Christoph Hering  (Verlag Peter Lang, Frankfurt 1983):

Die Rekonstruktion der Revolution.

Walter Benjamins messianischer Materialismus in den Thesen »Über den Begriff der Geschichte« ( 1 2 3 4 5 6 )

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Inhalt

  1. Vorwort
  2. Einleitung
  3. Theologischer »Zwerg« und Materialistische »Puppe«:
    Benjamins Projekt einer theologischen Erneuerung des Historischen Materialismus
  4. »Vergangenheit« und »Erlösung«: Zur »messianischen« Verantwortung der Gegenwart
    1. Der Anspruch der Vergangenheit auf »Erlösung«
    2. Exkurs: Benjamin und Marx 1
    3. »Materialistischer« und »historistischer« Umgang mit der Vergangenheit
    4. Die »Gegenwart« des Faschismus:
      Extremster und konsequentester Ausdruck prinzipieller geschichtlicher Entfremdung
  5. »Paradies« und »Sündenfall«: zur prinzipiellen Entfremdung des geschichtlichen Fortschreitens …
    1. Die Aporie des »Engels der Geschichte«
    2. Die Fundierung des Fortschrittsbegriffs in der »Idee der Katastrophe«
    3. Exkurs: Benjamin und Marx II
  6. »Sozialdemokratie« und »Klassenkampf«: Die Revision des Historischen Materialismus
    1. Die sozialdemokratische Verfälschung zentraler Marxscher Begriffe
    2. Die Entmündigung d. Proletariats als revolutionärer Klasse
    3. Exkurs: Benjamin und Adorno
    4. Die Ersetzung materialistischer Dialektik durch positivistisch- naturwissenschaftliche Eindimensionalität
    5. Exkurs: Historischer Materialismus und messianische Theologie
  7. »Kontinuum« und »Revolution«: Die Rekonstruktion geschichtlicher Gegenwart
    1. »Jetztzeit« statt »homogene und leere Zeit«
    2. Der »Tigersprung ins Vergangene« als Zurückgewinnung verschütteter »jetztzeitiger« Vergangenheit
    3. Exkurs: Fortschritt und Revolution
    4. Die Rekonstruktion von klassenkämpferischem »Kalender« und »kontinuumssprengender« Identität
    5. Gegenwart als »stillgestellte« Zeit bzw. materialistische Besonderheit statt historistische Abstraktion
    6. »Monadische« Vergangenheit und »jetztzeitige« Gegenwart
    7. Exkurs: Zur »Monade«
  8. »Theologie« Und »Historischer Materialismus«: Die menschliche Geschichte unter dem Aspekt ihrer »messianischen« Revolutionierbarkeit
    1. »Messianische« Radikalität und »richtiges Leben«
    2. Exkurs: Materialisierte Theologie
    3. Die »Messianisierung« des Historischen Materialismus
    4. Der »Dienst« der Theologie oder die Materialisierung des »Messianismus«
  9. Nachwort
  10. Bibliographie
  11. Ausführliches Inhaltsverzeichnis

 

III. »Paradies« und »Sündenfall«: zur prinzipiellen Entfremdung des geschichtlichen Fortschreitens

1.  Die Aporie des »Engels der Geschichte«

a)  Theologische Sensibilität und reale Ohnmacht

Die berühmte IX. These, in ihrer metaphorischen Verschlüsselung anfangs ebenso irritierend wie die 1. These, führt das Korrektiv des geschichtlichen Fortschreitens als eines Fortschritts in der Katastrophe ein. Benjamin greift hierbei auf ein Bild von Klee mit dem Titel »Angelus Novus« zurück und nimmt die darauf abgebildete Engelsfigur dazu her, die gängige Wahrnehmung der Geschichtsbewegung radikal zu unterlaufen.

»Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen, und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Fuße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradies her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.« (These IX)

[70] Wie sehr Benjamins IX. These gerade durch voreilige theologische Bezüge verstellt wird, bzw. wie wenig theologisch-kulturgeschichtliche Verweise etwas für die Einsicht in Benjamins kritische Intention hergeben, dokumentieren exemplarisch in neuester Zeit die Beiträge von Scholem (Walter Benjamin und sein Engel, in: Zur Aktualität Walter Benjamins, Frankfurt 1972, S. 87-138) und Haselberg (Benjamins Engel, in: Materialien, aaO., S. 337-356). Theologisch-kulturgeschichtlicher Belegeifer und Blindheit für die Funktion theologisch-kulturgeschichtlicher Motive im Benjaminschen Kontext kennzeichnen diese Versuche.

Wie in der 1. These, so ist auch in dieser IX. das theologische Motiv - die Engelsfigur und ihr Erlösungswunsch - dem verschlossen, der ausschließlich und voreilig mit theologischer Orthodoxie und Tradition anrückt und den Benjaminschen Kontext vernachlässigt.[70] Die Bedeutung des Engels erklärt sich aus den Thesen selbst. (67)

Seine Situation ist ganz offensichtlich die eines kritischen, aber gelähmten Beobachters. Selbst gefangen in einem Bewegungsprozeß, der ihn mit sich reißt, kann er nur entsetzt dessen Erlösungsbedürftigkeit konstatieren. Diese gesteigerte Sensibilität gegenüber der Geschichte zeichnet den Engel jedoch erheblich vor anderen »Historikern« aus: Denn »wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert.« Ein solches Bild der Geschichte ist ebenso deutlich vom historistischen unterschieden, dem jeder Augenblick in seiner widersprüchlichen Vielfalt eine homogene Einheit bildet, wie von allen anderen Vorstellungen positivistischer oder auch vulgärmaterialistischer Abkunft, die innerhalb des Geschichtsganzen ein unablässig progressives Fortschreiten erkennen wollen. Was der Engel dagegen sieht, ist die permanente Wiederholung des Immergleichen; die so »stürmische« und ungestüme Bewegung des Geschichtsprozesses vermag ihn nicht darüber hinwegzutäuschen, daß sich hier immer wieder dieselbe Katastrophe reproduziert.

Der »Sturm«, in dem er sich befindet und der er als hilfloses Objekt ausgeliefert ist, »weht vom Paradies her«, wobei die Analogie nahelegt, den geschichtlichen »Sturm« mit einem ursprünglichen »Sündenfall« in Beziehung zu setzen. Und wie der Sündenfall den paradiesischen Zustand nicht nur in einen weniger paradiesischen verwandelt‚ sondern ihn verunmöglicht und an seine Stelle katastrophisches Leben setzt, so beschreibt die Metapher des »Sturms« in der Geschichte auch nicht deren natürliche Komplexität und den damit verbundenen Konfliktreichtum, sondern deren prinzipielle Verkehrung. Der »Sündenfall« signalisiert den Verlust »richtigen Lebens«; eine zutreffende Theorie der Geschichte hat sich an diesem Verlorenen zu orientieren.

[71] Ungemein aufschlußreich schon die Differenz in der Bildlichkeit, mit der Benjamin z.B. den »Dialektiker« beschreibt: »Für den Dialektiker kommt es darauf an, den Wind der Weltgeschichte in den Segeln zu haben. Denken heißt bei ihm: Segel setzen. Wie sie gesetzt werden, das ist wichtig. Worte sind bei ihm nur die Segel. Wie sie gesetzt werden, das macht sie zum Begriff.« (GS 1, 2, S. 674). Der »Engel« hat den »Sturm«, der vom »Paradies« her weht, nicht in seinen »Segeln«; im Gegenteil: Er hält ihn gefangen. Und, so läßt sich weiter folgern: Diese seine Gefangenschaft verhindert, daß seine kritische Wahrnehmung sich zur Begrifflichkeit entwickeln kann.

Die theologische Sensibilität des Engels ist jedoch unmittelbar mir realer Ohnmacht verknüpft: Denn seiner Einsicht in die Erlösungsbedürftigkeit der menschlichen Geschichte fehlt vollständig die Dimension des Wissens, wie diese so wichtige Einsicht geschichtlich real werden kann.[71] (Die kritische Fixierung des »Sündenfalls« in der Geschichte ist zwar von größter Bedeutung, aber eben nicht ausreichend, solange er unmaterialistisch nur innerhalb theologischer Metaphorik formulierbar ist. Diese Stelle bezeichnet genau den Punkt, an dem Benjamin die Theologie materialistisch überwinden wird, ohne ihre Wahrheit preis-zugeben.) (68)

b) Erlösungswunsch und gesellschaftlich-geschichtliche Praxis

[72] Der Blick zurück in die Vergangenheit ist eine Tugend, die Benjamin vom mat. Historiker erwartet. Denn er enthüllt viel unbestechlicher den Zustand der (aktuellen) Geschichte, bzw. Gegenwart als der trügerische prophetische Blick in die Zukunft. Er hebt ins Bewußtsein, was sozusagen als unbewußtes gesellschaftlich-geschichtliches Erbe die Gegenwart zutiefst begründet und wegen dieser Unbewußtheit umso bestimmender. Dieser Historiker - Benjamin erinnert hier auch an das esoterische Wort vom »rückwärts gekehrten Propheten« - »kehrt der eigenen Zeit den Rücken; sein Seherblick entzündet sich an den ins Vergangene verdämmernden Gipfeln der frühern Ereignisse. Dieser Seherblick ist es, welchem die eigene Zeit deutlicher gegenwärtig ist als den Zeitgenossen, die mit ihr Schritt ‘halten‘». (GS I, 3,S. 1235, Ben-Arch, Ms 472). Jedoch: Der »Engel der Geschichte« ist noch nicht identisch mit dem Typ von materialistischem Historiker, den Benjamin in den Thesen im Auge hat und dessen Methode er zu entwerfen beabsichtigt. Was den »Engel« auszeichnet, ist seine Sorge um die konkrete Vergangenheit; eine Sorge, die er seiner theologischen Herkunft verdankt. Diese spezifische Fähigkeit will Benjamin unbedingt auch im materialistischen Historiker wirksam wissen. Sie würde ihn gegen die Verführung und Gefahr einer falschen, omnipotenten Prophezie schützen, die den Sieg des Sozialismus als garantiert vorhersagt und fatales Vertrauen in eine angeblich unweigerlich Glück produzierende Zukunft verbreitet. Trotzdem darf nicht unterschlagen werden, daß diese Tugend des »Engels« gekoppelt ist mit Ohnmacht: Er verfügt zwar über den unbestechlichen Blick, der ihm die Geschichte als »Trümmerhaufen« enthüllt und der ihm verbietet, sich zum Wortführer illusionärer Zukunfts-Prophezeiungen zu machen. gleichzeitig jedoch ist er paralysiert. Seiner theologischen Einsicht fehlt die materialistische Begrifflichkeit, die ihm Auskunft geben könnte über die konkreten Bedingungen der »Erlösung«.

[73]  G. Scholem, Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum, in: ders.: Über einige Grundbegriffe des Judentums, S. 133.

[74] Wiederholt muß darauf hingewiesen werden: Es gehört zu den wesentlichen Bedingungen eines adäquaten Verständnisses der Thesen, daß man die Differenz zwischen Theologie und Historischem Materialismus, wie sie der Kontext m.E. ‘eindeutig präsentiert, erkennt und akzeptiert. Nur so ist es möglich, die Benjaminsche Formulierung von der »ln-Dienst-Nahme« der Theologie durch den »historischen Materialismus«- trotz der scheinbar paradoxen Umkehrung des Verhältnisses in der 1. These – als genau durchdachten und bewußt formulierten Hinweis aufzunehmen, daß das Verhältnis zwischen Theologie und Historischem Materialismus eben nicht und unter keinen Umständen als das einer Identität gefaßt werden darf. Ich sehe mich hier in voller übereinkunft mit Greffraths Verwerfung der - (in der Benjamin-Rezeption hartnäckig und unbelehrbar herumgeisternden) - »Behauptung, daß die theologische Geschichts-Konzeption des Judentums der eigentliche Kern des Marxismus und der Marxismus die zeitgenössische Erscheinung, die im säkularisierten Gewand auftretende Idee des jüdischen Messianismus sei.« (Greffrath, S. 207). Und ich sehe in den obigen Resultaten meiner Rekonstruktion der Benjaminschen Gedankenführung die volle Bestätigung ihrer Einsicht, daß »immanente wie kontext-gebundene Argumente« (s.o. 5.207) sowohl dem Modell der Identität entgegenstehen wie auch einem Modell der Substituierung des einen Elements - Historischer Materialismus - durch das andere - Theologie. Es kommt darauf an, herauszuarbeiten, wie beide Elemente sich gerade in ihrer spezifischen Differenz an entscheidender Stelle ergänzen und auf qualitativ Höheres hinführen.

[75] »Marx hat in der Vorstellung der klassenlosen Gesellschaft die Vorstellung der messianischen Zeit säkularisiert. Und das war gut so.« (GS I,3,S.1231, Ben-Arch, Ms1098 v)

Die theologische Dimension des Engels, »erlösen« zu wollen vom »Sündenfall«, ist in Benjamins Konzept jedoch von ganz spezifischer Eigenheit, die sie auch von orthodoxer Theologie radikal abgrenzt. Nicht nur, daß er die Erlösungsbedürftigkeit der menschlichen Geschichte anerkennt und deren katastrophische Gestalt unbeschönigend wahrnimmt, ist hier so wichtig, - »Erlösung« ist mehr oder minder Inhalt jeder Theologie, sondern daß er mögliche Erlösung in der Zukunft an die Bedingung erlöster Vergangenheit, bzw. erlöster konkreter menschlicher Geschichte knüpft. »Er hat sein Antlitz der Vergangenheit zugewendet« und er möchte »verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen«. Das heißt: Sein Heil »sieht« er nicht in der abstrakten Zukunft, die quasi omnipotent kraft göttlicher Allmacht und Willkür Erlösung herstellt, ohne sich weiter um die vergangenen und gegenwärtig geschehenden Katastrophen kümmern zu müssen. Sein Blick ist auf die Vergangenheit fixiert, weil er nicht sehen kann, wie »Erlösung« sich aus »Katastrophe« ergeben soll, wenn die Katastrophe weiterhin im Sturmlauf voranschreitet.[72]

Scholem, der Benjamin so hartnäckig für die jüdische Theologie in Beschlag nehmen will, liefert selbst das aufschlußreichste Material, an dem zu ersehen ist, wie entscheidend sich Benjamins Engel auch von bestimmten jüdischen Vorstellungen abgrenzen muß, um seinem Erlösungswunsch gerecht werden zu (69) können. Denn wenn die jüdischen Apokalyptiker z.B. im alten Testament von Erlösung reden, dann ist die spezifische Geschichtslosigkeit dieser Art von Erlösung signifikantes Merkmal. Man muß sich nämlich - gemäß Scholem - immer vor Augen führen, daß »die Erlösung, die hier geboren wird, gar nicht in irgendeinem Sinn eine Folge aus der vergangenen Historie ist. Es ist ja geradezu die Übergangslosigkeit zwischen der Historie und der Erlösung, die bei den Propheten und Apokalyptikern stets betont wird. Die Bibel und die Apokalyptiker kennen keinen Fortschritt in der Geschichte zur Erlösung hin«.[73]

Anders Benjamins Engel: Seine Sorge gilt der konkreten geschichtlichen Katastrophe und solange ihm diese Katastrophe als real unversöhnte begegnet, vermag er sich auch nicht der Zukunft zuzuwenden. (Seine Paralysiertheit ist ja nicht nur Ausdruck seiner Gefangenschaft, sondern auch Ausdruck seiner Unfähigkeit, mit im Strom zu schwimmen, oder um in Bild zu bleiben: Sich dem »Sturm« hinzugeben, das Antlitz der Zukunft zuzuwenden und sein Vorangetriebenwerden als erlösende Bewegung zu idealisieren). Angesichts der unablässig zum Himmel wachsenden »Trümmerhaufen« sind Verheißungen auf Erlösung in der Zukunft nur illusionär und zynisch. Da er jedoch nicht weiß, was den geschichtlichen Sündenfall ausmacht und was die Katastrophe zum realen Grund hat, ist er ihr ausgeliefert und seine kritische Position bleibt an entscheidender Stelle aporetisch. Sie bedarf der materialistischen Transformation ebenso wie der materialistischen Anerkennung: Denn gerade in der Ausweglosigkeit, mit der sich die Situation des Engels präsentiert, steckt die Wahrheit seiner Theologie. Die kompromißlose Engelsperspektive, der alles zur Katastrophe wird, kennt keinen ideologisch-harmonisierenden Fluchtweg; ihr ist es prinzipiell verwehrt, irgendeine Form der Komplizenschaft zuzulassen. Die vollständige Paralyse ist der adäquatste Ausdruck ihres Widerstandes ohne Ausweg.[74]

Diese positive Seite an der Ohnmacht des Engels gilt es zu berücksichtigen: Sie entspringt der Radikalität der Negation, die auf der grundlegenden Beseitigung der Ursache der Katastrophe besteht, und wo diese nicht möglich ist, auch den Blick in die Zukunft verweigert, bzw. die Erlösung nicht mehr verkündigen oder versprechen kann. In diesem »Sturm« gibt es keinen Raum mehr für die ihm auferlegte engelische Verantwortung, denn es ist ihm ja nicht mehr möglich, den Chaosmächten Einhalt zu gebieten. Er hat seine schützende und ausgleichende Funktion eingebüßt, und deshalb würde seine Beweglichkeit Hoffnung und Macht signalisieren, wo das Gegenteil die Wahrheit ist. Anders ausgedrückt: Könnte er sich noch bewegen, wäre Platz für die trügerische Annahme, innerhalb des »Sturmes« ließe sich Erlösungsarbeit ins Werk setzen. Diesem »Sturm« jedoch, der die »Katastrophe« mit sich führt, ist - um es gesellschaftspolitisch zu formulieren - mit systemimmanenter Reform nicht beizukommen, es bedarf der Revolution, die ihn als Ganzes infragestellt und seinen innersten, katastrophischen Kern aufzubrechen versteht. Deshalb ist die Paralysiertheit des Engels wahrhaftiger als alle Aktivität.

So dient die theologische Radikalität und Kompromißlosigkeit Benjamin dazu, in die Gesellschaftstheorie das wieder einzuführen, was ihr sowohl bei den historistischen wie auch bei den vulgärmaterialistisch-sozialdemokratischen Theoretikern abhanden gekommen ist: Die Unerschrockenheit negativer Dialektik. Sein vordringlichstes Argumentationsziel ist es dann, der Geschichtstheorie wieder die Sicht des Engels zugängig zu machen, daß die bestehende Geschichtsbewegung in ihrem Kern katastrophisch ist und damit der Erlösung bedarf, deren Grundsätzlichkeit sich eben nicht vordergründig und in kurzschlüssigem Vertrauen am Status Quo unmittelbar vorfindlicher Geschichtspraxis orientiert, sondern am Maßstab konkret möglicher Unentfremdetheit. Ein solcher Zustand hat - metaphorisch verschlüsselt - im »richtigen Leben«, das mit der Herbeikunft des »Messias« beginnt, sein theologisches Vorbild; ihm entspricht auf materialistischer Ebene die klassenlose Gesellschaft.[75] (71)

 

2. Die Fundierung des Fortschrittsbegriffs in der »Idee der Katastrophe«

a) Der Begriff der »Katastrophe »als erkenntnistheoretisches Mittel

Der Begriff der »Katastrophe« ist mehr als nur metaphorische Umschreibung gesellschaftlich-geschichtlicher Mißverhältnisse; er erfüllt - wie der Begriff der »Gefahr« in der VI. These - wichtige erkenntnistheoretische Funktion. Er bezeichnet in Benjamins Rekonstruktionsversuch der materialistischen Theorie genau den Punkt, wo sich originärer Marxismus von allen Formen vulgärmaterialistischer bzw. revisionistischer Theoriebildung unterscheidet. Denn allein da, wo die Geschichtsbewegung als prinzipiell und fundamental »katastrophische« verstanden wird, bleibt auch - wie sich zeigen wird - der Begriff der Revolution unversehrt, bzw. verliert der historische Materialismus nichts von seiner Kompromißlosigkeit, mit der er der Entfremdung auf den Leib zu rücken hat. Korrumpiert wird er da am ehesten, wo er sich von »Fortschritten« blenden läßt, die eine geradezu explosionsartige Entwicklung und Ausbreitung neuartiger Phänomene produzieren. (Die Entfaltung der Produktivkräfte mit dem Aufkommen der kapitalistischen Produktionsweise erscheint dem oberflächlichen Augenschein wie ein einziger grandioser Fortschritt des ganzen Menschengeschlechts; zu leicht läßt sich darüber vergessen, daß sich in diesem »Fortschritt« unverändert das entfremdende Prinzip der Warenproduktion auf immer neuer Stufenleiter reproduziert.) Deshalb ist es nur konsequent, wenn Benjamin an anderer Stelle explizit formuliert, was die IX. These dann methodologisch durchführt:

»Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren. Daß es ‘so weiter‘ geht, ist die Katastrophe. Sie ist nicht das jeweils Bevorstehende, sondern das jeweils Gegebene.«[76]

[76] GS I, 2, S. 683. Und: »Die Katastrophe ist der Fortschritt, der Fortschritt ist die Katastrophe. Die Katastrophe als das Kontinuum der Geschichte.« (GS I, 3, S.1244, Ben-Arch, Ms 481).

[77] GS I,2, S.683.

[78]  n Benjamins Kritik am Begriff des Fortschritts schließt die explizite Kritik an Marx ein. (Zumindest, was Äußerungen in den Entwürfen und Varianten anbetrifft.) »Kritik der Theorie des Fortschritts bei Marx. Der Fortschritt dort durch die Entfaltung der Produktivkräfte definiert. Aber zu ihnen gehört der Mensch bzw. das Proletariat. Dadurch wird die Frage nach dem Kriterium nur zurückgeschoben.« (GS I, 3, S. 1239, Ben-Arch, Ms 475) Wie schon an früherer Stelle betont, bedarf diese Kritik an Marx der präzisierenden und differenzierenden Erläuterung. Zum ersten ist Marx‘s originäre Position ganz sicher nicht von dieser eindimensionalen bzw. undialektischen Reduziertheit. Benjamin selbst nimmt hier eine kurzschlüssige Identifikation von Marx mit nach-marxscher Tradition vor. Was jedoch in keiner Weise die Berechtigung der Benjaminschen Kritik in prinzipieller Hinsicht beeinträchtigt; zudem gibt es durchaus derart einlinige Passagen in Marx‘s Werk, die der späteren revisionistischen Ausbeutung entgegenkommen und dem subjektiven Faktor zu wenig Bedeutung beimessen. Jedoch werden derartige Verkürzungen bei Marx sowohl durch eine Vielzahl von Äußerungen, die diesem Faktor seine echte Bedeutung einräumen, aufgewogen und korrigiert, als auch durch den Kontext seines Gesamtwerks, dessen innere Konsequenz - korrekt und schlüssig weiter gedacht - genau das implizieren, was Benjamin fordert: Die Einsetzung der »kämpfenden, unterdrückten Klasse« als das wirkliche, konkrete Subjekt des Geschichts- bzw. Revolutionsprozesses. Berücksichtigt man diese Sachverhalte, dann kann man sehen, daß Benjamin nie daran denkt, die von Marx begründete Tradition materialistischen Denkens zu verlassen- oder durch etwas ganz anderes zu ersetzen. Seine Kritik an Marx - berechtigt oder kurzschlüssig - ist immer integrativ, d.h. sie versucht da »marxistisch« weiterzudenken, wo sie annimmt, Marx selbst sei seinen eigenen Prämissen nicht treu genug gefolgt. Wo Benjamins Kritik sich jedoch auf vulgär-materialistische Revisionen bezieht, ist sie radikal und ausschließend‘ mit dieser Position will er wirklich nichts gemein haben.

Es geht »so weiter«, weil der »Sündenfall« unrevidiert geblieben ist und weil aller Fortschritt - so rasant und eindrucksvoll er sich auch darstellen mag - gleichzeitig immer wieder den Inhalt dieses »Sündenfalls« erneuern muß. Die ungeheure Anstrengung, ihm zu entkommen, ist zirkulär, solange er gar nicht mehr der Wahrnehmung zugängig ist, bzw. solange er selbst nicht als das erkannt werden kann, was er geschichtlich bedeutet.

Bezeichnet der »Sündenfall« in der menschlichen Geschichte den Übergang von unentfremdeter in entfremdete Geschichtspraxis - ökonomisch gesehen: von (72) der Gemeinwirtschaft zur warenproduzierenden Tauschgesellschaft - so besteht die vordringliche Aufgabe darin, ihn konsequent und unerschrocken auch im Hier und Jetzt etablierter Geschichte, bzw. in deren Vergangenheit zu diagnostizieren, soweit sie eben diese Merkmale ökonomischer Entfremdung aufweist. Dann ist es notwendig, der herrschenden Ideologie, die Entfremdung und »Katastrophe« nur als möglicherweise »Bevorstehendes« in Betracht ziehen möchten, das Handwerk zu legen. Die Fundierung des »Begriffs des Fortschritts« in der »Idee der Katastrophe« erfüllt diesen Zweck und garantiert die ungetrübte Einsicht, daß das »jeweils Gegebene« bereits all die »katastrophischen« Qualitäten besitzt, die von weniger klaren oder auch mutigen Denkern noch dem »Bevorstehenden« zugerechnet werden. (»Strindbergs Gedanke: die Hölle ist nichts, was uns bevorstünde - sondern dieses Leben hier.«[77])

Die materialistische Gesellschafts- und Geschichtstheorie behält nur dann ihre revolutionäre Erlösungsqualität, wenn sie die fundamentale Verkehrung der Geschichte in ihrer Theorie als zentralen Punkt fixiert hält, bzw. vor den damit verbundenen radikalen Konsequenzen nicht zurückschreckt. Andernfalls degeneriert sie zum Reformismus bzw. zur reformistischen Gesellschaftstheorie, die innerhalb der Entfremdung deren Mängel zu beseitigen gedenkt. Trotz ihres guten Willens wird sie dadurch zur Komplizin der Katastrophe bzw. sabotiert den eigenen Wunsch nach richtigem Leben.

Bezogen auf die Analyse des Scheiterns des Widerstandes gegen den Faschismus führt Benjamins Argumentationsgang hier zur Einsicht, daß dieses Scheitern vor allem auch ein Scheitern innerhalb von Theorie war, wobei gerade der Verlust kritischer Radikalität innerhalb der Tradition materialistischen Denkens verheerendste Konsequenzen hatte; denn allein innerhalb dieser auf Marx gegründeten Tradition wäre das Mittel zu finden, mit dem diesem tieferliegenden Entfremdungs- und Verkehrungszusammenhang auf die Spur zu kommen ist, der sich im Faschismus nur eine seiner möglichen historischen Gestalten gegeben hat. Denn wem - so Benjamins Beweisführung - der bestehende Fortschritt nicht »gegebene« Katastrophe ist, der muß auch vor dem Faschismus die Waffen strecken, weil er ihn eben nicht als extremsten Ausdruck dieses »Fortschritts« sehen kann, sondern nur als »Ausnahmezustand«, für den es keine Regel gibt. Die Funktion des Engels besteht dann darin, mit der kritischen Wahrnehmung des »Fortschritts« als einer »einzigen Katastrophe« in die Gesellschafts- bzw. Geschichtstheorie wieder die Momente einzuführen, die der materialistische Revisionismus - besonders in der Sozialdemokratie - nivelliert oder ganz aus ihr (73) eliminiert hat.[78] Zu einem Zeitpunkt, da die materialistisch-revolutionäre Tradition selbst in größter Gefahr ist, vom »Konformismus ... überwältigt« (Th. VI) zu werden, vermag ihr gerade die Theologie zu Hilfe zu kommen und einen unschätzbaren »Dienst« zu leisten. Sie liefert den Anstoß - wenn man ihre Metaphorik richtig zu lesen gelernt hat - mit dem Konzept von »Katastrophe« und »Erlösung« die Reduktion der materialistischen Revolutionstheorie auf eine Reform- und Anpassungsideologie wieder rückgängig zu machen und an die Stelle idealisierender Geschichtsbeschreibung radikal kritische zu setzen.

Gleichzeitig jedoch muß erkannt werden, daß die Theologie selbst eine beschränkte ist und daß die Einsicht in die spezifische Begrenztheit des real ohnmächtigen Engels unabdingbare Voraussetzung für ein richtiges Verständnis des Benjaminschen Materialismuskonzepts ist. Die Theologie - personifiziert durch den Engel - ist von größtem Nutzen und gleichzeitig befangen: Sie bedarf ihrer materialistischen Transformation, aber diese ist nur dann gelungen, wenn sie die Wahrheit des »Engels der Geschichte« nicht unterschlägt, sondern ihr zu ihrer vollen revolutionären Geltung verhilft.[79]   (74)

[79]  Diesen Zugang zur produktiven Auswertung der Aporie des »Engels der Geschichte« verkleistert Tiedemann und setzt damit endgültig jedes weitere Verständnis der Thesen auf Grund. Seine Annahme, daß der Engel »für den ‘wahren‘ Historiker, den historischen ‘Materialisten‘,der sich der Illusionen über die Geschichte der Menschen entschlagen hat«, steht (Tiedemann, Materialien, aaO., S. 86), erhebt fälschlich die bestimmte Tugend des »Engels« - den existierenden geschichtlichen Fortschritt als »Katastrophe« zu entlarven - zur vollen und ausreichenden Qualifikation des »wahren«, materialistischen Historikers. Dabei geht die entscheidende Einsicht verloren, daß die theologische Sorge des »Engels« um die Vergangenheit vom materialistischen Historiker unbedingt als eigene Verantwortung verstanden und übernommen werden muß, daß jedoch gleichzeitig von ihm erwartet wird, daß er die spezifische Aporie und Lähmung des »Engels«, kraft seiner besonderen materialistischen Fähigkeit zu konkreter Analyse, aufhebt und überwindet. Der »wahre« materialistische Historiker hat mehr zu sein als der »Engel«; dies wird ihm jedoch nur gelingen, wenn er die besondere Fähigkeit und Einsicht des »Engels« sich voll zu eigen macht und sie berücksichtigt.

Anstatt die Beschränktheit des »Engels« in den Status des »wahren« Ganzen zu erheben, kommt es darauf an, in ihr gerade das entscheidende Motiv für die Hinwendung des ursprünglich theologisch ausgerichteten W. Benjamin zum Historischen Materialismus zu erkennen; eine »Umwälzung« und Erweiterung, die im Übergang von den anfangs theologisch gefärbten Thesen zu den explizit materialistischen ungefähr ab These X/XI deutlichen Ausdruck erhält. Zeigt der »Engel« dem »historischen Materialismus« - und hier handelt es sich um den in Anführungszeichen, den »verpuppten« - den wahren Zustand des geschichtlichen Fortschreitens und »rettet« er ihn somit aus seiner deterministischen Verdinglichung, so fällt es dem nunmehr wieder erneuerten historischen Materialismus als fundamentalste Aufgabe zu, sich seiner wahren dialektischen Fähigkeiten zu besinnen und diesem vom »Engel« aufgezeigten Problem wirklich materialistisch Herr zu werden. Denn er allein verfügt über die Möglichkeit konkret-gesellschaftlichen Wissens, das zur richtigen Praxis führen kann; d.h. die theologische Sensibilität und Aporie kann bei ihm auf den Begriff und damit zur Lösung gebracht werden.

Tiedemann vermanscht all diese Feinheiten, die man von einem Denker wie Benjamin als selbstverständlich erwartet, zu einem Brei, in dem Einsicht und gewalttätige Entstellung eine unverdauliche Mischung eingehen, die, wenn genossen, wie serviert, den Prozeß des Verstehens wirklich erstickt. (Weder Benjamin noch der an seinem Werk Interessierte haben hier eine Chance).

Im selben Zusammenhang, in dem Tiedemann den »Engel« im obigen Zitat (unzulässig) zum »wahren«, materialistischen Historiker kürt, erinnert er sich offensichtlich doch dessen Lähmung, schiebt sie nun aber dem Benjaminschen historischen Materialisten als dessen eigentliche Schwäche unter: »Der historische Materialist, der als ‘Engel der Geschichte‘ sich verkleidet, ist wohl doch keiner, er bleibt gebannt von der mythischen Verfassung der Welt; ganz unfähig, der Zukunft sich zuzuwenden, gar an der Herstellung des ‘wahren Reiches der Freiheit‘ mitzuwirken, von dem Marx wußte, daß es ‘nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühn kann‘ ... Von solcher Nüchternheit ist Benjamin in den Thesen weit entfernt.« (Tiedemann, aaO., S. 108)

Weder hat sich der historische Materialist in Benjamins Thesen als »Engel der Geschichte« »verkleidet«, noch mangelt es Benjamin an der notwendigen »Nüchternheit«, mit größter Klarheit zu sehen, daß der Weg in eben dieses »Reich der Notwendigkeit«, auf dem das »Reich der Freiheit« erst »aufblühn« kann, durch eine entfremdete, »katastrophische« Geschichtspraxis verstellt ist; und das gerade auch deshalb, weil die Materialisten selbst der Gefahr nicht widerstanden haben, die wahren »Subjekte« einem deterministischen Prinzip auszuliefern. Der spezifischen Wahrheit des »Engels«, daß die bestehende Geschichtspraxis »katastrophisch« ist und zu keinerlei falschen Illusionen berechtigt, begegnet Benjamin mit der Erneuerung des Konzeptes vom aktiv geführten »Klassenkampf«: Dem scheinbar unaufhaltsamen »Sturm« ist in seiner beinahe naturgeschichtlich-deter-(75)minierten Macht nur dadurch beizukommen, daß sich die »Subjekte« ihrer geschichtskonstitutiven Bedeutung wieder und endlich bewußt werden. Sie sind es, die das falsche »Kontinuum« aufzusprengen haben.

Der historische Materialist ist also nicht der »Engel der Geschichte«. Seine wesentliche Bestimmung liegt darin, sich, mit Hilfe der Einsicht des »Engels« und auch gerade angesichts dessen so wahrhafter Paralysiertheit, von seiner eigenen, vulgärmaterialistischen, Befangenheit zu emanzipieren und - in radikaler Rückgewinnung des subjektiven Faktors - der »mythischen« Weltverfassung den Garaus zu bereiten.

Tiedemann wirft all diese verschiedenen und deutlich voneinander abgegrenzten Bestimmungen durcheinander und baut ein Gedankengebäude auf, das - wäre es wirklich das Benjamins - mit Recht zur Demolierung freigegeben werden sollte. Nur ist es eben nicht Benjamins, sondern das Tiedemanns. Dessen manipulative Argumentationstricks und philologisch-philosophischen Unredlichkeiten auch noch mit Geduld und Verantwortungsbewußtsein nachzuzeichnen, übersteigt eigentlich die Grenze des Zumutbaren. Eine solche Pflichtübung rechtfertigt sich nur aus der Tatsache, daß Tiedemann - gerade auch in seiner Eigenschaft als Editor und Kommentator der »Gesammelten Werke« - in der vorzüglichen und privilegierten Lage ist, die Benjamin-Rezeption weiterhin mit erheblichem Einfluß und Erfolg an echten Fortschritten zu hindern.

Exkurs: Benjamin und Marx II

[80]  Engels »Anti-Dühring« mit all seinen Simplifikationen und mechanistischen, deterministischen und positivistischen Einschüssen galt unter den Theoretikern innerhalb der Arbeiterorganisationen durchaus als dem Marxschen »Kapital« ebenbürtig, wenn nicht sogar - wegen der »besseren Lesbarkeit« - überlegen. Wobei hinzugefügt werden muß, daß im Falle der »Kapital«-Rezeption, die im wesentlichen auf den 1. Band beschränkt blieb, dessen so entscheidendes erstes »Waren« Kapitel ziemlich unverstanden und somit folgenlos blieb.

Benjamins kritisch-identifikative Auseinandersetzung mit dem Historischen Materialismus und dessen Verquickung mit theologischen Konzepten erfolgte unter politischen und intellektuellen Voraussetzungen, die hier kurz zur Erinnerung gebracht werden sollen. Nicht nur war der Zeitraum seiner intensivsten Beschäftigung mit ihm durch den Prozeß der permanenten und fortschreitenden Desintegration bzw. Eliminierung der - kommunistischen wie sozialdemokratischen - Arbeiterbewegung vornehmlich in Italien, Deutschland und Österreich gekennzeichnet, (gipfelnd im totalen Triumph des Faschismus); sondern auch das offizielle etablierte Bild vom »Marxismus« basierte - im besten Fall - immer noch auf der stark an Engels sich anlehnenden Lesart der 2. Internationalen[80], - im weniger günstigen Fall - auf den vulgärmaterialistischen Verstümmelungen und Revisionen verschiedenster Provenienz, wobei die sozialdemokratischen Programme und Grundsätze wohl die größte Auswirkung hatten. D. h. eine Begegnung bzw. Auseinandersetzung mit dem Marxismus war zu diesem Zeitpunkt vornehmlich eine Konfrontation mit dem etablierten »historischen Materialismus«, der ex cathedra sprach und, im Falle der kommunistischen Parteien unter dem zunehmenden Einfluß Stalins, sich selbst als den unmittelbaren Ausdruck der Marxschen Gedanken verstand und ausgab. Dieser Position erübrigte sich ein Rückgang auf Marx als originärer Quelle; sie selbst erhob sich in ihren »ABC‘s« und Katechismen des Kommunismus zur eigenständigen Textautorität. Und wo Marx noch selbst zu Wort kam, da wurde er großenteils in Texten bzw. Textpassagen präsentiert, deren gezielt programmatisch-agitatorische Formulierungen eindimensionaler und deterministischer Argumentation entgegenkamen und die somit nicht gerade die beste Grundlage abgaben, auf der eine Kritik am orthodox »verpuppten« Historischen Materialismus hätte geführt werden können.

Diese intellektuelle Enge wurde noch durch die Editionslage verstärkt, die große Teile des Marxschen Werkes vollständig unberücksichtigt ließ. Erst 1927 bzw. 1932 wurden z.B. die »Philosophisch-ökonomischen Manuskripte« und die »Deutsche Ideologie« publiziert, sowie alle anderen Texte, die wir heute als die »Frühschriften« von Marx kennen; ohne jedoch irgendeinen Eindruck in den Theorien der kommunistischen Parteien zu hinterlassen. MEGA, »Grund-(77)risse«, MEW (mit einer Vielzahl bedeutendster bisher unveröffentlichter Schriften und Briefe) wurden erst in den Jahrzehnten nach dem Ende des 2. Weltkrieges verfügbar und von einer echten Rekonstruktion des originären Werkes von Marx läßt sich eigentlich erst seit den 60-iger Jahren reden.

Diese Umstände erklären m.E. zu einem gewissen Grad die eigentümliche Mischung aus marxistischem Gedankengut und nicht-marxistischem Konzept bei Benjamin. (Eine Eigentümlichkeit, die sich übrigens mehr oder minder bei allen nicht-revisionistischen »philosophischen« Marxisten aus dieser Periode wie z. B. Bloch, Marcuse, Adorno, Horkheimer u.a. finden läßt). Zutiefst angesprochen von dem, was Benjamin im Historischen Materialismus als stärkste Potenz erkannt hatte, und gleichzeitig doch auch im Widerstand gegen dessen offizielle Erscheinungsform, vertraute er bei seinem Rettungs- und Erneuerungsversuch für entscheidende Problematisierungen eher auf der Theologie als auf dem Corpus eines noch unabgeklärten, mit seinen revisionistischen Orthodoxien kämpfenden Historischen Materialismus.

Wir wissen heute besser, wie der Kampf gegen die »Puppe historischen Materialismüs«‘ auf originär Marxschem Boden geführt werden kann; aber auch, daß deswegen vulgärmaterialistischer Reduktionismus und Determinismus nicht aufgehört haben, sich ziemlich ungebrochen - wenn auch in etwas modischerer Verkleidung - fortzupflanzen. Nicht nur, weil es bei Marx selbst, (ganz zu schweigen von Engels), ja durchaus Verkürzungen und Simplifikationen gibt, die - unkritisch aufgenommen und nicht dem sonstigen Marxschen Niveau angepaßt - immer wieder Nährstoff und Legitimation für undialektische und positivistische Fehlschlüsse und Ableitungen liefern können; sondern vor allem auch deswegen, weil über der Analyse der ökonomischen Zwangsgesetze, die in einer kapitalistischen Gesellschaft am Werk sind, immer wieder und allzu leicht die konkreten Subjekte aus den Augen verloren bzw. unter das eine oder andere - kapitalistische oder »revolutionäre« - Prinzip subsumiert werden können. Benjamin wußte viel über diese Gefahr und die Thesen sehen in ihr einen der zentralen Gründe des Scheiterns des Historischen Materialismus angesichts seiner Aufgabe, die menschliche Geschichte aus ihrer entfremdeten Gestalt zu befreien. Deshalb wäre es ein fataler Schluß, alle Rekonstruktions oder Adaptionsversuche des Historischen Materialismus, die nicht ausschließlich auf dem Boden originär ‘Marxscher Begrifflichkeit vorgenommen wurden oder werden, prinzipiell als illegitim, überholt und veraltet abzuqualifizieren und sie archivalischer oder sonstiger Ausbeutung zu überlassen (Diese bornierte Loyalität gegenüber Marx, in der nichts mehr gefunden werden oder dazukommen kann, was bei ihm nicht schon gesagt ist, verhindert z.B. immer noch mit traurigem Erfolg die Integration der Disziplin, von der sehr viel zu lernen wäre: Der Psychoanalyse. Der Schaden dieses Versäumnisses ist unabsehbar). Es kann also nicht darum gehen, die Beurteilung des Benjaminschen Werkes aus marxistischer Sicht davon abhängig zu machen, ob er sich strickt und getreu an Marxsche Begrifflichkeit (78) hält, sondern man wird fragen und klären müssen, ob er wahrhaft materialistisch gedacht hat, und das kann immer auch anders oder mehr sein, als bei Marx schon vorhanden ist. Die Analyse wird darstellen und auseinanderhalten müssen, an welchen Stellen Benjamin sich auf den originären Marx stützt; wo er ihn fälschlich oder mit Recht mit vulgärmaterialistischen Positionen identifiziert; wo er nicht-marxistische Konzepte einführt, die deswegen noch lange nicht unmaterialistisch zu sein brauchen; wo er das Marxsche Konzept verstärkt - auf welche Weise auch immer - und wo er es verläßt bzw. bewußt und mit Absicht überschreitet. Ob er dem Historischen Materialismus mit der »In-Dienst-Nahme« der Theologie wirklich einen Dienst erwiesen hat, wird sich erst ersehen lassen, wenn seinem Werk Gerechtigkeit widerfahren ist. Der Maßstab zur endgültigen Beurteilung findet sich in dem, was Benjamin als Historischen Materialismus rekonstruiert wissen wollte.

Ein äußerst wichtiger Grund für die Einführung der Theologie in den Diskussionsrahmen des Historischen Materialismus liegt mit Sicherheit in deren spezifischen begrifflichen Esoterik und Fremdheit, die unter den gegebenen Umständen den Vorteil hatte, nicht von vorneherein mit der Hypothek einer stumpfen und abgeformelten Begrifflichkeit belastet zu sein, deren »ewigen«, angeblich materialistischen Wahrheiten sich in Wirklichkeit gar keine Realität mehr öffnet. In Benjamins Sicht und Verwendung immunisiert die theologische Begrifflichkeit gegen positivistische Gefährdungen verschiedenster Natur und sie wurde von ihm als Mittel eingesetzt, das falsche, weil verdinglichte Kontinuum, in dem der materialistische Diskurs sich fruchtlos bewegte, aufzusprengen.

Die folgende X. These entwickelt diesen Sachverhalt und sie hält gleichzeitig fest, daß theologische Begrifflichkeit und Metaphorik bei Benjamin radikal gesellschaftspolitische Ziele verfolgen. Sie scheinen es ihm zu ermöglichen, unbehindert und wirklich materialistisch, d.h. revolutionär denken zu können.

b) Begriffliche Esoterik und materialistische Radikalität

»Die Gegenstände, die die Klosterregel den Brüdern zur Meditation anwies, hatten die Aufgabe, sie der Welt und ihrem Treiben abhold zu machen. Der Gedanken-gang, den wir hier verfolgen, ist aus einer ähnlichen Bestimmung hervorgegangen. Er beabsichtigt in einem Augenblick, da die Politiker, auf die die Gegner des Faschismus gehofft hatten, am Boden liegen und ihre Niederlage mit dem Verrat an der eigenen Sache bekräftigen, das politische Weltkind aus den Netzen zu lösen, mit denen sie es umgarnt hatten.« (These X)

[81] Siehe: C. Hering: Der Intellektuelle ...‚ aaO.; darin vor allem: Der Intellektuelle als Agitator der eigenen Klasse, S. 44-49.

Auch Benjamin will die Adressaten seiner geschichtstheoretischen Überlegungen - die Klasse der theorieproduzierenden Intellektuellen - »der Welt und ihrem Treiben abhold« machen.[81] Der Grund ist ebenso schlicht wie – nach (79) dem, was oben herausgearbeitet wurde - plausibel: Insofern etabliertes Alltagsdenken ebenso wie das etablierte wissenschaftliche, der sog. »Wissenschaftliche Sozialismus« eingeschlossen, mehr oder weniger vollständig von positivistischen und vulgärmaterialistischen Ideologien unterwandert und bestimmt waren, sah Benjamin den Weg zu einer echten Erneuerung materialistischer Wahrheit vornehmlich in der bewußten Vermeidung abgeformelter Begriffs- und Vorstellungsklischees.

Die Thesen als Ganzes sind beredtes und überzeugendes Exempel dieser Konzeption. Mit der theologisch-esoterischen Begrifflichkeit bzw. der damit verbundenen messianischen Geschichtskonzeption versucht Benjamin, eine zutiefst irritierende, aber deswegen umso produktivere Distanz zu eingespielten Denk- und Wahrnehmungsmustern herzustellen, um dadurch das »politische Weltkind« aus den ideologischen Verstrickungen zu befreien, die vulgärmaterialistisch positivistische Theorie ihm aufgehalst hatte und die es zum schutz- bzw. wehrlosen Opfer des katastrophischen »Sturms« machen. Irritation, Immunisierung und Regeneration unkorrumpierbarer nonkonformistischer Radikalität sind die wichtigsten Ziele seines Vorgehens und mit Hilfe dieser unverbrauchten esoterischen. Begrifflichkeit macht er sich in den folgenden Thesen nun an die Destruktion des existierenden »konformistischen« Begriffs- und Vorstellungsarsenals. Dieser »Konformismus« in der Geschichts- bzw. Gesellschaftstheorie, der in entscheidendem Maße mitverantwortlich ist für das Scheitern des Widerstandes gegen den Faschismus als Paradigma gesellschaftlicher Entfremdung überhaupt, ist aufs engste mit der Sozialdemokratie verbunden, die - ursprünglich noch originär Marxschen Vorstellungen verpflichtet - die Hauptarbeit geleistet hat, dessen materialistische Revolutionstheorie in eine positivistische Reform- und Anpassungsideologie zu deformieren und damit den Kampf gegen die geschichtliche Katastrophe, sprich: gegen die entfremdete Klassengesellschaft, zu verunmöglichen. (Daß derselbe revisionistische Bazillus mit geringen Ausnahmen auch den offiziellen Sowjetmarxismus befallen hatte, steht außer Zweifel und wird von Benjamin durchaus auch so gesehen. Die Sozialdemokratie war jedoch für Deutschland die entscheidende Kraft, die bereits noch zur Zeit des Gothaer Programms Ende des 19. Jahrhunderts das Werk der Revision eingeleitet hatte und bis heute fortsetzt).

Deshalb konzentriert sich Benjamin im folgenden auf eben deren Begriffs- und Vorstellungswelt und deckt an ihr exemplarisch auf, wieso die menschliche Geschichte nach wie vor »Katastrophe« sein muß und im Faschismus über all diejenigen triumphieren kann, die - auch schon vor Marx - den Kampf gegen die Entfremdung der menschlichen Geschichte aufgenommen und vorangetrieben hatten. Zentraler Ansatzpunkt seiner Kritik ist die verdinglichte Vorstellung von »Fortschritt«, die sich in der Sozialdemokratie durchsetzen konnte, und die - ohne Sicht für die »regel«mäßige »Katastrophe« - dazu verführt, auf den Standpunkt eines blindgläubigen Determinismus zu regredieren, der die Menschen zu (80) ohnmächtigen Akteuren der Geschichte macht und ihnen jegliche Möglichkeit zur Selbstbestimmung oder Gegenwehr nimmt.

[82] »Zusammenhang des sturen Fortschrittsglaubens und des Vertrauens auf die Massenbasis: die quantitative Akkumulation muß es schaffen.« (GS 1, 3, 5. 1240, Ben-Arch, Ms 446).

»Die Betrachtung geht davon aus, daß der sture Fortschrittsglaube dieser Politiker, ihr Vertrauen in ihre ‘Massenbasis‘ und schließlich servile Einordnung in einen unkontrollierbaren Apparat drei Seiten derselben Sache gewesen sind.« (These X)[82]

Dieser »sture Fortschrittsglaube« macht den spezifischen »Konformismus« der Sozialdemokratie aus, wie Benjamin in der folgenden XI. These sagt, und er ist seiner Überzeugung nach »von Anfang an in der Sozialdemokratie heimisch gewesen ...«. (These XI) Auch läßt er sich seiner Meinung nach nicht nur »an ihrer politischen Taktik, sondern auch an ihren ökonomischen Vorstellungen« (These XI) ablesen; »Er ist eine Ursache des späteren Zusammenbruchs«. (These XI)

Diesen ökonomischen »Konformismus« entwickeln die folgenden Thesen jetzt ausführlich und Benjamin zeigt dabei auf, daß dieser Mangel in der sozialdemokratischen Theorie und Praxis seine tiefste Wurzel in einem vulgärmaterialistischen Begriff von Arbeit hat, bzw. anders formuliert, daß der Sozialdemokratie eben die originäre Marxsche Theorie abhanden gekommen ist, zu deren Sachwalter sich Benjamin hier explizit macht. Seine Argumentation basiert - bis in wörtliche Zitate hinein - auf einer gewissenhaften Übernahme der Marxschen Analyse. (81)

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