Christoph Hering  (Verlag Peter Lang, Frankfurt 1983):

Die Rekonstruktion der Revolution.

Walter Benjamins messianischer Materialismus in den Thesen »Über den Begriff der Geschichte« ( 1 2 3 4 5 6 )

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Inhalt

  1. Vorwort
  2. Einleitung
  3. Theologischer »Zwerg« und Materialistische »Puppe«:
    Benjamins Projekt einer theologischen Erneuerung des Historischen Materialismus
  4. »Vergangenheit« und »Erlösung«: Zur »messianischen« Verantwortung der Gegenwart
    1. Der Anspruch der Vergangenheit auf »Erlösung«
    2. Exkurs: Benjamin und Marx 1
    3. »Materialistischer« und »historistischer« Umgang mit der Vergangenheit
    4. Die »Gegenwart« des Faschismus:
      Extremster und konsequentester Ausdruck prinzipieller geschichtlicher Entfremdung
  5. »Paradies« und »Sündenfall«: zur prinzipiellen Entfremdung des geschichtlichen Fortschreitens …
    1. Die Aporie des »Engels der Geschichte«
    2. Die Fundierung des Fortschrittsbegriffs in der »Idee der Katastrophe«
    3. Exkurs: Benjamin und Marx II
  6. »Sozialdemokratie« und »Klassenkampf«: Die Revision des Historischen Materialismus
    1. Die sozialdemokratische Verfälschung zentraler Marxscher Begriffe
    2. Die Entmündigung d. Proletariats als revolutionärer Klasse
    3. Exkurs: Benjamin und Adorno
    4. Die Ersetzung materialistischer Dialektik durch positivistisch- naturwissenschaftliche Eindimensionalität
    5. Exkurs: Historischer Materialismus und messianische Theologie
  7. »Kontinuum« und »Revolution«: Die Rekonstruktion geschichtlicher Gegenwart
    1. »Jetztzeit« statt »homogene und leere Zeit«
    2. Der »Tigersprung ins Vergangene« als Zurückgewinnung verschütteter »jetztzeitiger« Vergangenheit
    3. Exkurs: Fortschritt und Revolution
    4. Die Rekonstruktion von klassenkämpferischem »Kalender« und »kontinuumssprengender« Identität
    5. Gegenwart als »stillgestellte« Zeit bzw. materialistische Besonderheit statt historistische Abstraktion
    6. »Monadische« Vergangenheit und »jetztzeitige« Gegenwart
    7. Exkurs: Zur »Monade«
  8. »Theologie« Und »Historischer Materialismus«: Die menschliche Geschichte unter dem Aspekt ihrer »messianischen« Revolutionierbarkeit
    1. »Messianische« Radikalität und »richtiges Leben«
    2. Exkurs: Materialisierte Theologie
    3. Die »Messianisierung« des Historischen Materialismus
    4. Der »Dienst« der Theologie oder die Materialisierung des »Messianismus«
  9. Nachwort
  10. Bibliographie
  11. Ausführliches Inhaltsverzeichnis

 

V. »Kontinuum« und »Revolution«: die Rekonstruktion geschichtlicher Gegenwart

1.  »Jetztzeit« statt »homogene und leere Zeit«

a) Geschichte als »Konstruktion von Jetztzeit«

Hatte Benjamin in den vorausgegangenen Thesen herausgearbeitet, daß die Vorstellung, die »Menschheit« selbst würde einen permanenten und automatischen »Fortschritt« durchmachen, ideologischen Analogisierungen geschuldet war, so entwirft er jetzt in der XIV. These einen Begriff von Geschichte, der auf die oben kritisierten Vorstellungen von Fortschritt vollständig verzichtet

»Die Geschichte ist Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die homogene und leere Zeit sondern die von Jetztzeit erfüllte bildet«. (These XIV)

[103] K. Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie, S. 22.

[104] ibid

[105] Daß »Konstruktion« nichts mit Willkür zu tun hat und daß ihr »konstruktives Prinzip« Gütezeichen der materialistischen Methode ist, wird weiter unten entwickelt.

Mit der »Jetztzeit« führt Benjamin einen Begriff ein, der es ihm ermöglichen soll, das oben kritisierte Modell eines geschichtlichen Fortschreitens zu korrigieren und den Schnittpunkt der Koordinaten zu fixieren, innerhalb derer ein neuer, d.h. richtiger Begriff von Geschichte entwickelt werden kann. Diese Fixierung einer solchen »theoretischen Armatur« (These XVII) ist für ihn umso nötiger, als er »Geschichte« ausdrücklich als »Gegenstand einer Konstruktion« verstanden wissen will und sich damit entschieden Vorstellungen einer Identität von unmittelbarer Wahrnehmung und Wahrheit verweigert. Benjamins Begriff der »Konstruktion« zielt auf eine Vorstellung von Erkenntnis ab, die in bestimmten Aspekten durchaus der von Marx vergleichbar ist, wenn dieser das »Ganze« als ein »Produkt des denkenden Kopfes«[103] bezeichnet und damit die richtige Reproduktion der »konkreten Totalität als Gedankentotalität, als Gedankenkonkretum«[104] von der richtigen Methode geistiger Arbeit abhängig macht. Die »Konstruktion« bezeichnet damit eine Vorgehensweise, die den etablierten Prozeß falscher positivistischer Abstraktion vermeiden will und den objektivistischen Schein oberflächlicher Empirie und unmittelbar »einleuchtender« Wahrheiten aufhebt.[105] (107)

Gleichzeitig jedoch betont Benjamin, daß diese »Konstruktion« nur dann ihre erkenntnistheoretische Aufgabe erfüllt, wenn sie ihren Gegenstand als »Jetzt-zeit« versteht und konstruiert, bzw. wenn sie ihn aus dem konformistischen Rahmen »homogene(r) und leere(r) Zeit« herauszulösen imstande ist und ihn »aus dem Kontmuum der Geschichte heraussprengt«.

Diese Vorgehensweise, Geschichte unter dem Aspekt von »Jetztzeit« zu »konstruieren«, führt Benjamin im folgenden am Beispiel Robespierres bzw. der Französischen Revolution vor Augen:

»So war für Robespierre das antike Rom eine mit Jetztzeit geladene Vergangenheit, die er aus dem Kontinuum der Geschichte heraussprengte«. (These XIV)

Robespierres Identifikation mit den römischen Volkstribunen bzw. der anti-aristokratischen römischen Republik darf für Benjamin nicht schlichtweg als äußerliche, nostaligische Maskerade abgetan werden; und dasselbe gilt für den Sachverhalt, daß die Französische Revolution »sich als ein wiedergekehrtes Rom« (These XIV) verstand. In beiden Fällen signalisiert ihm diese Art der Geschichtsbehandlung einen »Gebrauch« der »Historie«, der sich radikal von museal-historischer Kontemplation unterscheidet. Das antike Rom liefert Robespierre nicht totes, vergangenes Historiendetail, sondern es präsentiert ihm ein hochaktuelles Interpretationsmuster, das ihm ermöglicht, den gegenwärtigen gesellschaftlich-geschichtlichen Prozeß aus seiner unübersichtlichen Komplexität zu befreien und ihn transparent zu machen. Das antike Rom »konstruiert« sich ihm als das, was in seiner eigenen französischen Realität an der Tagesordnung ist, und die gesellschaftlichen Widersprüche des ausgehenden 18. Jahrhunderts in Frankreich gewinnen im antiken Konflikt zwischen Aristokratie und Volkstribunen ihre interpretatorische Folie. Seiner »Konstruktion« liegt insofern das Prinzip »jetztzeitiger« Perspektive zu Grunde, als er - unter dem Druck eigener aktueller Erfahrung - das antike Rom als die revolutionäre Situation der französischen Gegenwart wiederaufleben läßt, wie er auch gleichzeitig damit dem antiken Rom das zurückgibt, was die Hofgeschichtsschreibung bzw. die historistisch orientierte Geschichtsbetrachtung an den Rand geschoben oder ganz eliminiert hatte: Den klassenkämpferisch revolutionären Kern seines gesellschaftlichen Fundaments.

Dieses Verfahren der Geschichtsbetrachtung scheint auf den ersten Blick den Gefahren falscher geschichtlicher Analogisierungen voll ausgeliefert zu sein. Man darf sich jedoch nicht vorschnell dazu verleiten lassen, das, was Benjamin hier an Robespierre vorführt, als pure geschichtsspekulative Willkür zu denunzieren und dieser Form der analogisierenden Annäherung von antikem Rom und modernem Frankreich jegliche objektive Erkenntnisfunktion abzusprechen. (108) Benjamin hat hier etwas anderes im Sinn, was sich eben von einer landläufigen Analogie deutlich unterscheidet.

b)  Vergangene und gegenwärtige »Jetztzeit«

[106] Robespierres Verfahren nähert sich offensichtlich dem Typus einer - für Benjamin vorbildlichen - »Geschichtswissenschaft ...‚ deren Gegenstand nicht von einem Knäuel purer Tatsächlichkeiten, sondern von der gezählten Gruppe von Fäden gebildet wird, die den Einschuß einer Vergangenheit in die Textur der Gegenwart darstellen. (Man würde fehl gehen, diesen Einschuß mit dem bloßen Kausalnexus gleichzusetzen. Er ist vielmehr ein durchaus dialektischer, und jahrhundertelang können Fäden verloren gewesen sein, die der aktuale Geschichtsverlauf sprunghaft und unscheinbar wieder aufgreift). Der geschichtliche Gegenstand, der der puren Faktizität enthoben ist, bedarf keiner ‘Würdigung‘. Denn er bietet nicht vage Analogien zur Aktualität, sondern konstituiert sich in der präzisen dialektischen Aufgabe, die ihr zu lösen obliegt.« (GS II, 2, S. 479).

[107] Dazu ausführlich die Interpretation der XVII. These weiter unten.

Wenn Benjamin in der II. These schrieb, es bestehe »eine geheime Verabredung zwischen den gewesenen Geschlechtern und unserem«, dann ist es diese Ahnung, der Robespierre in richtiger Weise nachgegangen ist und die Benjamin an ihm würdigt.[106] Besteht diese »geheime Verabredung« - wie oben entwickelt wurde - darin, daß sich die jeweils nachfolgenden Generationen des vergangenen gesellschaftlichen Leidens annehmen und dessen Abschaffung in gegenwärtiger Praxis betreiben, dann hat Robespierre in Benjamins Augen eben dies begriffen und der Gegenwart aufgebürdet, was sie als unversöhntes Erbe in sich trägt und in sich zu versöhnen hat.

Die Perspektive der »Jetztzeit« hat den Anspruch der Toten und ihres Leidens wieder ins Blickfeld gerückt und an der gegenwärtigen Geschichte das aufgedeckt, was in ihr der Abschaffung der Ursachen dieses Leidens immer noch im Wege steht.

Robespierre hat - wie im Ansatz die gesamte Französische Revolution - durch das Verfahren, die Moderne mit der Antike zu analogisieren und diese in ihrem unvollendeten Klassenkampf zwischen Aristokratie und Republikanern wieder auflebenzulassen, den falschen Schein der Abgeschlossenheit geschichtlicher Episoden durchschlagen; indem er an Unerledigtes anknüpfte und dessen Verlängerung bis in die Gegenwart wahrzunehmen begann, hatte er das scheinbar so lineare Fortschreiten der Geschichte zum »Stillstand« gebracht und der Vorstellung homogener Kontinuität im Ablauf der Menschengeschichte einen tiefen »Chok« erteilt.[107] Robespierres »Konstruktion« des antiken Rom aus dem Blickwinkel der »Jetztzeit« bzw. seine »Konstruktion« der französischen Gegenwart nach dem Muster antiker, ungelöster gesellschaftlicher Konflikte und Widersprüche, hatte der menschlichen Geschichte ihre prinzipielle Offenheit zurückge-(109)wonnen und menschlicher Praxis einen neuen, nicht-ontologischen Modus erkämpft. Was im verdinglichten »Kontinuum der Geschichte«, bzw. in der damit verbundenen Geschichtsvorstellung mundtot gemacht und begraben worden war, hatte Robespierre wieder »herausgesprengt« und in seiner revolutionären Sprengkraft dem gegenwärtigen Denken zur Verfügung gestellt. Nichts mehr an seiner Betrachtung der Historie ähnelt der Haltung des »verwöhnte(n) Müßiggängers im Garten des Wissens« (These XII) und dient der Aufstockung der Bildungsgüter bzw. der ideologischen Absicherung bestehender Herrschaftsverhältnisse. Alles zielt darauf ab, das in der menschlichen Geschichte eingeschlossene revolutionäre Potential wieder aufzuspüren, freizusetzen und in gegenwärtiger Praxis einzulösen. Die Betrachtung der Historie bildet hier das Fundament aktueller revolutionärer Gegenwart.

[108] Auch bei Baudelaire hat Benjamin an dessen »Korrespondenzen«-Technik diese Doppeltheit von »konstruktiver« Fähigkeit und beschränkter, weil undialektischer Struktur betont: »Die Korrespondenz zwischen Antike und Moderne ist die einzige konstruktive Geschichtskonzeption bei Baudelaire. Sie schloß eine dialektische mehr aus, als sie sie beinhaltet.« (GS 1,2, S. 678).

[109] Es gehört zu Benjamins wichtigsten Leistungen, den Blick für diese Form der Kritik innerhalb noch beschränkter Möglichkeiten geschärft und damit vieles gerettet zu haben, was dem vorschnellen und oberflächlichen Urteil als borniert, nicht-progressiv oder reaktionär erscheint. So hat sein Eintreten für die Methode der Analogisierung geschichtlicher Epochen ein Vorbild in seiner Rettung der Allegorie bei Baudelaire: Auch hier widersetzt er sich dem herrschenden Klischee und der etablierter Ästhetik geschuldeten Abwertung und entwickelt das »allegorische« Verfahren bei Baudelaire in seiner Funktion als ein subversives Mittel des Widerstandes und der Kritik: »Die Allegorie Baudelaires trägt ... die Spuren des Ingrimms, welcher von nöten war, um in diese Welt einzubrechen, ihre harmonischen Gebilde in Trümmer zu legen.«(GS 1, 2,S. 671). Hier wie dort geht es ihm darum, die Spuren antikonformistischen Denkens und revolutionärer Unterströmungen bis dorthin zu verfolgen, wo sie - fast unkenntlich geworden - im Gewande scheinbar total beschränkter Muster auftreten. Benjamin spricht in einem Brief an Scholem von seinem »Versuch, das Bild der Geschichte in den unscheinbarsten Fixierungen des Daseins, seinen Abfällen gleichsam festzuhalten«. (W.B.: Briefe, aaO., S. 685). Mit dieser Vorgehensweise gelingt es ihm immer wieder - vor allem auch gegen vulgärmaterialistische Verdikte über »bürgerliche« Denker als per se dekadente und reaktionäre - Ansätze zu retten und zu würdigen, deren spezifische Qualität zwar nicht über die Kraft und Eindeutigkeit »proletarischer Befreiungskämpfe« verfügt, dennoch aber eine eigentümliche »kontinuumssprengende« Potenz besitzt und diese gerade durch ihre Andersheit und Beschränktheit gezielt und sehr wirksam ins Spiel bringen kann. Benjamins Baudelaire-Kontroverse mit Brecht ist hierfür gutes Beispiel. (Siehe dazu vor allem auch: W.B., Fragment über Methodenfragen einer marxistischen Literaturanalyse, in: Kursbuch 20, Frankfurt 1970, S.1).

Das Bild des antiken Rom ist jedoch nicht schon deckungsgleich mit dem richtigen Bild vom Frankreich des 18. Jahrhunderts; es ersetzt nicht die originäre Analyse, aber es bereitet einer Vorstellung den Weg, auf deren Basis eine richtige Analyse erst erfolgen kann. Robespierres Verfahren der analogisierenden Geschichtsbetrachtung ist deshalb auch noch nicht das Verfahren, wie Benjamin es fordert; das anzunehmen wäre ein fatales Mißverständnis seiner materialistischen Intention. Was ihn an Robespierre fasziniert, ist der Umstand, daß in dessen »Gebrauch« der Geschichte sich Ansätze eines »konstruktiven« Prinzips erkennen lassen und daß damit »Geschichte« anfängt, eine neue Qualität zu bekommen. Auch wenn sein Verfahren des Aufspürens analogischer »Korrespondenzen« zwischen Antike und Moderne die erkenntnistheoretische Beschränktheit nicht verbergen kann[108] , so liegt ihr dennoch eine nicht-konventionelle Denkanstrengung zu Grunde, die deren Resultate gegen die herrschenden Klischees immunisiert. Indem Robespierre den Aspekt einer geschichtlichen Phase wieder ans Tageslicht befördert, der in seiner revolutionär-klassenkämpferischen Thematik weder der herrschenden aristokratischen Klasse noch deren Hofchronisten die Inhalte ihres Selbstverständnisses lieferte, hatte er »die Geschichte gegen den Strich« gebürstet (These VII) und die Tradition ideologischer Herrschaftslegitimation aufgesprengt. Die »Konstruktivität« seines Vorgehens, so beschränkt es sein mag, liegt für Benjamin in dessen »subversiver« Struktur, die den so Denkenden zum »Agenten« gegen die eigene Klasse werden läßt. Es fehlt dieser Methode noch der Zugang zur »dialektischen Konstruktion«, aber dennoch muß an ihr gewürdigt werden, daß sie im (110) Rahmen ihrer gesellschaftlich bedingten Beschränktheit sich der Fraglosigkeit etablierter Vorstellungen widersetzt.[109]

Dieser spezifischen Beschränktheit geht Benjamin im folgenden nach, erweist sie als prinzipielle Aporie und zeigt deren Lösung auf. (111)

 

2.  Der »Tigersprung ins Vergangene« als Zurückgewinnung verschütteter »jetztzeitiger« Vergangenheit

a) Der »modische« Umgang mit »jetztzeitiger« Vergangenheit

So sehr die Französische Revolution in ihrer Identifikation mit dem antiken Rom etwas Richtiges in der eigenen Gegenwart trifft, so problematisch bleibt im Grundsätzlichen ihre Methode des Zitierens (zumal im Übergang von Robespierres kompromißloser Radikalität zur nach-revolutionären Phase). Denn in ihr steckt die fatale Nähe zu einer Vorgehensweise, die wie kaum eine andere auf die Verschleierung und Idealisierung gesellschaftlicher Widersprüche eingeschworen ist: Die Französische Revolution - so Benjamins Einwand –

»zitierte das alte Rom genau so wie die Mode eine vergangene Tracht zitiert«. (These XIV)

Dieser Vergleich ist nicht abwegig: Aus Benjamins Sicht kommt der Mode ebenfalls das Verfahren und die Fähigkeit zu, (und darin ist sie durchaus der Robespierreschen »Konstruktion« und Aktualisierung der Vergangenheit als »Jetztzeit« vergleichbar), geschichtliche Tradition zu ihrem spezifischen Interesse zu machen, sie in bestimmten Aspekten neu aufleben zu lassen und sie damit aus einem scheinbar abgeschlossenen Kontinuum herauszusprengen:

»Die Mode hat die Witterung für das Aktuelle, wo immer es sich im Dickicht des Einst bewegt. Sie ist der Tigersprung ins Vergangene.« (These XIV)

Es ist für die Mode konstitutiv, daß sie die etablierten ästhetischen Normen unaufhörlich durchbricht und sich scheinbar immer wieder erneuert. Und es ist dies einer ihrer wesentlichsten Zwecke, die Permanenz von »letztem Schrei« und »Avantgardismus« zu garantieren und sie sieht sich dabei mit der Forderung konfrontiert, ihre Einfälle unablässig auf dem Laufenden zu halten. Dabei dient ihr das gesamte Arsenal der menschlichen Geschichte als ein grandioses Reservoir, dessen vergessene und durch den zeitlichen Abstand verfremdeten Details es ihr ermöglichen, der Gegenwart die Sensationen und exotischen Überraschungen zu liefern, die dieser dann den Eindruck ultra-modernistischer Fortschrittlichkeit verleihen. Der Rückgriff in die Geschichte ist also der Mode ein vertrautes und selbstverständliches Mittel und in ihren Maßstäben, nach denen sie aus dem geschichtlichen Angebot die Auswahl trifft, beweist sie - das ist Benjamins Gedanke - einen seltsamen Spürsinn für das, was ihrer eigenen Gegenwart als reale Tendenz zu Grunde liegt und was nach seiner adäquaten Staffage verlangt. [110] (112)

[110] »Die Mode ist die ewige Widerkehr des Neuen. Gibt es trotzdem gerade in der Mode Motive der Rettung?« (GS 1, 2, S. 677).

[111] Ein Studium der Modejournale würde mit Sicherheit erhebliche und aufschlußreichste Evidenz für Benjamins These ans Tageslicht befördern, daß die nostalgische Erneuerung vergangener Moden, - (der wohl geläufigste Trick der professionellen Modeproduzenten) -‚ enormen geschichtlichen Spürsinn enthalten kann. Das Anknüpfen an vergangene »Fäden« geschieht wohl immer dann, wenn diese Vergangenheit der aktuellen Gegenwart Bilder anbietet, in denen sie wittern kann, was in ihr selbst an der Tagesordnung ist. Jedoch, der modische Historiker wird die Revolution nur zitieren, wenn er dieses Zitat von jeglicher »kontinuumssprengenden« Energie anblösen kann. Das unterscheidet es vom unverkürzten und unzensierten Zitat, wie es Benjamin vom materialistischen Historiker erwartet.

Ohne Zweifel reflektiert der Trend der Mode - als bewußtlose Widerspiegelung - den sogenannten »Zeitgeist« und verleiht diesem mit Mustern und Versatzstücken aus den Bildern der Vergangenheit eine Kontur. Was die Mode aus dem Arsenal der Tradition herausschlägt, ist jedoch nur das, was der Gegenwart in ihrer kollektiv-unbewußten Intention eine Identifikation erlaubt, in der sie sich wiedererkennen kann. In diesem formalen Punkt hat die Mode sicher ihren spezifischen Zugang zur Aktualität und zur geforderten »Konstruktion« des Vergangenen als »Jetztzeit«. Aber gleichzeitig ist diese Aktualität von extremster Scheinhaftigkeit, denn ihr Erfolg und ihre Funktion bleibt nur dann gesichert, wenn die Identifikationsangebote, die sie aus der Tradition herausgesprengt hat, trotz ihrer scheinbar so provokatorischen Chokhaftigkeit angstfrei rezipiert werden können; sie dürfen von ihrer geschichtlichen Vorlage nur mehr das aufweisen, was sich der bruchlosen Ästhetisierung nicht versperrt und was den etablierten Verhältnissen nicht mehr an den Kragen geht.[111] (Bei Robespierre war durchaus noch gewährleistet, daß sein Zitat des revolutionären Roms die Verpflichtung zur revolutionären Tat im Frankreich des ausgehenden 18. Jährhunderts beinhaltete). Die Mode kann gar nicht anders als da, wo ihr Spürsinn das wirkliche Geschehen der Gegenwart in vergangenen Bildern aufstöbert, diesen Fünd aufzunehmen und ihn sofort in einen Gegenstand des Genusses und sein kritisches Potential in Schmuck zu verwandeln. Sie ist die im Sinne des Wortes eleganteste Methode, gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen den ästhetischen Schleier zu liefern und ihre »Witterung für das Aktuelle« steht ganz im Dienst der Idealisierung des »Ausnahmezustandes« als »Fortschritt des Menschengeschlechts«. Die Mode bewegt sich ausschließlich innerhalb eines konformistisch-affirmativen Rahmens und was sie erneuert und revolutioniert durch ihre »Witterung für das Aktuelle« ist immer schon die Fassade, hinter der sich die Sieger und die Herrschenden verbergen. Die Mode überwindet nirgends - obwohl sie sich unaufhörlich und hektisch bemüht, diesen Eindruck zu erwecken - die Schranken ihres gesellschaftlichen Fundaments, auf dem sie ihren reaktionären Avantgardismus entfalten kann[112] . (113)

[112] An Fuchs hat Benjamin als besondere Leistung gewürdigt, daß er nicht dem Fehler verfallen ist, »die Mode lediglich nach ästhetischen und erotischen Gesichtspunkten zu durchforschen. Seinem Auge ist ihre Rolle als Herrschaftsinstrument nicht

entgangen. Wie sie die feineren Unterschiede der Stände zum Ausdruck bringt, so wacht sie vor allem über die groben der Klassen«. Gemäß Benjamin gruppieren sich die entscheidenden Elemente der Mode bei Fuchs folgendermaßen: »Das erste wird von den ‘Interessen der Klassenscheidung‘ gebildet; das zweite stellt die ‘privatkapitalistische Produktionsweise‘, die ihre Absatzmöglichkeiten durch vielfachen Wechsel der Mode zu steigern sucht; an dritter Stelle sind ‘die erotisch stimulierenden Zwecke der Mode‘ nicht zu vergessen.« (GS II, 2, 498). Folgt man Benjamins Ausführungen zur Mode in den Thesen und deren Begrifflichkeit, dann muß als die vierte Funktion festgehalten werden, daß die Mode der immergleichen geschichtlichen »Katastrophe« den verklärenden Schein des »Immer-wieder-Neuen« zu verleihen hat.

[113] An anderer Stelle spricht Benjamin von der »Illusion« bzw. der »revisionsbedürftige((n)) Anschauung, die bürgerlichen Revolutionen stellten, so wie sie vom Bürgertum selbst gefeiert werden, den Stammbaum einer proletarischen dar.« (GS II, 2, S.493).

[114] Der Kampf der Bourgeoisie »gegen die gesellschaftlichen Rechte des Proletariats beginnt schon in der großen Revolution…«.(W.B., Illuminationen, Frankfurt 1961, S. 199).

Indem Benjamin die Verfahrensweise der Französischen Revolution mit der Mode in Beziehung setzt, hat er deren innersten Mangel konsequent bis in sein mögliches Extrem vorangetrieben und dadurch eine prinzipielle Problematik dieser Form des Zitierens aufgedeckt. So sehr das antike Rom bei Robespierre das Vorbild revolutionärer Theorie und Praxis abgeben konnte, so wenig war es gleichzeitig dagegen abgesichert, zum Lieferanten modischer Folien für selbstgefällige Verherrlichung und Legitimation neuer Herrschaft zu werden: Die Übergänge von revolutionärem zu modischem Zitat sind hier gleitend und der Grund dafür findet sich sowohl in der letztlich nicht mehr reflektierten Beschränktheit der gewählten Muster aus der Historie, wie auch in der noch nicht dialektischen Methode dieser Art des Vergangenheits«gebrauchs«.

Beschränkt ist diese Vorlage z.B. deshalb, weil das antike Bild des Konflikts zwischen Aristokratie und Republik darin seine Grenzen für die Erkenntnis hat, daß es als Lösung des Konflikts die Durchsetzung der republikanisch-bürgerlichen Gesellschaftsform als einzige Alternative vorschlägt und mit deren Sieg dann meint, einen unüberschreitbaren und quasi vollendeten Zustand gesellschaftlichen Gleichgewichts erreicht zu haben. Ein derartiges Muster verfügt nur - trotz seiner partiell revolutionären Dimension - über einen beschränkten Erkenntnishorizont: Denn es übersieht, daß das Problem der Abschaffung von Unterdrückung und Herrschaft - die ja die republikanisch-bürgerliche Revolution explizit zu verfolgen meint und auch teilweise wirklich verfolgt - mit der bürgerlichen Überwindung des Feudalismus nur einen Schritt gemacht hat, aber noch nicht den letzten und entscheidenden, der das Problem der grundsätzlichen Abschaffung von herrschenden Klassen überhaupt löst. Auch übersieht es natürlich, daß die bürgerliche Revolution nicht automatisch der proletarischen den Weg bereitet, sondern nach ihrer Vollendung in der bürgerlichen Gesellschaft eher zum hartnäckigsten Widersacher wird.[113] D. h.: Solange das Zitat der Vergangenheit nicht radikal die klassenlose Gesellschaft thematisiert bzw. solange es nur die begrenzte Funktion hat, einer unterdrückten Klasse die Identität zu borgen, bis sie dann selbst zur unterdrückenden geworden ist, wird es sich notwendigerweise vom revolutionären zum modischen Mittel korrumpieren lassen müssen. Denn (114) wo das revolutionäre Zitat aus der Vergangenheit nur einem partiellen Klasseninteresse zu Selbstverständnis und Sieg verhilft, - der bürgerliche Sieg in der Französischen Revolution besiegelt gleichzeitig mit der Niederlage der Aristokratie auch die zukünftige Unfreiheit der entstehenden proletarischen Klasse[114] - löst sich mit der erfolgreichen Revolution und der nunmehr gefestigten Position der neuen herrschenden Klasse automatisch dieses Zitat als ein revolutionäres, mit gesellschaftlicher Sprengkraft geladenes Erkenntnismittel auf und wird, falls es überhaupt noch existiert, zum Mittel der Ästhetisierung der neuen Herrschaft. Weil sein beschränkter Inhalt von der Realität der bürgerlichen Gesellschaft eingeholt wird, erblindet auch das Zitat gegenüber gesellschaftlichen Widersprüchen, die diesen bürgerlichen Rahmen übersteigen; seine Kraft als »konstruktives« Prinzip versiegt.

Der »Tigersprung ins Vergangene«, der bei Robespierre bzw. in der Französischen Revolution aus dem antiken Szenario noch revolutionäre »Jetztzeit« heraussprengen konnte, ereignet sich spätestens mit der Durchsetzung und Stabilisierung der bürgerlichen Herrschaft nur mehr unter der spezifischen Beschränkung, die für den »Tigersprung« der Mode schon immer fraglos war, bzw. ihr den günstigsten Nährboden garantiert. Er findet »in einer Arena statt, in der die herrschende Klasse kommandiert.« (These XIV)

Benjamin hebt diese Beschränkung auf, indem er die prinzipielle Bedeutung des »Tigersprungs ins Vergangene« klarstellt und ihn in seiner vollen materialistischen Valenz vorstellt:

»Derselbe Sprung unter dem freien Himmel der Geschichte ist der dialektische als den Marx die Revolution begriffen hat.« (These XIV)[115]   (115)

[115] Die Methode Benjamins, die revolutionären Elemente und Strömungen auch noch im groteskesten Gewand wahrzunehmen und in ihrer verborgenen Vorbildhaftigkeit zu entwickeln, kann sich direkt auf Marx berufen; und das umso mehr gerade in dieser XIV. These, wo sich seine Einschätzung der Französischen Revolution zwischen revolutionärer Kompromißlosigkeit und modischer Konformität bruchlos aus den Eingangspassagen von Marx‘ »Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte« herausentwickelt; auch die Motive des »Tigersprungs ins Vergangene« und der modischen Idealisierung sind dort bereits – wenn auch in anderen Worten – entwickelte Themen: »Die Tradition aller toter Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirn der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienst heraus, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen. So maskiert ...die Revolution von 1789-1814 sich abwechselnd als römische Republik und als römisches Kaisertum ... Bei Betrachtung jener weltgeschichtlichen Totenbeschwörung zeigt sich sofort ein springender Unterschied. Caxnille, Desmoulins, Danton, Robespierre, St. Just, Napoleon, die Heroen, wie die Parteien und die Masse der alten Französischen Revolution, vollbrachten in dem römischen Kostüme und mit römischen Phrasen die Aufgabe ihrer Zeit, die Entfesselung und Herstellung der modernen bürgerlichen Gesellschaft ... Die neue Gesellschaftsformation einmal hergestellt, verschwanden die vorsintflutlichen Kolosse und mit ihnen das wiederauferstandene Römertum ... die bürgerliche Gesellschaft in ihrer nüchternen Wirklichkeit hatte sich ihre wahren Dolmetscher und Sprachführer erzeugt in den Says, Cousins ... ihre wirklichen Heerführer saßen hinter dem Kontortisch ... Und ihre Gladiatoren fanden in den klassisch strengen Überlieferungen der römischen Republik die Ideale und die Kunstformen, die Selbsttäuschungen, deren sie bedurften, um den bürgerlich beschränkten Inhalt ihrer Kämpfe sich selbst zu verbergen und ihre Leidenschaft auf der Höhe der großen geschichtlichen Tragödie zu halten... Die Totenerweckung in jenen Revolutionen diente also dazu, die neuen Kämpfe zu verherrlichen, nicht die alten zu parodieren, die gegebene Aufgabe in der Phantasie zu übertreiben, nicht vor ihrer Lösung in der Wirklichkeit zurückzuflüchten, den Geist der Revolution wiederzufinden, nicht ihr Gespenst wieder umgehen zu machen.« (K. Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: MEW 8, Berlin 1969, S.115f.)

 

b) »Jetztzeitige« Gegenwart und Vergangenheit

[116] »Die Vergangenheit erschien ihr ein für allemal in die Scheuern der Gegenwart eingebracht; mochte die Zukunft Arbeit in Aussicht stellen, so doch die Gewißheit des Erntesegens.« (GS II, 2, S. 475)

[117] Es bringt Benjamin m.E. kaum in Widerspruch zur Marxschen Theorie - wie G. Kaiser meint (G.K., aaO., S. 42), daß er sich um die »Toten« kümmern will, Marx aber seine Ausführungen zur Funktion des Zitierens vergangener Episoden damit abschließt, daß er sagt: »Die früheren Revolutionen bedurften der weltgeschichtlichen Rückerinnerungen, um sich über ihren eigenen Inhalt zu betäuben. Die Revolution des neunzehnten Jahrhunderts muß die Toten ihre Toten begraben lassen, um bei ihrem eigenen Inhalt anzukommen« (Marx, Brumaire, aaO., S. 117). Hier eine Differenz zwischen Marx und Benjamin erkennen zu können, ist Resultat verkürzter bzw. allzu wortwörtlicher Interpretation: Denn dieses Resultat läßt sich nur konstatieren, wenn man Benjamins »Kümmern« um die Toten in äußerster Naivität als leibhaftige Wiedergutmachung an diesen selbst interpretieren will und es eben nicht - dem geistigen Niveau Benjamins entsprechend - als symbolisch-metaphorischen Ausdruck des dialektischen Wechselverhältnisses von Vergangenheit und Zukunft versteht. Gleichfalls wäre es in Bezug auf Marx ein fatales Mißverständnis, wenn man dessen Aussage als Plädoyer dafür verstehen wollte, vergangene Geschichte zu vergessen und das Heil in einer Zukunft zu suchen, die hinter sich die Brücken zur Vergangenheit total abgebrochen hat. Insofern gerade Marx die Gegenwart als Produkt widersprüchlicher vergangener gesellschaftlicher Praxis begriffen und theoretisch aufgearbeitet hat, und sich damit - wie Benjamin - dem positivistischen Modell purer Unmittelbarkeit versperrt, ist seine Theorie der exemplarische Fall für eine volle Berücksichtigung der Vergangenheit. Sein Verdikt gegen diese Art »weltgeschichtlicher Erinnerungen« zielt nicht auf Geschichtlichkeit als solche und widerspricht deshalb auch nicht der Benjaminschen Forderung, der vergangenen Geschichte ihr Recht zukommen zu lassen; sie deckt eher das ab, was Benjamin ebenfalls kritisch als die Gefahren einer Vergangenheitsbetrachtung herausarbeitet, die nicht »unter dem freien Himmel der Geschichte«, sondern in der »Arena« der Herrschenden erfolgt. Bei dieser Art der »Totenbe-schwörung« kommt die Gegenwart bei Benjamin ebensowenig wie bei Marx »bei ihrem eigenen Inhalt« an. Insofern Marxens Theorie gesättigt ist von vergangener Geschichte, deren Einsichten er in aktueller Theorie aufgehoben hat, gibt es auf dieser Ebene keine Differenz zu Benjamin: Denn dessen »Tigersprung ins Vergangene »unter dem freien Himmel der Geschichte«, beschreibt m.E. nichts anderes als eben dieses Einholen von Vergangenheit in die Aktualität von gegenwärtiger Theorie und Praxis. Für beide gehört damit zum unverzichtbaren Kern ihrer Konzepte, daß die Wendung in die Zukunft als eine Bewegung verstanden und ausgelegt werden muß, die aus einer von Vergangenheit gesättigten »jetztzeitigen« Gegenwart zu erfolgen hat. Andernfalls setzt sich diese Vergangenheit umso kryptischer und verheerender hinter dem Rücken der Menschen durch. Der Historische Materialismus ist immer dann in höchster Gefahr zur »Puppe« zu werden, wenn er dieser Einsicht verlustig geht. Benjamin hat diese Gefahr wie kein anderer erkannt.

[118] GS I, 2, S. 658

Benjamins Kritik sowohl am Historismus wie an der Sozialdemokratie kulminiert in der Einsicht, daß in deren Vorstellung von Geschichte sich längst deren Widerpart durchgesetzt hat: nämlich Geschichtslosigkeit. Die Argumentation in den vorhergegangenen Thesen lief darauf hinaus, diesen Verlust von echter Geschichtlichkeit an den pervertierten Konzepten von Fortschritt immer wieder vor Augen zu führen. Indem z.B. die Sozialdemokratie den Eindruck aufkommen ließ und ihn dann bis zum politischen Credo erweiterte, die gegenwärtige Bewegung der Geschichte sei in sich - dank der »neutralen« Kreativität von Wissenschaft und Technologie - bereits so in ihrer wesentlichen Struktur harmonisiert, daß man auf kritische Theorie verzichten und sich den etablierten Prozessen affirmativ bzw. reflexionslos anvertrauen könne[116] , hatte sie die Individuen von ihrer Tradition abgetrennt, die sowohl mit theoretischen wie praktischen Erfahrungen dem korrumpierten und ideologischen modernen Bild von Geschichte und Fortschritt Widerstand leisten würde. Dadurch, daß die Tradition bzw. die Erinnerung an die Vergangenheit gekappt worden war, und eine bestimmte historische Form des Fortschritts zur absoluten hypostasiert wurde, war dem Verständnis von Geschichte bzw. Gesellschaft die Dimension abhanden gekommen, die über die dialektische Kehrseite dieses gegenwärtigen Prozesses kritisch Auskunft geben und an den »Fortschritten der Naturbeherrschung« die »Rückschritte der Gesellschaft« dokumentieren könnte. Die euphorische Ausrichtung (116) an der Zukunft hatte den Menschen ihre Geschichte genommen; und im trügerischen Vertrauen darauf, daß die »Vergangenheit ... ein für allemal in die Scheuern der Gegenwart eingebracht« sei und damit vernachlässigt werden dürfe, hatte man die Menschheit umso auswegloser den Widersprüchen dieser Vergangenheit ausgeliefert, wie sie sich - jetzt jedoch theoretisch nicht mehr faßbar - der Gegenwart bis in deren innerste Schichten eingeprägt hatten.

Nur wer über seine Geschichte - sowohl die individuelle wie die allgemeine - verfügen kann, ist gegen die Gefahr abgesichert, von ihr vollständig übermannt zu werden und man muß es als eine der größten Leistungen Benjamins ansehen, die Herstellung bzw. Durchsetzung von unkatastrophischer, unentfremdeter menschlicher Geschichte unmißverständlich und ohne sich beirren zu lassen, als Bewältigung und Aufarbeitung von Vergangenheit fixiert zu haben. Er durchschlägt den Mythos der versöhnenden Zukunft, in dem vor allem auch der »historische Materialismus« in seiner Puppengestalt gefangen ist.[117] Denn allein da, wo das Bewußtsein der Gegenwart alle Fäden in der Hand hat, die in diese Gegenwart aus ihrer komplex-widersprüchlichen Vergangenheit eingesprengt sind, (117) vermag sich das aktuelle Handeln als Entfaltung des gesamten gegenwärtigen Aggregatzustandes zu organisieren.

Solange aus dem Bewußtsein der Gegenwart entscheidende Aspekte ihrer innersten Struktur verdrängt werden, und solange das Wissen um sie im Dunkel der Vergangenheit nur existiert, reproduziert jegliche Bewegung in die Zukunft nichts anderes als die »katastrophischen« Konsequenzen dieses entfremdeten Zustandes. Die Aufarbeitung der Vergangenheit ist nicht naive »Erlösung« der Vergangenheit im trivial-theologischen Sinn, sondern in ihr vollzieht sich die Befreiung der Gegenwart von ihren Dämonen. Eine Bewegung in die Zukunft, die der Vergangenheit den Rücken kehrt, ist illusionär und letztlich zum Scheitern verurteilt, denn sie meint, ihre realen Voraussetzungen überspielen oder umgehen zu können, indem sie sie einfach negiert: Der Fortschritt, der nicht aus einer von Vergangenheit gesättigten Gegenwart heraus erfolgt, kann nichts anderes erneuern als die alte gesellschaftliche Wunde einer ihrer Gegenwart nur partiell und ideologischen mächtigen Menschheit.

Das Anknüpfen an vergessene bzw. abgedrängte Traditionen holt jedoch nicht nur das ins gegenwärtige Bewußtsein herein, was in ihr kryptisch am Werk ist und unerkannt sein Unwesen treibt, sondern es führt die Menschen auch wieder an die Quellen heran, an denen Erfahrungen gesellschaftlicher Widersprüche und praktischer Gegenwehr sich gebildet hatten. Damit gewinnt das reduzierte Gegenwartsbewußtsein wieder Zugang zu komplexeren Erfahrungsmustern und insofern die Tradition gerade dort abgebrochen ist bzw. abgebrochen wurde, wo »revolutionäre ... Momente des Geschichtsverlaufs«[118] im Interesse der Herrschenden überdeckt werden sollten, entsteht in der Neuentdeckung dieser Quellen die erneute Möglichkeit, an Erfahrungen anzuknüpfen, in denen die gesellschaftliche Produziertheit des geschichtlichen Elends einsichtig und die Beseitigung deren Ursache als Aufgabe revolutionärer Praxis begriffen wurde. Vor diesem Hintergrund erhalten der »Tigersprung ins Vergangene« wie die von »Jetzt-zeit« erfüllte »Konstruktion« der ‘Geschichte ihre volle inhaltliche Schärfe. (118)

c)  Der materialistische »Tigersprung ins Vergangene«

[119] Gerade die gegenwärtige bundes-republikanische Situation ist zutiefst geprägt von den Merkmalen des Verlustes; ebenso jedoch auch von den angestrengten Versuchen, das Verloren-Gegangene zurückzugewinnen und zu rekonstruieren. So ist es die Leistung der Studenten-Bewegung gewesen, gegen den konformistischen Widerstand den Kontakt mit marxistischem Denken wiederhergestellt und damit eine Kluft überwunden zu haben, die gerade in Deutschland endgültig schien. Damit gelang es ihr, ins gegenwärtige Bewußtsein wieder ein Wissen einzuführen, das verschüttet war, gleichzeitig jedoch über die so vitalen Einsichten und Erfahrungen verfügte, mit deren Hilfe der Gegenwart ihr adäquates gesellschaftskritisches Selbstverständnis gegeben werden konnte: Durch diese Anknüpfung an Vergessenes oder Totgesagtes war es wieder möglich geworden, die Gegenwart als Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit zu entwickeln und deren Bild demokratischer Harmonie als ideologisches zu entlarven. Ebenso führt z.B. die Liste neuerer linker Publikationen mit großer Deutlichkeit vor Augen, wie ein nicht geringer Bestandteil der Rekonstruktions-Versuche von Klassen-Bewußtsein entlang der vergessenen und gewaltsam bzw. ideologisch abgebrochenen Tradition erfolgt: Die Aufarbeitung der Geschichte der Arbeiter-Bewegung, das Interesse für revolutionäre Aufstände, die in der herrschenden Historiographie bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt wurden, sind nur zwei wahllos herausgegriffene Beispiele für die Versuche, aus der vermeintlich so vergangenen Vergangenheit die Erfahrungen heraus zu schlagen, die der Gegenwart ihr vollständiges Bild wieder verleihen könnten.
Und um in Benjamins Beispiel des Zitierens von Vergangenheit zu bleiben: Es kennzeichnet durchaus den Vorgang eines »Tigersprungs ins Vergangene«, wenn vielen Beobachtern ebenso wie den Akteuren selbst die französische Mai-Revolte von 1968 als Neuinszenierung des Sturmes auf die Bastille erschien. Wenn auch im theatralischen Gewand der Vergangenheit, so stellte dieses Anknüpfen an frühere Revolution den Neubeginn eines Prozesses dar, in dem diese Vergangenheits-Beschwörung die Initialzündung abgab für die Erarbeitung eines fundierteren Wissens, durch das die Gegenwart »bei ihrem eigenen Inhalt« ankommen soll.

[120] Zur zentralen Kategorie der »Erfahrung«, die Benjamin als Korrektiv gegen das »Erlebnis« als entfremdete Form des Umganges mit der eigenen Geschichte verwendet, siehe weiter unten die Interpretation der XVI. These.

[121] Es gehört mit zu den zentralen Anliegen Benjamins, eben diese Bilder zukünftiger Freiheit auch als Erinnerungs-Fragmente zu dechiffrieren und auch in deren extremsten Verstümmelungen und ideologischen Beschränkungen diese heimliche Erinnerungs-Spur herrschaftsfreier, und d.h. für ihn immer »klassenloser« Gesellschaft aufzudecken: »Aber immer zitiert gerade die Moderne die Urgeschichte« (W.B., Illuminationen, S.196): »In dem Traum, in der jeder Epoche die ihr folgende in Bildern vor Augen tritt, erscheint die letztere vermählt mit Elementen der Urgeschichte, das heißt einer klassenlosen Gesellschaft«. (W.B., Illuminationen,S.187). Die »Urgeschichte« enthält wesentliche Züge paradiesischen, nicht-»katastrophischen« geschichtlichen Lebens: Sie ist ein gesellschaftlicher Zustand, der noch frei ist von den spezifischen Deformationen, die mit der Entfremdung der Produzenten von ihren Produktionsmitteln und der damit eingeleiteten klassenmäßigen Spaltung in ökonomische Herrscher und Beherrschte einhergehen. Die »klassenlose Urgeschichte« bzw. die »natur-wüchsige Stammesgemeinschaft« ist auch bei Marx ein wichtiges Thema, vor dessen Hintergrund er z.B. in den »Grundrissen« die wesentlichen ökonomischen Entfremdungs-Prozesse und Herrschafts-Formen heraus-arbeitet,die mit der kapitalistischen Produktions-Weise sich durchzusetzen begannen. (Vgl. dazu: Marx, Epochen ökonomischer Gesellschafts-Formation, in: Grundrisse, S. 375 -413).

»Tigersprung« und »Konstruktion« erweisen sich als komplementäre Bestandteile einer Bewegung: Wo der »Tigersprung ins Vergangene« an vergessene Erfahrungen anknüpft und diese aus der Verdrängung in die Gegenwart holt, erweist die »Konstruktion« dies anscheinend Vergangene als wesentlichen Bestandteil aktueller Gegenwart, der dieser nur entfremdet war. Der Benjaminschen »Konstruktion« ist es weder möglich, vergangene Anteile der Geschichte als abgekapselt-sinnhafte zu betrachten, die quasi folgenlos sind, noch vermag sie sich eine Vorstellung zu eigen zu machen, in der die Gegenwart so in sich harmonisiert erscheint, daß sie Vergangenheit vergessen und sich ausschließlich der Zukunft zuwenden darf. Dagegen garantiert die »Konstruktion« am Ort der »Jetztzeit«, daß die aus der Gegenwart verdrängten Anteile dieser wieder zugeführt werden, und daß damit die Gegenwart wieder potentiell in Besitz des kompletten Bildes ihrer heterogenen Realität gelangen kann. Mit der »Konstruktion« zielt Benjamin darauf ab, das zeitlich-vertikale Nacheinander der Geschichte in der horizontalen Ebene aktueller Gegenwart zu bündeln. Sie versammelt dort die verlorengegangene, verdrängte und unterdrückte Tradition des revolutionären Widerstandes gegen die geschichtliche »Katastrophe«.[119] (119)

So geht es darum, wieder eine »Erfahrung« mit der Geschichte ins Werk zu setzen, die deren kritische Wahrnehmungen und antikonformistische Impulse gegenüber Herrschaft, Unterdrückung und menschlichem Leiden nicht einfach als vergangene - weil zeitlich zurückliegend - abtut, sondern dieses Potential der gegenwärtigen Wahrnehmung zur Verfügung stellt und sie solange als unbestechliche Indikatoren beibehält, bis die Ursachen dieser Leidenserfahrungen auch in der Gegenwart beseitigt sind. Die Erinnerung an das Leiden - festgehalten im »Bild der geknechteten Vorfahren« (These XII) - ist es, die den Blick für den realen Zustand von Unversöhntheit oder Wiedergutmachung schärft, und eben nicht die Aussicht in eine glücksverheißende Zukunft - vorgestellt im »Ideal der befreiten Enkel« (ibid.), deren rosige Prophetie die Widersprüche bereits geglättet hat, bevor sie in ihrem ganzen Ausmaß zur Wahrnehmung kommen können. Allein die Berücksichtigung und Einbeziehung dieser vergangenen »Erfahrungen‚in denen die gesellschaftlichen Brüche ihren ausgeprägtesten und unverfälschten Ausdruck gefunden haben, liefern das Instrumentarium, die Gegenwart anders zu verstehen, als deren ideologisch und herrschaftslegitimatorisch abgesicherte Oberfläche es nahelegt.[120]

Der »Tigersprung ins Vergangene« öffnet jedoch eine noch weitere Dimension; das auf den ersten Blick so konservativ-nostaligische Diktum von Karl Kraus, das Benjamin seiner XIV. These vorangestellt hat, verweist sehr eindringlich darauf. Wenn in diesem Motto gesagt wird, »Ursprung ist das Ziel«, so könnte man fast meinen, Benjamin habe sich hier einem Konzept angeschlossen, das - kulturpessimistischen Strömungen entstammend - die radikalen Umwälzungen der Neuzeit ängstlich nur mit der fluchtartigen Bewegung zurück zu den vermeintlich reinen Quellen paradiesischen Anfangs beantworten konnte. Eine derartige Interpretation wäre jedoch ein Mißverständnis, denn wie so oft verwandeln sich scheinbar nicht progressive Zitate innerhalb der spezifischen Argumentation, in die sie Benjamin einläßt, unversehens in Schlaglichter und enthüllen ihre heimliche Wahrheit.

Ist für Benjamin die Bewegung in die Zukunft als Aufarbeitung vergangener bzw. gegenwärtiger Widersprüche - und zwar explizit gesellschaftlicher - zu verstehen, dann beinhaltet diese Forderung die Frage nach dem inneren Maßstab dieses Vorgehens: Das Erkennen und die Auflösung dieser Widersprüche impliziert einen korrektiven Erfahrungshorizont, vor dem diese Widersprüche erst als solche wahrgenommen werden können und der gleichzeitig den Rahmen bestimmt, innerhalb dessen die Lösung projektiert werden kann. Hier setzt Benjamins spezifische Argumentation an: Insofern die aus dem konformistischen Geschichtsbewußtsein verdrängten »Erfahrungen« gerade Dokumente revolutionärer Theorie und Praxis sind, manifestiert sich in ihnen vor allem ein Bewußtsein, das gesellschaftliche Herrschaft als Leidensursache empfindet und (120) aus der Entschlossenheit heraus agiert, eben diese Herrschaft deswegen abzuschaffen. Damit ist dieses Bewußtsein jedoch in letzter Konsequenz immer schon von einem Bild totaler Herrschaftslosigkeit legiert, wobei dieser Zustand für Benjamin nicht nur zukünftige Dimension besitzt, sondern auf elementarster Ebene einer vergangenen menschheitsgeschichtlichen »Erfahrung« entspricht: Im Widerstand gegen Herrschaft organisiert sich für Benjamin nicht nur das erdachte Bild zukünftiger Freiheit, sondern in ihm reorganisierte sich in ebenso großem Maße die erfahrene Unentfremdetheit der klassenlosen Urgeschichte.[121]

d) Die Dialektik von »Tigersprung ins Vergangene »und aktueller Revolution

Der »Tigersprung ins Vergangene« stöbert nicht nur die Daten des Widerstandes auf, sondern er liefert damit auch gleichzeitig ein Potential, aus dem Bilder und Vorstellungen von Klassenlosigkeit herauszulösen sind und als richtige gesellschaftliche Lösungsvorschläge zu Bewußtsein gebracht werden müssen: Das, was dort vielleicht nur »Witterung« war, wird erst später als der zutreffende revolutionäre Inhalt entschlüsselt und ernst genommen. Und diese verschüttete Wahrheit vermag ihre innerste Konsequenz zu entfalten und unkorrumpiert konstituierender Bestandteil gegenwärtiger Geschichte zu werden, wenn das Verfahren ihrer Bergung aus der Vergangenheit die Öffnung der gegenwärtigen Geschichte hin zur revolutionären impliziert. Denn es ist für Benjamin allein die »Revolution«, die der »katastrophischen« Geschichtsbewegung Einhalt gebieten und sie wieder mit den menschlichen Qualitäten des antikonformistischen Widerstandes ausstatten kann: Denn nur dann, wenn dieser »Tigersprung ins Vergangene« als der »dialektische« Sprung unter dem freien Himmel der Geschichte ...‚ als den (121) Marx die Revolution begriffen hat« erfolgt und eben nicht in der »Arena«, »in der die herrschende Klasse kommandiert«, findet die menschliche Geschichte zu sich selbst, weil das »Subjekt historischer Erkenntnis« zu sich selbst findet und bei seinem eigentlichen Inhalt ankommt.

[122] GS I, 2, S. 658.

Diese »revolutionäre« Lösung Benjamins ist ebenso konsequent wie schlüssig: Indem der »Tigersprung ins Vergangene« zu den »Stellen« zurückkehrt, »an denen ((der Konformismus)) die Überlieferung abbricht« und die Erfahrungen der »revolutionären Momente des Geschichtsverlaufes«[122] aus dem Geschichtsbewußtsein zu tilgen beginnt, knüpft er an die Tradition des aktiven Kampfes um die Beseitigung von Klassenherrschaft an. Damit erwächst dem gegenwärtigen Bewußtsein wieder die fundamentale Einsicht in ein unerledigtes Kapitel der menschlichen Geschichte, dessen Unerledigtheit im Vergangenen die Katastrophe der Gegenwart begründet und festschreibt. Der erneute Anschluß an die vergessene klassenkämpferische Tradition impliziert die kompromißlose Wiederaufnahme dieses »revolutionären« Themas in der Gegenwart.[123]

[123] Tiedemann bringt alles durcheinander: »Aber weder ist dieser Sprung ein dialektischer, noch hat Marx die Revolution so begriffen. Für Marx gibt es keinen ‘freien‘ Himmel der Geschichte, Geschichte ist ihm ‘Geschichte der sich entwickelnden und von jeder neuen Generation übernommenen Produktivkräfte und damit die Geschichte der Entwicklung der Kräfte der Individuen selbst‘. - Benjamin ist in den geschichtsphilosophischen Thesen im Begriff, den Sprung aus dem historischen Materialismus heraus in jenen politischen Messianismus zu tun, in dem sich gar nichts mehr tun läßt.« (Tiedemann, Materialien, S. 110). Man könnte meinen, Benjamin spricht vom »leeren Himmel«, anstatt vom »freien«; d.h. die Ökonomie- bzw. Gesellschaftslosigkeit, in deren Nähe Tiedemann den Benjaminschen Text zu rücken versucht, kann man nur verstehen, wenn man dieser Verwechslung zustimmt. Zentraler Gegenstand der Kritik Benjamins ist nicht der Sachverhalt, der im obigen Marxzitat enthalten ist, sondern der Umstand, daß er in seiner vulgär-materialistischen Fassung dazu herhalten muß, der Ideologie zur Verbreitung und Geltung zu verhelfen, es gäbe innerhalb dieser geschichtlichen Entwicklung der Produktivkräfte und Individuen einen Automatismus, der garantiere, daß sich die Geschichte unaufhaltsam und unter stetiger Vervollkommnung zum erlösten Zustand der klassenlosen Gesellschaft hinentwickle. (Daß es in diesen Konzepten den Gedanken des Scheiterns nicht mehr gibt, macht sie zu so gefährlichen).

Geschichte wird unter diesen Bedingungen nur mehr in der Form affirmativer Absicherung und Absegnung bestehender Herrschaft verhandelt, nicht mehr jedoch unter dem Gesichtspunkt ihrer revolutionären Elemente, die den etablierten Fortschritt als »Katastrophe« ausweisen und ihm praktischen Widerstand entgegensetzen könnten. Das Bewußtsein der Menschen bewegt sich hier innerhalb der »Arena ...‚ in der die herrschende Klasse kommandiert«, es kommt darauf an, diese Herrschaft zu brechen und den Umgang mit der Geschichte wieder so zu gestalten, daß die Menschen zu echten »Subjekten« werden, die mit den gegebenen Bedingungen unter dem Gesichtspunkt ihrer Befreiung von entfremdeten und entfremdenden Zwängen umgehen und nicht unter dem Gesichtspunkt der Selbst-Verwertung des Wertes.

Zweitens ist Tiedemanns Bemerkung die Dialektik des »Sprunges« betreffend nicht weniger verständnislos. Denn wenn Benjamin die Errichtung unentfremdeter gesellschaftlicher Verhältnisse davon abhängig macht, daß die Gegenwart die unabgeschlossenen Konflikte der Vergangenheit - denen das Leiden entspringt - ins Bewußtsein hebt und deren herrschaftsbedingte Ursachen im aktiv geführten Klassenkampf aufhebt, dann wird man diesem Wechselverhältnis von aufgearbeiteter Vergangenheit und erlösender Gegenwart das Prädikat des »dialektischen Sprungs« kaum verwehren können. Die Herstellung der Zukunft allein unter der Bedingung der gelungenen Aufarbeitung der Vergangenheit. Man kann kaum den Beweis führen, daß Marx mit dieser Formulierung nicht auch einverstanden hätte sein können. Zumindest sollte man von seinem Begriff der Revolution erwarten, daß er den Benjaminschen Gedankengang ebenfalls als unverzichtbaren Bestandteil sicherstellt und miteinbezieht. Im negativen Fall müßte man m.E. der Benjaminschen Konzeption den unbedingten Vorzug geben, denn sie vermeidet mit größtmöglicher Sicherheit die abwegige und fatale Illusion, man könnte gesellschaftliches Glück in der Zukunft herbeiführen, ohne die Ursachen der vergangenen gesellschaftlichen Leiden eingesehen und beseitigt zu haben. Eine Illusion, die bis heute den größten Teil sozialutopischen Denkens verschiedenster Provenienz im festen Griff hält. Was Tiedemann Benjamin vorwirft, trifft ihn nicht, läßt sich aber mit Leichtigkeit und großem Erfolg auf Tiedemanns eigene Methode anwenden: Sie erstellt einen Argumentations- und Beweisgang, in dem sich nun wirklich -  (für Benjamin) - »gar nichts mehr tun läßt«; denn in ihm ist sein originärer Gedanke schlechtweg nicht mehr gegenwärtig. Tiedemann treibt sich innerhalb der von ihm selbst produzierten Widersprüche und künstlichen Problematisierungen herum.

Die Erneuerung dieses Themas ist für Benjamin also nicht nur als sympathetisches Verstehen des vergangenen Kampfes zu denken, sondern der Anlaß zu diesem Kampf in der Vergangenheit um die Beseitigung von Herrschaft muß als unvermindert aktueller ins Bewußtsein der gegenwärtigen Generation gehoben werden; d. h. es geht darum, am vergangenen Konflikt die grundsätzliche Einsicht freizusetzen, daß dessen wahres Thema der Kampf gegen Klassenherrschaft bzw. für Klassenlosigkeit ist und daß dieser Kampf bis heute weder abgeschlossen noch gar gewonnen ist. Diese Einsicht herzustellen ist vorrangige Aufgabe der »Konstruktion«. Am vergangenen geschichtlichen Konflikt schlägt sie die grundlegende Struktur heraus, deren Merkmale die Gegenwart immer noch aufweist: Hier wie dort ist das Problem der Beseitigung von Klassenherrschaft nicht gelöst und deswegen läßt sich auch die Vergangenheit - und nur so - als »Jetztzeit« konstruieren. Die »Konstruktion« destruiert das fatale Nacheinander zeitlich abgeschlossener geschichtlicher Details und organisiert die Gegenwart als das komplexe Resultat unabgeschlossener geschichtlicher Momente, deren Inhalt dem Vergessen und damit der totgeschwiegenen Geschichte wieder entrissen werden muß.

[124] Die »Rettung« der Vergangenheit findet statt, wenn sich die Gegenwart deren Opfer und Leiden innerhalb des aktiv geführten, »jetztzeitigen« Kampfes um die prinzipielle Abschaffung ihrer gesellschaftlichen Ursachen annimmt. Deshalb halte ich Greffraths Position hier für falsch: »..das..Konzept des konstruktiven Zusammenschlusses von Vergangenheit und Gegenwart, aus dem das Unterdrückte als Gerettetes hervorgehen soll, ist keines der politischen Praxis; die Figur der Rettung ist nicht die Figur der Revolution.« (Greffrath, S. 221).

Daran schließt unmittelbar an, daß die Wiederaufnahme des unerledigten Themas in der Gegenwart nicht innerhalb des jeweils vorfindlichen gesellschaftlich-geschichtlichen Rahmens seiner radikalen Einsicht entsprechend eingelöst werden kann: Denn dieser etablierte Rahmen ist selbst in seiner Klassenstruktur die verdinglichte Negation dieser Wahrheit. Die vom »Tigersprung ins Vergangene« ans (122) Tageslicht beförderte Erkenntnis verlangt nach einer Haltung, die ihre eigenen gesellschaftlichen Voraussetzungen angreift und deren falsche Kontinuität aufsprengt: Es ist dies die Haltung der »Revolution«[124]

Die Versuche, die verschütteten geschichtlichen Wahrheiten einfach der Gegenwart als addierbare Bereicherungen zuzuschlagen haben für Benjamin längst deren kritischen Kern erneut verwässert und aus dem revolutionären Thema ein modisches gemacht. Denn wo das verdrängte historische Detail die Erfahrung des Widerstandes gegen Klassenherrschaft festhält, der vorbildhaft wäre für die Gegenwart, ist Integration in einen Rahmen, der selbst noch von Klassenherrschaft gekennzeichnet ist, ein so nicht lösbares Paradox: Sie »gelingt« nur um den Preis der Korruption der geschichtlichen Wahrheit.

[125] Aktuellstes Beispiel für diesen Mechanismus schamlosester Korrumpierung und Ausbeutung gese1lschaftskritischer Inhalte zum Nutzen etablierter Herrschafts-Verhältnisse offeriert in Fülle die »integrative« bundesrepublikanische Entwicklung nach der Studentenbewegung: Längst ist die Studentenbewegung mit ihren spezifischen Praktiken und Erscheinungsformen, die originär explizit an antikonformistische bzw. antikapitalistische Inhalte gebunden waren, daraufhin durchforstet worden, was an ihnen »integrierbar« ist, und d. h. verwertbar im Sinne profitorientierter Ökonomie. Bis in konservativste Bereiche hinein lassen sich die Impulse der damaligen Revolte verfolgen und scheinbar reibungslos wurde mittlerweile »integriert«, was noch vor wenigen Jahren gesellschaftlichen Verfall, Anarchie und »rote Gefahr« signalisierte. Dies ist jedoch nur möglich, weil die Impulse, mit denen die Studentenbewegung wieder an revolutionäre Traditionen anschloß, im allgemeinen Bewußtsein von ihrer radikalkritischen Konsequenz getrennt wurden und jetzt risikolos aneigenbar sind. Längst auch erscheinen Lebensformen und -vorstellungen, die sich der antikonformistischen Kreativität der Studentenbewegung verdanken, als Leistung kontinuierlicher herrschender Politik und ein Bewußtsein, daß sie in Wirklichkeit Resultate antikonformistischer Kämpfe und persönlicher Leiden waren, existiert bis auf vereinzelte Ausnahmen nicht mehr. Die »Integration« revolutionärer Impulse und Wahrheiten in etablierte gesellschaftliche Verhältnisse ist gleichbedeutend mit der Korrumpierung ihrer geschichtlichen Wahrheit und die Phase nach der Studentenbewegung ist auch – soweit sie nicht übergegangen ist in kontinuierliche und seriöse Rezeption der Marxschen Theorie – ein Lehrstück über die Unmöglichkeit evolutionärer Durchsetzung revolutionärer Inhalte. Was übriggeblieben ist, ist nichts anderes als ein modisch-revolutionäres Outfit.

[126] Trotz dessen unübersehbarer individuellen und politischen Problematik verfügt er - und das ist hier für Benjamin von exemplarischer Bedeutung - in all seinen Vorstellungen noch über eine unkorrumpierte Ahnung von herrschaftsfreier bzw. klassenloser Gesellschaft und bleibt damit dem prinzipiellen geschichtlichen Konflikt unbeirrbar auf der Spur.

Eine solche Form der Integration führt automatisch dazu - und das ist vom Standpunkt der »Sieger« ein durchaus gewünschter Effekt, daß der antikonformistisch-revolutionäre Inhalt unterschlagen und von seinen Symbolen und Erscheinungsformen abgetrennt wird. Diese können dann jedoch ohne Mühe, weil auch folgenlos, von der siegreichen Klasse dazu verwendet werden, ihrer Herrschaft das Aussehen permanenter und kühnster Revolutionierung zu verleihen, ohne im geringsten die bestehenden Herrschafts- und Eigentumsverhältnisse in Frage stellen oder gar antasten zu müssen. Und wo die revolutionäre Symbolik nicht zur  Ideologieproduktion herhalten muß, bemächtigt sich ihrer die unmittelbare Ökonomie und spannt sie dazu ein, die Waren als Inbegriff von Fortschritt und Freiheit erscheinen zu lassen.[125] (124)

Diesen Vorgang des Aufspürens vergessener revolutionärer Erfahrungen, ihrer adäquaten Umsetzung und ihrer Korrumpierung hat Benjamin am Beispiel Robespierres und der Französischen Revolution vorgeführt: So beschreibt der Übergang vom radikalen Revolutionär Robespierre[126] zur siegreichen bürgerlichen Revolution die dann ihre »Heerführer hinter dem Kontortisch« sucht, genau diese korrumpierende Verwandlung eines revolutionären Inhalts in ein modisches Element. Während Robespierre noch darauf insistiert, die revolutionäre klassen-kämpferische Konsequenz des antiken Vorbildes ohne falsche Zugeständnisse als französische »Jetztzeit« zu »konstruieren«, und sie gegen jegliche Form gesellschaftlicher Herrschaft durchzusetzen, eliminiert das etablierte Bürgertum unmittelbar mit seinem Sieg diese - auch gegen sie selbst gerichteten - kritischen Momente und läßt das vom »Tigersprung ins Vergangene« ans Tageslicht gebrachte Detail nur mehr in dem Aspekt gelten, mit dem sie ihre eigene neue Herrschaft modisch verschleiern konnte.

Das gleiche Problem der Preisgabe eines kompromißlosen Begriffes von Klassenlosigkeit und der daraus resultierenden »katastrophischen« Konsequenz hat Benjamin im Auge, wenn er die sozialdemokratische Revision der revolutionären Marxschen Theorie einer vernichtenden Kritik unterzieht: In dem Augenblick, als die Sozialdemokratie der Illusion nachgibt, sich auf harmonischem gesellschaftlichen Boden zu befinden und damit die Marxschen Forderungen auf integrativ-revolutionärem Weg innerhalb etablierter Verhältnisse meinte durchsetzen zu können, hatte sie der Kollaboration mit kapitalistischer Klassenherrschaft und »katastrophischem« Geschichtsverlauf den Weg bereitet. Das Integrations-Modell zwingt auch die Sozialdemokratie, ihrer eigenen klassenkämpferischen Tradition die revolutionären Inhalte zu entziehen und dementsprechend auch die gesamte vergangene Geschichte, aus der Robespierre und Marx noch den revolutionären Funken herausschlugen, zum Gegenstand »kultureller« Erbauung und Bildung zu (125) pervertieren.[127] In dieser Form läßt sich vergangene geschichtliche Erfahrung der konformistischen Gegenwart nach dem Vorbild der Schatzhortung umstandslos dazuaddieren und in dieser Form erinnert auch nichts mehr an ihre antikonformistisch-revolutionäre Wahrheit. (126)

[127] Benjamin unterzieht die »Bildungsarbeit« bzw. die Vorstellung von massenhafter Aufklärung innerhalb der Sozialdemokratie im Fuchs-Aufsatz einer ausführlichen Kritik. (GS II, 2, S. 472 - 475). Sie hält fest, daß »das Problem der ‘Popularisierung der Wissenschaft‘ ... nicht gelöst worden ((ist)).. Man konnte auch der Lösung nicht näherkommen, solange man sich das Objekt dieser Bildungsarbeit als ‘Publikum‘ statt als Klasse dachte. Wäre die Klasse visiert worden, so hätte die Bildungsarbeit der Partei niemals die enge Fühlung mit den wissenschaftlichen Aufgaben des historischen Materialismus verlieren können. Der historische Stoff wäre, umgepflügt von der marxistischen Dialektik, ein Boden geworden, in dem der Same, den die Gegenwart in ihn warf, hätte aufgehen können. Das geschah nicht. Der Parole ‘Arbeit und Bildung‘, unter der die staatsfrommen Vereine von Schultze-Delitsch die Arbeiterbildung betrieben hatten, stellte die Sozialdemokratie die Parole ‘Wissen ist Macht‘ entgegen. Aber sie durchschaute nicht deren Doppelsinn. Sie meinte, das gleiche Wissen, das die Herrschaft der Bourgeoisie über das Proletariat befestige, werde das Proletariat befähigen, von dieser Herrschaft sich zu befreien. In Wirklichkeit war ein Wissen, das ohne Zugang zur Praxis war und das das Proletariat als Klasse über seine Lage nichts lehren konnte, ungefährlich für dessen ‘Unterdrücker. Das galt von dem geisteswissenschaftlichen ganz besonders. Es lag weit von der Ökonomie ab; es blieb von deren Umwälzung unberührt. Man begnügte sich, in seiner Behandlung ‘anzuregen‘, ‘Abwechslung zu bieten‘, ‘zu interessieren‘. Man lockerte die Geschichte auf und erhielt die ‘Kulturgeschichte‘ (472f).

 

Exkurs: Fortschritt und Revolution

Für Benjamin stellt sich geschichtlicher Fortschritt nur in der revolutionären Negation etablierter Verhältnisse her und dieser Fortschritt ist auch erst dann mit dem Gelingen menschlicher Geschichte verknüpft, wenn in ihm die verlorengegangenen »Fäden« des Geschichtsablaufes wieder aufgenommen und in ihrer revolutionären Konsequenz weitergesponnen werden. Menschliche Geschichte kann in Benjamins Augen nur dann zu sich selbst kommen, wenn sich die Menschen ihrer auch wirklich bemächtigt haben und das bedeutet - wie oben ausführlich entwickelt, daß sie Herrn werden über ihre eigene Vergangenheit und deren unerlöste Momente in die Gegenwart hereinholen. Die Gegenwart als komplexe Totalität der gesamten Geschichte zu organisieren, verlangt jedoch nach der richtigen Methode, und die Beispiele Robespierres bzw. der Französischen Revolution in der XIV. These oder die Kritik am sozialdemokratischen Umgang mit Geschichte markieren die Grenzlinien zwischen wahr und falsch: Kennzeichnet der »Tigersprung ins Vergangene« die unabdingbare Voraussetzung für die Rückgewinnung der eigenen Geschichte, so entscheidet über dessen Wahrheit, ob er als modischer in der »Arena«, »in der die herrschende Klasse kommandiert«, stattfindet, oder als dialektischer »unter dem freien Himmel der Geschichte«. Und darin ist Benjamin unmißverständlich: Seiner Geschichte sich zu bemächtigen und ihrer selbstbewußt Herr zu werden, bedeutet, in ihr die ungelösten Konflikte aufzustöbern und deren Lösung auf die Tagesordnung zu setzen. Und insofern diese ungelösten Konflikte die des unvollendeten Kampfes um die klassenlose Gesellschaft sind, leitet diese aus der Vergangenheit herausgeschlagene Erfahrung die »Herbeiführung des wirklichen Ausnahmezustandes« ein, den Benjamin in der VIII. These gefordert hatte; dieser »wirkliche Ausnahmezustand« ist der aktuelle Klassenkampf bzw. die Revolution.

[128] Die Nähe des Benjaminschen Modells einer versöhnten Geschichte zur psychoanalytischen Theorie der Neurosenverursachung bzw. -heilung ist sicher nicht zufällig oder äußerlich: Gerade auf Benjamins Schaffen nach 1930 gewinnt nachweislich die Theorie Freuds einen immer größeren Einfluß; vgl. dazu z.B. den Komplex des »Choks« im »Reproduzierbarkeits«-Aufsatz und in »Über einige Motive bei Baudelaire«. Die Freudsche Vorstellung, daß der Mensch nur dann »ich« sagen könne, wenn er ohne Verdrängung und Abspaltung über seine eigene psychische Biographie verfüge, bzw. seine Therapievorstellung, durch die »Regression« in die Vergangenheit deren Konflikte wieder ans Tageslicht zu holen und die dort gebundene Energie der Gegenwart wieder zur Verfügung zu stellen, war für Benjamin zumindest eine Bestätigung seiner eigenen Vorstellung von versöhnter menschlicher Geschichte. Sowohl bei Freud wie auch bei Benjamin fordert der Begriff der Zukunft bzw. des Fortschritts die Bewältigung der Vergangenheit; andernfalls reproduziert die Bewegung in die Zukunft nichts anderes als die vergangenen Traumata, bzw. die »Katastrophe«. 

[129] So liefert z.B. gerade das gänzliche Fehlen von Revolution den entscheidenden Interpretationsschlüssel für die scheinbar so ontologische Ausweglosigkeit der IX. These. Die Ohnmacht und das Scheitern des Engels reden keiner depressiven Geschichtsontologie das Wort, sondern sie fixieren genau die Leerstellen, die der historische Materialist erklären und schließen muß: Was im Folgenden dann geschieht. Denn indem Benjamin in der »katastrophischen« Bewegung der Geschichte deren konkrete gesellschaftliche Gestalt dechiffriert – nämlich die spezifische Form ökonomischen Fortschritts, kann er dann in den folgenden Thesen im Durchgang durch die Kritik revisionistischer Gesellschaftsvorstellungen dem tiefsten Anliegen des Engels - der »Rettung« - ihre materialistische Grundlage und Wirklichkeit entwickeln.

Die Bewegung des Fortschritts kann damit für Benjamin unter den bestehenden geschichtlichen Voraussetzungen niemals die lineare der kontinuierlichen Ausgestaltung und Ausstattung eines bereits vorfindlichen gesellschaftlichen Rahmens sein - die Resultate dieser Vorgehensweise enden in der modischen Verschleierung und Ästhetisierung der »Katastrophe«. Die Einsicht in die vergangene Geschichte ergänzt nicht die Gegenwart, sondern sie sprengt deren versteinerte Identität auf und reorganisiert, indem sie der verdrängten, unversöhnten Vergangenheit Raum zur Darstellung ihres grundlegenden Konfliktes gibt, das geschichtliche Fundament von Grund auf[128] . (127)

Damit hat Benjamin endgültig den etablierten Fortschrittsbegriff, sofern er sich ausschließlich an einer Vorstellung von evolutionörer und automatischer Weiterentwicklung und Perfektionierung orientiert, destruiert und durch ein Geschichtsbild ersetzt, in dem auch die materialistischen Tugenden wieder unbehindert ihre volle Kraft entfalten können, die bei Marx bereits den höchsten Grad an Formulierung und Gültigkeit erreicht hatten: Wie bei diesem stellt sich im Benjaminschen Konzept geschichtliche Wahrheit ebenfalls wieder nur dort her, wo sie als »Konstruktion« gegen einen entfremdeten gesellschaftlichen Zusammenhang errichtet wird und als konkrete »Jetztzeit« aus diesem heraussprengt, was ihm als »messianisch«-erlösende Möglichkeit innewohnt. Damit jedoch hat Benjamin nichts geringeres als die Revolution zurückgewonnen. Und es wird vollends einsichtig, daß in seinen Überlegungen zum Begriff der Geschichte die Revolution - sowohl in theoretischer wie in praktischer Hinsicht - der archimedische Punkt ist, von dem ausgehend Geschichte unter dem Gesichtspunkt ihres Gelingens oder Mißlingens beurteilbar wird. Fast alle Thesen thematisieren deshalb in der einen oder anderen Weise immer wieder Verlust und Rekonstruktion des Begriffes der Revolution.[129]

Deren positive Rekonstruktion beginnt Benjamin in dieser hier ausführlich interpretierten These und der darin entwickelte Gegensatz von »modischem« und »dialektischem« Sprung weist deutlich den erkenntnistheoretischen wie praktischen Weg: Es geht um die Herstellung eines Bewußtseins, das begriffen hat, daß Fortschritt in der menschlichen Geschichte unter den bestehenden Verhältnissen (128) nur als dialektische Destruktion der etablierten Kontinuität und nicht als deren affirmative Perpetuierung und Erweiterung herzustellen ist.[130] (129)

[130] Der Begriff der »Destruktion« darf nicht mißverstanden werden. Er steht nie für blinde und totale Zerstörung, wie ein oberflächlicher Sprachgebrauch nahelegen könnte. Bei Benjamin erfüllt er höchst komplexe und subtile Funktionen, von deren gelungener Einsetzung die Erarbeitung und Durchsetzung der (positiven) Synthese abhängt; und Benjamin versteht sich hier in ungebrochener Tradition mit Hegel, Marx und Engels. So spricht er u.a. vom »destruktive((n)) Moment, das das dialektische Denken wie die Erfahrung des Dialektikers als authentische sicherstellt« (GS II, 2, S. 478) und stellt in verschiedenen Zusammenhängen klar, daß Authentizität des Denkens bzw. die darin garantierte Wahrheit nur unter der Bedingung zu haben ist, daß sie aus einem falschen Kontinuum »herausgesprengt« wird bzw. im Widerstand gegen die Übermacht eines ideologischen Systems, das in der Regel bereits den Anschein von Natur angenommen hat. Allein die »destruktive Kraft des Gedankens« – bei Marx und Engels noch ungebrochen – verfügt über die Möglichkeit, »das Jahrhundert in die Schranken zu fordern« (GS II, 2, S. 481); (was unmittelbar einschließt, daß nicht-«destruktive« Denkweisen im oben beschriebenen Sinn auf affirmative und letztlich unkritische Identifikation mit dem Vorgegebenen angewiesen sind). Nimmt man noch die Bestimmung hinzu, daß »dialektisch eindringen ... entlarven« (GS III, S. 220) heißt und daß Benjamin Hegels Aussage, die »eristische Dialektik« betreffend, bestätigend zitiert, daß sie »‘in die Kraft des Gegners eingeht, um ihn von innen her zu vernichten‘« (GS II, 2, S. 481), dann bekommt die »Destruktion« in Benjamins Gedankenführung ihre präzise Bedeutung zugewiesen. Allein sie macht es möglich, daß die denkenden und handelnden Subjekte sich nicht an ein falsches Allgemeines verlieren und dieses als letzthin nicht mehr übersteigbaren geschichtlichen Zustand akzeptieren müssen; was in Benjamins Augen gleichbedeutend wäre mit dem Verzicht auf echte geschichtliche Wahrheit. Denn erst wenn »das Kontinuum der Geschichte«, so wie wir es vorfinden, dialektisch »aufgesprengt« wird, ergibt sich aus bzw. in dieser »Destruktion« die Möglichkeit, dem immer schon existierenden »messianischen« Element zum Durchbruch zu verhelfen und dieses, in seiner materialistischen Gestalt der »Revolution«, gegen die Klassenherrschaft und gegen den geschichtlichen Entfremdungszusammenhang ins Feld zu führen. Das »destruktive« Element immunisiert gegen die Gefahr der unkritischen Anpassung; im Akt der Zerstörung vernichtet es nicht Geschichte, sondern befreit diese aus ihrer »katastrophischen« Gefangenschaft.

 

3)  Die Rekonstruktion von klassenkämpferischem »Kalender« und »kontinuumssprengender« Identität

a)   »Kontinuumssprengende« Aktion und anti-ontologisches Geschichtsbewußtsein

Benjamin zielt darauf ab, die Inhalte revolutionärer Erfahrung, wie sie in der Geschichte immer wieder zum Durchbruch kommen und gleichzeitig immer wieder ins Vergessen gedrängt werden, zum permanenten und gegenwärtig verfügbaren Wissen zu bündeln; er will wieder an einen Zustand heranführen und diesen zum aktuellen »jetztzeitigen« Selbstbewußtsein erheben, der sich bisher nur innerhalb revolutionärer Phasen herstellte - und dann auch nur sporadisch und kurzfristig. Die hier enthaltene spontane Erfahrung, ein Geschichtskontinuum »aufzusprengen«, soll zur allgemeinen Theorie erhoben werden; ihr exemplarisches Vorbild findet sich in der höchsten Anspannung revolutionären Handelns:

»Das Bewußtsein, das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen, ist den revolutionären Klassen im Augenblick ihrer Aktion eigentümlich.« (These XV)

[131] These XVI.

Dieses Bewußtsein ist für Benjamin deshalb so entscheidend, weil sich in ihm die Erfahrung bildet, ein zeitliches Kontinuum, das bisher den Anschein schicksalhafter Unabwendbarkeit und Notwendigkeit hatte, zum »Stillstand«[131] bringen und durch einen qualitativ neuen Zustand von aktuellster Gegenwart ersetzen zu müssen und zu können, in dem die Unmittelbarkeit revolutionärer Praxis alles bedeutet und ohne Rest in dem aufgeht, was menschliche Geschichte ist. Denn in der revolutionären »Aktion«, die das etablierte »Kontinuum der Geschichte« aufsprengt, wirft die »kämpfende, unterdrückte Klasse« - (wie mit ihr letztlich die gesamte Menschheit und sei es auch nur für einen Augenblick) - die Rolle des entmündigten Vollzugsorganes eines ihnen entfremdeten Geschichts- bzw. Gesellschaftszustandes ab, der als scheinbar autonomer bisher die Gesetze des Handelns bestimmte. Dieses »kontinuumssprengende« Handeln »unter dem freien Himmel der Geschichte« und außerhalb der »Arena ...‚ in der die herrschende Klasse kommandiert«, macht die so ideologische Trennung zwischen individuellem Schicksal und allgemeiner Geschichte rückgängig und hinfällig: Denn in diesem »Sprung« konzentriert sich menschliche Geschichte wie unter einem Brennglas wieder in einem Punkt und kommt ausschließlich in »jetztzeitiger« Verantwortung zur Verhandlung, die dann über das Ganze zu entscheiden hat und nicht nur über die Anstückelung von Details.

Ein solches Bewußtsein gilt es für Benjamin zu erneuern und deshalb spürt er es dort auf, wo es sich ihm unverfälscht zeigt: (130)

»Noch in der Juli-Revolution hatte sich ein Zwischenfall zugetragen, in dem dieses Bewußtsein zu seinem Recht gelangte. Als der Abend des ersten Kampftages gekommen war, ergab es sich, daß an mehreren Stellen von Paris unabhängig voneinander und gleichzeitig nach den Turmuhren geschossen wurde.« (These XV)

[132] Innerhalb der Metaphorik der IX. These hieße das, den »Sturm« des »katastrophischen« Fortschritts anzuhalten, dessen scheinbar ontologische Kontinuität »aufzusprengen« und die Menschen so in Besitz ihrer Geschichte zu bringen, daß die

darin eingeschlossenen, von den Menschen selbst produzierten Potenzen ihnen nicht mehr als entfremdete Gewaltverhältnisse gegenüberstehen.

Dieser kollektive Impuls, die »Zeit« anzuhalten und zum »Stillstand« zu bringen, ist für Benjamin ebenso faszinierend wie wegweisend. In ihm kristallisiert sich eine Haltung, die auf der Einsicht und dem Willen basiert, einen scheinbar ontologischen Zeit- bzw. Geschichtsverlauf sistieren zu können und zu müssen. Im Schießen auf die Turmuhren finden die Menschen symbolisch zu ihrer eigenen aktuellen Geschichte zurück, indem sie einen sie beherrschenden Schicksals-zusammenhang revolutionär »aufsprengen« und sich der »Zeit« so bemächtigen wollen, daß deren Bewegung wirklich ihr selbstbewußtes Produkt wird[132] .

Dieses Anhalten der »Zeit« verknüpft Benjamin mit der Einsetzung einer neuen alternativen Zeitrechnung, die sich an Maßstäben und Erfahrungen orientiert, die im vorherigen Kontinuum keinen Platz hatten und die den Menschen eine neue Geschichtsidentität verleihen. Es ist dies ein Vorgang, wie er ihm exemplarisch an der Einsetzung des neuen republikanischen Kalenders in der Französischen Revolution einzusehen ist.

b) »Uhrzeit« und »Kalenderzeit«

»Die Große Revolution führte einen neuen Kalender ein. Der Tag, mit dem ein Kalender einsetzt, fungiert als ein historischer Zeitraffer.« (These XV)

Die Einsetzung dieses neuen republikanischen Kalenders signalisiert sowohl, daß eine bisher gültige Zeitrechnung außer Kraft gesetzt wurde, als auch, daß sich ein qualitativ neues Selbstbewußtsein bzw. eine neue Geschichtsidentität durchzusetzen beginnt. Darin haben sich sämtliche Potenzen des vorhergegangenen Kontinuums derart zusammengeschlossen, daß der Umschlag in eine neue theoretische wie praktische Qualität zur Notwendigkeit wurde. Dieser Focussierungsprozeß hat im »Tag, mit dem ein Kalender einsetzt«, sein symbolisches Datum; er fungiert deshalb als »historischer Zeitraffer«, weil er eben alle heterogenen Momente und Widersprüche aus der Vergangenheit in einem Punkt zusammenfallen läßt und innerhalb dieser ungeheuren Verdichtung die Sprengung der alten (131) Schranken bzw. des alten »Kontinuums« produziert. Mit diesem »Tag« - es ist der Tag der Revolution - fixieren die Menschen eine geschichtliche Bruchstelle, an der sie eine alte Abhängigkeit abstreifen konnten und dem Geschichtsablauf - in selbstbewußter Abgrenzung von der alten »Zeit«- rechnung - neue Markierungen einprägten[133] .

[133]  »French Republican Calendar, a calendar adopted in France 1793, during the revolution, as a substitute for the Gregorian. Its purpose was not only to show that the establishment of the republic in France marked the beginning of a new epoche for humanity and to substitute a rational and scientific calendar for one less so but also to destroy the Christian associations of the Gregorian system…

The fact that all fair days and payment days had to be altered was a grave blow to traditional customs and above all to the Christian religion.« (Encyclopaedia Britannica, Vol. 9, 1965, S. 907).

[134] »Die Zeitrechnung, die ihr Gleichmaß der Dauer überordnet, kann doch nicht darauf verzichten, ungleichartige, ausgezeichnete Fragmente in ihr bestehen zu lassen. Die Anerkennung einer Qualität mit der Messung der Quantität vereint zu haben, war das Werk der Kalender, die mit den Feiertagen die Stellen des Eingedenkens gleichsam aussparen.« (GS I, 2, S. 642f)

Der erste Tag des neuen Kalenders hebt die alte durchlaufende Zählung der Jahre auf, setzt sich selbst als absoluten Neubeginn und justiert die folgende Zeitrechnung nicht nur am Maßstab einer neuen Zahl - z.B. dem Jahr 1 der Revolution, sondern am Maßstab der Besonderheit einer menschlichen Handlung. Der Tag, mit dem ein Kalender »einsetzt«, fungiert als ein traditionsstiftendes Datum, an dem die Menschen immer wieder ihrer besonderen revolutionären und kontinuumssprengenden Leistung und damit gleichzeitig der konstitutiven Bedeutung ihrer selbstbewußten Praxis inne werden können; deshalb ist dieser Tag für Benjamin »Im Grunde genommen derselbe Tag, der in Gestalt der Feiertage, die Tage des Eingedenkens sind, immer wiederkehrt« (These XV); und Benjamin zieht daraus die für ihn entscheidende Schlußfolgerung: »Die Kalender zählen die Zeit also nicht wie Uhren« (These XV).

Die eigentümliche Qualität des »Kalenders« ermöglicht es Benjamin hier, dem, was er »homogene und leere Zeit« nennt, ein exemplarisches Korrektiv entgegenzusetzen: Denn wo diese nur ein Kontinuum durchlaufender gleichförmiger Zeitelemente kennt, hält jener eben auch gerade das Nicht-Identische als das Wesentliche fest[134] . Indem der »Kalender« innerhalb des naturwissenschaftlich geeichten Zeitverlaufes »Tage des Eingedenkens« markiert, sprengt auch er die blinde Summe purer Zeitelemente auf und macht gerade die Einzigartigkeiten und Besonderheiten menschlichen Handelns zum eigentlichen Inhalt der Zeitmessung. Er sorgt für einen Zustand, wie ihn so die »Uhrzeit« nicht kennt: er hält die Men-(132)schen innerhalb ihrer besonderen, von ihnen selbst hergestellten Geschichte fest, und die »Festtage«, die er benennt, garantieren die Möglichkeit des »Eingedenkens«, d.h. in ihnen bleiben die vergangenen geschichtlichen Handlungen als »Erfahrung« so geborgen, daß sie der jeweiligen Gegenwart unvermindert zur Verfügung stehen und von ihr als selbstverständliche Bestandteile aktueller Theorie und Praxis integriert werden. Der »Kalender« sorgt damit für die unaufgespaltene Identität des allgemeinen und des individuellen Geschichtsverlaufes und in seinen »Feiertagen« erneuert sich der Zusammenhang zwischen Gegenwart und Vergangenheit [135] .

[135] »Was die festlichen Tage groß und bedeutsam macht, ist die Begegnung mit einem früheren Leben.« (GS I, 2, S. 639)

[136] Die Orientierung an einer Vorstellung von Zeit, in der die unendliche Gleichförmigkeit bzw. die Ewigkeit maßgeblich das geschichtliche Selbstverständnis der Menschen bestimmt, trägt längst das Gegenteil ihrer »geschichtsphilosophischen« Bemühungen in sich: Statt Geschichte in ihrer Besonderheit zu reflektieren, erklärt sie gerade diese zum Akzidentiellen und fixiert in Wahrheit das Bild totaler Geschichtslosigkeit. Benjamin hat dies u.a. in exemplarischer Weise an Bergsons Zeitmaß der »duree« vorgeführt: Deren Aussparung der Besonderheit - bei Bergson ist es der »Tod«, der in der »duree« konsequenterweise keinen konstitutiven Platz haben kann - zwingt zur Eliminierung der »Tradition«, bzw. der Relevanz besonderer menschlicher Praxis: »Die duree, aus der der Tod getilgt ist, hat die schlechte Unendlichkeit eines Ornaments. Sie schließt es aus, die Tradition in sie einzubringen« (GS I, 2, S. 643); »Daß in Bergsons duree der Tod ausfällt, dichtet sie gegen die geschichtliche (wie auch gegen eine vorgeschichtliche) Ordnung ab.« (GS I, 2, S. 643)

[137] »Für den, der keine Erfahrung mehr machen kann, gibt es keinen Trost.« (GS I, 2, S. 642)

[138] »Der Mann, dem die Erfahrung abhanden kommt, fühlt sich aus dem Kalender herausgesetzt.« (GS I, 2, S. 643)

[139] GS I, 2, S.639

Die »Uhrzeit« läßt, im Gegensatz zur »Kalenderzeit«, die Menschen aus ihrer Geschichte herausfallen und überantwortet sie einer Zeitbewegung, deren Maßstab gerade die Besonderheit auslöscht und das jeweilige Individuum gegen jegliche »Erfahrung«, die über den unmittelbaren Vollzug des Augenblicks hinausreicht, abdichtet: Dieses Zeitmaß, das ausschließlich am Zeitsystem der »Uhren« orientiert ist, reduziert geschichtliche Bewegung auf den unablässigen Durchlauf scheinbar homogener, in sich abgeschlossener Elemente und die damit verbundene Preisgabe konstitutiver Ungleichförmigkeit muß denjenigen, der nur noch diese Form der zeitlichen Bewegung kennt, gleichgültig machen gegen seine Vergangenheit wie gegen seine Zukunft [136] . Wo sich »Zeit« nur mehr als permanente Addition gleichförmiger Einheiten erfassen läßt, nimmt auch die menschliche Praxis in den Vorstellungen der Produzenten den Charakter einer homogenen Summierung von Praxiselementen an, die sich scheinbar automatisch und widerspruchsfrei zu einem sinnvollen und prästabilierten Ganzen anhäufen. Es leuchtet ein, daß sich innerhalb dieser unendlichen Kette gegeneinander abgekapselter, »homogener« Praxispartikel keinerlei »Tradition« mehr bildet, und daß es damit für die Menschen innerhalb eines solchen Zeit- bzw. Geschichtskontinuums »keinen Trost« mehr gibt, weil ihnen die »Erfahrungen« mit ihrer eige-(133)nen Geschichte verunmöglicht werden[137] . Die Auslieferung an die pure Unmittelbarkeit des Augenblicks kappt den Zugang zu den Erfahrungspotentialen gesellschaftlich-geschichtlicher Widersprüche; sie schneidet gleichzeitig den Weg in eine selbstbewußt produzierte Zukunft ab, in der eben diese durch die »Tradition« vor dem Vergessen bewahrten Erfahrungen gesellschaftlichen Leidens die Inhalte zukünftiger Praxis wesentlich bestimmen würden. Der Zirkel ist komplett: Wie derjenige, der keine »Erfahrungen« mehr machen kann, auch zu keinem »Kalender« mehr fähig ist, in dem er sich als selbstbewußtes geschichtliches Wesen bewegen kann, so wird auch derjenige, den man aus dem »Kalender« heraussetzt - wie die Sozialdemokratie es mit der deutschen Arbeiterschaft getan hat - in Zukunft ohne »Erfahrung« und damit ohne »Trost« bleiben müssen[138] .

Für das Leben in der »Uhrzeit« gibt es weder die »Begegnung mit einem früheren Leben«[139] noch die »Tage des Eingedenkens«, an denen das jeweilige Geschichts- bzw. genauer Klassenbewußtsein seine Eichmaße hätte und sich immer wieder erneuern könnte. Indem die eigene leidvolle Tradition dem Vergessen ausgeliefert ist, geht auch der Gegenwart die Perspektive verloren, in wie weit in ihr die Widersprüche und »Katastrophen« der Vergangenheit wirklich versöhnt wurden oder immer noch unvermindert am Werk sind. Diesem Verlust des »früheren Lebens« entspricht auf anderer Ebene die Ersetzung der »Erfahrung« bzw. des »Eingedenkens« durch deren selbstentfremdeten, verdinglichten Surrogate des »Erlebnisses« bzw. des »Andenkens«: Im Gegensatz zur »Erfahrung« - ihr entspricht die »Kalenderzeit«, in der sich die individuell-gesellschaftliche Praxis als tiefe Erinnerungsspur niedergeschlagen hat und damit einen komplexen Traditionszusammenhang stiftet, ermöglicht das »Erlebnis« - ihm entspricht die »Uhrzeit« - nur mehr eine oberflächliche, von den Zusammenhängen isolierte Reizwahrnehmung, deren Inhalte als verdinglichte, »tote Habe« zwar in ein immer größer werdendes museales Arsenal »inventarisiert« werden können und damit ebenfalls so etwas wie »Tradition« schaffen, die betroffenen Individuen jedoch nur mehr äußerlich in der Form des versteinerten Datums berühren. Die »Erlebnisse« haben zwar ihre Chronologie, sie stiften jedoch keine »Geschichte« mehr; innerhalb ihrer unübersehbaren und atomistischen Datenfülle bewegen sich die Menschen wie Fremde. Damit ist auch die Qualität des »Eingedenkens« verloren gegangen, die echte Tradition zu stiften vermag; an ihre Stelle tritt das »Andenken«, das sich nur mehr auf abgekapselte, blinde Fragmente bezieht, die nicht über sich hinausweisen[140] . (134)

[140] »Das Andenken ist das Kompliment des »Erlebnisses«. In ihm hat die zunehmende Selbstentfremdung des Menschen, der seine Vergangenheit als tote Habe inventarisiert, sich niedergeschlagen.« (GS I, 2, S. 681)

[141] Der »neue« Kalender der »größen Revolution« hält im Tag seiner Einsetzung symbolisch den revolutionären Sieg des Bürgertums über das alte feudalistische »Kontinuum« fest.

[142] »Aufgabe der Geschichte ist, der Tradition der Unterdrückten habhaft zu werden (GS I, 3, S. 1236, Ben-Arch, Ms 469)

[143] Damit auch wäre, wie Benjamin sagt, »echte Tradition« erst wirklich begründet, denn diese ergibt sich aus den vereinzelten Momenten des revolutionären Widerstandes gegen die Übermacht etablierter Herrschaft, und nicht aus dem ungebrochenen Fortschreiten der »Katastrophe«: »Das Kontinuum der Geschichte ist das der Unterdrücker. Während die Vorstellung des Kontinuums alles dem Erdboden gleichmacht, ist die Vorstellung des Diskontinuums die Grundlage echter Tradition.« (GS 1, 3, 5. 1236, Ben-Arch, Mi 469)

Signalisiert somit die Verabsolutierung der »Uhrzeit« die »zunehmende Selbstentfremdung« der Menschen, so wird deutlich, daß es bei Benjamins Rekurs auf die »Kalender« um die Rekonstruktion von echtem Geschichtsbewußtsein geht. Die »Kalender« haben in seiner Argumentation die exemplarische Funktion, ein geschichtlich-gesellschaftliches Selbstbewußtsein vorzuführen, aus dem heraus die Menschen fähig sind, sich ihrer Geschichte als ihres eigenen Produktes zu vergewissern und dadurch der Gefahr entgehen, ihr eigenes intentionales Handeln als äußerliches Moment gegenüber einem wie auch immer gearteten höheren - mythischen oder technologischen - Sinnganzen zu betrachten. Die prinzipielle Struktur der »Kalender« hält »Zeit« als Knoten- bzw. Brennpunkt menschlicher Praxis fest und das »Eingedenken« seiner ausgesparten »Feiertage« reproduziert in der Gegenwart bzw. im Vorgang des Erinnerns die komplexe vergangene geschichtliche Erfahrung, insoweit deren Unabgeschlossenheit und Mangelhaftigkeit die Gegenwart wesentlich bestimmt und damit gleichzeitig der Zukunft ihre notwendige Richtung vorschreibt. Was in diesen »Feiertagen« des »Eingedenkens« immer wieder in den Rang der Aktualität gehoben wird, sind sicher auch die revolutionären Siege, an denen die prinzipielle Möglichkeit menschlicher Praxis, ein »Kontinuum« »aufzusprengen«, unter Beweis gestellt ist[141] . Aber sie können auch, und das ist für Benjamins Ansatz von noch größerer Wichtigkeit, die Daten der Niederlagen, des vergeblichen Leidens und der mißglückten oder unvollendeten Kämpfe fixieren, deren »Eingedenken« der Gegenwart die ungelösten Aufgaben präsentiert.[142] Der »unterdrückte(n) ... Klasse«, die als die »letzte geknechtete« das »Werk der Befreiung ... zu Ende« zu führen hat, ihren »Kalender« zu erhalten bzw. ihn ihr zurückzugewinnen, ist die Voraussetzung für das Gelingen von Geschichte und das in diesem »Kalender« festgehaltene Klassenbewußtsein bedeutet für Benjamin den Schlüssel für die Überwindung der Ohnmacht des Engels aus der IX. These und für die Aufsprengung des »katastrophischen Kontinuums«. Denn in diesem »Kalender«, der auf der »Diskontinuität« der revolutionären Befreiungsversuche aufbaut, finden die Menschen zu ihrer wahren geschichtlichen Subjektivität.[143] (135)

c)  Verlust und Erneuerung »kontinuumssprengender« Identität

[144] Der Aufstand der »Commune« von 1871 ist innerhalb der deutschen Sozialdemokratie kein Datum der empörten Identifikation mit den dort Niedergemetzelten; wo es überhaupt wahrgenommen wird, ist es ihr eher peinlich als daß sich hier erneut »Haß« und »Opferwillen« am Bild der »geknechteten Vorfahren« entzünden würde. Ähnliches gilt u.a. für Rosa Luxemburg; auch sie hat die Sozialdemokratie mehr oder minder aus ihrem Kalender gestrichen.

Die Sozialdemokratie - und mit ihr natürlich die ganze deutsche Arbeiterschaft - ist, indem sie den »Klassenkampf« ad acta gelegt und sich dem herrschenden technologischen Fortschrittsautomatismus ausgeliefert hatte, aus dem »Kalender« der Geschichte der Kämpfe der unterdrückten Klasse herausgefallen. Sie hat damit ebenfalls die »Tage des Eingedenkens« preisgegeben, an denen sowohl das herrschende »Kontinuum« aufgesprengt wurde, wie auch jene, an denen die Sache der unterdrückten Klasse gewaltsam und blutig niedergeschlagen wurde[144] . Ohne ihren klassenkämpferischen »Kalender« verfügt die deutsche Arbeiterschaft weder über die geschichtliche Erfahrung ihrer objektiven Macht als revolutionärer Klasse - (in letzter und fatalster Konsequenz müssen ihr sogar die erreichten sozialen Fortschritte als Resultate offizieller »konformistischer« Politik erscheinen und nicht mehr als die Ergebnisse ihrer eigenen leidvollen Kämpfe), noch vermag sie sich an die vergangenen Niederlagen zu erinnern, die gleichzeitig ihre eigene besiegelt haben, und aus deren »Eingedenken« heraus das Bewußtsein des unversöhnten Erbes und damit der Notwendigkeit der Fortsetzung des revolutionären Kampfes sich bilden müßte. Mit diesem Herausgesetztwerden aus dem »Kalender« ihres eigenen Befreiungskampfes, der gleichzeitig auf die Befreiung aller Menschen abzielt, war der Arbeiterschaft sowohl der theoretische wie auch der praktische Boden entzogen worden, auf dem sie sich als das wahre »Subjekt historischer Erkenntnis« hätte weiterentwickeln können.

[145] Die offizielle Geschichte der Sowjetunion ist ein ebenso trauriges wie für Benjamins These beweiskräftiges Dokument der Auslassungen und Abtrennung wichtigster Traditionen der Arbeiterbewegung: So gibt es z.B. den Aufstand von Kronstadt - wenn er überhaupt zum gegenwärtigen Bewußtsein der russischen Arbeiterschaft gehört - nur unter dem Aspekt der Konterrevolution und nirgends als das vielleicht bedeutendste und dramatischste Dokument eines kritischen Bewußtseins, das sich dagegen zur Wehr setzt, seine Selbstverantwortlichkeit erneut aufzugeben und als wiederum entmündigtes die Revolutionierung der Verhältnisse, die ja sein eigenstes Anliegen wären, allein an die von ihm sich wieder entfremdende Parteibürokratie zu delegieren. Auch - und gerade - in den kommunistisch organisierten Ländern müssen die »Kalender« der originär- antikonformistischen und unterdrückten Arbeiteropposition noch freigelegt und zur bewußten »Tradition« gemacht werden. Jedoch sind dort die Kräfte, die nicht an einer Rekonstruktion der Tradition der »Diskontinuität« interessiert sind, (die für Benjamin Garant echten revolutionären, sozialistischen Geschichtsbewußtseins ist), nicht weniger stark oder einflußreich als in den kapitalistischen »Kontinuen«. Die feste Entschlossenheit, das kollektive Bewußtsein eines, sozialistischen »Kontinuums« durchzusetzen, und in dieser Vorstellung »alles dem Erdboden« gleichzumachen, was ihm nicht affirmativ-herrschaftslegitimatorisch. integrierbar ist, unterscheidet sich nur in der Form, wie sie zur praktischen Ausführung gelangt, von den angestrengten Versuchen in kapitalistischen Ländern, den Eindruck und die Vorstellung eines »Kontinuums« unter allen Umständen aufrechtzuerhalten. Trotzki und vor allem auch Mao Tse-Tung scheinen von der Gefahr, wie sie von der »Vorstellung eines Kontinuums« ausgeht, noch eine Ahnung gehabt zu haben. (Siehe: GS I, 3, S. 1241 f, Ben-Arch, Ms 449)

[146] Die sozialdemokratisch definierte Verpflichtung des Proletariats läßt dieses ohne echtes Wissen um die gewesene Geschichte und damit auch ohne Maßstab für die kommende. Die Hingabe an den status quo resultiert notwendigerweise in der Preisgabe der proletarischen Tradition: »Beim Proletariat entsprach dem Bewußtsein des neuen Einsatzes keine historische Korrespondenz. Es fand keine Erinnerung statt. (Künstlich versuchte man sie zu stiften, in Werken wie Zimmermanns Geschichte der Bauernkriege u.ä. Aber dem blieb der Erfolgt versagt.)« (GS I, 3, S.1236, Ben-Arch, Ms 466r)

Die Rekonstruktion dieser verschütteten klassenkämpferischen Tradition ist für Benjamin vordringliches Ziel und seine Ausführungen zur »Kalenderzeit« plädieren für die Wiederinstandsetzung bzw. Neubegründung des »kontinuumssprengenden« Geschichtsbewußtseins. Dieses ist - mit der freiwilligen und alternativlosen Kapitulation vor dem naturwissenschaftlichen Zeit- und Fortschrittsmaß der bürgerlich-kapitalistischen »Moderne« - selbst innerhalb der Bereiche nahezu ausgelöscht worden, die sich offiziell an Marx orientieren: Denn wenn Benjamin im Zusammenhang dieser XV. These von den Kalendern sagt, sie seien »Monumente eines Geschichtsbewußtseins, von dem es in Europa seit hundert Jahren nicht mehr die leisesten Spuren zu geben scheint« (These XV), so läßt sich der Kompromißlosigkeit dieser Formulierung entnehmen, daß die in ihr enthaltene radikale Kritik nicht nur auf die Sozialdemokratie gemünzt war, sondern ebenso den Geschichtsautomatismus und die naturwissenschaftlich (136) fixierte Technikeuphorie vor Augen hatte, wie sie sich innerhalb kommunistischer Vorstellungen durchsetzten und dogmatischen Charakter annahmen. Hinter deren Bild eines permanent-homogenen Fortschreitens in die klassenlose Gesellschaft waren für Benjamin unübersehbar dieselben fatalen Korrumpierungen des Zeit- bzw. Geschichtsbewußtseins auszumachen, die er als Konsequenz der Verabsolutierung der »Uhrzeit« eindringlich entwickelt hatte: Die Preisgabe selbstbewußter, eigenständiger Praxis bzw. die Auslieferung an scheinbar geschichts- bzw. gesellschaftsontologische Notwendigkeiten, deren so überwältigende Sachlichkeit und Rationalität nicht mehr als die verselbständigten Zwänge eines entfremdeten gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses kritisierbar waren. Sowohl im Geschichtsautomatismus parteikommunistisch-revisionistischer Prägung als auch im technologischen Fortschrittsglauben der kapitalistisch organisierten Gesellschaften findet Benjamin die Menschen aus ihren »Kalendern« herausgesetzt[145] .

Ist dieser »Kalender«, der über die »antikonformistischen« Kämpfe und Befreiungsversuche Auskunft gibt, ausgelöscht und vergessen, kann es natürlich auch »nicht mehr die leisesten Spuren« eines Geschichtsbewußtseins geben, das aus eigenen Erfahrungen weiß, daß »Fortschritt« allein im Anhalten der Zeit sich durchsetzt- (»Tiraient sur les cadrans pour arrêter le jour.« Th. XV) - und eben nicht im geflissentlichen und hingebungsvollen Vollzug der Gesetze eines vorgegebenen scheinbar homogenen »Kontinuums«. (137)

Die vergangenen Erfahrungen, das »Kontinuum« aufsprengen und die Zeit zum »Stillstand« bringen zu können, sind dagegen in Benjamins Konzept die Quellen »erlösenden« Geschichtsbewußtseins das in »stillstellender« Geschichtspraxis zu seiner »jetztzeitigen« Wirklichkeit und Gegenwart kommt. Die Sozialdemokratie wie der Revisionismus haben die Massen und sich selbst von dieser so elementaren Tradition abgetrennt und sie haben stattdessen eine durch und durch ideologische Vorstellung eines unendlichen »Übergangs« etabliert, in der Gegenwart nur mehr verschwindender Zeitpunkt innerhalb eines homogenen Ablaufs sein kann.[146]

Die nächste XVI. These konzentriert sich ausschließlich darauf, Gegenwart unter dem Aspekt »stillgestellter Zeit« zu entwerfen. Denn allein solche Gegenwart ist für Benjamin wahrhaft geschichtliche, weil sie von selbstbewußter menschlicher Praxis begründet wird. (138)

 

4.  Gegenwart als »stillgestellte« Zeit bzw. materialistische Besonderheit statt historistische Abstraktion

a)   »Stillstand« statt »Übergang«

Die Begriffe von »Übergang« und »Stillstand« bilden in der XVI. These die Achsen des Koordinatensystems, innerhalb dessen Benjamin jetzt seinen Begriff von Gegenwart weiterentwickelt:

»Auf den Begriff einer Gegenwart, die nicht Übergang ist, sondern in der Zeit einsteht und zum Stillstand gekommen ist, kann der historische Materialist nicht verzichten. Denn dieser Begriff definiert eben die Gegenwart, in der er für seine Person Geschichte schreibt« (These XVI).

Die Eingangssätze fassen auf erkenntnistheoretischer Ebene zusammen, was vorher - auch und vor allem an historischem Material - ausführlich entwickelt und dargestellt wurde. Es bedarf hier deshalb fast nur mehr des Resumees.

[147] Es scheint mir durchaus legitim zu sein, Benjamins Bestimmung des erkenntnistheoretischen Standorts des materialistischen Geschichtsschreibers auch als kritische Replik auf die in kommunistischen Kreisen damals verbindliche Widerspiegelungstheorie zu lesen.

Insofern in den vorhergehenden Thesen ein kritischer Begriff von »Zeit« entwickelt wurde, in dem der menschlichen Praxis ihre einzigartige geschichtskonstitutive Bedeutung wieder zurückgewonnen wurde, kulminiert Benjamins weitere Entwicklung eines neuen und unkorrumpierten Geschichtsbewußtseins mit notwendiger Konsequenz in der Neudefinition des Begriffs der »Gegegenwart«. Geht nämlich Geschichte ohne Rest in menschlicher Praxis auf, so bekommt jeder Augenblick, jede »Gegenwart«, eine prinzipiell einzigartige Dimension: Sie läßt sich nicht mehr als ein verschwindendes Moment innerhalb der Unendlichkeit gleichförmiger Zeitpartikel bestimmen; der ihr adäquate Begriff widerstrebt jeglicher Geschichtsontologie. Jede kleinste »Gegenwart« impliziert die permanente »messianische« Möglichkeit, Geschichte in selbstbewußter - nicht »katastrophischer« - Weise zu begründen oder zu reproduzieren. Und es ist deshalb nur konsequent, daß Benjamin die geschichtskonstitutive Möglichkeit in die selbstbewußte Verantwortung des Geschichtsschreibers hineinverlegt. Dieser ist ihm kein Stück Wachs, in das sich die geschichtliche Bewegung als Abdruck einprägt, sondern geschichtliche Wahrheit stellt sich in ihm her, wenn er seine Geschichtsreflexion als geschichtskonstitutive Praxis begreift und deshalb in seiner Erfahrung mit der Geschichte die »Gegenwart« unter dem Aspekt richtiger Praxis verhandelt[147] . Die »Zeit«, in der er Geschichte »schreibt«, ist eben kein im permanenten »Übergang« begriffener Zustand, sondern sie ist »Jetztzeit«, in der Geschichte in jedem einzelnen Augenblick von den Menschen entschieden wird (139) - auch da, wo die Entscheidung entfremdeter Praxis entspringt und sich als »Katastrophe« gegen ihre eigenen Produzenten wendet. Deshalb braucht der historische Materialist bei Benjamin mit innerer Notwendigkeit den »Begriff einer Gegenwart ...‚ in der Zeit einsteht und zum Stillstand gekommen ist«: Denn allein in der Denkform des »Stillstandes« vermag sich geschichtliche »Gegenwart« wieder als unabgeschlossenes und widersprüchliches Produkt menschlicher Praxis zu kristallisieren, und nur insofern die Zeit im »Stillstand« eben nicht mehr immer schon automatischer und permanenter »Übergang« ist, existiert in jedem ihrer Augenblicke die prinzipielle Möglichkeit, ein herrschendes Kontinuum aufzusprengen und es durch ein qualitativ anderes zu ersetzen.

In der Denkform des »Stillstandes« läßt sich jeder geschichtliche Moment erneut unter dem Gesichtspunkt seiner Unabgeschlossenheit bzw. Unerledigtheit erinnern und ins gegenwärtige Bewußtsein holen; das geschichtliche Detail wird aus der Versteinerung des »Es-war-einmal« befreit und erhält - insofern es eben geschichtlich nicht erledigt ist - die Möglichkeit zurück, sich als »Jetztzeit« zu aktualisieren. Wie jede Vergangenheit »Jetztzeit« sein kann, insoweit ihre revolutionäre Konstellation bis heute noch nicht eingelöst wurde - sie deshalb auch nicht als vergangene Zeit abgetan und archiviert werden darf, so ist auch jede Gegenwart prinzipiell immer Zeit im »Stillstand« bzw. »Jetztzeit«, da sie die Sprengung des »Kontinuums«, in dem sie selbst sich befindet, immer als Möglichkeit in sich trägt. Der »Stillstand« macht tendenziell jeden Geschichtsmoment zur potenziellen »Jetztzeit«, in der sich der dort jeweils eingeschlossene geschichtliche Konflikt im Bewußtsein erneuert und sich somit einen Weg zur aktuellen Bearbeitung in menschlicher Praxis bahnt.[148] (140)

[148] Holz hat die gesellschaftliche Bestimmtheit der »Jetztzeit« m.E. zutreffend herausgearbeitet; und das vor allem in der Betonung des radikal revolutionären Charakters dieses Konzeptes: »Diese Kategorie setzt voraus, daß die Gegenwart nicht als restaurative, einsammelnde, abschließende betrachtet wird ... sondern als Brennpunkt der geschichtlichen Tendenzen, als Umschlagspunkt der überkommenen Inhalte, als Ursprung neuer Werte ... Nicht als eine gleichförmige, unaufhaltsame, quantitative Steigerung, als Evolution, läßt sich das Neue erreichen, sondern nur im Umschlag zu einer neuen Qualität. Wer diesen Umschlag am entscheidenden Punkt versäumt, hat nach allem Fortschreiten nur das Alte wieder in der Hand. Daß in der als Jetztzeit verstandenen Gegenwart die Zeit stillsteht, besagt natürlich nicht, daß darin nichts geschieht ... Nur wer Geschichte unter der übergreifenden Gattung der Jetztzeit zu schreiben vermag, darf es zu sagen wagen, daß er sich adäquat, d.h. als Wirklichkeit und nicht als Mumie verstanden hat.« (H.H. Holz, Prismatisches Denken, in: Über Walter Benjamin, Frankfurt 1968, 5. 1030. Demgegenüber will Habermas in der »Jetztzeit« eine »anarchistische Konzeption« erkennen, deren »antievolutionistische« Geschichtskonzeption letztlich nicht mit der des »Historischen Materialismus« vereinbar sei. So meint Habermas, daß »der anarchistischen Konzeption der Jetztzeiten, die das Schicksal intermittierend gleichsam von oben durchschlagen, die materialistische Theorie der gesellschaftlichen Entwicklung nicht einfach eingefügt werden kann. Dem Historischen Materialismus, der mit Fortschritten in der Dimension nicht nur der Produktivkräfte, sondern auch der Herrschaft rechnet, kann eine antievolutionistische Geschichts-(140)konzeption nicht wie eine Mönchskapuze übergestülpt werden.« (J. Habermas, Bewußtmachende und rettende Kritik - die Aktualität Walter Benjamins, in: Zur Aktualität Walter Benjamins, Frankfurt 1972, S. 207). Die Problematik, die Habermas hier entwickelt, ist das Resultat seiner eigenen undifferenzierten Verwendung des Begriffs »Historischer Materialismus«: Denn indem er nicht zwischen dessen originärer und dessen‘ revisionistischer Form unterscheidet, verfehlt er völlig die Ebene der Benjaminschen Kritik. Der Gegensatz, den Habermas erkennt, gibt es bei Benjamin wirklich und er kommt in dessen‘ exotischer Begrifflichkeit auch unübersehbar zum Ausdruck: Nur handelt es sich hierbei nicht um den Gegensatz zum »Historischen Materialismus«, den Benjamin ja gerade rekonstruieren will, sondern um die Kritik dessen Pervertierung zur materialistischen Ontologie. Benjamin tut nichts anderes, als in seiner »antievolutionistischen« Theorie der negativen Dialektik wieder zu ihrem Recht zu verhelfen und was Habermas als »anarchistische Konzeption« bezeichnet, ist in Wahrheit nur die folgerichtige Konsequenz aus seinem Insistieren auf dem Marxschen Grundaxiom der konstitutiven Einzigartigkeit menschlicher Praxis. Verweist Benjamins »antievolutionistische« Konzeption jeglichen Fortschrittsautomatismus in den Bereich pervertierten materialistischen Denkens, so gewinnt er mit dem, was Habermas »anarchistisch« nennt, der menschlichen Praxis wieder das Bewußtsein zurück, in jedem ihrer einzelnen Momente über das Gelingen von Geschichte zu entscheiden. Benjamins »Anarchie« besteht darin, daß er mit seiner Konzeption der »Jetztzeiten« der falschen Positivität in Theorie und Praxis einen Riegel vorschiebt und sich der korrumpierten parteikommunistischen Vorstellung verweigert, die etablierten Formen materialistischer Theorie und Praxis in den sich sozialistisch nennenden Ländern hätten sowohl die »Klassen« abgeschafft, wie damit auch das Konzept vom »Klassenkampf« erledigt.

So befindet sich Benjamins »antievolutionistische« Konzeption auf gut materialistischem Boden, denn gerade z.B. die sowjet-marxistische Version eines sozialistischen Evolutionsautomatismus findet in der orginären Marxschen Theorie ihren radikalsten Kritiker, was man nach den Rekonstruktionen des Marxschen Werkes in den letzten 10 Jahren wieder sehr gut weiß. Daß sich Benjamin gegen diese pervertierte Form materialistischer Evolution wendet, macht seine Konzeption noch lange nicht zu einer »anarchistischen« bzw. läßt darauf schließen, der Gedanke gesellschaftlicher Evolution hätte in seinem Begriff von menschlicher Geschichte keinen Platz. Gerade das Gegenteil ist der Fall: Nur insistiert er darauf, daß diese »Evolution« in jedem ihrer Momente der vollen Bewußtheit und Selbstverantwortlichkeit der Menschen zu entspringen habe, und - solange der klassenlose Status nicht verwirklicht ist - notwendig ihre nicht-affirmative, kontinuumssprengende Qualität beibehalten muß. Deshalb ist auch die Habermassche Vorstellung nicht zu halten, die »Jetztzeiten« würden »anarchistisch« »das Schicksal intermittierend gleichsam von oben durchschlagen«: Denn wenn diese »Jetztzeiten« nichts anderes markieren als die objektiven gesellschaftlich-geschichtlichen Möglichkeiten, das jeweils bestehende Herrschaftskontinuum aufsprengen zu können - und prinzipiell ist dies in jedem Augenblick möglich, wenn auch in seiner gesamtgesellschaftlichen Auswirkung graduell abgestuft -‚ dann bedarf es des richtigen »konstruktiven« theoretischen und praktischen Zugriffs durch die Menschen, damit die »messianischen« Möglichkeiten auch wirklichkeitsgerecht eingelöst werden. Was Habermas an diesem Konzept der »Jetztzeiten« für »anarchistisch« hält, entspringt in Wahrheit nur der Benjaminschen Treue zur antiontologischen Geschichtsauffassung bei Marx, in der das Gelingen von Geschichte davon abhängig gemacht wird, in wieweit die Menschen sich dieser ihrer Geschichte wirklich selbstbewußt bemächtigen.

b) »Einzigartige »Erfahrung statt »ewiger« Wahrheit

[149] Benjamin spricht deshalb auch von der »Zumutung an den Forschenden, die gelassene, kontemplative Haltung dem Gegenstand gegenüber aufzugeben, um der kritischen Konstellation sich bewußt zu werden, in der gerade dieses Fragment der Vergangenheit mit gerade dieser Gegenwart sich befindet«. (GS II, 2, S. 467f).

Der »historischer Materialist« im Sinne Benjamins schreibt Geschichte immer unter dem Blickpunkt der »jetztzeitigen« Korrespondenz zwischen seiner eigenen und der »vergangenen« geschichtlichen Situation [149] . In ihm reorganisiert sich vergangene Erfahrung« in den Aspekten, die seiner eigenen aktuellen Gegenwart kritisches Potential verleihen, und darin unterscheidet sich seine Vorgehensweise fundamental vom kontemplativen Inventarisieren »toter Habe« durch den Historisten:

»Der Historismus stellt das ‘ewige‘ Bild der Vergangenheit, der historische Materialist eine Erfahrung mit ihr, die einzig dasteht.« (These XVI)

Im »‘ewigen‘ Bild« ist die Vergangenheit versiegelt und abgeschlossen wie die Fliege im Bernstein: Als endgültig vergangene soll sie auch eine »ewige«, ein für alle Mal verfügbare »Wahrheit« haben; damit jedoch muß sie notgedrungen zur »toten Habe« werden, an der sich nur mehr positivistische Sammlerleidenschaft und abstrakter Wissenstrieb abarbeiten können. In letzter Konsequenz bleibt der Historist unberührt von dem Gegenstand, dem er sein Erkenntnisinteresse widmet. Ganz anders der historische Materialist: Insofern ihm der Blick zukommt, sich selbst in der Vergangenheit »als ... gemeint« [150] erkennen zu können, wird er automatisch immer wieder zum Betroffenen: Die Betrachtung der Vergangenheit involviert ihn in einen »Erfahrungs«- Zusammenhang, in dem die abgebrochenen und unabgeschlossenen Impulse vergangener geschichtlicher Situationen aufs neue ihre Virulenz entwickeln und sich in ihrer theoretischen wie praktischen »Jetztzeitigkeit« zu erkennen geben. Diese »Erfahrung« exponiert den materialistischen Geschichtsschreiber immer wieder als konkretes gesellschaftliches Subjekt und »mutet ihm zu«, die kontinuumssprengenden Impulse der Vergangenheit zur zentralen Sache seiner eigenen Gegenwart zu machen.

[150] These V.

[151] Nicht die »leere Zeit« - also das »ewige« Allgemeine - ist der Ort, an dem sich geschichtliche Wahrheit herauskristallisiert, sondern die »bestimmte Epoche, das bestimmte Leben, das bestimmte Werk«, sagt Benjamin dann im Zusammenhang der nächsten These.

[152] »Der Historismus stellt das ewige Bild der Vergangenheit dar; der historische Materialismus eine jeweilige Erfahrung mit ihr, die einzig dasteht. Der Entsatz des epischen Moments durch das konstruktive erweist sich als Bedingung dieser Erfahrung. In ihr werden die gewaltigen Kräfte frei, die im ‘Es war einmal‘ des Historismus gebunden liegen. Die Erfahrung mit der Geschichte ins Werk zu setzen, die für jede Gegenwart eine ursprüngliche ist - das ist die Aufgabe des historischen Materialismus. Er wendet sich an ein Bewußtsein der Gegenwart, welches das Kontinuum der Geschichte aufsprengt. Geschichtliches Verstehen faßt der historische Materialismus als ein Nachleben des Verstandenen auf, dessen Pulse bis in die Gegenwart spürbar sind.« (GS II, 2, S. 468).

Für Benjamin weigert sich der historische Materialist, die Vergangenheit »episch« darzustellen. Das »Es war einmal« ebenso wie das »‘ewige‘ Bild« läßt die Geschichte menschlicher Praxis zu einem Allgemeinen werden, das sich wie ein Leichentuch über die Vergangenheit zieht und nichts mehr von den »Erfahrungen« durchläßt, die in ihrer Besonderheit eben nicht unter dieses Allgemeine subsumiert werden können bzw. es aufsprengen [151] . Im Gegensatz dazu knüpft der (142) historische Materialist an diese Besonderheiten an, integriert die darin bereits geleisteten kontinuumssprengenden Einsichten in seine eigene aktuelle Gegenwart und konstituiert sich selbst ebenfalls als ein Subjekt, dessen »Erfahrung« mit der Vergangenheit »einzig« ist, weil es deren konstitutive Besonderheit zu seinem erkenntnistheoretischen und praktischen Maßstab macht und sich nicht dazu korrumpieren läßt, sie an ein »ewiges« Allgemeines auszuliefern und damit ihrer »gewaltigen Kräfte« verlustig zu gehen [152] .

Der historische Materialist bleibt - wie Benjamin sagt - »Herr« seiner Kräfte:

»Er überläßt es andern, bei der Hure ‘Es war einmal‘ im Bordell des Historismus sich auszugeben. Er bleibt seiner Kräfte Herr: Manns genug, das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen.« (These XVI)

Sich bei der »Hure ‘Es war einmal‘ ... auszugeben« bedeutet - um innerhalb dieser Metaphorik zu bleiben, die eigenen wie die überlieferten Potenzen dort zu verausgaben, wo sie unfruchtbar bleiben müssen. (Das Bordell ist nicht der Ort, an dem man Leben zeugt und damit seiner Potenz bewußt eine produktive Gestalt gibt, sondern hier versucht man, seine Triebspannung konsequenzlos sich vom Leib zu schaffen. Der Lust im Bordell folgt weder die Verantwortung für das eigene Handeln, noch impliziert sie den Willen, seiner Triebkräfte »Herr« zu bleiben). Auch der Geschichts-«Hure« ist jeder Freier recht, denn in diesem Bordell »Es war einmal« verliert jeder unterschiedslos seine geschichtliche Zeugungskraft: Seine Besonderheit wird gleichgültig, weil ihr ja auch keine folgenreiche Zukunft mehr entspringen kann. Die Hure »Es war einmal« kennt in Wahrheit keinen geschichtskonstitutiven Unterschied zwischen Siegern und Besiegten, Herrschern und Unterdrückten, aus dem sich Konsequenzen für die Zukunft ableiten ließen. Im »Es war einmal« tut sie alle geschichtliche Spannung als geschehen ab und beraubt sie ihrer fortzeugenden, kontinuumssprengenden Potenz: Im »Bordell des Historismus« hat die Geschichte für immer ihre revolutionäre Kraft zur Erneuerung vergeudet bzw. verloren.

[153] »Der Unterschied bürgerlicher und proletarischer Weise, sich der Historie zu bemächtigen, ist offenbar. Zitiert jene das Vergangene, um das beibehaltene Kontinuum der Herrschaft des Menschen über den Menschen erst zu verschleiern dann zu rechtfertigen, so ist diese, die das historische Kontinuum wahrhaft sprengt, sich bewußt, daß sie nur die ‘Vollziehung der Gedanken der Vergangenheit‘ bewerkstelligt.« (Heinz-Dieter Kittsteiner, Die ‘geschichtsphilosophischen Thesen‘, in: Materialien, aaO., S. 28, Zitat: K. Marx: Brief aus den »Dt.-Franz. Jahrb.«, MEW 1, S. 346).

Im Gegensatz dazu sind für den historischen Materialisten die Triebkräfte der Vergangenheit weder die Gegenstände der puren Lust - (die schöngeistig-lukullische Kulturrezeption kennzeichnet einen Typus dieses pervertierten Umgangs mit vergangenen Erfahrungen), noch ist er bereit, vergangenes Leben mit einem »Es war einmal« einzuleiten und es quasi aus dem Lehnstuhl heraus (143) nostalgisch und in epischer Kontemplation auszubreiten. Der historische Materialist gibt die Geschichte, in der er sich als »gemeint« erkennt, nicht aus der Hand; er wird sich nicht davon abhalten lassen, aus den vergangenen »Erfahrungen« die theoretischen wie praktischen Impulse herauszulösen, in denen die Menschen versucht haben, sich als die wirklichen Subjekte der Geschichte zu emanzipieren und dabei von der Einsicht bestimmt wurden, daß dieses Vorhaben nur gegen das jeweils herrschende »Kontinuum« durchsetzbar ist [153] . Wo der Historismus letztlich die Summe aller Geschichtsfragmente als das Ganze erstellen will und damit »von Rechts wegen in der Universalgeschichte« (These XVII) gipfelt, konzentriert sich der historische Materialist auf einen geschichtlichen Spannungszusammenhang. Eine solche auf Spannungszusammenhänge ausgerichtete Geschichtsschreibung kann mit der Methode der Faktenaddition nichts anfangen; sie bedarf einer Vorgehensweise, der ein »konstruktives Prinzip« zugrunde liegt.

c) »Konstruktion »statt »Addition«

[154] Wie man sehen kann: Für Benjamin sind »Konstruktion« bzw. »konstruktives Prinzip« originäre und unverzichtbare Bestandteile einer richtigen »materialistischen Geschichts-Schreibung«; bzw. negativ formuliert: Sein Begriff der Konstruktion steht nicht gegen den des Materialismus. Die kritische und korrektive Implikation ist eine andere und darin auch genau differenziert. Wie bereits mehrfach in verschiedenen Kontexten heraus gearbeitet, wird man der spezifischen Eigentümlichkeit der Benjaminschen Begriffswahl nur dann gerecht, wenn man sie als engagierte Rekonstruktions-Versuche einer unkorrumpierbaren und leistungs-fähigen materialistischen Theorie zu lesen versteht. Benjamins eigenwillige Begrifflichkeit will immer Zweierlei leisten: Zum einen intendiert sie, bereits in der Semantik des Begriffes die kritische Korrektur falscher Positionen zu bewerkstelligen, zum anderen soll gleichzeitig die Exotik des Begriffes diesen gegen vulgär-materialistische Revisionen und Verdinglichungen immunisieren. Diesen Aspekt der Benjaminschen Begriffsexotik hat auch Schweppenhäuser als produktiv-materialistische Strategie gewürdigt. »Wenn Benjamin die Lehre des dialektischen Materialismus als fertiges Instrument der Erkenntnis von der Tradition nicht übernahm, dann war er auch vor dem Erbe bewahrt, das ihn in der depravierten Gestalt eines geschichts-ökonomischen Automatismus überlieferte« (Schweppenhäuser,Physiognomie eines Physiognomikers, in: Zur Aktualität...‚ S. 143) Mit dem Begriff der »Konstruktion« begegnet Benjamin sowohl kritisch allen Formen positivistisch-quantifizierender »Faktizität«, wie auch allen vulgär-materialistischen Theorien, in denen die materialistische Erkenntnis-Methode zur »Weltanschauung« oder zu den Plattitüden des partei-kommunistisch kanonisierten »wissenschaftlichen Sozialismus« herunter gekommen ist.

[155] »Es ist die dialektische Konstruktion, die das in der geschichtlichen Erfahrung ursprünglich uns Betreffende gegen die zusammengestoppelten Befunde des Tatsächlichen abhebt.« (GS II, 2, S. 468). Wobei davon ausgegangen werden kann, daß Benjamin »Konstruktion«, »konstruktives Prinzip« und »dialektische Konstruktion« synonym verwendet.

[156] K. Marx, Grundrisse, aaO., S. 22.

[157] ibid.

[158] Ibid.

»Der Historismus gipfelt von rechtswegen in der Universalgeschichte. Von ihr hebt die materialistische Geschichtsschreibung sich methodisch vielleicht deutlicher als von jeder andern ab. Die erstere hat keine theoretische Armatur. Ihr Verfahren ist additiv: sie bietet die Masse der Fakten auf, um die homogene und leere Zeit auszufüllen. Der materialistischen Geschichtsschreibung ihrerseits liegt ein konstruktives Prinzip zugrunde.« (These XVII)[154]   (144)

Die Charakterisierung der materialistischen Geschichtsschreibung als einer wesentlich auf »Konstruktion« ausgerichteten Methode grenzt sie von allen Methoden ab, in denen die Vorstellung herrscht, es ginge nur darum, die »Fakten«, die die Geschichte vorgibt bzw. herstellt, zu »addieren«, um das Ganze dann schon fix und fertig in Händen zu halten. Indem Benjamin dieses Verfahren als letztlich theorieloses bezeichnet (»keine theoretische Armatur«), das in der Aufbietung der »Masse der Fakten« nichts anderes zu Wege bringt, als ein Zeitkontinuum aufzufüllen, das genau besehen »homogen und leer« ist, rekonstruiert er für seine Zwecke die orginäre Kritik sowohl von Hegel als auch von Marx an positivistischen Vorstellungen von Objektivität. Wo das positivistisch-«additive« Verfahren - in borniertem Vertrauen auf die »Objektivität« der unmittelbar vorfindlichen bzw. überlieferten »Fakten« - den Schein für bare Münze nimmt und damit der, wie Marx es nennt, »Mystifikation« der empirischen Oberfläche aufsitzt, durchbricht das »konstruktive Prinzip« eben diesen falschen Schein des Tatsächlichen, in dem keine andere Botschaft mehr enthalten ist als die der resignativen Unterwerfung unter das ideologische Prinzip endgültiger Faktizität, und knüpft wieder an Erfahrungen an, die unter dieser Vorstellung erstickt werden; es sind dies Erfahrungen, die die jeweilige Gegenwart zutiefst betreffen, weil sie das Wissen um die Gründe des falschen Scheines enthalten und auf die Notwendigkeit und Bedingung seiner endgültigen Aufhebung hinweisen.[155]

Wie schon bei der Interpretation der XIV. These herausgearbeitet wurde, erneuert Benjamin im Begriff der »Konstruktion« durchaus die Marxsche Einsicht und Forderung - die mit Einschränkung auch die Hegels ist -‚ daß »die konkrete Totalität als Gedankentotalität ...‚ in fact ein Produkt des Denkens, des Begreifens ist… »[156] ; d.h. daß das Ganze als »Gedankenkonkretum«[157] das Produkt »der Verarbeitung von Anschauung und Vorstellung in Begriffe«[158] ist, und eben nie (145) nur die Summe der unmittelbar vorfindlichen Anschauungen und Vorstellungen, deren Faktizität falschem Bewußtsein ebenso entspringt wie sie es wiederum auch produziert. Der »Konstruktion« liegt also immer die bestimmte Anstrengung des begrifflichen Denkens im Marxschen Sinne zu Grunde, die aus den verdinglichten und fetischisierten Erscheinungsformen geschichtlicher Realität deren innere Bewegungsmodalität und damit wesentliche Struktur herausarbeitet [159] .

[159] Auf dieser Ebene kann ich keinen Gegensatz von Benjamin zu Marx erkennen, und z.T. auch noch nicht zu Hegel, wie Kaiser es unablässig suggeriert: So spricht er z.B. davon, daß das »konstruktive Prinzip« eine »verborgene antihegelsche und antimarxistische Spitze (habe), sofern Konstruktion Gegenbegriff ist auch zum Erkennen des Geschichtssinnes und zu dessen Erfüllung bei Hegel, zum Erkeimen der Geschichtsgesetze und deren Durchsetzung bei Marx«. (Kaiser, aaO., S. 52). Auf der kategorialen Ebene meint - wie oben entwickelt - »Konstruktion« nichts anderes als die synthetisierende Durchdringung der vorfindlichen oberflächlichen Daten; und in diesem Aspekt gibt es weder zur Hegelschen noch zur Marxschen Intention einen Gegensatz. Auf der Ebene des Gegenstandes geht es der »Konstruktion« selbstverständlich um das »Erkennen des Geschichtssinnes«, allerdings gewiß nicht im Sinne einer Hegelschen Geschichtssystematik, sondern im Sinne einer stringenten »Konstruktion« der jeweiligen konkreten gesellschaftlichgeschichtlichen Situation; denn von der richtigen »Konstruktion« hängt sowohl bei Marx wie bei Benjamin das Gelingen der weiteren Geschichte ab. Es gibt hier keinen Gegensatz zu Marx - außer man unterschiebt ihm unablässig, wie Kaiser das tut, das gängige vulgärmaterialistische Konzept einer revisionistischen Geschichtsontologie oder gar deren bürgerliche Mißverständnisse oder Verzerrungen (»Durchsetzung der Geschichtsgesetze«; wer Marx auch noch bis ins »Kapital« hinein kennt, weiß mittlerweile von der Unhaltbarkeit derartiger vulgarisierender Formulierungen). Auch die Bedeutung von »dialektisch« - meint Kaiser - sei »durch das geschichtskonstruktive Moment von der Marxschen Dialektik abgehoben…«  (Kaiser, 47f.). Verstehe, wer kann: Insofern Marx in der richtigen theoretischen Durchdringung und systematischen Darstellung der geschichtlichen Phänomene die einzige Möglichkeit einer echten Wissenschaft von Geschichte sah, hatte seine Methode immer schon und unverzichtbar ein »konstruktives Prinzip«, bzw. stand konträr zum »epischen Element« und der damit gegebenen Historikerhaltung, »sich die Abfolge der Begebenheiten durch die Finger laufen zu lassen wie einen Rosenkranz.« (GS I, 3, S. 1252, Ben-Arch, Ms 1104) »In einer materialistischen Untersuchung wird das epische Moment unausweichlich im Zuge der Konstruktion gesprengt werden. Die Liquidierung des epischen Elements ist in Kauf zu nehmen, wie Marx das, als Autor, im ‘Kapital‘ getan hat. Er erkannte, daß die Geschichte des Kapitals nur in dem stählernen weitgespannten Gerüst einer Theorie zu erstellen sei. In dem theoretischen Aufriß der Arbeit unter der Herrschaft des Kapitals, den Marx in seinem Werk niederlegt, sind die Interessen der Menschheit besser aufgehoben als in den monumentalen und umständlichen, im Grunde gemächlichen Werken des Historismus.« (GS I, 3, S. 1240f, Ben-Arch, Ms 447 und Ms 1094).

Daran anschließend läßt sich hier zusammenfassen: Der Kardinalfehler der Geschichtsauffassung, die Benjamin mit der des »Historismus« identifiziert, besteht darin, das Geschichtsganze als »Summe« aller »Fakten« zu denken. Das impliziert, daß sämtliche geschichtlich überlieferten Fragmente als a priori »addierba-(146)re« Größen vorgestellt werden, deren Sinn immer schon von einer vorausgesetzten ontologischen Homogenität des geschichtlichen Ganzen garantiert ist. In letzter Konsequenz sind jedoch dann die geschichtlichen Besonderheiten gleichgültig und akzidentiell: Nicht mehr die Erkenntnis ihrer Inhalte verschafft den Zugang zur Geschichte der Menschen, sondern die Bewegung des »Addierens« selbst - solange sie für absolute Vollständigkeit sorgt - garantiert geschichtliche Wahrheit. Es bleibt diesem Verfahren aber auch verborgen, daß es - wegen des Mangels einer »theoretischen Armatur« - gezwungen ist, die »Fakten« in ihrer versteinerten Abgeschlossenheit zu belassen und sich fraglos deren Oberflächensemantik auszuliefern, die in ihrer Unmittelbarkeit nichts anderes wiedergibt, als das herrschaftskonforme Selbstverständnis der jeweiligen »Sieger«. Die unablässige Geschäftigkeit des »Addierens« der »Masse der Fakten« täuscht also darüber hinweg, daß hier nur die Abdrücke beschränkten, verzerrten, falschen oder entfremdeten Bewußtseins zu einem unüberschaubaren Scherbenhaufen aufgeschichtet werden, der nichts mehr von der ganzen geschichtlichen Wahrheit erzählt und dessen toter Gestalt auch kein Bild mehr abzugewinnen ist, in dem die Gegenwart sich als »gemeint« erkennen kann. Derartig überlieferte geschichtliche Bruchstücke und Fragmente begraben die Menschen unter sich und schaffen gerade in ihrer geballten Summe das Gegenteil von Geschichtsbewußtsein und Identität: Nämlich die schwermütige[160] Ahnung von Geschichtslosigkeit und Ohnmacht[161] .

[160] Baudelaires von Benjamin ausgiebig behandelter »spleen«.

[161] In anderem Zusammenhang sagt Benjamin, daß in der verdinglichten Zeit »die Minuten ... den Menschen wie Flocken ((zudecken)).Diese Zeit ist geschichtslos ...« (GS I, 2, S.642).

[162] Gerade in diesem Punkt wird ersichtlich, warum dann das jüdisch-messianische Konzept für Benjamin so wertvoll und hilfreich wird. In dessen Zeitvorsteilung ist nämlich unverzichtbar die Möglichkeit eingeschlossen, daß jedes bestehende Zeit- kontinuum in jedem einzelnen seiner Augenblicke durch den Eintritt des Messias außer Kraft gesetzt und in eine ganz neue Qualität transformiert werden kann. Diese prinzipielle Offenheit innerhalb eines zeitlichen Ablaufes bildet die vorbildliche Analogie für Benjamins Vorstellung von der konstitutiven Besonderheit der menschlichen Praxis, die tendenziell auch immer in der Lage ist, ein bestehendes scheinbar »homogenes« Kontinuum. »aufzusprengen«.

[163] Was nicht heißt, daß der materialistische Historiker nicht am Geschichtsganzen interessiert ist, bzw. willkürlich mit Geschichtsfragmenten hantiert als seien sie das Ganze. Kraft des »konstruktiven Prinzips« ist es ihm allein möglich, das Geschichtsganze in seinen »partiellen« Anteilen zu erkennen und zu behandeln, weil er versteht, wie im Besonderen das Allgemeine sich zum Ausdruck bringt. Er ist nicht abhängig vom Prinzip der »Summe« sämtlicher Details. »Nicht jede Universalgeschichte muß reaktionär sein. Die Universalgeschichte ohne konstruktives Prinzip ist es. Das konstruktive Prinzip der Universalgeschichte erlaubt es, sie in den partiellen zu repräsentieren.« (GS I, 3, S. 1234, Ben-Arch, Ms 484).

Innerhalb dieser addierten »Masse der Fakten«, bzw. innerhalb dieser unablässigen Bewegung des »Addierens«, gibt es für die Menschen nichts mehr zu tun: Sie sind ihrer eigenen Geschichte entmündigt. Die Gegenwart selbst ist hier zur addierbaren Versteinerung geworden, der auch die vergangenen Erfahrungen nichts mehr anhaben können, und es ist nur konsequent, daß es innerhalb einer derartigen »homogenen« Hermetik keinen Begriff von »jetztzeitiger« Aktualität bzw. »jetztzeitiger« Praxis geben kann[162] . Einer auf »Addition« ausgerichteten Methode wird Geschichte immer nur als unendliche »homogene« Bewegung erscheinen können, in der sich Detail an Detail reiht und Entwicklung als unablässige Ergänzung und Ausgestaltung verstanden wird. Ein solches Geschichtskon-(147)zept kennt keine Sprünge, die dieses Bewegungskontinuum aufsprengen und es in seiner Qualität prinzipiell und radikal verändern; und wie es in diesem Konzept damit auch keine echten geschichtlichen Kulminations- und Spannungszentren geben kann, in denen über Gelingen oder Katastrophe entschieden wird, so kann es auch keine echte geschichtliche Gegenwart geben, in der dem Geschichtsganzen prinzipiell eine fundamentale neue, andere Qualität verliehen wird. Das Prinzip der Addition zwingt zur gleichgültigen Anerkennung und Homogenisierung auch der widersprüchlichsten antagonistischen Geschichtsmomente; es muß als »Kontinuum« ausgeben, was in Wahrheit aus heterogenen Geschichts- und Bewegungsanteilen besteht, von denen einige über »kontinuumssprengende« Potenz verfügen.

Diese Einsicht weist dem materialistischen Geschichtsschreiber Benjaminscher Prägung den Weg. Er ist nicht daran interessiert, sämtliche Geschichtsfragmente zu versammeln und positivistisch im Leichenhaus der »Universalgeschichte« zu archivieren. Sie nehmen seine Aufmerksamkeit vornehmlich dort in Anspruch, wo sie über unerlöstes kontinuumssprengendes Potential an sich selbst Auskunft geben: Dieses hat der materialistische Geschichtsschreiber in seiner eigenen Gegenwart zu bündeln und wiederzubeleben. Sein Engagement für die Vergangenheit hat in der Rekonstruktion »kontinuumssprengender« Gegenwart ihren Zweck. Das seiner Methode eigentümliche »konstruktive Prinzip« versetzt ihn als einzigen in die Lage, Vergangenheit und Gegenwart genau in dem Punkt miteinander in »jetztzeitige« Beziehung zu setzen, wo ihre »erlösende« Theorie und Praxis auf die Beseitigung der »Katastrophe« abzielen. Diese »erlösende« Qualität findet der Geschichtsschreiber immer da vor, wo ihm das bestimmte Geschichtsfragment als »Monade« entgegentritt, (wie Benjamin jetzt dann sagt), bzw. wo er es als »Monade« zu sehen versteht.[163] (148)

 

5.  »Monadische« Vergangenheit und »jetztzeitige« Gegenwart

a)  Die Vergangenheit als »Monade« statt als »Faktum«

»Zum Denken gehört nicht nur die Bewegung der Gedanken sondern ebenso ihre Stillstellung. Wo das Denken in einer von Spannungen gesättigten Konstellation plötzlich einhält, da erteilt es derselben einen Chock, durch den es sieh als Monade kristallisiert. Der historische Materialist geht an einen geschichtlichen Gegenstand einzig und allein da heran, wo er ihm als Monade entgegentritt.« (These XVII)

[164] Es ist dies genau die Stelle, an der sowohl das vergangene »Kontinuum« aufgesprengt und seiner in ihm eingeschlossenen »Jetztzeit« entbunden werden kann, wie auch die Gelegenheit, der Gegenwart durch den zurückgewonnenen »jetztzeitigen« Impuls ebenfalls »kontinuumssprengende« Energie zu verleihen; und zwar - wie oben ausführlich dargestellt - durch die Anknüpfung an eine »Erfahrung«, die exemplarisch die bestehenden »Kontinuen« als produzierte Herrschafts-Verhältnisse entlarvt. »Wo die Vergangenheit mit diesem Explosionsstoff geladen ist, legt die materialistische Forschung an das ‘Kontinuum der Geschichte‘ die Zündschnur an.« (GS I,3,S.1249, Ben-Arch, Ms 443).

[165] Es ist bemerkenswert, daß Benjamin in diesem Zusammenhang auch vom »monadologischen Konstruktionsprinzip« redet, und dessen Bestimmung mit »messianischer Aktualität« verbindet: »Der materialistischen Geschichts-Schreibung liegt dagegen ein wirkliches Konstruktions-Prinzip zugrunde. Es ist das monadologische. Der historische Materialist geht an das Vergangene nur da heran, wo es ihm in dieser Struktur entgegentritt, welche mit der der messianischen Aktualität streng identisch ist.« (GS I, 3, S. 1251, Ben-Arch, Ms 450) Die »monadologische Konstruktion« enthüllt dementsprechend die »von Spannungen gesättigten Konstellationen«, in denen die Menschen in ihrer Gegenwart zu »messianischer Aktualität« sich durcharbeiten konnten. Wobei Benjamin damit immer Vorstellungen einer revolutionären Aufsprengung des herrschenden »Kontinuums« verbindet, sei es nun auf theoretischer oder praktischer Ebene, in machtvoller Demonstration oder »unscheinbarster Erscheinung«. Der historische Materialist »konstruiert« also seinen Gegenstand nicht nach dem Prinzip einer Addition von »faktischen« Fragmenten, sondern nach dem Prinzip der »Monade«, in dem sich die Geschichtsdetails so anordnen, daß sie ihre innerste Struktur preisgeben, die nie bloße Summe sein kann.

Geschichte entspricht für Benjamin nur dann ihrem Begriff, wenn sie sich ohne abgespaltene Anteile in »jetztzeitiger« Gegenwart konzentriert. Tut sie das nicht, bzw. hat sie entscheidende »erlösende« Anteile von sich abgetrennt - aus Angst vor deren systemfeindlichen weil kontinuumssprengenden Potenzen, dann nimmt sie die Form der »Katastrophe« an. Soweit nochmals die Grundformel der Benjaminschen Konzeption. Die Rekonstruktion echter »jetztzeitiger« Gegenwart ist somit vordringliches Ziel und sie erfolgt durch die Reintegration eben dieser der Gegenwart entfremdeten Geschichtsanteile. Diese Anteile sind jedoch nicht schon identisch mit jedem nichtbewußten, vergessenen oder unentdeckten Geschichtsfragment; diese besonderen gegenwartskonstitutiven Geschichtsimpulse entspringen dort der Vergangenheitsbetrachtung, wo »das Denken in einer von Spannungen gesättigten Konstellation plötzlich einhält«.[164] Deshalb entspricht ihnen auch nicht die Methode des Sammelns und der »Addition«, sondern - wie oben ausgeführt - die »Konstruktion«.[165] (149)

Diese entfaltet genau dort ihre Kraft, wo eine Detailfülle zum »Stillstand« bzw. auf ihren Begriff gebracht werden muß, um verstanden werden zu können. D. h. an einem bestimmten Punkt der geistigen wie materiellen Entwickeltheit einer bestimmten geschichtlichen Konstellation - sowohl in der Vergangenheit wie in der Gegenwart des Geschichtsschreibers - entsteht die erkenntnistheoretische Möglichkeit, die materialversammelnde Denkbewegung in den »Stillstand« einer »Konstruktion« umschlagen zu lassen. Unter dem synthetisierenden Zugriff des materialistischen Denkens - Benjamin spricht von der »dialektischen Konstruktion« - kristallisiert sich die zuvor noch verwirrende und unablässig sich erweiternde Menge der Informationen wie im »Chock« und gibt den Blick auf das ihrer Bewegung zugrundeliegende Organisationsprinzip frei. Und unter diesem »Chock« des Begreifens, des Umschlagens der Quantität der Einzelheiten in die Qualität ihres Begriffes, (- ein »Chock«, den das Denken sowohl seinem Gegenstand wie auch sich selbst erteilt -), formiert sich das geschichtliche Vergangenheitsfragment als »Monade«. (150)

Exkurs: Zur »Monade«

Drei klassische Bestimmungen an der »Monade« sind es m.E., die sie für Benjamin als Gegenbegriff zum positivistischen »Faktum« so attraktiv und tragfähig machen. Zum ersten bildet sie eine Einheit, die nicht auf dem Prinzip der Addition beruht, bzw. nicht auf additive Ergänzung angewiesen ist, um über ihr Verhältnis zum Ganzen Auskunft geben zu können. Sie enthält in ihrer elementarsten Struktur die ganze Wahrheit, bzw. anders ausgedrückt: Ihre Besonderheit ist nicht auf Erweiterung angewiesen. Sie gibt über ihr Verhältnis zum Allgemeinen durch sich selbst ausreichend Auskunft.

Zweitens ist sie gemäß ihrer philosophie-geschichtlichen Definition lebendige Einheit, die sich in einem ständigen Vermittlungsverhältnis zum lebendigen Ganzen befindet; deswegen kann ein »monadisch« organisierter Gegenstand, (auch wenn er selbst schon Einheit in sich selbst ist), nie ein totes, vergangenes »Faktum« sein, sondern in seiner Einheit von Besonderem und Allgemeinem ist exemplarisch lebendig, was das Ganze in Vergangenheit, Gegenwart und möglicher Zukunft ausmacht. Jede Monade hat damit überall und zu jedem Zeitpunkt Verbindung mit dem Lebensnerv des Ganzen.

Drittens gibt es in der klassischen Leibnizschen Vorstellung die interessante Bestimmung, daß es unter den Monaden verschiedene Grade von Klarheit und Deutlichkeit gibt - von der Bewußtlosigkeit bis zum göttlichen Selbstbewußtsein. Alle diese drei Merkmale der Monade funktionalisiert Benjamin für seine Argumentation und wendet sie materialistisch.

b) Die »Monade »als Kristallisationspunkt messianisch-revolutionärer Potenz

Im geschichtlichen Gegenstand, der sich als »Monade« konstruieren läßt, weil er selbst »Monade« ist, findet die Bedeutung der geschichtlichen Bewegung zu ihrem Begriff, d.h. sie bedarf keiner weiteren Ergänzung bzw. eine solche Ergänzung gehört nicht zum Prozeß der Herstellung ihrer Wahrheit. Sie gibt den bestimmten Inhalt ihrer Bewegtheit preis, ohne dadurch ihre Besonderheit an ein abstraktes Allgemeines zu verlieren. Was die »Monade« dadurch zu zeigen in der Lage ist, bezieht sich auf die Stellung des Besonderen zum Allgemeinen, während das »Faktum« immer nur als Erweiterung des Allgemeinen auftreten kann. Die »Monade« kennt damit ein wahr und falsch, ein Gelingen und Mißlingen, wobei immer schon Benjamins transformierende Verwendung berücksichtigt werden muß. In seinem Konzept von »Monade« verdichtet sich eine Bewegung derart, daß ihr Fortschritt die Aufsprengung ihrer bisherigen Kontinuität verlangt, bzw. (151) materialistisch formuliert: In der monadischen Konstellation hat sich der Widerspruch zwischen Entfaltung besonderer - geistiger wie materieller - Produktivkräfte und allgemeinem Produktionsverhältnis so weit entwickelt, daß die bisherige Allgemeinheit des Produktionsverhältnisses als beschränkend wirken und konsequenterweise hin zu einer neuen Qualität aufgehoben werden muß. (Daß dies bisher nur in unvollständigem Maße geschehen ist, gibt den wesentlichen Grund ab für die noch ungebrochene Kraft des »Sturms«, bzw. der geschichtlichen »Katastrophe«. Sie ist der beschränkte und beschränkende Bezugsrahmen, der nur an seiner additiven Reproduktion interessiert ist, jeglichen kontinuumssprengenden Impuls jedoch zu eliminieren versucht).

In den »Monaden« finden die Menschen zu ihrer geschichtskonstitutiven Besonderheit zurück und vermögen das bisherige »Kontinuum« in Frage zu stellen. Deshalb sagt Benjamin über die monadische Konstellation, wie sie der historische Materialist wahrzunehmen versteht:

»In dieser Struktur erkennt er das Zeichen einer messianischen Stillstellung des Geschehens, anders gesagt, einer revolutionären Chance im Kampfe für die unterdrückte Vergangenheit«. (These XVII)

Was den materialistischen Geschichtsschreiber interessiert, sind die Kulminationspunkte in der Geschichte, in denen die Menschen sich ihrer eigenen Geschichte zu bemächtigen versuchten oder sich ihrer wirklich bemächtigten. Und es sind genau diese dort eingeschlossenen »kontinuumssprengenden« Impulse, die er zur Rekonstruktion seiner eigenen Gegenwart als »jetztzeitiger« braucht. Denn wie die vergangenen »unterdrückten, kämpfenden« Generationen das Primat der »Jetztzeit« gegen die »homogene und leere« Zeit katastrophischer Kontinuen aufrichteten, um dem Denken und Handeln der Menschen wieder die volle selbstbewußte Verantwortung für den Gang ihrer eigenen Geschichte zurückzugewinnen, so hat auch er es zu tun.[166] (152)

[166] Engelhardt‘s Beitrag in den »Materialien«, »Der historische Gegenstand als Monade. Zu einem Motiv Benjamins« (in: Materialien, aaO., S. 292 - 317) trägt leider kaum zum echten Verständnis dieses Komplexes bei Benjamin bei. Wie bei einigen anderen kritischen Beiträgen zu Benjamins materialistischem Werk, die sich auf scheinbar hohem Niveau bewegen, krankt auch dieser Aufsatz an einer schlichtweg unzureichenden und fehlerhaften Entwicklung des Benjaminschen Gedankenganges. (Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß diese Sorte von Kritik ein primäres Interesse daran hat, die von Adorno begründete und von Tiedemann vehement fortgesetzte Tradition der Abwertung des Benjaminschen Materialismus abzustützen und deren negativen Urteile unter allen Umständen zu bestätigen). An einer Bemerkung Engelhardts, den oben entwickelten Zusammenhang betreffend, läßt sich die Unergiebigkeit und das Unverständnis zeigen, die seiner Kritik an Benjamin zugrunde liegt: »Potentiell kann Denken in jeder Konstellation einhalten, und nur weil Benjamin eine offenbar prästabilierte Harmonie von geschichtlichem Gegenstand als Monade und messianischer Stillstellung des Geschehens anzunehmen scheint, erscheinen bestimmte Konstellationen als ausgezeichnet.« (Hartmut Engelhardt, in: Materialien, aaO., S. 299) Das Gedankengerüst, in das Benjamin hier eingespannt wird, ist verzerrend.

Sicher: »Denken« kann immer »einhalten«; nur ist es die Frage, was ihm dann entspringt, welche Resultate es zu zeitigen vermag. (Das an sich schon eine Plattitüde, die so gar nichts hergibt und bei Benjamin so weder geschrieben steht noch als gedacht impliziert ist). Benjamin spricht ausdrücklich vom »Einhalten« in einer »von Spannungen gesättigten Konstellation«, die erst ermöglicht, auf Grund eines bestimmten Grades an Verdichtung von Material und Erfahrung, echtes Verstehen an die Stelle treten zu lassen, wo vorher noch unübersehbar die bewegte Menge den Blick überschwemmte. (»Kontinuen«, in ihrer Benjaminschen Wortbedeutung, können sich gerade wegen dieser Unüberschaubarkeit am Leben erhalten; wo diese jedoch auf den Begriff gebracht werden kann, hat auch das »Kontinuum« seine Kraft und seine Macht verloren). Ich wüßte zudem nicht, wo Benjamin jemals den Begriff des »geschichtlichen Gegenstandes als Monade« mit der »messianischen Stillstellung« unter dem Prädikat der »prästabilierten Harmonie« zusammengeschlossen haben soll, bzw. einem derartigen Gedankengang Ausdruck gegeben hätte. (Allein schon der Begriff bzw. die Vorstellung »prästabilierter Harmonie« hätte ihm mit Sicherheit kritische Kommentare abgefordert und seine Übernahme des Monaden-Konzeptes verläuft, wie ich gezeigt habe, auf anderer Ebene). Nicht weniger trickreich ist der daran sich anschließende Argumentationsgang Engelhardts, der die »Ausgezeichnetheit« bestimmter »Konstellationen« darauf zurückführt, daß Benjamin, beinahe willkürlich, in ihnen »prästabilierte Harmonie« von »geschichtlichem Gegenstand« und »messianischer Stillstellung« postuliert. D. h., Benjamin »zeichnet« bestimmte »Konstellationen« deshalb »aus«, weil er mit einer vorgefaßten Meinung von »prästabilierter Harmonie« an sie herantritt, und nicht weil - wie bei Benjamin wirklich zu lesen ist in diesen »Konstellationen« etwas passiert, was ihn dazu veranlaßt, in dem mit ihnen gelieferten »Spannungsverhältnis« sowohl die »Zeichen einer messianischen Stillstellung des Geschehens« zu erkennen, wie damit gleichzeitig auch die »revolutionäre Chance im Kampf um die unterdrückte Vergangenheit«.

Engelhardt zieht verschiedene Elemente, die bei Benjamin in einem komplexen und definierten Verhältnis zueinander stehen, in einen reduktionistischen Gedankengang zusammen, und zwar unter Verwendung eines Begriffsrahmens, der suggeriert, man habe es bei Benjamin letztendlich doch wieder mit einem - materialistisch verbrämten - Offenbarungstheologen zu tun, der mit Mystik Realität außer Kraft setzen kann, bzw. ihr vorzuschreiben versteht, wann sie »messianisch« bzw. »revolutionär« zu sein hat. Dies dann deutlichst ausgedrückt in Engelhardts Behauptung: Benjamin »kann ... die historische Zeit mit der messianischen so korrespondieren lassen, daß der revolutionäre Moment unabhängig von seiner profanen Beschaffenheit behauptet werden kann ...« (Engelhardt, aaO., S. 296). Diese Position ist mit Gewißheit nicht die Benjamins und die Problematik, die hier entwickelt wird, ist Resultat totaler Umkehrung eines ursprünglich recht klaren Gedankenganges. Wenn nämlich Benjamin jedem historisch-profanen Augenblick potentiell seine »messianische« Chance zuspricht, dann macht er deren Realisierung gleichzeitig von einer richtigen - theoretischen wie praktischen - Haltung der Subjekte ihrer Geschichte gegenüber abhängig. Nur wenn sie mit »profaner Zeit« so umgehen können, daß sie sie nicht mit dem ideologischen Konzept des »Kontinuums« hermetisch gegen Widerspruch und Besonderheit abdichten, entsteht für sie die Wirklichkeit der »messianischen Stillstellung« des »Kontinuums«, bzw. der »revolutionären Chance«, die darin besteht, die Fragmentierung der Geschichte und das damit verbundene Vergessen rückgängig zu machen. (Und es ist bezeichnend, daß Benjamin von der »revolutionären Chance im Kampf für die unterdrückte Vergangenheit« spricht; wobei es gerade auf die zweite Hälfte dieses Satzes ankommt). Es handelt sich hier um einen Prozeß, innerhalb dessen die Menschen sich wieder in Besitz ihrer Geschichte und ihrer spezifischen Subjektivität bringen. Die Rekonstruktion dieser Subjektivität - (immer verstanden im oben entwickelten Sinne eines »Subjekts-der-historischen-Erkenntnjs« -Seins) - ist immer verbunden mit der Aufsprengung eines »Kontinuums« insofern sich in diesem partielle Geschichtskräfte zum Allgemeinen hypostasiert und verselbständigt haben. (Diese Rekonstruktion endet in den seltensten Fällen in der »großen Revolution«; jeder Akt, mit dem ein »Kontinuum« auf die eine oder andere Weise aufgesprengt wird, ist als »Zeichen einer messianischen Stillstellung des Geschehens« zu begreifen, und in jedem derartigen Akt entsteht die Chance, vergessener, verdrängter, abgespaltener, unterdrückter Momente des Geschichtsganzen wieder habhaft zu werden. Es ist dies aber immer gleichzeitig ein Prozeß innerhalb geschichtlicher Profanität und darin explizit auch ein aktiv geführter Kampf gegen das jeweilige »Kontinuum«, unter dem die »messianische« Besonderheit zu ersticken droht). Es ist von größter Bedeutung, daß man die »messianische Stillstellung« unter dem Aspekt dieser »revolutionären Chance für die unterdrückte Vergangenheit« zu lesen versteht und diese so wichtige Präzisierung nicht unterschlägt; es ergibt sich dann ein viel subtileres Verhältnis von »historischer und messianischer Zeit«: Immer dort, wo die vom Vergessen bedrohten Momente des Vergangenen, in denen sich die Menschen vom Zugriff der »Kontinuen« emanzipierten - erfolgreich oder auch im Mißlingen, entsteht für die Gegenwart die Chance der Rekonstruktion einer Tradition, die »messianisch-revolutionäre« Qualität hat, und gerade auch deshalb, weil sie den profanen Befreiungskampf wieder aufnimmt, in dem die Menschen sich daran gemacht haben, die Macht der »Kontinuen« zu brechen und sich selbst als echte geschichtliche Subjekte an deren Stelle zu setzen.

Bezogen auf die Monaden-Problematik heißt das: Der »geschichtliche Gegenstand als Monade« steht für einen profanen Zustand, in dem ein bestimmter Grad an »Spannung« erreicht ist, unter der ein bestehendes »Kontinuum« seine theoretischen wie praktischen Widersprüche so Weit vorangetrieben hat, daß deren Auflösung die Aufsprengung des »Kontinuums« verlangt. Genau diesen möglichen Umschlag von einem Zustand in einen qualitativ neuen verbindet Benjamin mit dem Wort der »messianischen Stillstellung«. und der »revolutionären Chance«; in diesen »kontinuumssprengenden« Geschichtsprozessen -die durchaus Prozesse »unscheinbarster Veränderungen« sein können - formt sich die Tradition, in der Benjamin die Möglichkeit der »Erlösung« der Geschichte von ihrer »katastrophischen Gestalt angelegt sieht. Der materialistische Historiker Benjaminscher Prägung weist der Geschichte nicht ihre »revolutionären Momente unabhängig von ihrer profanen Beschaffenheit zu«; er geht an sie dort heran, wo er eine von »Spannung gesättigte Konstellation« vorfindet, in der sich ein geschichtlicher Zustand zur »Monade« kristallisierte, was gleichbedeutend ist mit der »Kristallisation« von Besonderheit, die den falschen Schein des »Kontinuums« zerstört. Wo dies geschieht, sieht Benjamin - mit Recht - das »Zeichen einer messianischen Stillstellung«, denn auf profanster geschichtlicher Ebene kündigt sich hier der Widerstand gegen existierende Geschichte an, deren »Kontinuität« in Wirklichkeit die der »Katastrophe« ist. (Das »Kontinuum« im Benjaminschen Sinn ist immer Ausdruck geschichtlicher Entfremdung; dieser Begriff steht bei ihm nie für den schlichten Ablauf von Zeit, wie ihm alle Menschen unterworfen sind, In ihm meint er ein bestimmtes Konzept von Geschichte, in dem Subjektivität und Besonderheit der Menschen nur als akzidentielle Faktoren auftreten).

[167] Kaisers Interpretation dieses »Eingedenkens« verfehlt wiederum völlig die viel dialektischere Konzeption Benjamins: »Benjamin, der historische Materialist, entscheidet sich für das Eingedenken der alten Juden. Er ist, mit einem Wort der Romantiker, Historiker als rückwärts gewandter Prophet.« (Kaiser, S.57). Zum einen übersieht diese Auslegung die spezifische materialistische Bearbeitung, die z.B. jüdisch-theologische Begriffe bei Benjamin erfahren, zum anderen vernachlässigt diese Deutung vollständig den für Benjamins Konzept fundamentalen Sach-verhalt, daß dieses »Eingedenken« der Vergangenheit -in der Form der »monadischen Konstruktion«- seine »Fluchtlinien ... in unserer eigenen historischen Erfahrung« zusammen-laufen und »Vergangenes« in aktueller, zukunfts-orientierter »Jetztzeit« aufgehen läßt. Diese Vermittlungs-Problematik geht in Kaisers bornierter »Romantiker«-Auslegung völlig verloren.

[168] »Der Schein der geschlossnen Faktizität, der an der philologischen Untersuchung haftet und den Forscher in den Bann schlägt, schwindet in dem Grade, in dem der Gegenstand in der historischen Perspektive konstruiert wird. Die Fluchtlinie dieser Konstruktion laufen in unserer eignen historischen Erfahrung zusammen. Damit konstituiert sich der Gegenstand als Monade. In der Monade wird alles das lebendig, was als Textbefund in mythischer Starre lag«. (W.B., Briefe, aaO, S. 794 an Adorno).

[169] Benjamins materialistische Rehabilitierung Baudelaires oder der Surrealisten ist nur ein Beispiel für dieses von ihm selbst praktizierte Aufspüren und Verstehen »monadischer« Dokumente, aus denen seine subtile Inter-pretation ihre kontinuums-sprengenden, radikal-kritischen Impulse heraus zu präparieren versteht. Aber es sind ja beileibe nicht nur die »Berühmten«, die für die »feinen und spirituellen Dinge« verantwortlich sind, wie oben zu sehen war. Die »monadischen« Dokumente »messianischer Aktualität« finden sich gerade bei den »Namen-losen«, deren »Erfahrungen« Benjamins volles historisches Interesse gilt. »Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namen-losen zu ehren als das der Berühmten... Dem Gedächtnis der Namenlosen ist die historische Konstruktion geweiht.« (GS I, 3, S. 1241, BenArch, Ms 447 u. Ms 1094) Die Dialektik enthüllt, daß es gerade die »Namen-losen« sind, bei denen die Möglichkeit besteht, echtes »Subjekt historischer Erkenntnis« im oben beschriebenen Sinn zu sein; sie allein verfügen, weil sie nichts zu verlieren haben, über das Interesse wie auch über die praktische Gewalt, das »Kontinuum der Geschichte«, in messianisch-revolutionärer Aktion auf zu sprengen.

In den monadischen Konstellationen findet er sowohl den Grundkonflikt zwischen Besonderheit und entfremdetem Allgemeinem wieder - (der »Engel« im ‘‘Sturm‘‘; das Schießen auf die Turmuhren, um die ‘‘homogene und leere Zeit‘‘ zum Stillstand zu bringen) - wie auch den nicht minder bedeutsamen Impuls revolutionärer Gegenwehr. Beide Momente konstituieren im »Eingedenken«[167] eine Tradition, aus der heraus die Gegenwart selbst wieder an diesen Kampf gegen das falsche Allgemeine anknüpfen kann. (Gleichzeitig vollzieht sich in dieser Erneuerung die »Erlösung« der Vergangenheit. Denn deren »Chance« besteht einzig und allein darin, daß die nachfolgenden Generationen sich dieses Modells der Stillstellung bzw. Aufsprengung des Kontinuums aktiv bedienen). Diese Herstellung eines lebendigen Zusammenhanges zwischen vergangener und gegenwärtiger Geschichte ist die spezifische und so wertvolle Leistung der »monadologischen Konstruktion«: Sie durchbricht die Totenstarre der »Faktizität« und bereitet damit den Boden für die Erneuerung des Befreiungskampfes.[168] Denn: Gegenwart und Vergangenheit sind dort miteinander verbunden, wo sie ihre Identität im Klassenkampf gegen die Entfremdung haben, bzw. im revolutionären Kampf für eine unentfremdete, klassenlose Geschichte.

Natürlich gibt es - und hier ist die dritte Analogie zur oben erwähnten Monadenlehre - verschiedene Grade der Entwickeltheit des Widerspruchs des Besonderen zum Allgemeinen und dementsprechend auch verschiedene Grade der Bewußtheit in diesen monadischen Konstellationen. Aber dennoch vermögen sie durchaus schon über - wenn auch »schwache« - »messianische« Qualitäten zu verfügen, und gerade auch auf diese »unscheinbarsten« monadischen Konstellationen hat sich der materialistische Geschichtsschreiber zu konzentrieren[169] . Denn in ihnen (155) »strebt ... das Gewesene der Sonne sich zuzuwenden, die am Himmel der Geschichte im Aufgehen ist«, um die Metaphorik der IV. These zu gebrauchen; wobei man das Symbol der Sonne mit Sicherheit auf die revolutionär-messianischen Impulse zu beziehen hat, die das Kontinuum aufsprengen wollen, um der Geschichte eine unentfremdete nicht-katastrophische Gestalt zu verleihen.

Finden in den »monadischen« Konstellationen die Menschen zu ihrer wahren geschichtlichen Identität im Kampf gegen das falsche Allgemeine, so dann auch der materialistische Geschichtsschreiber, indem er kraft seines »konstruktiven Prinzips« diese bestimmten Geschichtskonstellationen nicht in »Fakten« zerstückelt und damit in ihrer »jetztzeitigen« Valenz abtötet, sondern sie als »Monaden« rekonstruiert und die verwirrende Bewegung zum Stillstand bringt. Die begriffene Bewegung muß ihre Macht, die sie durch ihre Verselbständigung und zunehmende Unübersichtlichkeit gewonnen hat, wieder an ihre menschlichen Produzenten abtreten und fällt damit in dem, wie ihr weiterer Inhalt aussehen soll, unter deren selbstbewußte und planende Verfügungsgewalt. Womit der Zustand »jetztzeitiger« Gegenwart erreicht wäre, in der die Besonderheit menschlicher Praxis wieder dem Allgemeinen seine bestimmte Form gibt.

c)  »Monadische« Besonderheit und revolutionäre Zeit - »Samen«

Benjamins Erkenntnisweg führt zurück auf Konstellationen, in denen das Allgemeine das Besondere nicht mehr unter sich subsumieren und damit mundtot machen kann; er ist am Zugang zu den Erfahrungen interessiert, in denen sich dieses Besondere so zu artikulieren versteht oder verstand, daß an ihm die geschichtskonstitutive Bedeutung und Möglichkeit menschlichen Denkens und Handelns offensichtlich wird. Wo er dieser Besonderheit habhaft werden kann, vermag er natürlich auch deren Unerlöstheit zu erkennen, insofern ihr das Kontinuum, in dem sie sich bewegen mußte, beschränkend und behindernd entgegenstand. Was dieser Besonderheit verwehrt war, kann oder muß zum Inhalt der Gegenwart werden, die diesen unversöhnten Inhalten dann ihr Recht verschafft, wenn sie (156) dafür sorgt, daß in Zukunft der Besonderheit in ihrem ganzen möglichen Ausmaß Geltung und unrestringierte Wirklichkeit zukommen kann.

Insofern in den »Monaden« diese Besonderheit ihre gelungenste Ausformung gefunden hat, findet sich in ihnen auch der Schlüssel zur Rettung der Vergangenheit wie gleichzeitig zur Rekonstruktion der Besonderheit in jetztzeitiger Gegenwart. Deshalb sagt Benjamin von den »Monaden«, daß in ihnen die »revolutionäre Chance im Kampf für die unterdrückte Vergangenheit« steckt und daß der historische Materialist diese Chance wahrnimmt,

»um eine bestimmte Epoche aus dem homogenen Verlauf der Geschichte ... ein bestimmtes Leben aus der Epoche, ... ein bestimmtes Werk aus dem Lebenswerk« (These XVII)

herauszusprengen. Und indem er diese bestimmte Besonderheit aus der nivellierenden Homogenität heraussprengt, gewinnt er auch erst das wahre Bild des allgemeinen Geschichtsverlaufes. Denn dieser ist in Wahrheit in der Besonderheit enthalten und nicht umgekehrt, denn wo sich ein Kontinuum bilden und verabsolutieren konnte, war es nichts anderes als entfremdete Besonderheit, die sich hier gegen ihre eigenen Produzenten ontologisierte. Die Rekonstruktion der Besonderheit, wie sie der materialistische Historiker vornimmt, gewinnt das geschichtliche Ganze zurück, ohne es mit dem falschen Allgemeinen der positivistischen Summe verwechseln zu müssen:

»Der Ertrag seines Verfahrens besteht darin, daß im Werk das Lebenswerk, im Lebenswerk die Epoche und in der Epoche der gesamte Geschichtsverlauf aufbewahrt ist und aufgehoben«. (These XVII)

[170] GS II,1,S.310 (157)

Damit nun wird ein Geschichtsbild konstruiert, das Geschichte immer vom Zustand besonderer menschlicher Praxis her beschreibt und bewertet. Es restauriert einen menschlichen »Kalender«, bzw. ein Zeitmaß, in dem - wie Benjamin an anderer Stelle sagt - »jede Minute sechzig Sekunden lang anschlägt«[170] , d.h. in diesem Zeitmaß verzichtet kein Augenblick auf seine besondere konstitutive Bedeutung. Und wer diese Besonderheit am geschichtlichen Gegenstand zu rekonstruieren versteht, der etabliert dieses »jetztzeitige« anti-homogene Zeitmaß in seiner eigenen geschichtlichen Gegenwart.

»Die nahrhafte Frucht des historisch Begriffenen hat die Zeit als den kostbaren, aber des Geschmacks entratenden Samen in ihrem Innern (These XVII)

Indem der materialistische Geschichtsschreiber das vergangene Handeln der Menschen an ihren »jetztzeitigen« Kulminationspunkten zu Bewußtsein bringt und damit Geschichte unter dem Aspekt des Gelingens oder Mißlingens selbstbewuß-(157)ter, konstitutiver Inbesitznahme geschichtlicher Zeit beschreibt, rekonstruiert er gleichzeitig seine eigene Gegenwart als ebenfalls potentiell »jetztzeitige«: Die Versuche vergangener Generationen bzw. deren »kämpfende(n) unterdrückte(n) Klasse(n)«, ihrer »Kräfte Herr (zu bleiben): Manns genug (zu sein), das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen« (Th. XVI) und sich damit zum bestimmenden Zentrum der Geschichtsbewegung zu machen, erneuert in dem, der sich dieser Erfahrung im »Eingedenken« aussetzt, ein Bewußtsein von »Zeit«, in dem der Augenblick nicht als verschwindender, addierbarer Partikel der »homogenen Ewigkeit untergeordnet wird, oder anders ausgedrückt: Die Einsicht in das »jetztzeitige« Bewußtsein der Vergangenheit, wie es sich in den »monadischen« Konstellationen herauskristallisiert hat, versieht »Zeit« überhaupt erst wieder mit der Dimension, die sie in ihrer naturwissenschaftlich-positivistischen Gestalt vollständig eingebüßt hat: Maßstab geschichtlicher und damit ungleichförmiger Besonderheit sein zu müssen. An die Stelle »homogener« aber »leerer« Bewegungselemente tritt hier die bestimmte Qualität gesellschaftlich-geschichtlicher Praxis, die gerade nicht kontinuumskonform ist und in der die prinzipielle Offenheit menschlicher Geschichte zum So-oder-auch-anders erhalten bleibt. Die Erfahrung dieser Offenheit erneuert ein revolutionäres Bewußtsein von »Zeit«, in dem die Menschen ihr »Hier und Jetzt« als den geschichtlichen Knotenpunkt erkennen, an dem sie in jedem einzelnen Augenblick die Qualität dieser ihrer eigenen Geschichte bestimmen: Sei sie nun »katastrophisch« im Scheitern oder »messianisch« im erfolgreichen Aufsprengender falschen Kontinuen[171] .

[171] Es ist dies ein Zeitbewußtsein, das - wie bei den Juden - den qualitativen Sprung kennt, bzw. immun ist gegen die entfremdete Vorstellung eines unaufhebbaren geschichtsontologischen Schicksalskontinuums: »Den Juden wurde die Zukunft nicht zur homogenen und leeren Zeit. Denn in ihr war jede Sekunde die kleine Pforte, durch die der Messias treten konnte.« (Thesen, Anhang B).

Die »Zeit«, die der historische Materialist den vergangenen monadischen Konstellationen abgewinnt, kennzeichnet jedoch nur eine Bewußtseinsvoraussetzung für wirkliche »jetztzeitige« Gegenwart; Benjamin bezeichnet sie nicht von ungefähr als zwar »kostbaren ...‚ aber des Geschmacks entratenden Samen«. In derselben Bildlichkeit weitergedacht heißt das: Dieser »Samen« verlangt nach einem Nährboden, in dem er sich entfalten kann und in dem er dann als entwickelte Frucht seinen vollen Geschmack erhält. Dieser Nährboden muß als die »unterdrückte, kämpfende Klasse«! angesehen werden, in der sich dieser anti-homogene Zeitsamen in revolutionäres Klassenbewußtsein transformiert und in revolutionärer Praxis seinen ursprünglichen bzw. eigentlichen Geschmack erhält.

So besehen enthalten die so »kostbaren« Zeit-«Samen« genau die Anteile, die in der sozialdemokratischen Revision der Marxschen Theorie preisgegeben wurden und einer positivistischen Affirmation weichen mußte; die konkrete Wiederbelebung ihres Geschmacks ist gleichbedeutend mit der Erneuerung revolutionärer Theorie und Praxis. Die Klasse, die in Besitz dieser spezifischen Zeit-«Samen« ist, läßt sich ihre Geschichte nicht mehr aus der Hand nehmen und ist auch nicht mehr bereit, irrationale Herrschaftsverhältnisse als ontologische Kontinuen zu akzeptieren bzw. sich ihnen freiwillig und dienstbar zu unterwerfen. (158)

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