Christoph Hering  (Verlag Peter Lang, Frankfurt 1983):

Die Rekonstruktion der Revolution.

Walter Benjamins messianischer Materialismus in den Thesen »Über den Begriff der Geschichte« (1 2 3 4 5 6 )

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Inhalt

  1. Vorwort
  2. Einleitung
  3. Theologischer »Zwerg« und Materialistische »Puppe«:
    Benjamins Projekt einer theologischen Erneuerung des Historischen Materialismus
  4. »Vergangenheit« und »Erlösung«: Zur »messianischen« Verantwortung der Gegenwart
    1. Der Anspruch der Vergangenheit auf »Erlösung«
    2. Exkurs: Benjamin und Marx 1
    3. »Materialistischer« und »historistischer« Umgang mit der Vergangenheit
    4. Die »Gegenwart« des Faschismus:
      Extremster und konsequentester Ausdruck prinzipieller geschichtlicher Entfremdung
  5. »Paradies« und »Sündenfall«: zur prinzipiellen Entfremdung des geschichtlichen Fortschreitens …
    1. Die Aporie des »Engels der Geschichte«
    2. Die Fundierung des Fortschrittsbegriffs in der »Idee der Katastrophe«
    3. Exkurs: Benjamin und Marx II
  6. »Sozialdemokratie« und »Klassenkampf«: Die Revision des Historischen Materialismus
    1. Die sozialdemokratische Verfälschung zentraler Marxscher Begriffe
    2. Die Entmündigung d. Proletariats als revolutionärer Klasse
    3. Exkurs: Benjamin und Adorno
    4. Die Ersetzung materialistischer Dialektik durch positivistisch- naturwissenschaftliche Eindimensionalität
    5. Exkurs: Historischer Materialismus und messianische Theologie
  7. »Kontinuum« und »Revolution«: Die Rekonstruktion geschichtlicher Gegenwart
    1. »Jetztzeit« statt »homogene und leere Zeit«
    2. Der »Tigersprung ins Vergangene« als Zurückgewinnung verschütteter »jetztzeitiger« Vergangenheit
    3. Exkurs: Fortschritt und Revolution
    4. Die Rekonstruktion von klassenkämpferischem »Kalender« und »kontinuumssprengender« Identität
    5. Gegenwart als »stillgestellte« Zeit bzw. materialistische Besonderheit statt historistische Abstraktion
    6. »Monadische« Vergangenheit und »jetztzeitige« Gegenwart
    7. Exkurs: Zur »Monade«
  8. »Theologie« Und »Historischer Materialismus«: Die menschliche Geschichte unter dem Aspekt ihrer »messianischen« Revolutionierbarkeit
    1. »Messianische« Radikalität und »richtiges Leben«
    2. Exkurs: Materialisierte Theologie
    3. Die »Messianisierung« des Historischen Materialismus
    4. Der »Dienst« der Theologie oder die Materialisierung des »Messianismus«
  9. Nachwort
  10. Bibliographie
  11. Ausführliches Inhaltsverzeichnis

 

Vorwort

[1] Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, in: Ges. Werke, Bd.I.2.5. 691-704. (Im Folgenden als »Thesen« gekennzeichnet).

[2] These XVII

[3] Heinz-Dieter Kittsteiner, Die »geschichts­philosophischen Thesen«, in: Materialien, S.40, Anm.    Was dort dann mit Benjamin geschieht, zeigt sich in ebenso exemplarischer wie abschreckender Weise in den Beschäftigungen des Germanisten Kaiser, dessen äußerst problematische Formulierung Kittsteiner so unkritisch und identifikativ zitiert. Kaum eine andere Interpretation der Thesen erreicht Kaisers Mischung aus scheinbar hohem philologischen Niveau und politischer Sabotage. Die Philologie mündet hier fast ausschließlich in der Abwertung bzw. Eliminierung der revolutionär-marxistischen Kernstücke der Thesen. (Dazu ausführlicher an späterer Stelle).

[4] Kaiser und Missac, Scholem und Haselberg, Adorno und Tiedemann, und von den »wahren« Marxisten Kittsteiner können hier als exemplarische Vertreter je einer dieser Gruppen genannt werden. (Sowohl die Gruppen wie auch ihre Vertreter könnten mühelos noch um verschiedenartigste Varianten erweitert werden). Alle diese Autoren finden sich in trauter Versammlung in »Materialien«. (Es soll hier jedoch nicht unterschlagen werden, daß gerade Kittsteiner vor bald 15 Jahren zu denjenigen gehört hatte, die als erste Benjamins Materialismus vor dem Zugriff der Adornoschen Philosophie zu retten begannen und den Blick für seine eigenständige materialistische Position schärften. Seine Arbeit ist -trotz erheblicher Mängel- immer noch bemerkenswert und wichtig).

[5] Betrachtet man sich den Sammelband »Materialien«, so bleibt nach dessen Lektüre der Eindruck vorherrschend, die Absicht des Bandes ziele nicht auf Klärung der Probleme ab, sondern auf einen möglichst hohen Grad an Widersprüchlichkeit und Konfusion. Schon die hier vorgenommene Autorenfolge Kittsteiner, Kaiser, Tiedemann z.B. präsentiert ein einziges gedankliches Wechselbad, nach dessen Genuß ein unbefangener Leser Benjamin für einen philosophischen und politischen Wirrkopf halten muß, der nichts Einheitliches und Systematisches zu denken wußte. So widersprüchlich sind diese Beiträge. Der bürgerliche Methoden-Pluralismus feiert hier in der Publikations-Strategie Urstände und erzielt mühelos, was ihm in erster Linie am Herzen liegt: Die Verhinderung wahrhaft kritischen Wissens, das systemgefährdende politische Konsequenzen einschließen würde. Unter diesen Publikations-Bedingungen unterliegen jene Beiträge, in denen Benjamins materialistisches Anliegen doch zu einem adäquaten Ausdruck kommen kann, von Anfang an der paralysierenden Kraft ihrer konformistischen Umgebung. (Ich denke dabei vor allem auch an Greffraths Beitrag, der in seiner wohltuenden Unvoreingenommenheit und unprätentiösen Verständnis-Bereitschaft, mit denen er sich auf Benjamins Argumentation wirklich einläßt, vieles klarstellt und damit einen Diskussions-Zusammenhang anbietet, innerhalb dessen weiterzuarbeiten sich ernsthaft lohnen würde; er durchbricht nämlich die Mär vom widersprüchlichen Fragmentisten Benjamin und führt zu einem recht eindeutigen Verständnis der Thesen).

[6] Das heißt nicht, daß die ernsthafte Beschäftigung mit den Thesen nicht von z.B. philologischer Sorgfalt und Geduld bestimmt sein muß: Im Gegenteil. Denn daß Benjamins Text so alles von orthodoxer Mystik bis zur totalen Theologie-Losigkeit abinterpretiert wird, ist bezeichnendes Symptom für den skandalösen Text-Konsensus, auf dessen Boden die augenblickliche Diskussion noch geführt wird. Nur spricht diese Verwirrung nach meiner Überzeugung nicht gegen Benjamin, sondern gegen die etablierte Praxis der Benjamin-Rezeption; sie unterstellt in der Regel Benjamin noch als Widerspruch und rivalisierende Ansätze, was meist nur der mangelnden Verständnis-Bereitschaft bzw. der begrenzten intellektuellen Fähigkeit des jeweiligen Interpreten entspringt. Tiedemanns z.T. durchaus zutreffenden Bedenken führen leider zu einer Konsequenz, die in der Regel Benjamin schlecht aussehen läßt; sie liefert die rasche Rechtfertigung, Noch-Nicht-Verstandenes als Unverständlich-Widersprüchliches zu deklarieren. »Vieles, allzuvieles erscheint in den Thesen in wenigen Sätzen versammelt, die sich meditierender Versenkung darbieten, die weitertreibende Entfaltung herausfordern, aber kaum eine völlig konsistente Interpretation erlauben. Der Thetik der Thesen selbst geht Einstimmigkeit ab, eher eignet ihnen der Charakter von Arbeits-Hypothesen, gleichzeitig jedoch ein Moment des Als-ob… Jede Interpretation wird den Thesen immer auch Unrecht tun, weil sie, was im Text unvermittelt nebeneinander steht, streckenweise, auch konträr oder kontradiktorisch sich verhält, zum einheitlichen Gedankengang zusammenfassen und dadurch in gewisser Weise nivellieren muß.« (R.Tiedemann, Historischer Materialismus oder politischer Messianismus? Politische Gehalte in der Geschichtsphilosophie Walter Benjamins, in: Materialien, S. 11 ff.).
Daß die Einheitlichkeit und Schlüssigkeit des Benjaminschen Konzeptes einen viel höheren Grad hat, als Tiedemann annimmt, dies zu demonstrieren ist ein Ziel dieser Arbeit.

[7] GS 1, 3, 5. 1244, Ben-Arch, Ms 481.

[8] Man mag zu Benjamins materialistischem Engagement stehen wie man will. Grundvoraussetzung jedoch für eine einigermaßen faire Bewertung seiner Fundiertheit muß Benjamins eigenes Wort sein und hier sieht man sich sehr oft mit einer entschiedenen und expliziten Klarheit konfrontiert, die es unter allen Umständen vollständig zu würdigen gilt. So ist es in diesem Zusammenhang von erheblicher Bedeutung, daß man Benjamins Einschätzung der Rolle und Funktion der »revolutionären Intelligenz« wirklich berücksichtigt und dabei auch nicht übersieht, daß dieser Gegenstand eines der zentralen Probleme abgibt, mit denen sein materialistisches Werk sich befaßt. Er definiert bereits 1929 als deren »doppelte Aufgabe… die intellektuelle Vorherrschaft der Bourgeoisie zu stürzen und den Kontakt mit den proletarischen Massen zu gewinnen…« (GS II,1,5. 309) und alles deutet darauf hin, daß diese Position bis zu seinem Lebensende den verbindlichen Rahmen für seine fortschreitenden Überlegungen stellte. (Siehe zu diesem Komplex vor allem: Hering, »Der Intellektuelle...«

[9] Siehe dazu die folgende »Einleitung«.

[10] These XII

[11] These VII

[12] Die Tradition beinahe verleumderischer Abwertung des Benjaminschen Materialismus, vornehmlich bestimmt von den negativen Urteilen Adornos, Scholems und Tiedemanns, ist bedauerlicherweise ungebrochen. In der obigen Bemerkung erneuert ein Schüler dieser Tradition ungeniert alte Adornosche Mißgunst und behauptet von Benjamin, er sei an »den Mythos nicht weniger fixiert als die Georgeschule«; und damit nicht genug: Auch »geheime Verwandtschaft« mit dem »Jugendstil« wird ins Feld geführt. Nicht daß es »Ähnlichkeiten« dieser Art nicht gäbe in Benjamins Schaffen; die unverfrorene Abstraktion jedoch von den Inhalten und den Entwicklungs-Stufen seines Denkens -und nur so läßt sich derartige Identität konstruieren- hat kaum mit wissenschaftlicher Sorgfalt zu tun, sondern mehr mit diffamierender, subversiver Propaganda. (Die Zitate finden sich bei Hartmut Engelhardt, »Eine Puppe in türkischer Tracht«. Zur Verbindung von historischem Materialismus und Theologie beim späten Benjamin, in: Materialien, S. 306. Zu diesem Komplex der Abwertung des Benjaminschen Materialismus siehe: Hering, Der Intellektuelle..., darin vor allem: »Das Benjamin-Bild der Herausgeber Adorno, Scholem und Tiedemann«, S. 16 - 30).

»...auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein. Und dieser Feind hat zu siegen nicht aufgehört.« (These VI)

»Die Gefahr droht sowohl dem Bestand der Tradition wie ihren Empfängern. Für beide ist sie ein und dieselbe: sich zum Werkzeug der herrschenden Klasse herzugeben.« (These VI)

An Walter Benjamins Thesen »Über den Begriff der Geschichte«[1] scheint sich vollzogen zu haben, was sie selbst als bedrohliche Gefahr beschwören. Studiert man die Rezeption dieses Werkes, so kann man sich des Eindruckes nicht erwehren, daß es wirklich – wie die obigen Mottos es formulieren – in die Hand des »Feindes« bzw. der »herrschenden Klasse« gefallen ist. Dort verliert es nicht nur die ihm so eigentümliche politische Sprengkraft, sondern auch die Empfänger, an die es sich vornehmlich richtet, und die es braucht, um »nahrhafte Frucht«[2] sein zu können. Und das nicht nur, weil der »Feind«, vor dem »auch die Toten... nicht sicher« sind, sich seines Denkens bemächtigt hat und es hemmungslos seinen subjektiven, theologischen, philosophischen, philologischen und in der Regel anti-materialistischen Partialinteressen unterwirft, sondern weil gerade auch diejenigen, zu denen Benjamin sich selbst rechnete und die sein Erbe zu verwalten hätten – die erklärten marxistischen Intellektuellen, mittlerweile begonnen haben, ihn zur »germanistischen« Ausschlachtung freizugeben. (»Was nun allerdings ... Benjamins ‘wahre(r) Marxismus als wahre Theologie‘... wirklich gewesen ist, vermag wohl heute nur noch Germanisten zu beschäftigen.«[3]

Dementsprechend treiben im ungeschützten Werk Benjamins bürgerliche Philologie, theologischer Konformismus, philosophisch-ästhetisierender Gesellschafts-(9)pessimismus und auch linke Ungeduld[4] unbehindert und z. T. völlig unbeeindruckt voneinander ihr interpretatorisches Unwesen. Dieser Rezeptionsrahmen läßt Benjamins Denkgebäude wie eine Rumpelkammer aussehen: Als beherberge sie einen Haufen versprengten Gedankenzeugs und uneinheitlicher Theoriebruchstücke, holt sich jeder, was seiner Disziplin in den opportunen Kram paßt, und kennt in diesem Konsum keine Verantwortung gegenüber dem Produzenten, bzw. dessen Werk als einem intendierten Ganzen. Die hier vorliegende pluralistische Gelehrsamkeit und Methodenvielfalt täuscht: In Wahrheit bildet sie ein Getto, in dem Benjamins zentrales Anliegen - auseinandergerissen und verstreut - eingekerkert ist.[5]

Die Auslieferung der Thesen an bürgerlich-arbeitsteilige Fachdisziplinen wie Philosophie, Geschichte, Theologie, Philologie[6] etc. verhindert und zerstört (10) die Wahrnehmung, daß dieser Text kein akademischer ist. Aufgeteilt unter verschiedene Forschungsrichtungen und Weltanschauungen verliert er den Rahmen, innerhalb dessen sein eigentliches, politisch-revolutionäres Anliegen adäquat aufgenommen und fortgeführt werden könnte. Man sieht ihm nicht mehr an, daß er in seinen Denkanstrengungen sowohl einen bestimmten Adressaten im Auge hat - nicht das bürgerliche Publikum, noch »die Menschheit«, sondern das »Subjekt der Geschichte: die Unterdrückten«[7] - und daß er dementsprechend auf einheitliche und eindeutige Geschichtspraxis aus ist. Und daß sich nun endgültig die »Germanisten« um die Thesen streiten sollen und nicht mehr die »revolutionäre Intelligenz«[8], die m.E. als erste angesprochen ist, zeigt, ein wie großes Terrain dem »Feind« bereits abgetreten wurde. (11)

Wer den Thesen gerecht werden will, muß sie - wie Benjamin das selbst und explizit getan hat - als einheitliches Resultat eines langen Entwicklungsprozesses akzeptieren und verstehen[9], und er muß sie in die Tradition hineinnehmen, deren Ziel die Vorbereitung und Durchführung des theoretischen und praktischen Kampfes um eine unentfremdete menschliche Geschichte ist. Solange die Bewunderung nur abstrakt bestimmten Denkformen und Gedankenbruchstücken gilt, nicht jedoch diesem Denken als einem Ganzen mit dem ihm unverzichtbaren und durchgängigen Interesse an der »kämpfende(n), unterdrückte(n) Klasse ...‚ die das Werk der Befreiung im Namen von Generationen Geschlagener zu Ende führt«[10], schlägt die Beschäftigung mit ihm allemal den »Siegern« zu Buch, die sein Werk dann als leichte »Beute… im Triumphzug«[11] mitführen können. Dann vermag man Benjamin sogar noch als mythischen Denker auftreten zu lassen, der mehr mit der George-Schule gemeinsam haben soll als mit Marx[12], und unversehens integrieren sich die ursprünglich mit messianisch-revolutionärer Sprengkraft ausgestatteten Thesen mühe-, weil folgenlos unter die »Kulturgüter«, mit denen das bürgerliche »Kontinuum« sich verherrlicht.

Die hier vorliegende Arbeit hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Thesen »Über den Begriff der Geschichte« innerhalb des Diskussionszusammenhanges ernst zunehmen und zu behandeln, den sie sich selbst zuweisen: Den einer materialistischen Theorie von Geschichte. Und es versteht sich von selbst, daß eine (12) solche nicht von den Problemen revolutionärer Theorie und Praxis zu trennen ist. Dem steht auch, wie sich zeigen wird, die Theologie nicht im Weg; ganz im Gegenteil.

Deshalb vollzieht sich diese Integration der Thesen in den Rahmen revolutionärer Gesellschaftspraxis unter Verzicht auf jede einseitige Würdigung bzw. Eliminierung bestimmter Grundzüge des Benjaminschen Denkens. Dessen Heterogenität dient einem einheitlichen Zweck: Es geht in ihr um die Begründung einer anti-«konformistischen« Theorie von Geschichte, die den Subjekten ihre volle geschichtskonstitutive Bedeutung garantiert. Das jedoch setzt die kritische Auflösung von Vorstellungen voraus, die den Menschen einreden und vorschreiben, sie hätten sich ihre geschichtliche Existenz als Teilhabe und Hingabe an ein »Kontinuum« vorzustellen. In Wahrheit sind sie innerhalb eines solchen Konzeptes die geistigen wie materiellen Gefangenen einer von ihnen selbst produzierten »katastrophischen« Entfremdung.

Daß Benjamin in seiner letzten Arbeit zur Theologie zurückkehrte, bedeutet keine Einschränkung bzw. Zurücknahme seines materialistischen Standpunktes, sondern dessen spezifische Radikalisierung. Mit der Theologie will er der durch Sozialdemokratie und Sowjetmarxismus vollends korrumpierten und revisionierten Geschichtskonzeption, wie sie auf Karl Marx zurückgeht, ihr zentrales Kernstück zurückgewinnen. Es geht Benjamin - auf theoretischer wie praktischer Ebene - um die Rekonstruktion der Revolution. Einer Revolution jedoch, in der die verborgene materialistische Weisheit der messianischen Theologie tiefe Spuren hinterlassen hat. (13)

 

Einleitung

[13] W. Benjamin. Briefe, Frankfurt 1966, Nr. 259/S. 659, 25. Mai 1935.

[14] Benjamin scheint Böses geahnt zu haben. Seine Äußerungen gegenüber Gretel Adorno, die Thesen betreffend, lesen sich beinahe wie eine vorweggenommene Verteidigung, die sich ihres Erfolges keineswegs sicher fühlt. Und es scheint mir durchaus gerechtfertigt zu sein, in diesen beinahe ängstlichen Formulierungen vor allem auch Benjamins Sorge zu spüren, wie denn die ersten – und für den Augenblick wichtigsten – Empfänger dieses Manuskriptes, Adorno und Horkheimer, zu ihm stehen würden. »In mehr als einem Sinne ist der Text, den Du erhalten sollst, reduziert. Ich weiß nicht, wieweit die Lektüre Dich überraschen oder, was ich nicht wünschte, beirren mag.« (GS 1, 3, S. 1226, Brief o.D. ((April 1940)) an Gretel Adorno). Der m.E. begründete Verdacht, Benjamin habe seine wahre (materialistische) Position nur mit erheblicher Diplomatie bei Adorno unterbringen können, wurde mehrfach diskutiert und offensichtlich befürchtete Benjamin, dass diese sich explizit klassenkämpferisch engagierenden Thesen ein ähnliches Schicksal erleiden könnten wie sein Aufsatz »Das Paris des Second Empire bei Baudelaire«, nämlich das einer mehr oder minder offenen Zensur. Auch so materialistisch unverblümte Arbeiten wie »Der Autor als Produzent« oder »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« waren von Adorno, was ihre realpolitischen revolutionären Konsequenzen betraf, alles andere als überschwenglich aufgenommen worden. (Der Streit um die Beziehung Benjamins zu Adorno ist mittlerweile breit ausgetreten, aber dennoch nicht beendet. In »Text und Kritik, Zeitschrift für Literatur, Stuttgart, München, Hannover, H. 31/32, 1971 findet sich eine gute Zusammenfassung der Problematik. Vgl. jedoch auch: Hering, Der Intellektuelle ...‚ aaO., und Hering/Nutz, »Massenkultur« und »Warenproduktion«, in: Literatur für Viele 1, Göttingen 1975; darin vor allem die Abschnitte über Adorno/Horkheimer, Brecht und Benjamin). Im Brief beteuert Benjamin: »Daß mir nichts ferner liegt als der Gedanke an eine Publikation dieser Aufzeichnungen (nicht zu reden von einer in der Dir vorliegenden Form) brauche ich Dir nicht zu sagen. Sie würde dem enthusiastischen Mißverständnis Tor und Tür öffnen.« (ibid.) Benjamins Sorge war mehr als begründet. Das »Mißverständnis«, zu dem die Thesen dann vor allem beim Adorno-Schüler Tiedemann und ihm nahestehenden Forschern Anlaß gaben, war »enthusiastisch«, ganz zu schweigen von den total verständnislosen Ausschlachtungen, denen sie im konventionell-bürgerlichen Lager ausgesetzt waren.

[15] Über die materialistische Theorie und Praxis in der Sowjetunion wird Benjamin - zusammen mit Brecht - schon 1938 gewiß keine falschen Illusionen mehr gehabt haben: »Sehr skeptische Antworten erfolgen, sooft ich russische Verhältnisse berühre«; »Der russischen Entwicklung folge er; und den Schriften von Trotzki ebenso. Sie beweisen, daß ein Verdacht besteht; ein gerechtfertigter Verdacht, der eine skeptische Betrachtung der russischen Dinge fordert. Solcher Skeptizismus sei im Sinne der Klassiker. Sollte er eines Tages erwiesen werden, so müßte man das Regime bekämpfen - und zwar öffentlich.« (W. Benjamin, Gespräche mit Brecht, in: ders.: Versuche über Brecht, Frankfurt 1966, S. 130 f.).

Jedoch auch Adornos Philosophie erfüllte mit Gewißheit nicht die materialistischen Vorstellungen und Ansprüche Benjamins, wobei es hier etwas komplizierter ist, die trotz großer Affinitäten erhebliche Differenz herauszuarbeiten. Zu eng war das persönliche Verhältnis zwischen beiden und auch die prekäre ökonomische Abhängigkeit Benjamins vom »Institut für Sozialforschung«, dessen Direktor Adorno war, verhinderte die offene Austragung dieser Differenz zu Benjamins Lebzeiten und mit seinem eigenen Wort. Heute arbeitet die Adorno-Nachfolge immer noch mit erheblichem Einsatz daran, diesen Konflikt entweder zu kaschieren, oder ihn zu Gunsten der Adornoschen Position zu entscheiden. (Die einschlägige Literatur hat diesen Streitpunkt ausführlich aufgerollt. Siehe dazu »Text und Kritik«, aaO., darin auch die weiterführende Literatur. Auch: Hering, Der Intellektuelle aaO., und: Hering/Nutz, »Massenkultur«...‚ aaO.)

[16]  Karl Marx, »Vorwort«, in: Zur Kritik der Politischen Ökonomie, MEW 13, S. 9.

[17] Siehe These IX.

[18] These I.

[19]  These I.

Walter Benjamins 18 Thesen »Über den Begriff der Geschichte« - geschrieben im Jahr vor seinem Selbstmord 1940 und ursprünglich nicht für die Publikation vorgesehen - haben den Charakter eines Testaments. Nicht nur, weil sie in der Chronologie seines Schaffens das letzte größere zusammenhängende Dokument sind, sondern weil sie mit Sicherheit den avanciertesten Standpunkt

»in dem Prozeß einer vollkommenen Umwälzung (festhalten), den eine aus der weit zurückliegenden Zeit meines unmittelbar metaphysischen, ja theologischen Denkens stammende Gedanken- und Bildermasse durchmachen mußte, um mit ihrer ganzen Kraft meine gegenwärtige Verfassung zu nähren.«[13]

Dieser »Prozeß einer vollkommenen Umwälzung« wurde durch Benjamins Bekanntschaft und intensiven Auseinandersetzung mit dem Historischen Materialismus eingeleitet und die Thesen legen in extremster Verdichtung eine erste und letzte Rechenschaft über den Ausgang dieser so tiefgreifenden »Umwälzung« ab. Während Benjamins populärsten materialistischen Arbeiten - so z.B. dem »Autor als Produzent« - nichts mehr von seinem früheren metaphysisch-theologischen Denken anzumerken ist, kehren die Thesen explizit nochmals zu diesem Anfang zurück und liefern auf der neuen materialistischen Ebene eine Synthese von frühem theologischem und spätem materialistischem Benjamin. Und dieses Dokument ist umso einzigartiger und bedenkenswerter, als in ihm Benjamin das eigenhändige Zeugnis vorlegt, aus dem zu ersehen ist, wie er selbst das Verhältnis von Theologie und Marxismus verstanden wissen wollte und warum er zu eben dieser Theologie nochmals zurückgekehrt war.[14] (15)

Die Thesen »Über den Begriff der Geschichte« wurden zu einem Zeitpunkt geschrieben, als der Faschismus in Deutschland uneingeschränkte Macht erlangt hatte und gesellschaftspolitische Alternativen angesichts der Totalität faschistischer Wirklichkeit - im genauen Wortsinn - undenkbar geworden waren. Sowohl die sozialdemokratisch wie die kommunistisch organisierte Arbeiterbewegung war zerschlagen und auch da, wo sich in der Theorie materialistisch-revolutionäre Vorstellungen noch erhalten hatten, nahmen sie entweder resignative Züge an - wie z.B. bei Adorno - und bereiteten viel eher den Rückzug auf philosophisch-ästhetische Innerlichkeit vor als die Erneuerung klassen-kämpferischer Theorie und Praxis, oder waren - wie im Sowjetmarxismus - zu vulgärmaterialistischen Dogmen und Beschwörungsformeln erstarrt.[15] Die (16) Situation des Historischen Materialismus, dessen Geschichtskonzeption immerhin die Aufhebung gesellschaftlicher Entfremdung und damit das Ende der »Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft«[16] zum Ziel hat, war die seiner Niederlage bzw. seines Scheiterns; quasi widerlegt von der Übermacht »katastrophischer«[17] Realität. Genau zu diesem Zeitpunkt macht sich Benjamin an den Entwurf einer Geschichtskonzeption, in der sich der »historische Materialismus« wieder zu einer Kraft regenerieren soll, die »es ohne weiteres mit jedem aufnehmen«[18] kann. Und er vermag dazu nach Benjamins Ansicht zu werden, wenn er die Theologie, »die heute bekanntlich klein und häßlich ist und sich ohnehin nicht darf blicken lassen«, in seinen »Dienst«[19] nimmt.

Diesem engagierten Bemühen um eine materialistische Position entspringt dann bald 30 Jahre später Benjamins Aktualität und Attraktivität für die deutsche Studentenbewegung. Auf der Suche nach dem Ausweg aus der gesellschaftspolitischen Aporie der Adornoschen »Kritischen Theorie« und noch nicht bei Marx selbst angelangt, fungierte Benjamin zweitweilig wie ein Übergangsobjekt, das weit mehr als Adornos Gesellschafts- bzw. Kulturkritik an radikalen marxistischen Konsequenzen festhielt und damit immer wieder auf die originäre Rezeption der Marxschen Theorie verwies.

Die damals einsetzende intensive Rekonstruktion der Marxschen Theorie scheint mittlerweile Benjamins theologisch vermittelten Erneuerungsversuch zum puren historischen Dokument und damit obsolet gemacht zu haben. Von da aus gesehen könnte man Kittsteiner zustimmen, wenn er heute - die Zeit des studentischen Aufbruches rekapitulierend - lapidar formuliert: »Walter Benjamin schien über ein Wissen zu verfügen, wie in einer solchen Konstellation Geschichte zu denken sei. Das machte ihn wichtig. Mit dem Fortgang der Marx-Aneignung in der sich auflösenden Studentenbewegung wurden die Grenzen Benjamins deutlich ... Anstatt weiterhin nach einem marxistischen Benjamin zu fahnden, begannen wir Marx zu lesen«.[20]

[20] Kittsteiner, aaO., s. 39, Anm.

[21]  These XII

[22]  These XVI

[23]  These VIII

Wer bei Benjamin nur Marx sucht, ist auf der falschen Spur bzw. hat recht, wenn er sich von ihm abwendet und zum Original greift. Doch, daß bei Benjamin äußerlich relativ wenig von Marx bzw. so viel Nicht-Marxsches zu finden ist, heißt noch lange nicht, daß die von ihm entwickelten Gedankengänge un-marxistisch oder un-materialistisch sind. Die oberflächliche Fixierung auf Marxsche (17) Begrifflichkeit und Thematik verstellt den Blick auf die eigenständige und für die materialistische Theorie überaus relevante Problematisierung des Geschichtsbegriffs durch Benjamin. Und diese ist umso bedeutungsvoller, als sie ihr zentrales Interesse auf die Klärung der Ursachen ausgerichtet hat, die den Historischen Materialismus nicht nur am Faschismus haben scheitern lassen. Es handelt sich dabei um Ursachen, die ihn auch heute noch immer wieder auf die Verliererstraße bringen und die, scheinbar ungebrochen in ihrer sabotierenden Dynamik, die »unterdrückte Klasse«[21] von ihrer historischen Aufgabe, das bestehende »Kontinuum« einer entfremdeten menschlichen Geschichte endgültig »aufzusprengen«[22], ablenken. Das Resultat dieser Ablenkung ist die geschichtliche »Katastrophe«, in der der »Ausnahmezustand« die »Regel«[23] ist.

Die Preisgabe bzw; der Verlust des Prinzips der Revolution - auf theoretischer wie praktischer Ebene - zu Gunsten linearer, additiver Geschichtsvorstellungen und die Regression auf deterministisch-autonomistische Fortschrittsmodelle, in denen die Menschen entmündigt und ihres geschichtskonstitutiven Selbstbewußtseins ebenso entfremdet werden wie der daraus resultierenden selbstverantwortlichen Geschichtspraxis, kennzeichnen die Schlüsselstellen, an denen Benjamins Beweisführung immer wieder Kritik und Rekonstruktion durchführt. Dabei dienen ihm vor allem die Begriffe der »Zeit«, der »Vergangenheit«, des »Fortschritts«, der »Arbeit«, der »Technik«, der »Natur« etc, dazu, an ihnen genau die Punkte zu markieren, an denen sie ideologisch korrumpiert werden können bzw. an denen sich ihre materialistische Wahrheit entscheidet.

Korrumpierungen wie sie dem Historischen Materialismus aus Benjamins Sicht vor allem von zwei Geschichts- bzw. Gesellschaftskonzeptionen drohen: Von der historistischen und von der sozialdemokratischen.

Historismus wie Sozialdemokratie sind für Benjamin Umschlagstellen der Ideologie und in beiden macht er exemplarische Fehlerquellen dingfest, die damals wie heute den Historischen Materialismus um seine geschichtliche Funktion und Kraft bringen, wenn sie in ihn einzudringen vermögen. Den Historischen Materialismus gegen derartige - passive wie aktive Unterwanderungen - zu immunisieren, ist deshalb eines der wichtigsten Ziele der theoretischen Anstrengungen Benjamins, und diese Immunisierung ist heute nicht weniger notwendig als zu seinen Lebzeiten.

Die heutige gesellschaftliche Situation in Deutschland ist gewiß nicht die faschistische, in der Benjamin seine Thesen geschrieben hat und dennoch ähneln sich beide in einem wichtigen Punkt: Damals wie heute scheint das bestehende und scheinbar krisenfest etablierte gesellschaftliche »Kontinuum« unüberschreitbare quasi natürliche Qualität angenommen und kraft seiner konformistischen »Ho-(18)mogenität« systemabweichende bzw. gar marxistische Alternativen von vornherein zur illusionären Traumtänzerei verurteilt zu haben. Die mühevolle Rekonstruktion marxistischer Positionen im Anschluß an die Studentenbewegung - getragen von einer verschwindenden intellektuellen Minderheit - sieht sich mit einer immer unverholneren und unbehinderter durchgeführten Restauration reaktionär-konservativer Theorie und Praxis konfrontiert, unter deren Druck nicht nur weiteres linkes Engagement prinzipiell be- und verhindert wird, sondern linkes Bewußtsein, soweit es sich im letzten Jahrzehnt herausbilden konnte, immer mehr in den Sog der Anpassung gerät und oft in freiwilliger Selbstzensur gesellschaftskritische, oder wie Benjamin sagt, »kontinuumssprengende« Prinzipien über Bord wirft. Die heute grassierende bedingungslose Verpflichtung auf »Grundgesetz« und sog. »freiheitlich demokratische Grundordnung«, als seien es letzthinige und »homogene Kontinuen«, die es nur noch additiv auszustatten und fortzuführen gilt, hat ein politisches Klima geschaffen, in dem - trotz einiger marxistischer Enklaven vornehmlich unter der Studentenschaft - die »Gefahr« für die revolutionär-materialistische Überlieferung fast so groß geworden ist wie zu Benjamins Lebzeiten.

Umso bedeutungsvoller und vorbildlicher ist der eigenständige und einsame Versuch Benjamins, einen Historischen Materialismus zu rekonstruieren, der es »ohne weiteres mit jedem aufnehmen« kann. Nicht nur, weil sein Schaffen von jener politischen Moral und intellektuellen Integrität getragen ist, die umso wegweisender und unerläßlicher ist, je »konformistischer« bzw. »katastrophischer« die Zeitläufte sind, sondern weil es ein Wissen bereitstellt, das gerade auch der linken Bewegung die Elemente liefert, die sie vor der Gefahr revisionistischer Abgleitung und resignativer Anpassung bewahren kann. Die Rekapitulation von zentralen Marxschen Grundsätzen, die Freilegung und Rückgewinnung vor- bzw. nicht-marxscher materialistisch-revolutionärer Traditionen, die radikale Kritik undialektisch-positivistischer Theorien, die radikale Problematisierung auch der marxistischen Fortschrittskonzeption und die materialistische Integration jüdisch-«messianischer« Vorstellungen, deren enorme anti-konformistische Sprengkraft Benjamin für den Historischen Materialismus freisetzt, machen die Thesen »Über den Begriff der Geschichte« zu einem Hohlspiegel, dessen gebündelten Strahlen noch in jede Dunkelheit Licht zu bringen vermögen. Man muß sich seiner jedoch zu bedienen wissen.

[24] These XIII

[25] In der Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur war Vollständigkeit nie intendiert. Sie erfolgte hauptsächlich entlang der Punkte, die meine Interpretation als die Schlüsselstellen verstand, an denen sich das materialistische Schicksal der Thesen entscheidet. Dabei nimmt die Auseinandersetzung mit der von Adorno inspirierten Tradition der Abwertung der Thesen, was ihren materialistisch-revolutionären Anspruch betrifft, den größten Raum ein; ich halte sie für das größte Hindernis für eine produktive und weiterführende Integration der Thesen in den Rahmen marxistischer Theorie und Praxis. (Während man bei der konventionell-bürgerlichen Rezeption und ihrer Einstellung dem revolutionären Intellektuellen Benjamin gegenüber von vornherein weiß, woran man ist, befindet man sich mit den aufgeklärten »kritischen Theoretikern« der Adorno-Nachfolge auf recht trickreichem Gelände. Sie erwecken nämlich den Eindruck, als argumentierten sie mit Benjamin vom selben, solidarischen Standpunkt aus. Dem ist jedoch nicht so. Und das macht diese Richtung der Benjamin-Forschung ebenso einflußreich wie, gelinde gesagt, problematisch). Wie die Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Kritik sich größtenteils auf einen ihrer exemplarischsten Vertreter beschränkt, den Germanisten G. Kaiser, so findet auch eine Würdigung der Sekundärliteratur, in der m. E. die Sache Benjamins adäquat und einsichtsvoll vertreten wird, nur in wenigen Fällen ausdrücklich statt. Dem eingeweihten Leser wird nicht entgehen, wo ich meine Überlegungen Vorläufern verdanke, ohne die meine Arbeit nicht möglich gewesen wäre. Denjenigen, die sich in der Rezeptionsströmung stehend empfunden haben, die vor allem mit den beiden »alternative«-Heften eingeleitet wurde, gilt mein Dank. Ein erhebliches Quantum an Übereinstimmung jedoch entspringt dem gemeinsamen Gegenstand selbst.

Benjamins Versuch der Erstellung eines materialistischen Begriffs der Geschichte harrt immer noch der endgültigen und unverfälschten Integration in den Rahmen der aktuellen Bemühungen, die das Ziel verfolgen, über die Rekonstruktion der originären Gedanken und Analysen von Marx wieder zu einer Geschichtspraxis zu gelangen, die mit gesellschaftlich produzierter Entfremdung fertig werden kann. Selbstverständlich ist dieser generelle Kampf nicht ohne den speziellen gegen die kapitalistische Ökonomie zu denken; Benjamin ließ daran keinen Zweifel. (19)

Ein Verzicht der ernstzunehmenden marxistischen Bewegung, sich mit ihm auseinanderzusetzen und doch nach seinem Materialismus zu »fahnden«, hieße, »die Sehne der besten Kraft«[24] zu durchschneiden, die sich innerhalb der Tradition eines nicht-revisionistischen Materialismus gebildet hatte.[25] (20)

 

I. Theologischer »Zwerg« und materialistische »Puppe«: Benjamins Projekt einer theologischen Erneuerung des Historischen Materialismus

Walter Benjamins Thesen »Über den Begriff der Geschichte« beginnen mit einem auf den ersten Blick irritierenden und der spontanen Interpretation unzugängigen Vergleich. Erzählt wird von einem Schachautomaten, der jede Partie zu seinen Gunsten entscheiden konnte. Als vermeintlicher Akteur saß vor dem Brett eine »Puppe«, eine Täuschung jedoch verheimlichte, daß unter dem Spieltisch ein »buckliger Zwerg«, ein »Meister im Schachspiel«, hockte und »die Hand der Puppe an Schnüren lenkte«.

»Zu dieser Apparatur kann man sich ein Gegenstück in der Philosophie vorstellen. Gewinnen soll immer die Puppe, die man ‘historischen Materialismus‘ nennt. Sie kann es ohne weiteres mit jedem aufnehmen, wenn sie die Theologie in ihren Dienst nimmt, die heute bekanntlich klein und häßlich ist und sich ohnehin nicht darf blicken lassen.« (Th. 1)

Auch wenn sich dieser Passus erst nach der vollständigen Interpretation aller anderen Thesen ganz aufklären lassen wird, kann man hier dennoch schon feststellen: Benjamin nimmt explizit auf den »historischen Materialismus« Bezug und setzt ihn in ein Verhältnis zur »Theologie« - wobei sich noch zeigen muß, was unter beiden Begriffen zu verstehen ist. Diese »Theologie« tritt in zweifacher und paradoxer Funktion auf: Einerseits scheint sie in Wahrheit die Fäden des Geschehens in der Hand zu halten, während sie selbst jedoch gleichzeitig verborgen bleiben muß, bzw. nur vermittelt über die Gestalt der »Puppe« - genannt »historischer Materialismus« - sichtbare Kontur und Einfluß gewinnen kann. Andererseits aber soll dieselbe »Theologie« nun wiederum vom »historischen Materialismus« in den »Dienst« genommen werden, um ihm dadurch die Garantie des permanenten Gewinnens zu versichern.

Dies Paradox läßt sich m.E. nur lösen, wenn man es nicht fallenläßt, bzw. es in eindimensionale Widerspruchslosigkeit zu überführen versucht. Das im Bild des Schachautomaten festgehaltene paradoxe Verhältnis von »Theologie« und »historischem Materialismus« legt die Einschätzung nahe, daß es weder die Puppe »historischer Materialismus« ohne den Zwerg »Theologie« schaffen kann, siegreich zu sein, noch in umgekehrter Weise der Zwerg »Theologie« ohne die Puppe »historischer Materialismus«. Beide scheinen sich zu benötigen, jedoch - und dies eröffnet m.E. erst den Weg in ein echtes Verständnis der 1. These - unter dem Aspekt ihrer wechselseitigen Beeinflussung, Veränderung und Ent-(21) wicklung; denn daß sie wie im Schachautomaten aufeinander bezogen sind, gibt deutliche Auskunft über den Stand ihrer Beschränktheit bzw. Begrenztheit, die auf eine Lösung hindrängt, bzw. eine solche durchaus - und gerade in der scheinbar so paradoxen Verschränktheit - bereithält.

[26] Genau diesem Fehler verfällt G. Kaiser in exemplarischer Weise, wenn er die Eröffnung des Generalthemas im Schachautomaten-Gleichnis bereits als dessen Lösung festschreiben will: »Diese Theologie, die als Ingenium den Apparat des Historischen Materialismus in Bewegung setzt, ist der historische Materialismus, von dem in den folgenden Thesen die Rede ist - der Wirkliche und Wahre, der vom historischen Materialisten repräsentiert wird«. (Gerhard Kaiser, Benjamins »Geschichtsphilosophische Thesen«, in: ders.: Benjamin. Adorno. Zwei Studien, Frankfurt 1974, S. 17). Kaiser ebnet alle produktive Problematik ein, die im Gleichnis der 1. These enthalten ist und verhindert von Anfang an jegliche Einsicht, daß die Verschränkung von Zwerg und Puppe im Durchgang durch die weiteren Thesen zu etwas zu führen hat, was mehr ist als die vorausgesetzten Elemente, einzeln oder als Summe.

[27] In einer Variante zur 1. These heißt es: »Gewinnen soll, wenn es nach mir geht die Türkenpuppe, die bei den Philosophen Materialismus heißt.« (GS 1, 3, S. 1247, Ben-Arch, Ms 466v).

[28] Greffrath hat auf diesen so wichtigen Sachverhalt mit der nötigen Bestimmtheit hingewiesen: »Der Historische Materialismus steht in Anführungsstrichen: Man ‘nennt‘ die Puppe ‘Historischen Materialismus‘. Sie ist es nicht, zumindest ist sie nicht die Theorie des historischen Materialismus, der in den Thesen ohne Anführungsstriche genannt wird.« (Krista R. Greffrath, Der historische Materialist als dialektischer Historiker, in: Materialien, aaO., S. 206) Nur wenn man diesen Sachverhalt berücksichtigt, gewinnt man den richtigen Zugang zu den folgenden Thesen als einer Rekonstruktion und Entwicklung von etwas, was in der ersten These nur im Gleichnis der Verzerrung ins Bild kommen kann.

Beide, Zwerg und Puppe, befinden sich ganz offensichtlich in entfremdeter, verdinglichter und unfreier Gestalt. Das Mißverständnis der 1. These und dann auch notwendigerweise der folgenden, setzt hier unmittelbar ein, wenn man diese Unfertigkeit und Verstümmelung im Schachautomaten-Gleichnis unterschlägt und bereits hier nach einer endgültigen Fixierung des Verhältnisses und des lnhaltes von »Theologie« und »historischem Materialismus« fahndet.[26] Die 1. These präsentiert die zu bewältigende Aufgabe, die offensichtlich nicht durch die pure Addition von »Theologie« und »historischem Materialismus« eingelöst werden kann, sondern durch einen weit komplexeren Prozeß, in dem berücksichtigt wird, daß beide Elemente selbst unter mehr oder minder starker Verkrüppelung und Beschränktheit zu leiden haben. Diese finden in der Figur der »Puppe« oder des »Zwerges« ihren sinnlichen Ausdruck.

Das Projekt der Verschränkung von Theologie und Historischem Materialismus hat jedoch - und das läßt sich hier bereits mit großer Sicherheit sagen - eine klar umrissene und einstimmige Zielrichtung: Benjamin formuliert eindeutig, daß es ihm darum geht, dem »historischen Materialismus« eine Dimension zurück- oder dazuzugewinnen, die ihm abhanden gekommen ist oder die ihm schon ursprünglich gefehlt hat. Für ihn, und das ist auch sein intimstes persönliches Interesse[27] , soll der »historische Materialismus« wieder oder endlich oder endgültig zu einer Kraft werden, die »es ohne weiteres mit jedem aufnehmen« kann.

So besteht ein Gefälle zwischen »historischem Materialismus« und »Theologie«. Der »Theologie« fällt die Aufgabe zu, den »historischen Materialismus« aus seiner verdinglichten und unlebendigen Puppenhaftigkeit zu befreien und ihn seiner Erneuerung zuzuführen. Nicht seine Abschaffung oder Ersetzung (22) durch die »Theologie« steht zur Debatte, sondern der Prozeß seiner Rekonstruktion als der theoretischen und praktischen Instanz, die dem, was man »menschliche Geschichte« nennt, wirklich gewachsen ist. Dieser rekonstruierte historische Materialismus wäre dann weder »Puppe«, noch müßte er, wie in der 1. These, als Begriff auftreten, der mit Anführungszeichen versehen werden muß.[28] (23)

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