Christoph Hering  (Verlag Peter Lang, Frankfurt 1983):

Die Rekonstruktion der Revolution.

Walter Benjamins messianischer Materialismus in den Thesen »Über den Begriff der Geschichte« ( 1 2 3 4 5 6 )

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Inhalt

  1. Vorwort
  2. Einleitung
  3. Theologischer »Zwerg« und Materialistische »Puppe«:
    Benjamins Projekt einer theologischen Erneuerung des Historischen Materialismus
  4. »Vergangenheit« und »Erlösung«: Zur »messianischen« Verantwortung der Gegenwart
    1. Der Anspruch der Vergangenheit auf »Erlösung«
    2. Exkurs: Benjamin und Marx 1
    3. »Materialistischer« und »historistischer« Umgang mit der Vergangenheit
    4. Die »Gegenwart« des Faschismus:
      Extremster und konsequentester Ausdruck prinzipieller geschichtlicher Entfremdung
  5. »Paradies« und »Sündenfall«: zur prinzipiellen Entfremdung des geschichtlichen Fortschreitens …
    1. Die Aporie des »Engels der Geschichte«
    2. Die Fundierung des Fortschrittsbegriffs in der »Idee der Katastrophe«
    3. Exkurs: Benjamin und Marx II
  6. »Sozialdemokratie« und »Klassenkampf«: Die Revision des Historischen Materialismus
    1. Die sozialdemokratische Verfälschung zentraler Marxscher Begriffe
    2. Die Entmündigung d. Proletariats als revolutionärer Klasse
    3. Exkurs: Benjamin und Adorno
    4. Die Ersetzung materialistischer Dialektik durch positivistisch- naturwissenschaftliche Eindimensionalität
    5. Exkurs: Historischer Materialismus und messianische Theologie
  7. »Kontinuum« und »Revolution«: Die Rekonstruktion geschichtlicher Gegenwart
    1. »Jetztzeit« statt »homogene und leere Zeit«
    2. Der »Tigersprung ins Vergangene« als Zurückgewinnung verschütteter »jetztzeitiger« Vergangenheit
    3. Exkurs: Fortschritt und Revolution
    4. Die Rekonstruktion von klassenkämpferischem »Kalender« und »kontinuumssprengender« Identität
    5. Gegenwart als »stillgestellte« Zeit bzw. materialistische Besonderheit statt historistische Abstraktion
    6. »Monadische« Vergangenheit und »jetztzeitige« Gegenwart
    7. Exkurs: Zur »Monade«
  8. »Theologie« Und »Historischer Materialismus«: Die menschliche Geschichte unter dem Aspekt ihrer »messianischen« Revolutionierbarkeit
    1. »Messianische« Radikalität und »richtiges Leben«
    2. Exkurs: Materialisierte Theologie
    3. Die »Messianisierung« des Historischen Materialismus
    4. Der »Dienst« der Theologie oder die Materialisierung des »Messianismus«
  9. Nachwort
  10. Bibliographie
  11. Ausführliches Inhaltsverzeichnis

 

IV. »Sozialdemokratie« und »Klassenkampf«: Die Revision des Historischen Materialismus

1.  Die sozialdemokratische Verfälschung zentraler Marxscher Begriffe

a) Der »vulgärmarxistische« Begriff von »Arbeit«

Benjamin beginnt seine Kritik in der XI. These mit der Analyse des »technologischen« Fortschrittsbegriffs der Sozialdemokratie und dessen Auswirkungen auf die deutsche Arbeiterschaft:

»Es gibt nichts, was die deutsche Arbeiterschaft in dem Grade korrumpiert hat wie die Meinung, sie schwimme mit dem Strom. Die technische Entwicklung galt ihr als das Gefälle des Stromes, mit dem sie zu schwimmen meinte. Von da war es nur ein Schritt zu der Illusion, die Fabrikarbeit, die im Zuge des technischen Fortschritts gelegen sei, stelle eine politische Leistung dar.« (These XI)

[83] GS II, 2, S.475

Der entscheidende Fehler der sozialdemokratischen Fortschrittsvorstellungen liegt für Benjamin in der dort vorgenommenen Identifikation von technologischer Entwicklung mit Fortschritt schlechthin; und indem diese technologische Entwicklung zum absoluten Maßstab hypostasiert wird, eliminiert die sozialdemokratische Theorie endgültig die für die Marxsche Analyse signifikante Formproblematik. Die sozialdemokratische Theorie weiß damit nichts mehr von der Vermitteltheit aller gesellschaftlichen Phänomene durch die bestimmte Form der gesellschaftlich organisierten Arbeit und sie verliert damit auch jegliche Möglichkeit, die spezifische Historizität und Gesellschaftlichkeit der sie so faszinierenden modernen Technologie zu durchschauen: Indem die Sozialdemokratie für Benjamin den Umstand überspringt, »daß dieser Gesellschaft die Technik nur zur Erzeugung von Waren dient«,[83] und indem sie kapitaleffektive Rationalität unreflektiert mit gesellschaftlicher Vernunft überhaupt gleichsetzt, schlägt sie sich selbst jegliches Mittel kritischer Distanz aus der Hand und muß gezwungenermaßen die Anforderungen der kapitalistischen Produktionsweise als eigene Aufgabe verinnerlichen. (83)

Daß der Fortschrittsbegriff der Sozialdemokratie diese positivistische Verkürzung auf kapitaleffektiven technologischen Fortschritt aufweist, ist für Benjamin nur konsequent: Denn ihm entspricht - was oben schon angedeutet wurde - auf noch grundsätzlicherer Ebene ein »vulgärmaterialistische((r)) Begriff von dem, was die Arbeit ist.« (These XI)

[84] An die Stelle der Marxschen Formanalyse der Arbeit tritt bei Dietzgen die »Sozialdemokratische Philosophie« mit ihrer spezifischen Revision des Kernstücks materialistischer Wissenschaft. Das gesellschaftlich Vorausgesetzte wird nicht mehr hinterfragt, es geht nur mehr um möglichst große systemimmanente Akkumulation. An die Stelle des Kriteriums der Qualität der Produktionsverhältnisse tritt das der Quantität der hergestellten Produkte, was die Pervertierung des Begriffes von Rationalität erfordert: »‘Die Produktion verlangt unter allen Umständen in rationeller Weise betrieben zu werden. In allen Kulturepochen, mögen sie noch so verschieden sein, muß man, so will es die Vernunft der Dinge, in möglichst kurzer Zeit das Massenhafteste leisten. Dieser von der materiellen Leiblichkeit uns angetane Trieb ist also das Allgemeine, das Ursächliche, ist Grund oder Fundament aller sogenannten höheren, geistigen Entwicklungen, Bildungen und Fortschritte (Josef Dietzgen, Sozialdemokratische Philosophie, Sämtliche Schriften, Bd. 1, Berlin 1930, S. 165f. Zitiert bei: Günther Mensching, Zeit und Fortschritt in den geschichtsphilosophischen Thesen Walter Benjamins, in: Materialien, aaO., S. 181).

Vulgärmarxistisch ist dieser Begriff insofern, als er nur noch über den Aspekt der Marxschen Vorstellung von »Arbeit« verfügt, der sich auf ihre allgemeine Bedeutung für die Konstitution des Menschengeschlechts und der menschlichen Geschichte bezieht, den anderen Aspekt jedoch, der für die Marxsche Analyse von zentraler Bedeutung ist und der das Augenmerk darauf lenkt, wie diese Arbeit gesellschaftlich organisiert ist, völlig außer Acht läßt. Mit dieser Revision kann an die »Arbeit« auch nicht mehr die Frage gestellt werden »wie ihr Produkt den Arbeitern selber anschlägt, solange sie nicht darüber verfügen können« (These XI), denn daß sie »nicht darüber verfügen können«, erhält innerhalb des Rahmens der sozialdemokratischen Theorie keinen Stellenwert mehr bzw. wird gar nicht mehr wahrgenommen. In dem Maße, wie der Aspekt der gesellschaftlichen Formbestimmung der »Arbeit« aus dem ökonomischen Theorierahmen eliminiert wird, muß sich konsequenterweise eine Vorstellung etablieren, die das Heil nur mehr in »‘der ... Verbesserung ... der Arbeit‘« (These XI) erblickt - wie Dietzgen meint[84] ; dabei läßt sich nicht mehr wahrnehmen, daß die »Arbeit«, von der er spricht, nach dem Maßstab der kapitalistischen Warenproduktion organisiert ist, und daß deren »Verbesserung« - solange die prinzipielle (84) Trennung von Kapital und Arbeit nicht aufgehoben ist - nichts anderes bedeuten kann, als die systematische Entfaltung und Durchsetzung kapitalimmanenter Interessen.

Mit Marx sieht Benjamin »Spuren dieser Verwirrung« (Th. XI) bereits im »Gothaer Programm« der Sozialdemokratischen Partei von 1875 und er zeigt, wie Marx - »Böses ahnend« (Th. XI) - in der dort vorgenommenen Definition der Arbeit als der »‘Quelle alles Reichtums und aller Kultur‘«(These Xl) die gefährliche Revision bereits angelegt sah und deshalb - die innere Konsequenz einer solchen Definition vor Augen führend - richtigstellte, »daß der Mensch, der kein anderes Eigentum besitze als seine Arbeitskraft, ‘der Sklave der andern Menschen sein muß, die sich zu Eigentümern ... gemacht haben‘« (These XI).

Wer nur über seine pure Arbeitskraft verfügt, verfügt damit nicht über alles: Ihm fehlen die Mittel, die ihm erst die Ausübung dieser Arbeitskraft ermöglichen und sinnvoll machen (Grund und Boden, Arbeitsstätten etc.). Der »Reichtum« der Arbeit kann sich nur entfalten im Rahmen ihrer notwendigen materiellen Voraussetzungen und Bedingungen. Und genau in diesem Punkt muß der sozialdemokratische Arbeitsbegriff in die Irre führen, da an ihm die Dimension ausgemerzt ist, die kritisch darüber Auskunft gibt, wie dieser Rahmen aussieht, in dem Arbeit jeweils verausgabt wird. Mit dieser Revision verzichtet die sozialdemokratische Politik überhaupt auf eine kritische Theorie der Gesellschaft; sie kann nur mehr absegnen, was sich ihr präsentiert.

Denn dieser Begriff von Arbeit, so führt Benjamin aus, »will nur die Fortschritte der Naturbeherrschung, nicht die Rückschritte der Gesellschaft wahr haben« (These XI), und muß damit notgedrungen die unmittelbar vorfindliche Art, in der Natur - menschliche wie nicht-menschliche - zur Beherrschung kommt, für gut und richtig halten. Diesem Begriff verweigert sich die Einsicht, daß diese »Fortschritte der Naturbeherrschung« an einer Vorstellung von Herrschaft und Erfolg orientiert sind, die ihre Inhalte aus den Anforderungen einer Ökonomie bezieht, deren wesentliches Merkmal die Trennung der Produzenten von ihren Produktionsmitteln ist und die Fortschritt nur als stetige Verwertung des Werts begreifen kann. Unter diesen ökonomischen Voraussetzungen verwandeln sich die »Fortschritte der Naturbeherrschung« gleichzeitig immer in Mittel der Absicherung und Erweiterung dieser Form gesellschaftlicher Arbeit, die den gesellschaftlich produzierten Reichtum seinen Produzenten als fremde Macht (85) und als anonymen gesellschaftlicher Zwangszusammenhang entgegengestellt Die »Fortschritte der Naturbeherrschung« signalisieren unter diesen Bedingungen für Benjamin deshalb immer auch »Rückschritte der Gesellschaft«, denn der damit erreichten Beherrschung und Ausbeutung äußerer Natur entspricht unmittelbar die Beherrschung und Ausbeutung menschlicher Natur.[85]

b) Der »korrumpierte »Begriff von ‘Natur«

[85] In anderem Zusammenhang hat Benjamin ausführlich entwickelt, wie sehr die Faszination durch die augenfälligen »Fortschritte der Naturbeherrschung« sogar schon bei Engels das folgenschwere Mißverständnis vorbereitete, technologische Fortschritte seien auch schon gesellschaftliche, da an ihnen ja - auf Grund der rechnerischen Genauigkeit der Naturwissenschaften - nichts »falsch« sein könne. Allein die offenkundige Tatsache, daß die Naturwissenschaften mit ihren »exakten« Wahrheiten zur praktischen Anwendung führen und daß sie dabei mit grandiosen Erfolgen aufwarten können, wird zum schlagenden Beweis ihrer richtigen gesellschaftlichen Funktion. Die kurzschlüssige Folgerung, was derart »stimmt«, müsse auch gesellschaftlich richtig sein, dokumentiert für Benjamin denselben Fehler, den er auch oben exemplarisch entwickelt hat: Die Korrumpierung der Marxschen Begrifflichkeit bzw. die Eliminierung des Problems der gesellschaftlichen Formbestimmtheit aus dem theoretischen Rahmen. »Die Einschätzung der Naturwissenschaften bei Bebel beruht nicht allein auf der rechnerischen Genauigkeit ihrer Ergebnisse, sondern vor allem auf ihrer praktischen Anwendbarkeit. Ähnlich fungieren sie später bei Engels, wenn er den Phänomenalismus von Kant durch den Hinweis auf die Technik zu widerlegen meint, die ja doch durch ihre Erfolge zeige, daß wir die ‘Dinge an sich‘ erkennen. Die Naturwissenschaft, die bei Korn als die Wissenschaft schlechtweg auftritt, tut dies also vor allem als Fundament der Technik. Die Technik aber ist offenbar kein rein naturwissenschaftlicher Tatbestand. Sie ist zugleich ein geschichtlicher. Als solcher zwingt sie, die positivistische, undialektische Trennung zu überprüfen, die man zwischen Natur- und Geisteswissenschaften zu etablieren suchte. Die Fragen, die die Menschheit der Natur vorlegt, sind vom Stande ihrer Produktion mitbedingt. Das ist der Punkt, an dem der Positivismus scheitert. Er konnte in der Entwicklung der Technik nur die Fortschritte der Naturwissenschaft nicht die Rückschritte der Gesellschaft erkennen. Daß diese Entwicklung durch den Kapitalismus entscheidend mitbedingt wurde, übersah er«. (GS II, 2, S. 474). Das Zitat wurde deshalb so ausführlich wiedergegeben, weil sich meine weiteren Ausführungen oft auf diese Einsichten beziehen, ohne dies jedesmal erneut zu belegen.

Setzt die sozialdemokratische Theorie kapitalistische Arbeit mit Arbeit an sich gleich und identifiziert sie den vehementen Fortschritt in der Entfaltung der technologischen Produktivkräfte unter kapitalistischen Vorzeichen mit Fortschritt an sich, dann ist es nur noch ein kleiner Schritt zur Annahme, die geflissentliche Verfolgung eben dieser Form von Naturbeherrschung sei schon identisch mit der Durchsetzung gesellschaftlichen Fortschritts, bzw. mit der Lösung gesellschaftlicher Antagonismen Deshalb stellt die Sozialdemokratie (86) »die Ausbeutung der Natur ... mit naiver Genugtuung der Ausbeutung des Proletariats« (These XI) gegenüber und projiziert deren spezifisch naturwissenschaftlichen Fortschritt in die Gesellschaft bzw. die menschliche Geschichte. Euphorisch wird die »Ausbeutung der Natur« dem Wohle der Menschen schlechthin zugeordnet und ohne viel Federlesens wird von den »Fortschritten der Naturbeherrschung« die Aufhebung proletarischer Arbeit, bzw. des Proletariats überhaupt erwartet.

Der sozialdemokratischen Begrifflichkeit ist für Benjamin jegliche Idiosynkrasie für das Problem abhanden gekommen, was das denn für eine »Natur« ist, die nur mehr unter dem Aspekt der »Ausbeutung« zur Vorstellung und zur Bearbeitung kommt, und welche gesellschaftlichen Implikationen sich dahinter notwendig verbergen.

Benjamin verdeutlicht den Grad der Korrumpiertheit dieses positivistischen Konzepts von Arbeit und Natur am Beispiel der »sozialistischen Utopien des Vormärz«, in deren »Phantastereien« er - im Vergleich mit der affirmativen Eindimensionalität in den sozialdemokratischen Vorstellungen - durchaus noch Vernunft ausmachen kann.

»Mit dieser positivistischen Konzeption verglichen erweisen die Phantastereien, die so viel Stoff zur Verspottung eines Fourier gegeben haben, ihren überraschend gesunden Sinn. Nach Fourier sollte die wohlbeschaffene gesellschaftliche Arbeit zur Folge haben, daß vier Monde die irdische Nacht erleuchteten, daß das Eis sich von den Polen zurückziehn, daß das Meerwasser nicht mehr salzig schmecke und die Raubtiere in den Dienst des Menschen träten.« (These XI)

Trotz aller Phantastik und Naivität existiert hier für Benjamin noch ein Modell von Naturbearbeitung, das sich den »möglichen Schöpfungen« der Natur und den damit gegebenen Wohltaten für die Menschen verpflichtet fühlt; wobei die kapitalistische Verkehrung unterlaufen wird, die Natur ausschließlich - unter dem Aspekt der »Ausbeutung« - als Mittel profitabler Akkumulation betrachtet und sie nur insoweit zu würdigen bereit ist, als sie der Reproduktion eines abstrakten ökonomischen Zwangsgesetzes entgegenkommt. Fourier dagegen verfügt für Benjamin durchaus noch über einen Begriff von »Arbeit, die, weit entfernt die Natur auszubeuten, von den Schöpfungen sie zu entbinden imstande ist, die als mögliche in ihrem Schoße schlummern« (These XI).

Einer solchen Vorstellung hat sich die sozialdemokratische Begrifflichkeit entfremdet, denn insofern ihre Bestimmungen von Arbeit und Fortschritt die Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise bruchlos verinnerlicht haben, kann sie gar nicht anders, als auch »Natur« diesem

Diktat zu unterwerfen und sie zum puren Zulieferer von Material zu degradieren, das sich in Kapital verwan-(87) dein läßt. Unter dem Aspekt der Verwertung des Wertes bzw. der Profitmaximierung als dem höchsten Ziel der kapitalistischen Produktion, verliert Natur - nicht-menschliche wie menschliche - ihr eigenes Recht; ihr Zweck liegt außerhalb von ihr, ihm hat sie sich zu opfern. Deshalb schließt Benjamin diese XI. These mit der Folgerung ab:

»Zu dem korrumpierten Begriff von Arbeit gehört als sein Komplement die Natur, welche, wie Dietzgen sich ausgedrückt hat, ‘gratis da ist‘« (These XI).

Bereits die kaufmännische Wendung weist den Weg. Was »gratis da ist«, hat keinen Anspruch auf Gegenleistung und schon gar nicht da, wo jegliche Verpflichtung - gemäß der kapitalistischen Tauschgesetzlichkeit - nur mehr als Funktion des Preises einer Sache verstanden wird. Rücksichten, die ihr zugestanden werden können, beziehen sich ausschließlich auf das Verhältnis ihrer Produktionskosten zum realisierbaren Profit. Hat die Sache keinen Preis, bzw. ist sie »gratis da«, gibt es auch keinen Grund, ihrer spezifischen Besonderheit ein eigenes Recht zuzugestehen; sie ist nur solange von Bedeutung, als sie als Träger von »Tauschwert« fungieren kann. Jenseits dieser Bestimmung ist sie vogelfrei. Der Rechtlosigkeit der äußeren Natur entspricht die der menschlichen. Auch sie wird gemessen am Quantum des erzielten Mehrwertes und die Besonderheit ihrer Existenz wird total unter das eherne Abstraktionsgesetz kapitalistischer Wertverwertung subsummiert.

Mit der kritischen Darstellung der korrumpierten Begrifflichkeit der Sozialdemokratie hat Benjamin nun die Voraussetzung für den weiteren Argumentationsgang geschaffen, daß dieser korrumpierten Theorie nur eine korrumpierte und »katastrophische« politische Praxis entsprechen kann. In dem Moment, wo sich die Vorstellung durchgesetzt hat, die vorfindliche Rationalität sei nichts anderes als die pure Vernunft, die abgeforderte Arbeit nichts anderes als pure Notwendigkeit und die Natur nur ein Objekt der Ausbeutung, kann es letztlich nur mehr darum gehen, den damit akzeptierten gesellschaftlichen Tendenzen zur möglichst kräftigen Entfaltung zu verhelfen. Damit jedoch raubt das sozialdemokratische Selbstverständnis in Benjamins Augen der »Arbeiterschaft« ihren klassenkämpferischen Nerv und degradiert sie zum Vollzugsorgan anonymer eherner Gesetze. Indem die »deutsche Arbeiterschaft« den Eindruck vermittelt bekommt, sie »schwimme mit dem Strom«, erübrigt sich für sie die Notwendigkeit einer eigenständigen kritischen Praxis und damit korrumpiert sie notgedrungen ihr eigentümlichstes Interesse. An die Stelle klassen-kämpferischer Theorie und Praxis tritt »protestantische Werkmoral ... in säkularisierter Gestalt« (These XI), die in der Beflissenheit, mit der sie ihr auferlegte Pflichten erfüllt, ihren höchsten Maßstab sieht; daß die Arbeiterschaft jedoch nur in grandiosem Ausmaß die (88) eigene Unfreiheit erneuert, indem sie in Wirklichkeit nichts anderes tut, als das Kapitalverhältnis auf immer neuer Stufenleiter zu reproduzieren und die Trennung von Kapital und Arbeit nur noch weiter zu verfestigen, muß ihr verborgen bleiben. Und es kennzeichnet für Benjamin die ganze Verwirrung, wenn das, was nichts anderes ist als das Resultat konsequenter Entfaltung kapitalistischer Produktionsweise, die »Fabrikarbeit«, von der Sozialdemokratie zur »politischen Leistung« hochstilisiert wird (These XI).

Die Sozialdemokratie hatte die »deutsche Arbeiterschaft« dazu gebracht, sich mit dem Angreifer zu identifizieren, dessen ökonomische Zwänge zur eigenen Pflicht zu machen und deren getreue Erfüllung zur »politischen Leistung« zu erheben. Die »Arbeiterschaft« ist damit nicht länger das revolutionäre Subjekt der neuzeitlichen Geschichte, als das es Marx vorstellte und als das es Benjamin erneuern will. (89)

2. Die Entmündigung des Proletariats als revolutionärer Klasse

a)   Die »kämpfende, unterdrückte Klasse »als das »Subjekt historischer Erkenntnis«

»Das Subjekt historischer Erkenntnis ist die kämpfende, unterdrückte Klasse selbst. Bei Marx tritt sie als die letzte geknechtete, als die rächende Klasse auf, die das Werk der Befreiung im Namen von Generationen Geschlagener zu Ende führt. Dieses Bewußtsein, das für kurze Zeit im ‘Spartacus‘ noch einmal zur Geltung gekommen ist, war der Sozialdemokratie von jeher anstößig.« (These XII)

Benjamins Formulierung vom »Subjekt historischer Erkenntnis« bedarf der Erläuterung. Sicher entwickelt sich die kritische Potenz, ökonomische Unterprivilegiertheit und damit verbundene Ausbeutung bzw. Unterdrückung wahrzunehmen und dagegen praktisch zu kämpfen, primär auf Seiten der Betroffenen. Jedoch ist die Wahrnehmung des am eigenen Leib erfahrenen gesellschaftlichen Unrechts und die spontane Empörung gegen es nicht unmittelbar mit richtiger und vollständiger Analyse dessen Ursache identisch zu setzen; Maschinenstürmerei oder begrenztes »trade-unionistisches« Selbstverständnis der Gewerkschaften sind einfache Beispiele für diesen Sachverhalt, und es gehört gerade zu den wesentlichen Leistungen der Marxschen Theorie, den mystifizierten Schein der an der Oberfläche erscheinenden Phänomene einer auf Warenproduktion beruhenden Gesellschaft kritisch kenntlich gemacht und damit die Möglichkeit eröffnet zu haben, hinter ihn auf den wesentlichen Kern der Sache zurückzugehen und somit auch unmittelbare Leidenserfahrung auf ihren wirklichen Begriff zu bringen. In der verkürzten vulgärmaterialistischen Annahme, die Erfahrung des Leidens würde auf direktem Weg zur revolutionären Theorie und Praxis führen, geht eine fundamentale Einsicht verloren: Insofern nämlich die spezifische kapitalistische Arbeitsteiligkeit die extreme Trennung von Kopf- und Handarbeit durchsetzt, bzw. die geistigen und die körperlichen Potenzen an verschiedenen Orten des gesamtgesellschaftlichen Reproduktionszusammenhanges organisiert, produziert sie auch die Möglichkeit revolutionärer Theoriebildung und revolutionärer Praxis an verschiedenen Orten. Benjamins Formulierung vom Proletariat als dem »Subjekt historischer Erkenntnis«, scheint auf den ersten Blick in Gefahr zu sein, diese wichtige Einsicht zu verwischen. Denn auch wenn die »unterdrückte Klasse« objektiv - auf Grund der ihr immanenten Tendenz, im Kampf gegen ihre besondere Unfreiheit die Aufhebung der allgemeinen Unfreiheit zu bewirken - das »revolutionäre Subjekt« einer bestimmten geschichtlichen Situation ist, so ist sie dies längst noch nicht auch subjektiv; ihr Kampf ist noch kein ausreichendes Kriterium, daß sie auch schon wirkliches Subjekt ist. Denn »Subjekt historischer Erkenntnis« zu sein muß als Eigenschaft verstanden werden, die eine »unterdrückte Klasse« sich subjektiv zu eigen (90) machen muß, und sie ist es erst dann, wenn sie ihren Kampf im dazu nötigen richtigen Wissen begründen kann, bzw. wenn sie sich die ihr entfremdeten geistigen Potenzen wieder angeeignet hat. (Schon der oberflächliche Sachverhalt, daß das Werk, durch das der antikapitalistische Kampf sein wissenschaftliches Fundament bekommt - das Marxsche »Kapital«, Produkt einer jahrzehntelangen intellektuellen, wissenschaftsimmanenten Auseinandersetzung mit der klassischen politischen Ökonomie und deren Widersprüchen war, und daß die darin erarbeitete kritische Analyse des Kapitalismus denen, die sie für die richtige Deutung ihrer Leidenserfahrungen benötigen, gar nicht unmittelbar rezipierbar ist, illustriert das prinzipielle Problem; auch ohne differenzierte Argumentation wird die hier vorliegende spezifische Getrenntheit von theoretischer und praktischer Negation des Kapitalismus einsichtig und läßt die Diskussion darüber, wie revolutionäre Theorie und revolutionäre Praxis zueinanderkommen können, als eines der wesentlichen Probleme revolutionärer Politik verständlich werden).[86]

[86] Daß Benjamin sich dieser Problematik voll bewußt war, läßt sich aus anderen Schriften belegen. (Siehe dazu: Hering, Der Intellektuelle ...‚ aaO., u.a. S. 131 - 135).

Das die XII. These einführende Nietzsche-Motto führt hier zum genaueren Verständnis dessen, was Benjamin mit der Subjekt-Formulierung aufgreifen wollte:

»‘Wir brauchen Historie, aber wir brauchen sie anders, als sie der verwöhnte Müßiggänger im Garten des Wissens braucht.‘ Nietzsche: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben.« (These XII)

Nietzsche hat hier die Ideologie der zweckfreien Ästhetik geschichtlichen Wissens im Auge und hält ihr den ernsthaften »Gebrauch« der »Historie« entgegen. Benjamin bringt dieses Zitat vollends auf materialistischen Boden und konkretisiert mit Marx »Zweck« und »Nutzen« der Historie in Bezug auf die Bedürfnisse der unterdrückten Proletarierklasse, die das richtige Wissen um ihre Geschichte in den Stand versetzen soll, »das Werk der Befreiung im Namen von Generationen Geschlagener zu Ende« (These XII) zu bringen.

Damit wird jedoch deutlich, daß es Benjamin, wenn er vom »Subjekt historischer Erkenntnis« spricht, um die materialistische Konstitution eines Begriffs von »Erkenntnis« bzw. Wahrheit geht, bei dem Theorie und Praxis auf ganz spezifische Weise miteinander vermittelt sind. »Erkenntnis«, wenn sie wirklich ein »Subjekt« begründen soll, ist für ihn weder »zweckfrei« noch »neutral« im Sinne einer über aller Materialität erhabenen absoluten Wahrheit, deren Funktion (91) und Rezeption in lebensbereichernder individueller Erbauung oder genießerischer Kontemplation aufgeht; sie bemißt sich an ihrer konkreten Treffsicherheit im praktischen Kampf einer bestimmten Klasse gegen ihre Unfreiheit. Da für Benjamin »Erkenntnis« nur dann wirklich ihrem Begriff entspricht, wenn sie Erkenntnis konkreten historischen Leidens und der Möglichkeit dessen Aufhebung ist, macht er konsequenterweise echte »Subjektivität« davon abhängig, inwieweit in ihr die gesellschaftlich produzierte Möglichkeit der Aufhebung gesellschaftlich produzierten Leidens zum Tragen kommt. »Subjekt historischer Erkenntnis« zu sein impliziert dann notwendig, daß in diesem »Subjekt« die objektiven emanzipatorischen Tendenzen eines bestimmten historisch-gesellschaftlichen Zustandes konzentriert sind, bewußt werden und zu ihrer praktischen Entfaltung kommen, bzw. daß sich in ihm die in einem bestimmten gesellschaftlich-geschichtlichen Zustand eingeschlossenen Möglichkeiten der »Erlösung« aller Menschen von der Entfremdungs- »Katastrophe« durchsetzt.[87]

[87] Deshalb betont Benjamin auch: »Das Subjekt der Geschichte: die Unterdrückten, nicht die Menschheit«. (GS I, 3, S. 1244, Ben-Arch, Ms 481). Diese Parteilichkeit verstößt nicht gegen den wissenschaftlichen Anspruch auf neutrale Objektivität, sondern korrigiert mit Recht und Notwendigkeit deren ideologische Basis, die sich aus falscher Abstraktion ergibt.

Benjamin hat sich hier ganz die Marxsche Einsicht zu eigen gemacht, daß das moderne Proletariat die »letzte« Klasse ist, da mit ihrem erfolgreichen Kampf gegen die kapitalistische Arbeitsteiligkeit die Aufhebung von Klassen überhaupt verbunden ist, und daß in diesem partialen Klasseninteresse der Unterdrückten das allgemeine Interesse der aktuellen menschlichen Geschichte aufgehoben ist. Deshalb kann allein diese Klasse auch wirklich »Subjekt« der Geschichte sein. Aber sie wird nur dann dazu, wenn die Theorieproduktion der objektiven Bedeutung dieser Klasse gerecht wird und sie auch subjektiv in die Lage versetzt, sich diese Bedeutung zum richtigen Selbstbewußtsein zu bringen und ihr praktischen Ausdruck zu verleihen. Objektiv »Subjekt historischer Erkenntnis« zu sein, bedeutet somit noch lange nicht, daß die konkreten Subjekte sich dieser Möglichkeit wirklich bemächtigt haben. (92)

Exkurs: Benjamin und Adorno

Der Kontext der XII. These schafft in einem Punkt unmißverständlich Klarheit: Für Benjamin hat richtige historische Erkenntnis ihren Schnittpunkt im objektiven und subjektiven Leiden der »kämpfenden, unterdrückten Klasse selbst« und deshalb besteht er darauf, daß in dieser Erkenntnis eben diese »Klasse« zu Wort und zu ihrem Selbstverständnis kommen muß.

Es gehört zu seinen unverzichtbaren Annahmen, daß die Eliminierung dieser Einsicht aus dem Rahmen des Erkenntniskonzeptes dieses selbst hinfällig macht und daß die Preisgabe der praktisch revolutionären Dimension notgedrungen jegliche historische Erkenntnis korrumpieren muß. Der provokative Stellenwert dieser erkenntnistheoretischen Forderung wird jedoch erst dann einsehbar, wenn man berücksichtigt, daß Benjamin hier nicht nur eine Kritik an der sozialdemokratischen Revision leistet, sondern ganz offensichtlich auch eine klare Abgrenzung gegenüber intellektuellen Positionen aus dem eigenen Lager - zu dem vor allem Adorno zu rechnen ist - im Auge hat.

Indem Benjamin beinahe emphatisch - und das bringt ihm ja auch immer wieder den Vorwurf der blinden vulgärmaterialistischen Hörigkeit ein - allein der »kämpfenden, unterdrückten Klasse selbst« die Möglichkeit zugesteht, wirkliches »Subjekt historischer Erkenntnis« sein zu können, da ausschließlich in und durch sie menschliche Geschichte in ihrem Anspruch auf reale »Erlösung« wahrgenommen werden kann, erteilt er gerade auch der Adornoschen Vorstellung von Wahrheit und intellektueller Praxis eine radikale Absage.

Während die konkrete Desolatheit der »unterdrückten Klasse« und deren offenkundige Bewußtlosigkeit bzw. Nicht-«Subjektivität« Adorno dazu veranlaßt, einen totalen kulturindustriellen Verblendungszusammenhang zu konstatieren, dem die »Massen« letztlich unentrinnbar ausgeliefert sind, und während er unter diesen Voraussetzungen den Anspruch der »Massen« - der ihm sowieso zutiefst suspekt war - nur mehr im stellvertretenden differenziertesten intellektuellen und künstlerischen Eingedenken rein erhalten und gewahrt sieht - als Ersatz für unmöglich gewordene revolutionäre Praxis, besteht Benjamin darauf, daß die »Massen« auch theoretisch unbedingt in dem respektiert werden müssen, was allein sie real sein können: »Subjekt historischer Erkenntnis« im oben entwickelten Sinn der Einheit von richtiger revolutionärer Theorie und Praxis. Und indem Benjamin als das »Subjekt historischer Erkenntnis« ausschließlich die »kämpfende, unterdrückte Klasse selbst« identifiziert, in der revolutionäre Theorie und Praxis zur richtigen Einheit kommen, definiert er damit gleichzeitig Stellung und Funktion der Intellektuellen: In ihrer Tätigkeit muß der historische Zweck ihrer Erkenntnis - verkörpert in der materiellen Gestalt der »kämpfenden, unterdrückten Klasse« - präsent sein und deshalb sieht sich (93) für Benjamin die Intelligenz immer schon mit der Aufgabe konfrontiert, die ihr zur Verfügung stehende erkenntnisschaffende Produktivkraft dorthin zu vermitteln, wo sich das geschichtliche »Subjekt« als wirkliches konstituiert. Und diese Aufgabe ist umso dringlicher, je weniger die »unterdrückte Klasse« sich ihre »Subjektivität« auch wirklich zu eigen gemacht hat.

An den »Massen« führt für Benjamin kein Weg vorbei und insoweit der Grad ihrer aktuellen Bewußtheit nichts an ihrer objektiven Bedeutung und Möglichkeit ändert, kann für Benjamin intellektuelle Arbeit nur daraus ihren Sinn und ihren Maßstab beziehen, wie sie sich auf dieses »Subjekt« bezieht.[88]

[88] Siehe dazu: C. Hering, Der Intellektuelle ...‚ aaO.; darin vor allem: Organisation der Massen und intellektuelle Verantwortung,  S. 123 - 130.

[89] Siehe dazu: Hering, Der Intellektuelle ...‚ aaO.; vor allem: Kritik an der Benjamin-Rezeption, S. 13- 30.

Benjamins Unnachgiebigkeit in diesem Punkt der Einschätzung der »Massen« war für Adorno - angesichts dessen Analyse von deren totaler Pervertiertheit und Befangenheit im kulturindustriellen Teufelskreis - eine offensichtlich nicht erträgliche Bedrohung bzw. Provokation, der er nur durch den Mechanismus extremer Abwertung bzw. Verleugnung Herr zu werden vermochte.[89] In Wahrheit hatte sich Benjamin von Adorno ebensoweit entfernt wie von der Sozialdemokratie, und trotz Adornos permanenten Versuchen, diese tiefe Kluft zu kaschieren und Benjamin der eigenen philosophischen Richtung zuzuschlagen, läßt sich nicht mehr übersehen, daß Benjamin einen anderen Weg gegangen ist und sich dabei gerade als das erweist, was ihm so viele seiner »wohlmeinenden« Korrektoren immer wieder abgesprochen haben: Als ein Marxist.

Für Benjamin ist sowohl die opportunistische Revision der originär Marxschen Einschätzung der »unterdrückten Klasse« durch die Sozialdemokratie wie auch die resignative durch Adorno gleich unakzeptabel: Läuft das zutiefst pessimistische Konzept Adornos darauf hinaus, daß die »kämpfende, unterdrückte Klasse« nur mehr in der Form verbaler Zugeständnisse berücksichtigt wird, die der nähere philosophische Kontext bereits wieder zurücknimmt, und hört diese Klasse als eigentlich revolutionäre in Adornos Denken letztlich ganz auf, ein seriöser und relevanter Faktor zu sein, so überlebt sie zwar in der sozialdemokratischen Theorie, wird aber ebenfalls ihrer revolutionären Bedeutung beraubt und in eine Rolle hineinmanövriert, die ihr Wohlverhalten und Anpassung an den kapitalistischen Gesellschaftszusammenhang abverlangt.

Beide Konzepte - so sehr sie auch in ihrem Niveau unterschieden sein mögen - lassen nichts mehr von der Aufgabe der »unterdrückten Klasse« übrig, »Subjekt historischer Erkenntnis« sein und das »Werk der Befreiung... zu Ende« führen zu müssen. In beiden Fällen hört die Marxsche Bestimmung dieser Klasse als einer wesentlich revolutionären auf, ein entscheidender Faktor der Theorie und Praxis zu sein. (94)

b)  Die Verpflichtung auf den kapitalistischen »Fortschritt« und die Eliminierung revolutionären Klassenbewußtseins

[90] Im Revisionismus »bürdet die evolutionistische Geschichtsbetrachtung um so mehr der ‘Entwicklung‘ auf, je weniger die Partei das Errungene im Einsatz gegen den Kapitalismus aufs Spiel setzen wollte. Die Geschichte nahm deterministische Züge an; der Sieg der Partei ‘konnte nicht ausbleiben‘ ». (GS II, 2, S. 487)

[91] »Die deterministische Auffassung paart sich ... mit einem handfesten Optimismus Aber es macht einen Unterschied, ob der Optimismus der Aktionskraft der Klasse gilt oder den Verhältnissen, unter denen sie operiert. Die Sozialdemokratie neigte dem zweiten, fragwürdigen Optimismus zu. Die Perspektive auf die beginnende Barbarei ... war den Epigonen der Jahrhundertwende verbaut. Als Condorcet die Lehre vom Fortschritt verbreitet hatte, da hatte das Bürgertum vor dem Machtantritt gestanden; anders stand ein Jahrhundert später das Proletariat. Ihm konnte sie Illusionen erwecken.« (GS II, 2, S. 488).

[92] Die Kritik der Anpassung der Arbeiterklasse an systemkonforme Normen, die Benjamin hier am Beispiel der Sozialdemokratie herausarbeitet, geht mit Sicherheit über diese hinaus und schließt die gesamte marxistische Tradition mit ein. In einer bemerkenswerten Variante sagt Benjamin: »Das Proletariat als Nachfolger der Unterdrückten; Auslöschung dieses Bewußtseins bei den Marxisten.« (GS I, 3, S. 1243, Ben-Arch, Ms 477).

Es ist hier nicht nötig, auf die oben schon ausführlich entwickelte Problematik der Einschätzung des Verhältnisses Benjamins zum originären Marx nochmals einzugehen. Ganz gleich, wen Benjamin - berechtigt oder unberechtigt - mit den »Marxisten« gemeint haben kann, diese Stelle zeigt mit großer Klarheit, warum er in diesem Punkt Zuflucht bei der messianischen Theologie gesucht hat. Es ist deren Erlösungskonzept, das von der Sorge um die Vergangenheit noch zu wissen scheint und den Gedanken der verantwortlichen »Nachfolge« am Leben erhalten hat. Und es ist genau dieser Gedanke, in dem Benjamin das stärkste Bollwerk gegen Fortschritts- und Zukunftsideologie sieht, die »Erlösung« in Aussicht stellen, ohne den geschichtlichen »Trümmerhaufen«, von dem die IX. These spricht, bzw. dessen Ursache beseitigt zu haben. Dies auch die Stelle, an der Benjamin bewußt und mit voller Absicht Marx verläßt, bzw. meint, ihn verlassen zu müssen. Ob mit Recht, bleibt uns zur Entscheidung überlassen.

[93]  »Die Vergangenheit erschien ihr ((der Sozialdemokratie)) ein für allemal in die Scheuern der Gegenwart eingebracht;

  mochte die Zukunft Arbeit in Aussicht stellen, so doch die Gewißheit des Erntesegens.« (GS II, 2, S. 475).

Die Sozialdemokratie - so führt Benjamin fort - »gefiel sich darin, der Arbeiterklasse die Rolle einer Erlöserin künftiger Generationen zuzuspielen. Sie durchschnitt ihr damit die Sehne der besten Kraft. Die Klasse verlernte in dieser Schule gleich sehr den Haß wie den Opferwillen. Denn beide nähren sich an dem Bild der geknechteten Vorfahren, nicht am Ideal der befreiten Enkel.« (These XII)

Insofern die »Erlösung« künftiger Generationen der Sozialdemokratie als ein Resultat möglichst reibungsloser, spannungsfreier und kontinuierlicher Verausgabung von Arbeitskraft erscheint, muß sie dementsprechend die Arbeiterschaft dazu bringen, ihre Vorstellung von Zukunft am Modell stetiger Addition zu orientieren und nicht mehr am Modell kämpferisch bzw. revolutionär herbeigeführter qualitativer gesellschaftlicher Umschläge.[90]

Bzw. anders formuliert: Da die Arbeiterschaft annehmen muß, innerhalb der ihr aufgezwungenen Arbeitsverhältnisse bereits ein Stück »erlösender« Praxis zu vollziehen, deren Vollendung nur mehr ein zeitliches und kein inhaltliches Problem mehr ist, wird sie von jeglicher klassenkämpferischen Verantwortung suspendiert und verliert schrittweise sowohl die theoretische wie die praktische Idiosynkrasie für die grundlegende Widersprüchlichkeit ihrer gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation. Ihre selbstvergessene Orientierung am Zustand künftiger Harmonie - am »Ideal der befreiten Enkel« - und ihr naiver, »handfester Optimismus« zwingen sie dazu, vergangene wie gegenwärtige Unterdrückung als Episode zu betrachten, die sich im etablierten Prozeß des Fortschritts automatisch überholt und aufhebt, und indem das »Bild der geknechteten Vorfahren« nicht mehr ihre aktuelle Wahrnehmung legiert, wird die Rechnung zugunsten aller derer beglichen, die bisher für Knechtschaft und Unterdrückung verantwortlich waren und sind.[91] (95)

Was an menschlichem Leid auf ihr Konto geht, wird in Anbetracht vermeintlicher zukünftiger »Erlösung« großzügig annulliert. Die »geknechteten Vorfahren« jedoch werden dabei um ihr Recht gebracht, das darin zu denken wäre, daß ihr Leiden den Nachfahren die Verpflichtung auferlegt, dessen gesellschaftliche Ursache in gegenwärtiger und zukünftiger Praxis zu beseitigen.[92] Deshalb ist der »Haß« eine positive Qualität: Denn in ihm, der sich an angetanem Leiden entzündet, entwickelt sich die Qualität, die Merkmale der vergangenen Knechtschaft in ihrer gegenwärtigen Gestalt zu entlarven und auf deren vollständiger Aufhebung zu beharren. Wo jedoch die Gegenwart - ohne »Haß« und »Opferwillen« - mit dem Schein zukünftiger Versöhntheit überzogen und in der trügerischen »Gewißheit des Erntesegens«[93] eben nicht mehr aus der Perspektive unbewältigten Leidens gesehen wird, stellt sich gegenwärtiges Leiden nur mehr als verschwindendes, gleichgültiges Moment dar, und an ihm werden gerade die Signaturen beseitigt, die es als Produkt vergangener Knechtschaft, die sich ungebrochen in die Gegenwart fortsetzt, kenntlich machen würden.[94] (96)

[94] Tiedemann sieht in diesem Zusammenhang bei Benjamin »aktionistische Naivität« am Werk und es will ihm so gar nicht einleuchten, wie Benjamin auf der einen Seite »‘die destruktiven Energien des historischen Materialismus, die so lange lahmgelegt worden sind‘...«‚ wieder zugängig machen will, auf der anderen Seite aber mit einem theologischen Erlösungsmodell arbeitet, das bei Tiedemann wohl nichts mit Zerstörung zu tun haben kann: »Eine merkwürdige Notiz aus den Vorarbeiten zu den Thesen lautet: ‘Stärke des Hasses bei Marx. Kampflust der Arbeiterklasse. Die revolutionäre Zerstörung mit dem Erlösungsgedanken zu verschränken. (Netschajev. Die Dämonen) ‚... Unvereinbares soll da vereinigt werden.« (R. Tiedemann, Materialien, aaO., S. 107)

Ich kann hier beim besten Willen nichts »Unvereinbares« erkennen; im Gegenteil. Treffen sich Erlösungskonzept und »revolutionäre Zerstörung in Benjamins Gedankenführung nicht komplementär in dem Punkt, wo es darum geht, die Durchsetzung des Neuen, bzw. die Erlösung des Alten als Aufsprengung eines falschen Kontinuums zu verstehen; und versieht die Einsicht, daß der Messias ja nicht nur als der »Erlöser« konzipiert werden darf, sondern gleichzeitig und notwendig auch als der »Überwinder des Antichrist«, den »historischen Materialismus« wie auch die orthodoxe Theologie nicht mit dem kritischen Hinweis, daß weder die »klassenlose Gesellschaft« noch das »Paradies« als automatisches Resultat des bestehenden geschichtlichen Fortschreitens gedacht werden dürfen, für die es keines »Kampfes« mehr bedarf? Die Zurückgewinnung des Aspekt der »revolutionären Zerstörung« garantiert erst, daß beider Versprechen, (das der Theologie und das des Historischen Materialismus), die Menschen aus ihrer Entfremdung zu »erlösen«, wirklich Realität werden kann: Die unverzichtbare Voraussetzung dazu findet sich in der erfolgreichen Aufsprengung falscher Kontinuen.

[95]  Bewerkstelligt wurde die Auflösung des revolutionären Klassenbewußtseins vornehmlich durch den Mechanismus der Verinnerlichung der bürgerlichen Moral, abgesichert durch die Verpflichtung aufs »Gewissen«: »Die Moral des Bürgertums steht im Zeichen der Innerlichkeit. Ihr Angelpunkt ist das Gewissen ... Das Verhalten der Bourgeoisie, das ihren eigenen Interessen zuträglich, aber angewiesen auf ein ihm komplementäres des Proletariats war, das den eigenen Interessen des letzteren nicht entsprach, proklamierte als moralische Instanz das Gewissen. Das Gewissen steht im Zeichen des Altruismus. Es rät dem Eigentümer, so zu handeln, wie es Begriffen entspricht, deren Geltung mittelbar seinen Mit-Eigentümern zugute kommt, und es rät dem Nicht-Eigentümer leicht das gleiche an. Wenn die letzteren sich diesem Rat anbequemen, ist der Nutzen ihres Verhaltens für die Eigentümer um so unmittelbarer ersichtlich, je fragwürdiger er für die so sich Verhaltenden und ihre Klasse ist.« (GS II; 2, S. 493f.).

Daß jedoch die Perspektive des Leidens, des »Hasses« und des »Opferwillens« verwischt und dem Bewußtsein der Arbeiterschaft entfremdet wird, daraufhin hatte die Sozialdemokratie - der ein revolutionäres Bewußtsein, »das für kurze Zeit im Spartacus‘ noch einmal zur Geltung gekommen ist«, von jeher »anstößig« (These XII) war - von Anfang an hingearbeitet. Mit ihrer Anerkennung der vorfindlichen gesellschaftlichen Expansion als Fortschritt an sich, mußte es zu ihrer zentralen Absicht werden, der Arbeiterschaft die ihr auferlegte bestehende »Knechtschaft« und das damit verbundene Leiden als freiwillige Beschränkung zum höheren Zwecke zukünftiger »Erlösung« einzureden und sie auf die Verinnerlichung der damit implizierten Normen einzustellen; denn allein dadurch ließ sich garantieren, daß diese Form des Fortschritts möglichst störungsfrei funktionieren konnte. Die Sozialdemokratie mußte dem deutschen Proletariat seine objektive und ökonomisch bedingte Gegnerschaft zur Bourgeoisie ausreden und indem sie deren Normen der Arbeiterschaft als absolute Werte unterschob, hatte die Arbeiterschaft begonnen, sich selbst kapitalkonform zu kontrollieren.[95] Sie hatte aufgehört, der bestimmende Faktor zu sein, der als einziger in der Lage wäre, dem Geschichtsablauf eine wahrhaft menschliche Gestalt zu geben und die »Erlösung« der Vergangenheit ins Werk zu setzen; die Entmündigung als »Subjekt historischer Erkenntnis« hatte die Arbeiterschaft (97) zum ohnmächtigen und dazu noch freiwilligen Vollzugsorgan ihrer eigenen Negation gemacht: Die Durchsetzung des »katastrophischen« Geschichtsverlaufs war Ziel ihrer eigenen Praxis geworden.[96] (98)

[96] Den Vorgang massiver und permanenter Anpassung an kapitalistisch-bürgerliche Normen, dem die Arbeiterschaft in ihrer sozialdemokratischen Organisierung ausgesetzt war, hat Benjamin ausführlicher an anderer Stelle am Beispiel der sozialdemokratischen »Kultur- und Bildungspolitik« analysiert. Dieser Prozeß ideologischer Ausrichtung - in der X. These hatte Benjamin von der »servilen Einordnung in einen unkontrollierbaren Apparat« gesprochen - läßt sich gerade dort in seiner ganzen tragischen Auswirkung vorführen, wo es der Sozialdemokratie durchaus noch darum ging, das Proletariat - in antibürgerlicher Absicht - als Machtfaktor zu organisieren. In ihrer Parole »Wissen ist Macht«, mit der sie den Zweck ihrer Bildungspolitik ausdrücken wollte, kann man durchaus noch das reflektierte Bemühen erkennen, die kapitalistische Trennung von geistiger und materieller Produktion aufzuheben, und der Arbeiterklasse die von ihr abgespaltenen Potenzen wieder zur Verfügung zu stellen. Aber - und an diesem Punkt setzt Benjamins radikale Kritik an - die Sozialdemokratie durchschaute nicht den fatalen »Doppelsinn« dieser Parole: »Sie meinte, das gleiche Wissen, das die Herrschaft der Bourgeoisie über das Proletariat befestige, werde das Proletariat befähigen, von dieser Herrschaft sich zu befreien. In Wirklichkeit war ein Wissen, das ohne Zugang zur Praxis war und das das Proletariat als Klasse über seine Lage nichts lehren konnte, ungefährlich für dessen Unterdrücker.« (GS II, 2, S. 472f.).

3.  Die Ersetzung materialistischer Dialektik durch positivistisch-naturwissenschaftliche Eindimensionalitat

a) Die »technokratische« Vorstellung eines »Fortschritts der Menschheit«

Die »Katastrophe« der menschlichen Geschichte besteht darin, daß die Menschen nicht Subjekt ihrer eigenen Geschichte sind, sondern sich einem - von ihnen selbst produzierten - entfremdenden ökonomischen Prinzip ausgeliefert haben. Deshalb ist die geschichtliche »Katastrophe« ebenso Ausdruck und Resultat der Katastrophe der Vorstellung von Geschichte, die sich die Menschen von ihr machen. Ihre Hilflosigkeit angesichts des Faschismus spiegelt nur die prinzipielle Hilflosigkeit gegenüber der grundsätzlichen gesellschaftlichen Entfremdung wieder und sie hat ihren Grund im Mangel an einer kritischen Gesellschaftstheorie. Sie fällt vollständig hinter die Errungenschaften des dialektischen Materialismus zurück und das ihr entspringende Konzept von Geschichte wird von einem Fortschrittsbegriff bestimmt, von dem Benjamin zusammenfassend sagt, daß er »sich nicht an die Wirklichkeit hielt, sondern einen dogmatischen Anspruch hatte.« (These XIII)

Die »Wirklichkeit« jedoch wäre die kapitalistisch organisierte mit all ihren spezifischen Gesetzmäßigkeiten, der sämtliche gesellschaftliche Bereiche unterworfen werden und die allen Produktivkräften Form und Inhalt vorschreibt. Das primäre Ziel dieser »Wirklichkeit« findet sich in der möglichst »progressiven« Reproduktion des Kapitals auf immer höherer Stufenleiter. Die Sozialdemokratie isoliert und idealisiert ein Element dieser »Wirklichkeit« - den kapitalistisch-technologischen - und meint, in dessen revolutionärer Eindimensionalität einen Automatismus entdeckt zu haben, der die gesamte Geschichte durchdringen und in Zukunft positiv bestimmen würde. Sie delegiert damit die Verantwortung für die menschliche Geschichte an ein abstraktes naturwissenschaftliches Prinzip und was sie der spezifischen kapitalistischen Katastrophe entgegenstellen kann, ist nicht mehr die revolutionäre Praxis der Menschen, sondern ein ihr äußerliches, verdinglichtes »Dogma«. Dessen Konsequenzen sind fatal.[97] (99)

[97] So verkündet Dietzgen mit entwaffnender vulgärmaterialistischer Klarheit: »‘Die gerühmte theoretische Einhelligkeit der Sozialdemokratie beruht darauf, dass wir unser Heil nicht mehr in subjektiven Plänen suchen, sondern es aus dem un- vermeidlichen Laufe der Welt als ein mechanisches Produkt hervorwachsen sehen. Wir haben unsere Tatkraft auf die Geburtshilfe zu beschränken. Der unwiderstehliche Weltprozeß, der die Planeten geballt, aus ihren feuerflüssigen Substanzen Kristalle, Pflanzen, Tiere und Menschen nacheinander hervorgetrieben, treibt ebenso unwiderstehlich zu einer rationellen Verwendung unserer Arbeit, zur stetigen Entwicklung der Produktivkraft... Auf dem Mechanismus des Fortschritts beruht die Zuversicht der Sozialdemokratie. Wir wissen uns unabhängig vom guten Willen. Unser Prinzip ist ein mechanisches, unsere Philosophie materialistisch.‘«

(J. Dietzgen, zitiert bei G. Mensching, aaO., S. 180f.). Menschings »Zeit und Fortschritt in den geschichtsphilosophischen Thesen Walter Benjamins« (aaO.) enthält eine recht ausführliche und hilfreiche Darstellung der Vorstellungen von Fortschritt bei Dietzgen, Kautsky, Holbach, Condorcet etc., die Benjamin die Folie zu seiner Kritik an Positivismus, Sozialdemokratie und Vulgärmaterialismus abgegeben haben.

[98] Greffrath verweist darauf, wie wenig diese Vorstellung von Fortschritt mit der Marxschen identifiziert werden darf und wie »weit Marx selbst von einem naiven Fortschrittsglauben entfernt war...: Erst nach der sozialistischen Revolution wird der menschliche Fortschritt nicht mehr jenem scheußlichen heidnischen Götzen gleichen, der den Nektar nur aus den Schädeln Erschlagener trinken wollte‘ (MEW 9, S. 226)« (Greffrath, aaO., S. 227, Anm. 12). Die Marxsche Methaphorik verleiht Benjamins kritischer Einsicht in die Dialektik von »Kultur«/ (»Fortschritt«) und »Barbarei« ihren treffendsten bildhaften Ausdruck.

Die Meinung der deutschen Arbeiterklasse, »sie schwimme mit dem Strom« (These XI), ist ebenso wie Dietzgens Annahme - das Motto der XIII. These - daß »‘unsere Sache alle Tage klarer und das Volk alle Tage klüger‘ (Josef Dietzgen, Sozialdemokratische Philosophie)« wird, bezeichnender Ausdruck dieser Übertragung von Vorstellungen permanenter Entwicklung und Perfektionierung, wie sie die grandiose, kapitalistisch organisierte Entfaltung der technologischen Produktivkräfte vermittelt, auf die gesamte menschliche Geschichte. Die isolierende Würdigung dieses technologischen Fortschritts verführte die Sozialdemokratie zur Annahme, es handle sich hierbei - erstens - um den »Fortschritt der Menschheit selbst (nicht nur ihrer Fertigkeiten und Kenntnisse)« (These XIII), dieser sei - zweitens - »ein unabschließbarer (einer unendlichen Perfektibilltät ... entsprechender)« (These XIII), - und er müsse - drittens - »als ein wesentlich unaufhaltsamer (als ein selbsttägig eine grade oder spiralförmige Bahn durchlaufender)« (These XIII) angesehen werden.[98]   (100)

Was hier geschieht, könnte man als »technologische Ontologisierung« der Geschichte bezeichnen. Die Sozialdemokratie erhebt die kapitalistische Form der scheinbar schrankenlosen und kontinuierlichen Entfaltung aller Produktivkräfte in den Stand eines »erlösenden«, sich automatisch vollziehenden Geschichtsgesetzes. Dessen Anforderungen und Bestimmungen weisen der menschlichen Arbeit ihre Inhalte zu und nicht umgekehrt. Sie überlebt nur mehr in der Reduktion auf ein bloßes Mittel im Dienste technologieimmanenter Notwendigkeiten und als pures Exekutionsorgan einer ihr äußerlichen Bestimmung weist sie schon sehr früh »die technokratischen Züge auf, die später im Faschismus begegnen werden.« (These XI). Die unmarxistische bzw. revisionistische Einschätzung kapitalistisch bestimmter und verwerteter Technologie und deren »Dogmatisierung« zur emanzipativen, geschichtsontologischen Instanz zwingt dazu, das gesellschaftliche Heil bei einer bereits etablierten Kraft zu suchen und macht menschliche Geschichte total von deren gegebener Verfassung und Qualität abhängig. Kritische politische Reflexion und Praxis erscheinen ebenso obsolet wie die Radikalität der Vorstellung des dialektischen Materialismus, daß das gesamte System - auch in seinen Einzelbereichen - notwendigerweise immer »katastrophische« Resultate zeitigen müsse, solange der prinzipielle Entfremdungszusammenhang nicht aufgehoben ist. Deshalb sagt Benjamin in der VIII. These mit vollem Recht, daß die Chance des Faschismus »nicht zuletzt darin ((besteht)), daß die Gegner ihm im Namen des Fortschritts als einer historischen Norm begegnen«. Denn der zur »Norm« erhobene kapitalistisch bestimmte Fortschritt entmachtet ja nicht nur die Akteure der Geschichte und entfremdet sie der Möglichkeit, das Fortschreiten der Geschichte selbst und nach Maßgabe planvoller Rationalität festzulegen, sondern er selbst ist zutiefst antagonistisch »katastrophisch« und arbeitet dem Faschismus geradezu in die Hände bzw. bereitet den Boden für seine Existenz.

b)  »Leere Homogenität« statt qualitativer Sprung

Das Geschichtsbild der Sozialdemokratie - orientiert am positivistischen Ideal linearen und unendlichen Fortschritts - eliminiert die Wahrnehmung eines fundamentalen Antagonismus in der menschlichen Geschichte. Ihm ist an nichts so gelegen, als an der Herstellung der Illusion eines homogenen Systems, das sich selbst positiv zu regulieren in der Lage ist. Es gibt in ihm nicht mehr, was Benjamin vorher als unbedingte Notwendigkeit für eine wahrhaft gelingende Geschichte herausgearbeitet hat: echte geschichtliche Gegenwart. Denn wo der Selbstvollzug eines homogenen Systems an die Stelle widersprüchlicher menschlicher Praxis tritt, bzw. diese selbst nur soweit zur Berücksichtigung kommt, als sie den reibungslosen »Fortschritt« dieses Systems garantiert, hat auch die Vorstellung von »Zeit« jegliche menschliche Dimension verloren. Sie existiert nur mehr als abstrakter Raum, in dem sich ein homogenes System unendlich er-(101)weitert; sie kennt keinen genau abgegrenzten historischen Augenblick, in dem die Menschen in selbstbewußter und verantwortlicher Entscheidung und Praxis ihre eigene Geschichte so oder auch anders bestimmen können. Die sozialdemokratisch-positivistische Vorstellung von einem »Fortschritt des Menschengeschlechts« ist in Wahrheit »leer«. Sie ist orientiert am abstrakten Mechanismus einer gleichförmigen Addition gleichförmiger Einheiten, in der konkrete menschliche Praxis in ihrer spezifischen Ungleichförmigkeit keinen Platz mehr hat. Deshalb sagt Benjamin, die XIII. These abschließend:

»Die Vorstellung eines Fortschritts des Menschengeschlechts in der Geschichte ist von der Vorstellung ihres eine homogene und leere Zeit durchlaufenden Fortgangs nicht abzulösen. Die Kritik an der Vorstellung dieses Fortgangs muß die Grundlage der Kritik an der Vorstellung des Fortschritts überhaupt bilden.« (These XIII)

[99] Wobei diese Rückgewinnung echter geschichtlicher Gegenwart, eingeleitet durch die kritische Auflösung des »homogenen und leeren« Zeitrahmens, von Benjamin sofort in dialektische Verschränkung mit der Rekonstruktion bzw. Reaktivierung der ,,destruktiven Energien des historischen Materialismus« gesetzt wird: »Eine Vorstellung von Geschichte, die sich vom Schema der Progression in einer leeren und homogenen Zeit freigemacht hat, würde die destruktiven Energien des historischen Materialismus, die so lange lahmgelegt worden sind, endlich wieder ins Feld führen.« (GS 1, 3, S. 1240, Ben-Arch, Ms 447 und 1094). Und nicht um die Ersetzung des Historischen Materialismus durch den Anarchismus geht es hier, wie Tiedemann immer wieder zu suggerieren versucht (z.B. Tiedemann, aaO., S. 109), sondern um die erneute Verfügbarkeit von anti-deterministischen, warum nicht »anarchistischen« Kräften im Historischen Materialismus, die den Prozeß rückgängig machen können, der aus dem Historischen Materialismus eine dogmatische Weltanschauung mit festen Regeln und Lehrsätzen gemacht hat, in denen die Subjekte sich verfangen haben wie die Fliegen im Spinnennetz. Versteht man diese »destruktiven Energien« als »anarchistische«, dann muß man gleichzeitig einsehen, daß dieser »Anarchismus« zentraler Bestandteil des Marxschen Denkens war: Er zielt ab auf die notwendige Destruktion falscher Kontinuen.

[100] »War die klassenlose Gesellschaft erst einmal als unendliche Aufgabe definiert, so verwandelte sich die leere und homogene Zeit sozusagen in ein Vorzimmer, in dem man mit mehr oder weniger Gelassenheit auf den Eintritt der revolutionären Situation warten konnte.« (GS 1, 3,S. 1231, Ben-Arch, Ms 1098v).

[101] »Die klassenlose Gesellschaft ist nicht das Endziel des Fortschritts in der Geschichte sondern dessen so oft mißglückte, endlich bewerkstelligte Unterbrechung.« (GS 1, 3, S. 1231, Ben-Arch, Ms l098v).

Die Rückgewinnung echter geschichtlicher Gegenwart - oben ausführlich als Forderung entwickelt - ist identisch mit der Rückgewinnung eines Zeitbegriffs, der der konkreten menschlichen Praxis das Recht und die Möglichkeit zuweist, die Meßeinheit zu bestimmen.[99] Und diese »Zeit« wird nicht der Meßeinheit eines mechanischen, homogenleeren Sekundenablaufs folgen, sondern den bestimmten Inhalten dieser Praxis. Denn von ihr hängt die Qualität der Geschichte ab: Ob sie scheitert, »Katastrophe« bleibt oder »richtiges Leben« herstellt.

Größte Bedeutung haben diese Überlegungen für den Begriff der »klassenlosen Gesellschaft«. Weder das Endziel noch die Vollendung des etablierten geschichtlichen Fortschreitens können in ihm rechtmäßig gedacht werden. Er fixiert einen Zustand, in dem die Menschen sich von ihrer fatalen Loyalität gegenüber unkontrollierten bzw. nicht mehr kontrollierbaren gesellschaftlichen Kräften emanzipieren, den »homogenen und leeren« Zeitablauf, den sie mit Fortschritt identifiziert hatten, aufsprengen, und eine geschichtliche Gegenwart etablieren, in (102) der sie wahrhaft die Subjekte ihrer eigenen Geschichte sind.[100] Sie vollenden nicht, was sie vorfinden, sie unterbrechen, was ihrer Subjektivität die adäquate geschichtliche Realität verwehrt.[101] Ein Gedanke, der weitreichendste Konsequenzen hat für Benjamins weitere Gedankenführung und Resultate zeitigt, die m.E. in höchst produktiver Weise eine Union mit dem Marxschen Geschichtskonzept einzugehen vermögen.

Hier läßt sich vorläufig formulieren: Die Qualität der Geschichte ist kein Problem der additiven Vollendung und Perfektion, sondern ein Problem des qualitativen Sprungs. Der Übergang von der »homogenen und leeren« Zeit zur »Jetztzeit« beschreibt im folgenden diesen Sachverhalt. (103)

Exkurs: Historischer Materialismus und messianische Theologie

Die Ausführungen im Anschluß an die Engelsthese IX haben gezeigt, daß der »Sturm«, der »vom Paradies her« weht und die »Katastrophe« durchsetzt, mit der prinzipiellen, von Marx konstatierten, (ökonomischen) Entfremdung in der menschlichen Geschichte in engsten und ursächlichen Zusammenhang gebracht werden muß. (Der Übergang von urkommunistischer Gemeinwirtschaft zur warenproduzierenden Privatwirtschaft deckt diesen Sachverhalt auf ökonomischer Ebene ab; auf politischer Ebene kennzeichnet die Errichtung von Klassenherrschaft den geschichtlichen »Sündenfall«).

Was daher dem »konformistischen« Betrachter der neuzeitlichen, kapitalistisch organisierten Geschichte als ungeheurer Fortschritt erscheint, enthüllt sich dem kritischen Historiker als (die wohl machtvollste) Variante des die »Katastrophe« mit sich führenden »Sturmes«; dieser bezieht seinen »modernen« Inhalt aus der geradezu explosionsartig sich erweiternden kapitalistischen Warenproduktion und der damit verbundenen radikalen Subsumierung sämtlicher Bereiche gesellschaftlich geschichtlicher Existenz unter das abstrakte Prinzip der Tauschwertgesetzlichkeit.

Die Einsicht in diesen geschichtlichen »Fortschritt« als einem Fortschreiten der »Katastrophe« selbst und die daraus sich ergebende Forderung der Abschaffung bzw. Aufhebung der kapitalistischen Gesellschaftsform als dem avanciertesten und exemplarischsten Zustand geschichtlicher Entfremdung stecken den Rahmen ab, in dem Benjamin die »Erlösung« vorbereitet. Wobei kein Zweifel bestehen kann, daß Benjamin sich vollständig die Marxsche Position zu eigen macht, daß die Aufhebung der Entfremdung nicht außerhalb des aktiv von der Arbeiterklasse geführten Klassenkampfes gedacht werden kann.

Was Benjamin jedoch an theoretischer und praktischer Realität vorfand, und zwar den gesamten proletarischen Bereich von Sozialdemokratie bis offiziellem Kommunismus abdeckend, war zutiefst geprägt von positivistisch-deterministischen Revisionen, die Klassenbewußtsein durch technologiefetischisierende Fortschrittsideologe und revolutionäre Praxis durch blindes Vertrauen in einen progressiven Geschichtsautomatismus ersetzt hatten. Der Historische Materialismus hatte sich in der auf Marx folgenden Tradition in einen verdinglichten und starren Mechanismus verwandelt, dessen adäquate metaphorische Gestalt die der »Puppe« ist. Dieser Verpuppung tritt Benjamin mit dem theologischen Konzept der messianischen Erlösung entgegen.

[102] GS 1, 3, S. 1240, Ben-Arch, Ms 447 und 1094.

Es sprengt durch die unbestechliche Wahrnehmung der »Katastrophe« und die Sorge um die entfremdete Vergangenheit, der eine ebenso entfremdete Gegenwart entspricht, die so fatale Fortschrittsontologie auf und errichtet stattdessen im Modell der messianischen »Jetztzeit« eine geschichtliche Gegenwart, in der (104) die materialistische Aufhebung falscher Kontinuen stattfindet. Es ist dies genau die Stelle, an der die »destruktiven Energien des historischen Materialismus, die so lange lahmgelegt worden sind, endlich wieder ins Feld«[102] geführt werden können. Die Theologie, die über sie nur in ihrer abstrakten Metaphorik der messianischen Überwindung des Anti-Christ Auskunft geben kann, führt dennoch den Historischen Materialismus zu dieser seiner wertvollsten Kraft zurück - die der theoretischen und praktischen Selbstbestimmung der Subjekte; sie initiiert im Historischen Materialismus erneut die so geschichtskonstitutiven revolutionären Praxisimpulse, der sie selbst keine konkrete Realität geben kann. (105)

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