Editorisches Vorwort zum Nachdruck der Erstausgabe des "Kapitals" von Karl Marx (1867)

Von Fred E. Schrader

{K1-Urfassung von 1867: Veranstaltung 2008 // editorisches Vorwort (Schrader 1980) // Faksimile der Erstausgabe // Vorwort Marx // Kapitel 1.1 Die Waare // Anhang zu Kapitel 1.1: Die Werthform}

Der erste Band des Kapitals von Karl Marx wird ausschließlich nach den 1883 und 1890 von Engels bearbeiteten dritten und vierten Ausgaben verbreitet.1 Die Erstausgabe von 1867 hingegen ist, obwohl sie sich von allen späteren Fassungen im Text durchgehend unterscheidet, selbst in der Marxforschung kaum bekannt und auch in großen Bibliotheken nur selten verfügbar.2 Zum einen mag dies auf die kleine Auflage zurückzuführen sein.3 Doch zum anderen äußert sich im Desinteresse ein populäres Vorurteil, wonach die letzte Publikation eines Forschers dessen »reifstes Werk« darstelle und alle seine früheren Arbeiten aufhebe. Dementsprechend werden in der Literatur zu Marx nicht nur seine Quellen, sondern auch sein Forschungsprozeß fast völlig ausgeblendet.

Zu den Vorarbeiten des Kapitals gehören zunächst die umfangreichen, bislang unveröffentlichten Exzerpthefte erster und zweiter Ordnung sowie ergänzende Hefte, welche Marx in der Periode 1850-1858 anlegte.4 Auf dieser Grundlage verfaßte er, zusammen mit einer Einleitung, in sieben Heften den Rohentwurf der Kritik der politischen Ökonomie (1857/58),5 die unmittelbare Vorarbeit für die zwei Kapitel umfassende erste Lieferung von Zur Kritik der politischen Oekonomie.6 Im August 1861 begann Marx, gestützt auf einen ersten Planentwurf,7 mit der Niederschrift der geplanten zweiten Lieferung von Zur Kritik, dem dritten Kapitel »Das Capital im Allgemeinen«.8 In den insgesamt fünf Heften bezog er sich insbesondere auf Ende Februar 1859 begonnene Exzerpte und ein alle Exzerpthefte systematisch verarbeitendes Citatenheft.9 Weitergehende Überlegungen im dritten Kapitel mündeten Ende März 1862 in eine Untersuchung der Theorien über den Mehrwerth, die im Juli 1863 abgeschlossen wurde.10

Inzwischen hatte Marx seine Publikationspläne geändert. Statt einer Fortsetzung von Zur Kritik beabsichtigte er jetzt eine neue selbständige Veröffentlichung, Das Kapital. Ein im August 1863 begonnenes Manuskript, worin er das Manuskript von 1861-1863 auswertete, sollte bereits eine druckfertige Fassung abgeben. Tatsächlich stellte das Ende 1865 abgeschlossene Manuskript aber nur eine Rohschrift der ersten drei Teile des Kapitals dar (Produktionsprozeß des Kapitals, Zirkulationsprozeß des Kapitals, Gestaltung des Gesamtprozesses).11 Im Januar 1866 begann Marx mit der »Stilisierung« des ersten Buchs, die er, von quälender Krankheit behindert, erst im März des folgenden Jahres beenden konnte.

Schon auf den ersten Blick unterscheidet sich das erste Kapitel von den entsprechenden beiden Kapiteln in Zur Kritik. Zum einen wird im Kapital die Geldform logisch bereits von der einfachen Form der Ware aus entwickelt,12 zum anderen existieren im selben Band zwei verschiedene Fassungen der Warenanalyse: Als Marx Anfang Mai 1867 in Hannover die ersten Korrekturbögen erhielt, überzeugte ihn sein Freund und Gastgeber Ludwig Kugelmann, »daß für die meisten Leser eine nachträgliche, mehr didaktische Auseinandersetzung der Wertform nötig sei«.13 Daraufhin verfaßte Marx im Juni den Anhang »Die Werthfonn«.14 Engels stand der doppelten Neufassung der Warenanalyse recht skeptisch gegenüber; zwar sei die dialektische Ableitung schärfer, doch habe ihm in Zur Kritik einiges besser gefallen. Mit Sicherheit dachte er hier an die »historische Unterlage« des logischen Ausdrucks, welche Marx in die Fußnoten verbannt hatte, und schlug einen entsprechenden geschichtlichen Anhang sowie eine Gliederung des ersten Kapitels nach Art der Hegelschen Enzyklopädie vor. Marx folgte dem Ratschlag aber lediglich in bezug auf die Unterteilung der Warenanalyse im Anhang.15

Neben der Arbeit an einer in vielen Punkten völlig eigenständigen französischen Fassung des Kapitals16 besorgte Marx noch selbst die zweite deutsche Ausgabe von 1873. Im Nachwort verweist er auf die wichtigsten Veränderungen zur Erstausgabe: Das erste Kapitel sei »wissenschaftlich strenger« ausgeführt, womit der Anhang entfalle; das dritte Kapitel enthalte Verbesserungen, was die Funktion des Geldes als Maß der Werte betreffe; die zweite Hälfte des siebten Kapitels sei bedeutend umgearbeitet; die Textveränderung beziehe sich jedoch grundsätzlich auf den ganzen Band.17 Die französische Neufassung des Kapitals wollte Marx noch für eine dritte deutsche Ausgabe verwerten. Nach seinem Tod versuchte Engels in der dritten und vierten Ausgabe, diese Pläne für »eine möglichst endgültige Feststellung des Textes« zu rekonstruieren.18

Doch zwischen den verschiedenen Marxschen Versionen der Kritik der politischen Ökonomie nimmt die Erstausgabe des Kapitals einen eigenen Platz ein. Sie dokumentiert nämlich den Einschnitt im Arbeitsprozeß Marxens, wo dieser sich eindeutig für eine strenge dialektische Darstellungslogik insbesondere der Waren- und Geldanalyse entschied. Zwar hatte er eine erste Analogiebildung zur Hegelschen Logik im Rohentwurf von 1857/58 für Zur Kritik wieder fallengelassen.19 Im Kapital aber löste er die theoriegeschichtlichen Exkurse auf und griff in der Warenanalyse partiell wieder auf den Rohentwurf zurück.20 Hieraus ergibt sich die Frage nach der Intention dieses Vorgehens Marxens.

Die Antwort kann nicht in der Versicherung liegen, es handele sich bei Marx um eine immanent notwendige begriffliche Entwicklung von der Ware zum Kapital. Zum einen nämlich stellt er Ware und Äquivalenttausch bloß als Bedingungen der Möglichkeit des Kapitals dar, was logisch - wie historisch - noch keineswegs ein hinreichender Grund für dessen Entwicklung ist.21 Zum anderen erklärt Marx nachdrücklich, daß erst unter der gesellschaftlichen Voraussetzung der Herrschaft des Kapitals die Ware zur ökonomischen Zellenform wird.22 Denn für sich allein sind die Formen der Ware, der vereinzelten Person, des Privateigentums und des Äquivalenttauschs sozial funktionslos.23 Diese gesellschaftlichen Organisationsformcn sind erst auf der Basis eines besonderen Falls des Äquivalenttauschs sinnvolle Funktionen: wenn der Arbeiter generell sein Arbeitsvermögen als Ware gegen einen Geldlohn verkaufen muß, wonach der Kapitalist sich das gesamte Wertprodukt des Arbeiters aneignet, welches über das Lohnäquivalent hinausgeht.

Denselben Gedanken drückt Marx auch als Umschlag des ursprünglichen Aneignungsrechts auf das Wertprodukt der persönlichen Arbeit aus24 und stellt sich damit in bewußten Gegensatz zur Naturrechtstradition in der westeuropäischen sozialen Bewegung. Zwar erwähnt er im Kapital lediglich Proudhon,25 weiß aber aus seinen Studien genau, daß auch in der seit 1820 autonomen englischen Arbeiterbewegung die Losungen vom Recht auf den unverkürzten Arbeitsertrag und auf den gerechten Austausch zum ideellen Allgemeingut gehörten.26 In der deutschen Arbeiterschaft fanden solche Gedanken in Anlehnung an Lassalle eine vergleichbare Popularität.27 Daß es sich bei solchen Vorstellungen bloß um virtuelle Bilder der kapitalistisch strukturierten Gesellschaft handelt, genau dies will Marx in wissenschaftlich-aufklärerischer Absicht mit seiner systematischen Konstruktion von der Ware zum Umschlag des Äquivalenttauschs und zugleich des Aneignungsrechts logisch zwingend nachweisen. Wie aber noch das Gothaer Vereinigungsprogramm von 1875 zeigt, hat sich auch die deutsche Arbeiterbewegung davon kaum beeinflussen lassen.28 Mit der erst zögernd einsetzenden Rezeption des Kapitals durch sozialdemokratische Intellektuelle verarmte die Kritik der politischen Ökonomie vielmehr zur parteilichen Variante der Wirtschaftswissenschaft.29

Bereits an diesem Beispiel zeigt sich, daß die bislang in der Marx-Literatur vernachlässigte genetische Fragestellung dazu beitragen kann, den historischen Geltungszusammenhang der keineswegs begrifflich reinen Darstellungslogik Marxens zu erschließen. Auch insofern gehört die Erstausgabe des Kapitals zur unverzichtbaren Quellenbasis der Marx-Forschung.

Anmerkungen

1.) Seit mehreren Jahren ist lediglich der Nachdruck der nach der dritten bzw. vierten Ausgabe besorgten Fassung Marx, Karl, Friedrich Engels, Werke (MEW), Berlin 1962, auf dem Markt, wonach in der Sekundärliteratur fast ausnahmslos zitiert wird. Karl Korsch hatte einen Nachdruck der zweiten Ausgabe besorgt, Berlin 1932. (cf. Frankfurt/M. 1970).

2.) Der japanische Reprint der Erstausgabe von 1959 gehört mittlerweile selbst schon zu den bibliophilen Raritäten.

3.) Von der Erstausgabe wurden 1000, von den beiden folgenden Ausgaben je 3000, von den zwei französischen 10 000 und 15 000 gedruckt; cf. Urojewa, Anna W., »Das Kapital« erobert sich den Weltball. Zur internationalen Verbreitung des Marxschen Hauptwerkes bis 1895, in:... unsrer Partei einen Sieg erringen. Studien zur Entwicklungs- und Wirkungsgeschichte des »Kapitals« von Karl Marx, Berlin 1978, p. 190.

4.) Cf. zu diesem Komplex erstmals Schrader, Fred E., Restauration und Revolution. Die Vorarbeiten zum »Kapital« von Karl Marx in seinen Studienheften 1850-1858, Hildesheim 1980.

5.) abgedruckt in Marx, Karl, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1953.

6.) verlegt bei Franz Duncker, Berlin; bearbeiteter Nachdruck in MEW 13.

7.) Grundrisse, p. 969 sqq.

8.) in der Sprache des Originals erstmals veröffentlicht in Marx, Karl, Friedrich Engels, Gesamtausgabe (MEGA2), II/3. 1., Berlin 1976.

9.) noch unveröffentlicht: aufbewahrt im Marx-Engels-Nachlaß des Internationalen Instituts für Sozialgeschichtc in Amsterdam (IISG). Sign. A 40/49 und A 41/52.

10.) MEW 26. 1. - 26. 3.: historisch-kritische Ausgabe in MEGA2 II/3. 2. -3. 6., Berlin 1977 sqq.

11.) Das Manuskript von 1863-1865 ist nur unvollständig überliefert. Das sechste Kapitel des ersten Buchs, »Resultate des unmittelbaren Productionsprocesses«, wurde 1933 im Marx-Engels-Archiv publiziert (Nachdruck Frankfurt/Main 1969). - Neuerdings diskutiert i. A. Boldyrew die Möglichkeit, daß Marx 1863-1865 lediglich das dritte Buch ausgearbeitet und sich bei der Niederschrift des ersten Buchs ab 1866 unmittelbar auf das Manuskript von 1861-1863 gestützt habe; cf. Galander, Ehrenfried, Ulrike Galander, Probleme der Marxschen politischen Ökonomie, in: DZPh 10/1979, p. 1260.

12.) cf. Marx an Kugelmann vom 13. Oktober 1866. MEW 31, p. 534; Marx an Engels vom 22. Juni 1867. MEW 31, p. 306.

13.) Marx, Nachwort zur zweiten Ausgabe des »Kapitals«, MEW 23, p. 18.

14.) cf. Marx, Kapital (Erstausgabe), p. 764 sqq.

15.) Engels an Marx vom 16. Juni 1867, MEW 3l. p. 303; Marx an Engels vom 22. Juni 1867, l. c., und vom 27. Juni 1867, MEW 31; p. 314 sqq. Die Differenz besteht schon länger, cf. Engels an Marx vom 9. April 1858, MEW 29, p. 319; hierzu überzeugend Kittsteiner, Heinz-Dieter, »Logisch« und »Historisch«. Ober Differenzen des Marxschen und Engelsschen Systems der Wissenschaft, in: IWK I/1977.

16.) Le Capital. Traduction de M. J. Roy, entièrement revisée par l'auteur, Paris (1872-1875).

17.) Marx, Nachwort zur zweiten Ausgabe des »Kapitals«, l. c.

18.) cf. die Erklärungen Engels´ zur dritten und vierten Ausgabe 1883 und 1890, MEW 23, p. 33 sqq. und p. 41 sqq.

19.) cf. Grundrisse, p. 55 - p. 178.

20.) insbesondere auf die systematische Entwicklung der Geldform aus der Warenform, Grundrisse, p. 60.

21.) Dies wird nicht nur im »Kapital«, sondern auch in der Selbstverständigung des Rohentwurfs von 1857/58 deutlich, wenn Marx den Übergang von der einfachen Zirkulation zum Kapital im Allgemeinen behandelt und das »Sollen und »Müssen« dieses Übergangs betont; von selbst und notwendigerweise kann er sich demnach kaum ergeben. Cf. Grundrisse, p. 145 sq., wo Marx den Versuch einer rein begrifflichen Entwicklung macht.

22.) MEW 23, p. 184, Note 41; Kapital (Erstausgabe), p. 571, Note 23.

23.) cf. Grundrisse, p. 87 sq.; p. 166: »Die Wiederholung des Prozesses (des Aus-tauschs; FS) von beiden Punkten, Geld oder Ware, ist nicht in den Bedingungen des Austauschs selbst gesetzt. ( ) Die Zirkulation trägt daher nicht in sich selbst das Prinzip der Selbsterneuerung. Die Momente derselben sind ihr vorausgesetzt, nicht von ihr selbst gesetzt. ( ) Sie ist das Phänomen eines hinter ihr vorgehenden Prozesses.«

24.) Kapital (Erstausgabe), p. 567 sqq.; cf. die von Korsch herausgegebene Zweitausgabe, p. 534 sqq., Le Capital, p. 254 sqq., und MEW 23, p. 605 sqq. mit den Bearbeitungen Engels.

25.) Kapital (Erstausgabe), p. 571, Note 23, Kapital (Zweitausgabe, ed. Korsch), p. 538 sq., Note 5, MEW 23, p. 613, Note 24.

26.) 1851 hatte Marx in seine Exzerpthefte IX, XI und XIV u. a. mit Thomas Hodgskin und Piercy Ravenstone maßgebende Theoretiker der frühen englischen Arbeiterbewegung aufgenommen; Marx-Engels-Nachlaß, IISG, Sign. B 52/58, B 43/48, B 55/50. Politisch hatte Marx bereits für den direkten politischen Kampf und gegen die politisch-ökonomische Aktion Partei ergriffen, versuchte aber, auf die an Owen orientierte Tradition taktisch Rücksichten zu nehmen.

27.) cf. Na`aman, S., Die Konstituierung der deutschen Arbeiterbewegung 1862/63, Assen 1975, p. 99.

28.) cf. Marxens Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei, Beilage eines Briefs an Bracke vom 5. Mai 1875, MEW 19, p. 15 sqq.

29.) Selbstverständlich hat Marx im engen Zusammenhang mit seiner aufklärerischen Intention auch diesen positiv-wissenschaftlichen Aspekt seiner Arbeit im Auge gehabt und ihn sogar besonders gewürdigt wissen wollen. Allerdings ging in der relativ späten Rezeption genau der eminent praktisch-politische Impuls der Kritik der politischen Ökonomie verloren.

Weiteres zur K1-Urfassung von 1867:

Quellen:

2013 || theoriepraxislokal.org