenlosen Gesellschaft«, sondern auch des Historischen Materialismus ein Unternehmen, das ebenso falsches Traditions- bzw. Kontinuumsdenken zerstört, wie es »echte Tradition«[187] , die auf Diskontinuität gegründet ist, stiftet und herstellt, indem es deren verstreuten Manifestationen wieder dem Bewußtsein der Gegenwart zugängig macht und sie dort gegen die herrschenden Traditionen des »Kontinuums« durchsetzt. Der materialistische Historiker Benjaminscher Prägung darf sich nicht von den empirisch-oberflächlichen Beweisen scheinbar fortschrittlicher Kontinuität beirren lassen, die ihm glauben machen wollen, er befinde sich bereits in fortschrittlicher Tradition hin zur »klassenlosen Gesellschaft«, weil er sich innerhalb fortschrittlicher Geschichte selbst befinde. In seiner Geschichtsbetrachtung stellt sich geschichtliche Wahrheit nur im Heraussprengen aus und in der Durchsetzung gegen die jeweiligen »Kontinuen« her. Nie und niergends fällt die messianische Tradition als ein unmittelbar Gegebenes in den Schoß. Diese Tradition entspringt einzig und allein dem Kampf um die Rekonstruktion der Diskontinuität, mit der sich die Aufsprengung von »Kontinuen« ereignet. Dieser materialistische Geschichtsschreiber hat demnach zurückzugewinnen und zusammenzusetzen, was immer wieder vom Verschwinden, Vergessen und Unterdrücktwerden bedroht ist. Die bisherige Geschichte ist ihm kein Dokument des unabwendbaren, unaufhaltsamen und stetigen Fort-(171)schritts hin zur »klassenlosen Gesellschaft«, sondern der schlagendste Beweis dafür, daß die hier so übermächtig sich präsentierende Kontinuität die der ungebrochenen Perpetuierung von Entfremdung ist. Seine Einsicht ist deswegen zutiefst davon geprägt, daß dieses »messianische« Moment im selben Verhältnis zur bisherigen Geschichte der Menschheit steht, wie die Geschichte der Menschheit wiederum zur Geschichte des organischen Lebens auf der Erde: Seine Größe ist die verschwindender Minderheit.

»‘Die kümmerlichen fünf Jahrzehntausende des homo sapiens‘, sagt ein neuerer Biologe, ‘stellen im Verhältnis zur Geschichte des organischen Lebens auf der Erde etwas wie zwei Sekunden am Schluß eines Tages von vierundzwanzig Stunden dar. Die Geschichte der zivilisierten Menschheit vollends würde, in diesen Maßstab eingetragen, ein Fünftel der letzten Sekunde der letzten Stunde füllen.‘ Die Jetztzeit, die als Modell der messianischen in einer ungeheueren Abbreviatur die Geschichte der ganzen Menschheit zusammenfaßt, fällt haarscharf mit der Figur zusammen, die die Geschichte der Menschheit im Universum macht.« (These XVIII)

Die Analogie führt darauf, daß die Herausarbeitung des »homo sapiens« aus dem puren »ganischen Leben« ein sowohl quantitatives wie auch qualitatives Modell abgibt, nach dem Benjamin das geschichtsimmanente Verhältnis von »messianischer« zu nicht-«messianischer« menschlicher Geschichte konstruiert. In beiden Fällen erweist sich das qualitativ Entscheidende als das quantitativ Verschwindende und in beiden Fällen entsteht erst mit der Entfaltung des verschwindenden Moments selbstbewußte menschliche Geschichte. Die Parallele trägt auch da, wo die Einsicht ins Blickfeld kommen soll, daß die bisherige menschliche »Geschichte« dem präliminarischen Status einer organischen Urgeschichte, wie man sagen könnte, gleichkommt, in die die Momente wirklicher Geschichte zwar bereits »eingesprengt« sind, aber noch ein Schattendasein führen. Sie verlangen ihre volle Entfaltung, und es gehört m.E. zu den zentralsten Anforderungen Benjamins an den materialistischen Geschichtsschreiber, daß er aus der bisherigen »Vorgeschichte« eben diese Ansätze einer wirklichen Geschichte herausarbeitet und sie zum verbindlichen und ausschließlichen Prinzip für die gesamte weitere menschliche Entwicklung erhebt. Es sind diese Ansätze - wie oben ausführlich dargestellt - die »messianischen« Momente, wo sich die »Vorgeschichte« zu »Monaden« verdichtet hat und in der sporadischen Produktion »jetztzeitigen« Bewußtseins die Potentiale erstellt hat, aus denen heraus die bisherigen »katastrophischen« Kontinuen aufgebrochen werden können und der vorgeschichtliche Zustand dem geschichtlichen »richtigen Lebens« weichen muß. (172)

 

Exkurs:  Materialisierte Theologie

[188] G. Scholem, Walter Benjamin - die Geschichte einer Freundschaft, Frankfurt 1975,S.259.

 

[189] ibid.

Das »messianische Reich« ist nicht die »klassenlose, kommunistische Gesellschaft«, als handle es sich hier um eine mathematische Gleichung; dies wäre ein Mißverständnis und würde die spezifische analogisierende Verfahrensweise Benjamins verfehlen. Benjamin substituiert m.E. nirgends den theologisch-«messiannischen« Aspekt einfach durch den »materialistischen«; das liefe auf eine pure und letztlich unproduktive Ersetzung des einen durch das andere hinaus und nivellierte ungerechtfertigt den durchaus vorhandenen Unterschied. Er geht anders vor: Er konstruiert sein Konzept von Geschichte nach dem Modell der »messianischen« Erlösungsvorstellung, insofern diese in der exotischen Gestalt theologisch-idealistischer Spekulation materialistische Wahrheiten enthält, die den profan-rationalistischen Geschichtstheorien in positivistischer Kurzsichtigkeit abhanden gekommen sind. Gemäß dem hermeneutischen Grundsatz, daß der Interpret das Selbstverständnis des Autors zu überschreiten habe, weist Benjamin dem jüdischen Messianismus nichts anderes zu, als was diesem - ohne daß er es so zu formulieren versteht - an gesellschaftlich-geschichtlicher Implikation entspricht. Äußerungen gegenüber Scholem belegen exemplarisch diese Intention einer Profanisierung mythischer Fragestellungen: Als Scholem ihm auf seine Frage, was ihm - Scholem - denn an Brecht fehle, antwortet: »‘Die Freude an der Unendlichkeit, von der bei Brecht keine Spur ist, wo alles nur auf die revolutionäre Manipulation im Endlichen hinausläuft‘ »‚ erwidert ihm Benjamin: »‘Es kommt nicht auf die Unendlichkeit an, sondern auf die Ausschaltung der Magie‘ »[188] , Von ähnlicher Belegkraft ist eine weitere, ebenfalls von Scholem referierte Aussage Benjamins: »Sein Marxismus sei immer noch nicht dogmatischer, sondern heuristischer, experimentierender Natur, und die Überführung metaphysischer, ja theologischer Gedankengänge, die er in unseren gemeinsamen Jahren entwickelt habe, in die marxistischen Perspektiven sei geradezu ein Verdienst, weil sie dort ein stärkeres Leben entfalten könnten, mindestens in unserer Zeit, als in den ihnen ursprünglich angemessenen.«[189] (173)

 

2.  Die »Messianisierung« des Historischen Materialismus

a) »Messianische »Geschichtskritik und revolutionäres Klassenbewußtsein

[190] These IX.

Was als eine scheinbar kontinuierliche »Kette von Begebenheiten«[190] erschien, ist in Wahrheit eine »einzige Katastrophe«, die zum wahren Begriff einer menschlichen Geschichte in Widerspruch steht und als die manifestierte Entfremdetheit immer noch einen vorgeschichtlichen Status fixiert; ihre »homogene« Weiterführung ist eben nicht das Fortschreiten von Geschichte, sondern deren permanente »katastrophische« Negation bzw. Verhinderung. Der »messianische« Gedanke nun, daß »jede Sekunde die kleine Pforte (ist), durch die der Messias treten« (Thesen Anhang B) kann, initiert - neben der damit ausgesprochenen Erlösungsforderung - ein Bewußtsein, das die Menschen von der ideologischen Loyalität gegenüber falschen »Kontinuen« befreit und ihnen die Einsicht in ihre besondere, geschichtskonstitutive und kontinuumsverantwortliche Funktion vermittelt, die sie selbstbewußt wahrzunehmen haben und durch deren revolutionäre Ausrichtung sie wirkliche Geschichte erst begründen könnten. Damit verlagert sich die »messianische« Kraft der »Erlösung« in die gesellschaftliche Praxis der Menschen selbst und mit der Erfahrung der prinzipiellen Möglichkeit, kraft einer selbstbewußten und antikonformistischen Praxis in jedem Augenblick das vorfindliche »Kontinuum« negieren bzw. im günstigsten Fall sogar vollständig »aufsprengen« zu können, rekonstruiert sich ein »jetztzeitiges« Bewußtsein, in dem die Menschen zu ihrer geschichtskonstitutiven Besonderheit zurückgefunden haben und in Besitz der »messianischen« Qualität der »Stillstellung« gekommen sind. Ihrer »Kräfte Herr: Manns genug, das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen«[191] , haben sie den Schlüssel gefunden, der Macht eines sich hinter ihrem Rücken verabsolutierenden und entfremdeten Allgemeinen paroli bieten zu können.

[191] These XVI.

 

 

 

 

 

[192] These XV.

Die »messianische« Kritik am bestehenden Geschichtskontinuum wie auch die Form der »Stillstellung« haben bei Benjamin ihre präzise und konkret gesellschaftliche Gestalt bekommen: Unmißverständlich entlarvt er in der faschistischen Perversion der Geschichte ihren kapitalistischen Kern und definiert dementsprechend konsequent die »messianische« Tat der »Stilstellung« und »Erlösung« als revolutionäre, klassenkämpferische Praxis, deren Ziel die Aufhebung kapitalistischer Ökonomie ebenso umfaßt wie die Herstellung der Möglichkeit »richtigen Lebens« in der klassenlosen Gesellschaft. Aus all dem folgt nun mit innerer Konsequenz die Forderung an den »materialistischen Geschichtsschreiber«, an dieses »messianische« Bewußtsein - »von dem es in Europa seit hundert Jahren nicht mehr die leisesten Spuren zu geben scheint«[192] - wieder anzu-(174) knüpfen und es als revolutionäres, antirevisionistisches und anti-positivistisches Klassenbewußtsein materialistisch zu fundieren. Die enorme Schwierigkeit einer solchen Rekonstruktion liegt darin, daß die Tradition »messianischer« Praxis immer wieder von den jeweiligen »Siegern« - aus herrschaftslegitimatorischem Interesse - ins Vergessen abgedrängt wird. Sie bedienen sich des revolutionaren Impulses nur so lange, bis sie ihr spezifisches Partialinteresse durchgesetzt haben und mit dem Augenblick ihres Sieges beginnen sie in bewußt-unbewußter Zielstrebigkeit große Teile ihrer geistigen Potenzen darauf zu verwenden, der Tradition ~ Theorie und Praxis die Erinnerung an ihre prinzipielle, jeglicher Herrschaft geltenden Wahrheit auszutreiben. Deswegen muß – wie Benjamin in der VI. These formuliert – »in jeder Epoche ... versucht werden, die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen«, und deswegen ist Benjamins »Rettung« der Vergangenheit bzw. seine Strategie des »Eingedenkens« von höchster materialistischer Relevanz: Denn mit dem Verschwinden der kontinuumssprengenden Impulse aus der »Überlieferung« - dem Fundament von Klassenbewußtsein - werden nicht nur die leidvollen Opfer der »Toten« zynisch kompromittiert und um ihren tendenziell zukunftsorientierten Sinn gebracht, sondern mit jedem Verlust dieses radikalen Begriffs von nicht-additivem, revolutionärem »Fortschreiten« restauriert sich aufs neue die menschliche Geschichte als »Katastrophe«. Oder umgekehrt betrachtet: Die »Katastrophe« dokumentiert den Sieg des »Feindes« über die »Toten«, deren »messianisch«-revolutionäres Erbe - wo es nicht affirmativ ausgeschlachtet werden kann - unter der Ideologie »homogener Kontinuität« ein zweitesmal begraben wird. (»... Auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein. Und dieser Feind hat zu siegen nicht aufgehört«.[193]

[193] These VI.

 

 

 

 

[194] These IV.

 

 

 

[195] These XVII

Benjamins Sorge um die »Toten« hat weder etwas mit pietätvollem Andenken oder romantischer Rückwärtsgewandtheit, noch mit christlichen Auferstehungsphantasien zu tun: Sein »Eingedenken« der Vergangenheit zielt ausschließlich auf die »Rettung« einer »messianischen« Qualität von geschichtlichem Bewußtsein ab, wie sie sich in den »monadischen Konstellationen« kontinuumssprengender Praxis herauskristallisiert hat; und wo dieses »messianische« Element in seinem radikalen Anspruch auf absolute Befreiung von der realen Entfremdung nicht mehr am Leben erhalten wird, steht das Erbe der »Toten«, und mit ihm die »messianische« Möglichkeit der menschlichen Geschichte überhaupt auf dem Spiel. Denn wenn sich die geistigen Produzenten nicht auf diesen »Heliotropismus geheimer Art« verstehen, kraft dessen »das Gewesene der Sonne sich (zuwendet), die am Himmel der Geschichte im Aufgehen ist«[194] - (ich habe oben dargelegt, daß es sich hierbei um die »Sonne« eines erwachenden revolutionären (175) Selbstbewußtseins handelt, dessen »messianische« Qualität die reale »Erlösung« der menschlichen Geschichte zum Gegenstand hat) - da bleibt die »revolutionäre Chance« ungenützt, aus der Rekonstruktion »unterdrückte(r) Vergangenheit«[195] bzw. unterdrückter und vergessener »Erfahrungen« den traditionsbildenden Nährboden für eine »jetztzeitige«, kontinuumssprengende Identität zu gewinnen. Und wenn die geistigen Produzenten sich nicht darin ausgebildet haben, gerade in den - gemessen an der Übermacht bisheriger konformistischer Herrschaftstradition - mitunter verschwindend kleinen und nicht selten »unscheinbarsten« Momenten deren eigentliche »messianische« Möglichkeit zur »Erlösung« entfremdeter Geschichte zu erkennen, sabotieren sie immer wieder alle Ansätze zur kritisch-antikonformistischen Wahrnehmung, zur revolutionären Gegenwehr und zur Ausbildung eines anti-«katastrophischen« »messianischkontinuumssprengenden« Bewußtseins.

Dem materialistischen Geschichtsschreiber als dem revolutionären Intellektuellen fällt hier die Verantwortung für die fundamentale Umkehrung des bisherigen Verhältnisses von »konformistischem« und »messianischem« Bewußtsein zu: Was vorher verschwindendes und immer wieder unterdrücktes Moment innerhalb der bisherigen menschlichen Geschichte war - nämlich der »messianische« Impuls und Inhalt - das soll bzw. muß zum allgemeinen und gesellschaftlichen Zustand erhoben werden.

 

b)  »Messianisch-jetztzeitige« Geschichtsgegenwart und revolutionärer Klassenkampf

Der »Tigersprung ins Vergangene«, von dem Benjamin in der XIV. These spricht, kehrt zu den »monadischen« bzw. »messianischen Konstellationen« der vergangenen menschlichen Geschichte zurück, um dort Impulse und Erfahrungen »richtigen Lebens« wieder aufzunehmen und zu einer Tradition zu verdichten, die sowohl »jetztzeitiges« Klassenbewußtsein begründet wie auch kontinuumssprengende Praxis zum adäquaten gesellschaftlichen Verhalten erhebt. In diesem »Tigersprung ins Vergangene« kommt wechselseitig sowohl die Vergangenheit wie die Gegenwart zu ihrem legitimen »Erlösungsanspruch«, denn im »Eingedenken« vergangener »messianischer« Praxis »rettet« das gegenwärtige Geschlecht das bedrohte »messianische« Erbe der »Toten« vor dem »konformistischen« Zugriff der »Sieger« und wirkt traditionsstiftend, indem es das, was der positivistischen »Uhrzeit« nicht mehr als wesentliches Datum festhaltbar ist, zu einem neuen »Kalender« formiert, in dem die Menschen bzw. das eigentliche »Subjekt historischer Erkenntnis«, die »kämpfende, unterdrückte Klasse«[196] , wieder die (176) Erfahrungstradition zurückgewinnen, aus der heraus einzig und allein der »Katastrophe« und dem »Ausnahmezustand« entgegenzutreten ist.

[196] These XII

[197] These II.

[198] These IV.

[199] These XIV.

Mit diesem Vorgang des »Eingedenkens« erneuert sich auch die »messianische« Möglichkeit der Gegenwart und läßt Anteile dieser Kraft der Vergangenheit zukommen, deren eigenes »messianisches« Potential wiederum das der Gegenwart erst ermöglicht hat. (»Uns ist wie jedem Geschlecht, das vor uns war, eine schwache messianische Kraft mitgegeben, an welche die Vergangenheit Anspruch hat.«[197]) Und es gehört zu den unverzichtbaren und zentralen Axiomen der Benjaminschen Geschichtstheorie, daß es wirklich und total unmetaphorisch der aktuelle »Klassenkampf« ist, in dem sich »messianische« Vergangenheit und Gegenwart zu einer Identität zusammenschließen, in der die »Rettung« der Vergangenheit das zukünftige »richtige Leben« mit sich führt. Denn dieses »richtige Leben« in all seinen »feinen und spirituellen« Ausformungen basiert einzig und allein auf dem Gelingen des »materiellen« Kampfes um die Abschaffung von Klassenherrschaft und ökonomischer Entfremdetheit. (»Der Klassenkampf ... ist ein Kampf um die rohen und materiellen Dinge, ohne die es keine feinen und spirituellen gibt…Sie sind als Zuversicht, als Mut, als Humor, als List, als Unentwegtheit in diesem Kampf lebendig, und sie wirken in die Ferne der Zeit zurück. Sie werden immer von neuem jeden Sieg, der den Herrschenden jemals zugefallen ist, in Frage stellen.«[198]). Der aktuelle »Klassenkampf« wirkt »in die Ferne der Zeit zurück«, indem er vergangenem Leiden nachträglich Legitimation und geschichtlichen Sinn verschafft, und er bedient sich der dort bereitgestellten und unter größten Opfern realisierten »messianischen« Potenzen, um der prinzipiellen und radikalen Zielrichtung jedes kontinuumssprengenden Ansatzes seinen vollen Ausdruck zu verleihen. Nur dann jedoch wird im »Tigersprung« dieser prinzipielle Ansatz gewahrt, wenn er eben nicht mehr in der »Arena« stattfindet, »in der die herrschende Klasse kommandiert« - dort wird diese prinzipielle Dimension nur immer wieder nivelliert und paralysiert, sondern »unter dem freien Himmel der Geschichte«: Dort jedoch kann er keine andere Gestalt haben als die der konkreten »Revolution«[199] .

Die Strategie des »dialektischen« »Tigersprungs ins Vergangene« ist auch der Schlüssel zur endgültigen Auflösung der Engel-Aporie aus der IX. These. Während dieser die »Katastrophe« nur entsetzt wahrnehmen kann - darin jedoch schon kritisches Bewußtsein entwickelt hat - und dem »Sturm« wehrlos und wie paralysiert ausgeliefert ist, entlarvt Benjamin eben diesen scheinbar so schicksalhaft-natürwüchsigen »Sturm« als die spezifisch historische Form eines entfremdeten gesellschaftlichen Fortschreitens und begegnet diesem Entfremdungszusammenhang mit seinem Konzept der Rekonstruktion eines kontinuums-(177)sprengenden »jetztzeitigen« Geschichts- und Klassenbewußtseins und der darin implizierten Konsequenz revolutionärer Praxis.

[200] K. Marx: Manifest der Kommunistischen Partei. In: MEW 4, S. 462.

[201] These VIII.

[202] These IX.

[203] These XVII

[204] These XIV.

[205] These XVII.

[206] These V.

[207] Thesen; Anhang A.

[208] Nach all dem, was oben entwickelt wurde und hier nun zu einer abschließenden Zusammenfassung kommt, sollten Urteile, wie das folgende von Mensching, hoffentlich endgültig Autorität und Einfluß verloren haben. »Der wahre Fortschritt ist nicht der in der Geschichte sich erstreckende Weg der Menschheit zur Freiheit, sondern die Erlösung der Menschheit von Geschichte überhaupt.« (Mensching, aaO., S. 171).

Da, wo der Engel verzweifelt scheitern muß, weil ihm diese kontinuumssprengende-revolutionäre Tradition fehlt, rekurriert Benjamin umso entschlossener auf die Marxsche Theorie, daß die »Geschichte aller bisherigen Gesellschaft... die Geschichte von Klassenkämpfen«[200] sei - (»Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, daß der ‘Ausnahmezustand‘, in dem wir leben, die Regel ist.«[201]) - und daß die endgültige Abschaffung jeglicher Klassenherrschaft die Vorbedingung für einen unentfremdeten, nicht katastrophischen Geschichtsverlauf ist; bzw. daß mit der Aufhebung dieser Klassenkampfstruktur bisheriger Gesellschaft »Vorgeschichte« zu ihrem Ende kommt und wirkliche »Geschichte« bzw. »richtiges Leben« dann überhaupt erst konkrete Realität gewinnen können. Und anders als der »Engel« vermag Benjamin innerhalb dieses so trostlosen und scheinbar unabwendbaren Katastrophen-Kontinuums die verschiedensten Ansätze und Elemente eines realistischen und erfolgsversprechenden Widerstandes gegen diesen »Ausnahmezustand« wahrzunehmen. Zwar sieht auch er den »katastrophischen« Geschichtsprozeß, der »unablässig Trümmer auf Trümmer häuft«[202] , aber gleichzeitig erscheint ihm diese kontinuierliche Addition immer wieder unterbrochen von monadischen« Konstellationen, in denen das »Zeichen einer messianischen Stillstellung des Geschehens«[203] zu erkennen ist. Das geschichtlich vergangene Detail wird zum exemplarischen Lehrstück, dessen »Jetztzeitigkeit« - sowohl innerhalb seines eigenen historischen Kontextes wie auch für die aktuelle Gegenwart - dem materialistischen Geschichtsschreiber die weitere Praxis vorschreibt: Kraft des »konstruktiven Prinzips« - (»Die Geschichte ist Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die homogene und leere Zeit, sondern die von ‘Jetztzeit‘ erfüllte bildet«.[204] »Der materialistischen Geschichtsschreibung liegt ein konstruktives Prinzip zugrunde.«[205]) - bleibt er gefeit gegen den überwältigenden und entmutigenden Eindruck einer unablässigen Addition von »Trümmern« und die historischen Details gleiten ihm nicht mehr aus den Händen und verfallen als tote und unfruchtbare Gegenstände dem musealen »Andenken«, das identisch ist mit geschichtlicher Folgenlosigkeit. Mittels des »konstruktiven Prinzips« reorganisiert sich ihm die Gegenwart unter dem radikalen Blickwinkel ihrer historischen Vorläufer »richtigen Lebens« und das »Eingedenken« vergangener kontinuumssprengender Erfahrungen erweckt deren prinzipielle geschichtliche Wahrheit zu neuem Leben. (Deshalb ist dem materialisti-(178)schen Geschichtsschreiber das »Bild der Vergangenheit« kein »unwiederbringliches« mehr: Indem er sich in deren »monadischen Konstellationen« als »gemeint«[206] erkennt, ist seine aktuelle Wahrnehmung und Praxis vom Erbe vergangener Erfahrung gesättigt). In der »Konstruktion« tritt Vergangenheit bzw. deren »monadische Konstellationen« immer wieder als Folie auf, deren Hintergrund der Gegenwart den Maßstab liefert, inwieweit der prinzipielle und fundamentale Mangel einer auf Klassenkampf und Klassenherrschaft beruhenden menschlichen Geschichte behoben ist oder gar - wie in der faschistischen Ausprägung - apokalyptische Qualität angenommen hat. »Konstruiert« wird dabei letztlich immer die »Gegenwart«, und zwar als »‘Jetztzeit‘, in welcher Splitter der messianischen eingesprengt sind«[207] , um eine frühe Formulierung Benjamins zu gebrauchen. D.h. das »konstruktive« Verfahren zielt darauf ab, in aktuellem Geschichtsbewußtsein zu bündeln, was in all den vergangenen »messianisch-monadischen Konstellationen« an der Tagesordnung war: Die selbstbewußte, geschichtskonstitutive Besonderheit kontinuumssprengender, herrschaftsnegierender Praxis. Wo diese Potenz wieder in die aktuelle Gegenwart eingegangen ist, wird diese selbst wieder aktiv und produktiv »messianisch« - ihrer tendenziellen Möglichkeit gemäß; in ihr regeneriert sich der Impuls »richtigen Lebens« und zwar in der einzig angemessenen Form »revolutionärer« Gesellschaftspraxis.[208] (179)

 

3. Der »Dienst« der Theologie oder die Materialisierung des »Messianismus«

Vor diesem Hintergrund klärt sich nun auch das Problem der 1. These, welchen entscheidenden ‘‘Dienst‘‘ die ‘‘Theologie‘‘ dem ‘‘Historischen Materialismus« leisten kann und zu welchem zentralen Zweck Benjamin auf sie zurückgreift.

Wegweisend an der jüdischen Theologie des Messianismus ist für Benjamin gewiß deren Unbeirrbarkeit, mit der sie an ihrer Analyse der bestehenden menschlichen Geschichte als einer unversöhnten festhält und gleichzeitig die Hoffnung auf die Möglichkeit »richtigen Lebens« niemals preisgibt. Diese Haltung ist umso vorbildlicher, je mehr man sie kontrastieren läßt zu den Bedingungen eines auf dem Höhepunkt seiner Entfaltung stehenden Faschismus, angesichts dessen Resignation und totale Hoffnungslosigkeit gerade als angemessen erscheinen und jegliche Alternative sofort Züge des Schlecht-Utopischen erhält. Analog dieser typisch jüdischen Qualität, selbst in der ausweglosesten Situation den Anspruch und die Hoffnung auf die Herbeikunft des »Messias« und die Herstellung »richtigen Lebens« nicht aufzugeben, versucht Benjamin gerade in einem »Augenblick, da die Politiker, auf die die Gegner des Faschismus gehofft hatten, am Boden liegen«[209] , und sowohl die sozialdemokratische wie auch die kommunistisch organisierte Arbeiterbewegung zerschlagen ist, Hoffnungsfähigkeit politisch zu rekonstruieren und ihr ein materialistisches Fundament zu schaffen.

[209] These X.

[210] Vgl. hierzu auch: Hering/Nutz: »Massenkultur« und »Warenproduktion«. Zur Diskussion um eine materialistische Analyse der spätkapitalistischen »Kulturindustrie«, in: Literatur für Viele 1, Göttingen 1975.

[211] These I.

Nicht minder bedeutend ist Benjamins Rückgriff auf »messianisch«-theologische Begrifflichkeit unter dem Aspekt ihrer Immunisierungsfunktion gegen geschichtsphilosophische Verdinglichungen und Ontologisierungen, wie sie vor allem auch kennzeichnend sind für den vulgärmaterialistischen Revisionismus. (Man muß sich immer vor Augen halten, daß zu Benjamins Zeit der offizielle Materialismus auf das zusammengeschrumpft war, was die parteidoktrinären Lehrbücher - wie z.B. Bucharins »ABC des Kommunismus« - zu den allgemeinen »Wahrheiten« und »Lehrsätzen« des »Histamat« und »Diamat« erklärt hatten. Und auch bei denjenigen, die einer weit differenzierteren Marxrezeption fähig waren - wie z.B. Adorno - war Marx in zentralen Punkten seiner Theorie ganz und gar nicht mehr »sicher«[210] . Der Regression auf die Struktur einer materialistischen »Weltanschauung« auf der einen Seite entsprach auf der anderen der geschichtspessimistische Rückzug in die ästhetische Esoterik; in beiden Fällen Revisionen von grundsätzlicher Tragweite und beidesmal Fehlentwicklungen, gegen die Benjamin durch die »In-Dienst-Nahme« der jüdisch-messianischen Theologie immunisieren möchte). (180)

Sprengt einerseits die »messianische« Begrifflichkeit bereits durch ihre äußerlich so unmaterialistisch-theologische Metaphorik (»Erlösung«, »messianische Kraft« etc.) die versteinerten Denkschablonen und abgeformelten Sprachnormierungen und löst damit fürs erste irritierend den Bann geistiger Eindimensionalität und plakativer Vorstellungsmuster, so liefert sie andererseits aus Benjamins Sicht auch entscheidende inhaltliche Substanz: Denn wo sich die »Puppe« »historischer Materialismus« nicht scheut, diese »Theologie in ihren Dienst«[211] zu nehmen, gewinnt sie einen mächtigen Verbündeten, dessen Geschichtskonzeption auf der prinzipiellen Offenheit des jeweiligen geschichtlichen Augenblicks besteht und damit von vornherein die Vorstellung »homogener« und »kontinuierlicher« Zwangsläufigkeit unterminiert. Gleichzeitig besteht darin die einzigartige Chance, den Menschen wieder ihre volle »jetztzeitige« geschichtskonstitutive Bedeutung zurückzugewinnen und sowohl den Anspruch auf »richtiges Leben« wie auch den Willen zu dessen realer Verwirklichung zu zentralen und unverzichtbaren Inhalten ihres Geschichtsbewußtseins zu erheben.

Der »Dienst« der Theologie ist dann geleistet, wenn sie der durch Positivismus und Vulgärmaterialismus gefährdeten materialistischen Theorie wieder zu »messianischer« Dimension verholfen hat - mit all den Implikationen und Bestimmungen, wie sie oben ausführlich entwickelt wurden. Die »Dienstbarkeit« hat aber auch dort ihr Ende, wo dem Messianismus selbst die volle materialistische Konsequenz seiner kontinuumssprengenden Grundhaltung verborgen bzw. im idealistischen Denkansatz eingekapselt ist.

[212] Thesen, Anhang B.

Genau an diesem Punkt setzt Benjamins produktive und legitime Vermittlung zwischen jüdischer Theologie und Materialismus ein: Während der »Messianismus« jeden geschichtlichen Augenblick tendenziell in seiner Besonderheit rettet und ihm Einzigartigkeit zuerkennt (»Jede Sekunde (ist) die kleine Pforte, durch die der Messias treten«kann[212]), wendet Benjamin diesen - im Messianismus - noch passiv-kontemplativen Standpunkt radikal materialistisch und läßt die Besonderheit des Augenblicks identisch werden mit der Besonderheit und Einzigartigkeit menschlicher Praxis. Die Herbeiführung des »richtigen Lebens« fällt ohne Rest in die Verantwortung und Handlungsdimension der Menschen und die kontinuumssprengende »messianische« Kraft transformiert sich unter seinem materialistischen Blick in die theoretische wie praktische Gestalt konkreter »Revolutionierung« von Gesellschaft und Geschichte.

Damit ist auch geklärt, wer in wessen »Dienst« steht und wie in Benjamins Geschichtsphilosophischen Thesen die Prioritäten gesetzt sind: Die »Theologie« steht im »Dienst des historischen Materialismus«, denn erst dieser versteht materialistisch - in Rücksicht auf konkrete gesellschaftliche Geschichte, was jene (181) Idealistisch-utopisch projektiert und erst dem Materialismus gelingt es, der jüdischen Theologie ihr immanentes Revolutionsgeheimnis zu deuten und ihr die eigene materialistische Wahrheit vorzuführen.

Die Theologie ist jedoch, wie schon vorher betont, mehr als nur pures begriffliches Hilfsmittel bzw. äußerliche Ergänzung zum Materialismus. Sie selbst ist für Benjamin immer schon echter, wesentlicher Inhalt, jedoch in gesellschaftsabstrakter Form und darin allen anderen vor-Marxschen Dokumenten »materialistischen« Denkens ähnlich. (Deshalb kann man durchaus den Übergang von der jüdischen Theologie zu Benjamins Materialismus mit Marxens »Vom-Kopf-auf-die-Füße«-Stellen Hegels vergleichen). Diese verborgene materialistische Wahrheit bringt Benjamins Materialismus ebenso erst auf ihren konkreten gesellschaftlichen Begriff, wie umgekehrt sein Materialismus ohne diese spezifisch »messianische« Wahrheit für ihn unvollständig, mangelhaft und gefährdet bliebe. So überschreitet sein Materialismus wie seine gesamte Geschichtskonzeption explizit und konsequent die mythische Beschränktheit des theologischen Rahmens und löst unbeirrt in revolutionäre Gesellschaftspraxis auf, was theologisch noch dem »Messias« zugeschrieben werden muß.

[213] These I

[214] ibid.

[215] Greffrath gehört zu den wenigen Interpreten, die mit Benjamins kritischer Identifikation mit dem Historischen Materialismus etwas Sinnvolles anfangen konnte. Ihre Formulierung bestätigt meine eigene Position, daß man den Thesen nur dann gerecht werden kann, wenn man verstanden hat, daß Benjamins Kritik am »historischen Materialismus« - der »Puppe« - die Rekonstruktion des Historischen Materialismus - ohne Anführungszeichen - zum zentralen Anliegen hat. »Benjamin nimmt also die Position des historischen Materialismus ein und kritisiert ihn zugleich. Dieses widersprüchliche Verhältnis wird programmatisch in der ersten These durch das Bild des automatischen Schachspiels vorgestellt.« (Greffrath, aaO., S. 206)

Aber wenn »die Puppe, die man ‘historischer Materialismus‘ nennt«, »die Theologie in, ihren Dienst nimmt«[213] , dann verschafft ihr dieses Bündnis nicht nur eine fundamentale Garantie: »Sie kann es ohne weiteres mit jedem aufnehmen ...«[214] ; ihr Rückgriff auf die materialistische Wahrheit des »messianischen« Geschichtskonzeptes sorgt gleichzeitig dafür, daß sie diese Gestalt aufgibt, die sie in Benjamins Gleichnis noch hat: Nämlich die verdinglichte und versachlichte eben einer »Puppe«. Deren Unbelebtheit darf nicht unterschlagen werden, und wie Benjamin die Aporie des »Engels« aus der IX. These im Verlauf seines weiteren Argumentationsganges materialistisch auflöst, so tut er dies -berücksichtigt man abschliessend den gesamten Thesenkomplex - auf dieselbe Weise mit der eingangs präsentierten Aporie, daß in seinem Gleichnis der »historische Materialismus« als »Puppe« auftreten muß[215] .

(182) Die so metaphorischen und gleichnishaften Thesen I und IX korrespondieren miteinander in ganz spezifischer Weise: Ihr Gemeinsames findet sich in der Darstellung eines Mangels bzw. in der Aussicht auf dessen adäquater Behebung, und beider Aporie kommt mit dem Ende der Thesen zur möglichen Lösung. Denn wie die theologische Figur des »Engels« der »Katastrophe«, deren sie sich ja kritisch-passiv bewußt ist, nur dann entgegentreten kann, wenn sie ihre Kritik zu materialisieren lernt und ihre Position bis zum Niveau revolutionärer Praxis vorantreibt, so kann analog dazu auch die materialistische Figur der »Puppe« »historischer Materialismus« ganz offensichtlich erst dann »es ohne weiteres mit jedem aufnehmen ...«‚ wenn sie sich »nicht scheut«, bewußt »die Theologie in ihren Dienst zu nehmen«, um dadurch ihre materialistische Profanität auf »messianisches« Niveau zu heben. Sowohl der »Engel« wie die »Puppe« sind in der These I von konkreter, lebendiger Gesellschaftspraxis gleich weit entfernt: Wo jener - trotz aller kritischen Sensibilität - im idealistisch-theologischen »Handlungs-«rahmen gefangen und beschränkt bleibt, hat diese - trotz ihres materialistischen Fundaments - ihre gesellschaftlich-geschichtliche Haltung weder zwangsläufig noch unbehindert mit unmittelbarer richtiger Praxis schon unter einen Hut gebracht.

Die Puppenhaftigkeit des »historischen Materialismus« ist immer schon ein Symbol seiner permanenten Gefährdung: Selbst zum toten Fetisch zu werden, in dem sich der Historische Materialismus nur mehr als Katechismus abgeformelter, »ewiger« Wahrheiten darstellt und die kontinuumssprengende Kraft seiner negativen Erkenntnismethode der trügerischen Positivität ontologischer Lehrsätze zum Opfer fällt. Wo die Wahrheit des Historischen Materialismus die unmenschliche Gestalt eherner Gesetzmäßigkeiten innerhalb gesellschaftlicher Geschichte erhält und darin bis zur Ununterscheidbarkeit der Natur angeglichen wird, geraten die Menschen erneut unter ein ihnen entfremdetes geistiges »Kontinuum«. Als dessen Vollstreckungsgehilfen bleibt ihnen wiederum nichts anderes übrig, als sich dem daraus abgeleiteten objektiven Sollen blind zu unterwerfen und sich dem Geschichtsautomatismus der »Puppe« »historischer Materialismus« auszuliefern. Diesem Mechanistischen an der »Puppe« bzw. der in ihr symbolisierten Gefahr einer mechanistischen Vorstellung von Geschichte, in der Regelhaftigkeit und materialistischer Fortschrittsautomatismus bestimmend sind und eben nicht mehr primär alternative menschliche Praxis, begegnet Benjamin mit der »In-Dienst -Nahme« der Theologie.

[216] Oder wie Greffrath treffend formuliert: »Die Theologie ist nicht das heimliche Zentrum des kritisierten ‘Historischen Materialismus‘, sondern sie ist das Element, mit dem Benjamin denselben zu versetzen beabsichtigt, um ihn aus seinen fatalen deterministischen Verstrickungen zu befreien.« (Greffrath, aaO., S. 208).

Die Theologie hat in dem Augenblick ihren »Dienst« geleistet, wo sie die »Puppe historischen Materialismus« mit »jetztzeitigem« Leben erfüllt und sie wieder an ihre »messianische« Dimension herangeführt hat.[216] Da der Historische Materia-(183)lismus immer wieder in Gefahr ist, diese aus den Augen zu verlieren, hat ihm die Theologie auf die Sprünge zu helfen und zu zeigen, was seine originäre Bestimmung ausmacht: Die Utopie des »Messias« als des Retters der menschlichen Geschichte vor der »Katastrophe« im Konzept der einzigartigen geschichtskonstitutiven Besonderheit kontinuumssprengender menschlicher Praxis auf ihren materialistischen Begriff zu bringen. Und dieser Begriff impliziert die Anweisung auf gesellschaftliche Praxis, in der falsche Kontinuen aufgesprengt werden, über das Ganze der Geschichte ohne Rest die selbstbewußte Entscheidung gefällt wird und die materialistische »Puppe« sich immer wieder in die »jetztzeitige, kontinuumssprengende« Praxis der unterdrückten Klasse transformiert. So »dient« Benjamins Rückgriff auf die Theologie der Rekonstruktion der Revolution.(184)

 

Nachwort

Walter Benjamins Thesen »Über den Begriff der Geschichte« liefern keine systematisch ausgeführte Konzeption von Geschichte und sie enthalten keine fertigen Resultate. Sie präsentieren jedoch den avanciertesten Aufriß diesen Gegenstand betreffend, zu dem Benjamin fähig war und zu dessen Ausführung ihm noch Zeit blieb. Deshalb verlangen sie vom Rezipienten eine spezifische Haltung, die sich vor allem auch durch die Bereitschaft auszeichnen muß, den so schwierigen und gefährdeten Prozeß des Weiter- bzw. Zuendedenkens mit Geduld und Vertrauen anzugehen. Wobei das Vertrauen der Geduld immer dann auf die Beine zu helfen hat, wenn diese - angesichts der Komplexität, die einem der Benjaminsche Gedankengang zumutet - zu erlahmen droht, und der Versuchung nachgeben will, mit dem endgültigen Verdikt von Widerspruch und Fehler sich der schmerzhaften Spannung des Nicht-Verstehens gründlich und auf einen Schlag zu entledigen.

Das Vertrauen, von dem hier die Rede ist, darf nicht als blindes oder kritikloses gedacht sein. Es entspringt einer langjährigen Erfahrung mit Benjamins Denken und dem Umgang mit den Hindernissen, die es dem unmittelbaren Verstehen in den Weg stellt. Diese Erfahrung läßt vorsichtig werden und lehrt, daß der vermeintliche Widerspruch, auf den man gestoßen zu sein meint, bei genauerer Prüfung nicht selten in äußerst präziser Weise das wahre Problem und - zu Ende gedacht - auch die äußerst elegante Lösung enthält. Und Benjamins Argumentationskraft beschämt in der Regel immer gerade dann, wenn man ihm mit schweren Geschossen - wie Denkschwäche und Mißverständnis - auf den Leib rücken will, weil die Einsicht zu unbequem geworden ist, daß es hier harte Nüsse zu knacken gilt.

Nicht, daß es bei Benjamin keine »Fehler« oder Unausgegorenheiten gäbe. Diese jedoch sind auf raffinierte Weise immer viel klüger, als sie dann bei den Kritikern erscheinen. Sie vollziehen sich auf einem ziemlich hohen Niveau und deshalb wird der einigermaßen gewitzte Leser sofort stutzig, wenn ihm in der Benjamin-Kritik eine Fehlerqualität offeriert wird, die diese Klugheit nicht mehr reflektiert und die Benjamin - auch in seinen schwächsten Momenten - so nicht produziert hätte.

[217] Diese Art von niveauloser Aburteilung Benjamins, die für sich selber spricht und hier keines kritischen Kommentares mehr bedarf, findet sich in exemplarischer Weise im folgenden Tiedemann-Zitat: »Benjamins letzte Arbeit über den ’Begriff der Geschichte‘ dokumentiert, wie kursorisch die Übernahme des historischen Materialismus war: Wohl begegnet in den Thesen die Rede vom historischen Materialismus häufig, aber weil anders, nach einem Wort von Karl-Heinz Metzger, niemand auf den Gedanken käme, deren aus Quellen der jüdischen Mystik gespeisten Geschichtstheorie habe mit jenem etwas zu tun.« (Tiedemann, Nachwort, in: Walter Benjamin, Charles Baudelaire, Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus, Frankfurt 1969, S. 186).

[218] »alternative«, Zeitschrift für Literatur und Diskussion, hg. von Hildegard Brenner, Berlin. (Zwei Hefte über W. Benjamin: 56/57, 1967 und 59/60, 1968).

Die Aufdeckung von »Fehlern« bei Benjamin ist immer eine Aufdeckung von echten Problemen. Die kritische Analyse dieser Mängel seines Denkens führt nicht in Sackgassen und Endpunkte, an denen der Denkprozeß abgebrochen werden muß, weil er wirklich fehlerhaft und dann nichtssagend wird, sondern immer auf ein höheres Niveau des Problembewußtseins. Wo die Kritiker Benjamins mit handfesten Fehlern anrücken und seine komplette Konzeption auf eine Ebene(185) herunterkriegen, die von dieser generellen Klugheit nichts mehr enthält, da ist höchste Skepsis am Platze.[217]

Nimmt man die Urteile der Mehrheit der in den »Materialien« versammelten Benjamin-Kritiker ernst, bräuchte nach den Thesen, insofern sie explizit den historischen Materialismus rekonstruieren wollen, eigentlich kein Hahn mehr zu krähen. Die dort gefällten negativen Verdikte bestätigen, was Tiedemann im unten aufgeführten Zitat bereits zu einem früheren Zeitpunkt zur Lehrmeinung erhoben hatte; folgt man seiner Einschätzung, muß man zur Annahme kommen, daß die Diskussion um die Thesen eigentlich bereits zu einem Ende gekommen ist und jede weitere Bemühung nur noch einmal deren absolute Unzulänglichkeit bestätigen könnte.

Ich jedoch denke, daß diese Diskussion noch gar nicht richtig geführt worden ist, und das vor allem deshalb, weil die Mehrheit der bisherigen Debatte in einem Verstehensrahmen sich verfangen hatte, der die zentralen Eckpfeiler, Schlüsselstellen und Verbindungen in Benjamins Entwurf nur unzulänglich repräsentierte bzw. oft verfälschte. Die bisherige Abwertung der materialistisch sich verstehenden Thesen erfolgte m.E. auf der Basis eher von Vorurteilen als von seriöser Analyse. Deshalb verstehe ich meine Arbeit u.a. auch als einen Versuch, diesem so hartnäckigen negativen Interpretationsklischee argumentativ und mit sehr guten Gründen den Wind aus den Segeln zu nehmen und ihm ein Grundverständnis der Thesen entgegenzusetzen, aus dem überzeugend hervorgeht, daß und wie die weiterführende und produktive Diskussion durchgeführt werden muß. (Dieser Versuch kann sich auf die antikonformistische Tradition der Benjamin-Rezeption stützen, die seit dem Erscheinen der beiden »alternative«-Hefte[218] von 1967/68 nie mehr ganz abgebrochen ist, ohne daß es ihr jedoch bisher gelungen wäre, der von Adorno begründeten ungerechtfertigten Benjamin-Abwertung den Garaus zu machen. Was gewiß kein einfaches Unterfangen ist, stellt man in Betracht, daß der loyalste und geflissentlichste Adornoschüler Tiedemann in der Personalunion von Editor des Benjaminschen Werkes und Universitätslehrer zu machtvollen Multiplikationen dieses Abwertungsklischees die besten Voraussetzungen hat, und sie auch nach besten Kräften dafür ausbeutet.) (186)

Die spezifische Unvollendetheit der Thesen bzw. die Tatsache, daß sie keine systematisch ausgeführte Konzeption anbieten, bedeutet nicht, daß ihrem Fundament nicht die strengste Systematik eingesenkt ist, die Benjamin erst dazu befähigte, diesen Aufriß zu skizzieren und abzustecken, innerhalb dessen die weitere, eigentliche Denkarbeit noch unternommen werden muß. Hat man diese Systematik jedoch einmal gewittert und zum Sprechen gebracht, dann stößt man auf ein überraschendes Maß an Schlüssigkeit und Eindeutigkeit, und man gewinnt die so bedeutende Möglichkeit, Benjamin fortzusetzen und weiterzudenken, und vielleicht gerade auch da, wo er »Fehler« gemacht haben mag. Dennoch bin ich keinesfalls so vermessen, anzunehmen, ich hätte zu allem den Stein des Weisen gefunden und wüßte mit absoluter Sicherheit, daß die Ergebnisse und Interpretationen meiner Arbeit die unbedingt richtigen sind. Ich weiß von den Gefährdungen der Überinterpretation, der gewalttätigen Vereinheitlichung, der Simplifikation und opportunen Verkürzung, und es wird genügend Passagen zu finden geben, die deutliche Auskunft darüber geben, wo die Arbeit ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht geworden ist. Dennoch hoffe ich eine möglichst umfassende, überzeugende und abgesicherte Basis erstellt zu haben, die der positiven materialistischen Rezeption der Thesen, die bisher so in der Minderheit war und nicht selten ganz unter- bzw. verlorenzugehen drohte, endgültig zu ihrer beweis-kräftigen Stimme verhilft. Wenn es gelungen ist, den dabei herausgearbeiteten Einsichten einen solchen Grad an Verbindlichkeit zu verleihen, daß sie in ihren Grundzügen in Zukunft weder unterschritten noch negiert werden können, wäre das ein erheblicher Erfolg. Dieser würde garantieren, daß das Benjaminsche Spätwerk als das diskutiert werden muß, was es sein will und was es m.E. wirklich auch ist: Ein politisches Dokument höchster Güte, dem der klassische Marxismus sich gewiß nicht zu scheuen braucht, volle Reverenz zu erweisen. Von ihm kann er nur lernen.

Nach wie vor sind die Thesen m.E. eines der eindrucksvollsten und - in Anbetracht ihrer Entstehungszeit - auch einzigartigsten Zeugnisse innerhalb der immer noch schwachen nicht-revisionistischen und nicht positivistisch gefährdeten Tradition eines Historischen Materialismus, der »es ohne weiteres mit jedem aufnehmen« können soll. Dieser einsame und verzweifelte Rekonstruktionsversuch inmitten des faschistischen Triumphs enthält Einsichten, die unberücksichtigt zu lassen sich keine ernsthafte marxistische Theorie mehr leisten kann. Die Unbestechlichkeit, mit der in ihm die Konsequenzen analysiert werden, die aus der Subjektlosigkeit von Geschichts- und Fortschrittstheorien entsteht, ist vorbildlich und ebenso die Radikalität, mit der er auf der spezifischen Offenheit von Geschichte besteht, ohne damit die realen Bedingungen zu mißachten. Soll der Fortschritt,. an der der Historische Materialismus denkt, ein echter sein, dann muß er sich die Einsicht der Thesen als unverzichtbare zu eigen gemacht haben, daß ein solcher allein dadurch zu definieren ist, in wie weit die Macht jeglicher »Kontinuen« gebrochen ist und die Menschen zu wahren Subjekten geworden sind, die mit ihrer Geschichte selbstbewußt umzugehen gelernt haben. Die Vor-(187) Stellungen von »Klassenkampf«, »Revolution« »klassenloser Gesellschaft« etc. müssen von diesem Wissen durchdrungen sein; andernfalls werden sie zu den Gefängnissen, in denen die Menschen sich selbst einkerkern. Auch wenn sie dann unter der Flagge des »historischen Materialismus« von der Aufhebung der geschichtlichen Entfremdung reden, befinden sie sich in Wahrheit dennoch innerhalb der »Katastrophe«. Diese zeichnet sich nämlich vor allem dadurch aus, daß sie die Menschen wie im »Sturm« mit sich reißt und sie glauben läßt, sie befänden sich bereits innerhalb eines fortschrittlichen »Kontinuums«

Der Historische Materialismus, der nichts von dieser Gefahr in seiner Theorie und Praxis weiß, wird nicht nur scheitern müssen - auch da, wo er scheinbar Siege davongetragen hat wie in den Ländern des realen Sozialismus - sondern er trägt dazu bei, daß alles beim alten bleibt. Solange er die Subjekte dem »Kontinuum« unterstellt und opfert, wird dieses unweigerlich den Sieg über jene und alle davontragen. Dann bliebe der »Engel der Geschichte« unerlöst und ihm fiele weiterhin nur die eine Aufgabe zu, im paralysierten Entsetzen zumindest der einzigen Wahrheit, zu der er fähig ist, die Treue zu halten: Daß das, was wir den Fortschritt nennen, die ungebrochene Katastrophe ist. (188)

  London, März 1982

 

Bibliographie

 

Ausführliches Inhaltsverzeichnis

  1. Vorwort
  2. Einleitung
  3. Theologischer »Zwerg« und Materialistische »Puppe«: Benjamins Projekt einer theologischen Erneuerung des Historischen Materialismus
  4. »Vergangenheit« und »Erlösung«: Zur »messianischen« Verantwortung der Gegenwart
    1. Der Anspruch der Vergangenheit auf »Erlösung«
      1. Die »Neidlosigkeit der Gegenwart gegen ihre Zukunft«
      2. Zukunft als »erlöste« Vergangenheit
      3. Gegenwart als das geschichtliche Ganze
      4. Die »messianische« Dimension der Gegenwart
      5. Der »Klassenkampf« als adäquates Mittel der »Erlösung«
      6. Die »heliotropischen« Momente des Erwachens im Gewesenen« und ihre Integration in die Gegenwart
    2. Exkurs: Benjamin und Marx 1
    3. »Materialistischer« und »historistischer« Umgang mit der Vergangenheit
      1. Das »wahre Bild der Vergangenheit« als ein dynamisches
      2. Die »Gefahr« als erkenntnisproduzierende Perspektive
      3. Die »Erlösung« der Vergangenheit als Überwindung des »Antichrist«
      4. »Erlösung« und »messianisch«-revolutionäre Geschichtspraxis
      5. Der Verlust der »messianisch«-revolutionären Perspektive durch die historistische Methode der »Einfühlung«
      6. Die historistische Reduktion der Vergangenheit auf einen herrschaftslegitimatorischen Fetisch, demonstriert am Beispiel der »Kulturgüter«
      7. Die »gegen den Strich gebürstete Geschichte«: Zur negativen Dialektik des historischen Materialismus
    4. Die »Gegenwart« des Faschismus: Extremster und konsequentester Ausdruck prinzipieller geschichtlicher Entfremdung
      1. Der »Ausnahmezustand« als die geschichtliche »Regel«
      2. Die »Herbeiführung des wirklichen Ausnahmezustandes« als die Durchsetzung echter revolutionärer Gegenwart
  5. »Paradies« und »Sündenfall«: zur prinzipiellen Entfremdung des geschichtlichen Fortschreitens …
    1. Die Aporie des »Engels der Geschichte«
      1. Theologische Sensibilität und reale Ohnmacht
      2. Erlösungswunsch und gesellschaftlich-geschichtliche Praxis
    2. Die Fundierung des Fortschrittsbegriffs in der »Idee der Katastrophe«
      1. Der Begriff der »Katastrophe« als erkenntnistheoretisches Mittel
    3. Exkurs: Benjamin und Marx II
      1. Begriffliche Esoterik und materialistische Radikalität
  6. »Sozialdemokratie« und »Klassenkampf«: Die Revision des Historischen Materialismus
    1. Die sozialdemokratische Verfälschung zentraler Marxscher Begriffe
      1. Der »vulgärmarxistische« Begriff von »Arbeit«
      2. Der »korrumpierte« Begriff von »Natur«
    2. Die Entmündigung d. Proletariats als revolutionärer Klasse
      1. Die »kämpfende, unterdrückte Klasse« als das »Subjekt historischer Erkenntnis«
    3. Exkurs: Benjamin und Adorno
      1. Die Verpflichtung auf den kapitalistischen »Fortschritt« und die Eliminierung revolutionären Klassenbewußtseins
    4. Die Ersetzung materialistischer Dialektik durch positivistisch- naturwissenschaftliche Eindimensionalität
      1. Die »technokratische« Vorstellung eines »Fortschritts der Menschheit«
      2. »Leere Homogenität« statt qualitativem Sprung
    5. Exkurs: Historischer Materialismus und messianische Theologie
  7. »Kontinuum« und »Revolution«: Die Rekonstruktion geschichtlicher Gegenwart
    1. »Jetztzeit« statt »homogene und leere Zeit«
      1. Geschichte als »Konstruktion ... von Jetztzeit«
      2. Vergangene und gegenwärtige »Jetztzeit«
    2. Der »Tigersprung ins Vergangene« als Zurückgewinnung verschütteter »jetztzeitiger« Vergangenheit
      1. Der »modische« Umgang mit »jetztzeitiger« Vergangenheit
      2. »Jetztzeitige« Gegenwart und Vergangenheit
      3. Der materialistische »Tigersprung ins Vergangene«
      4. Die Dialektik von »Tigersprung ins Vergangene« und aktueller Revolution
    3. Exkurs: Fortschritt und Revolution
    4. Die Rekonstruktion von klassenkämpferischem »Kalender« und »kontinuumssprengender« Identität
      1. »Kontinuumssprengende« Aktion und anti-ontologisches Geschichtsbewußtsein
      2. »Uhrzeit« und »Kalenderzeit«
      3. Verlust und Erneuerung »kontinuumssprengender« Identität
    5. Gegenwart als »stillgestellte« Zeit bzw. materialistische Besonderheit statt historistische Abstraktion
      1. »Stillstand« statt »Übergang«
      2. »Einzigartige« Erfahrung statt »ewiger« Wahrheit
      3. »Konstruktion« statt »Addition«
    6. »Monadische« Vergangenheit und »jetztzeitige« Gegenwart
      1. Die Vergangenheit als »Monade« statt als »Faktum«
    7. Exkurs: Zur »Monade«
      1. Die »Monade« als Kristallisationspunkt messianisch-revolutionärer Potenz
      2. »Monadische« Besonderheit und revolutionäre Zeit-«Samen«
  8. »Theologie« Und »Historischer Materialismus«: Die menschliche Geschichte unter dem Aspekt ihrer »messianischen« Revolutionierbarkeit
    1. »Messianische« Radikalität und »richtiges Leben«
      1. »Messianischer« Erlösungsanspruch und profanes Glück
      2. »Vorgeschichte« und »Geschichte« im jüdischen Messianismus und im Marxismus
    2. Exkurs: Materialisierte Theologie
    3. Die »Messianisierung« des Historischen Materialismus
      1. »Messianische« Geschichtskritik und revolutionäres Klassenbewußtsein
      2. »Messianisch-jetztzeitige« Geschichtsgegenwart und revolutionärer Klassenkampf
    4. Der »Dienst« der Theologie oder die Materialisierung des »Messianismus«
  9. Nachwort
  10. Bibliographie
  11. Ausführliches Inhaltsverzeichnis

 

 

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