Anmerkung zum Arbeitsblatt zu Franz Neumann: Behemoth (Antikapitalismusphantasien der Nazis)
Zur unlöslichen Verbindung des »Antisemitismus der Vernunft mit dem »Antisemitismus des Pogroms«
Nach der Reichspogromnacht ruft Innenminister Frick im Auftrag des Ministerpräsidenten Göring alle möglichen Vertreter von Partei und Verwaltung zusammen (16.12.1938)
Wichtig ist sein Einleitungssatz:
»Man dürfe nicht vergessen, dass der Führer mit den Machtmitteln des Staates alleine Groß-Deutschland nicht hätte schaffen können. Dieses wäre vielmehr nur möglich gewesen aufgrund des dominierenden Einflusses der Partei im Volke. Nur der Bewegung ist es zu verdanken, dass die Machtmittel des Staates völlig im Hintergrunde blieben und alles geschaffen wurde ohne ein Blutvergießen. Überall, wo Meinungsverschiedenheiten zwischen Partei und Staat auftreten, müsste man sich diese großen gemeinsamen Aufgaben vor Augen halten.
Er (=Frick) wolle jetzt zur Judenfrage sprechen. Wir alle seien davon überzeugt, und darüber bestünden überhaupt keine Meinungsverschiedenheiten, dass die Rassenfrage die Grundfrage des Dritten Reiches ist ... Als eine der ersten Maßnahmen, die durchgeführt werden konnten, ohne dass Schwierigkeiten vom Ausland kamen, habe das Reichsinnenministerium das Gesetz zur Schaffung eines Berufsbeamtentums erlassen. Dieses sei Muster für alle späteren Gesetze geworden.1935 kamen die Nürnberger Gesetze, in denen zum ersten Mal das Wort »Nicht-Arier« durch das Wort »Jude« ersetzt wurde. In diesen Gesetzen ist genau festgelegt, wer Jude ist. Nachdem dieses entscheidende Blutschutzgesetz in Kraft trat, nahm das Tempo immer stürmischere Formen an...«
(Entnommen: Bevölkerungsstruktur und Massenmord / in: Beiträge zur Nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik 9 / Rotbuch-Verlag Berlin 1991)
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Anm. 1: Im ersten Satz ist das Verhältnis von Pogrom und bürokratischer Erfassung zur Vernichtung mitgedacht. Der Schreibende träumt von einer lautlosen und ordentlichen bürokratischen Erfassung. Er gibt aber - traurig? trotzig? mürrisch? - zu, dass es ohne den ungeheuren Druck der Straße nicht möglich gewesen wäre, über Verordnung und Maßnahme das gleiche zu erreichen.
1a. Die Ansicht, es seien seit 1933 keine Machtmittel des Staates eingesetzt worden und es habe kein Blutvergießen gegeben, kann nur geäußert werden aus der Sicht dessen, der keine Sicht zu haben braucht. Der Sprecher übersieht geflissentlich die KZs, die schließlich trotz allem aus den wilden Prügelkellern schon mit der Einrichtung von Dachau in ein gesetzliches System gebracht wurden.
2. Nachdem nun das Pogrom seine unverzichtbare Anschubleistung erbracht hat, soll aber alles wieder in berechenbare -verwaltbare- Bahnen gebracht werden.
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Der Reichsrechnungshof stellt Überlegungen an zur Wirtschaftlichkeit des Ghettos in Litzmannstadt (=Lodz).
Es wird ohne jede ausgesprochene Wertung die Möglichkeit des Ghettos, sich selbst zu erhalten= kostenneutral zu bestehen, überprüft. Da sämtliche Geschäftbeziehungen der vor allem Schneider-und Kürschnerbetriebe abgeschnitten sind, kommt zwangsweise ein Defizit zustande, das durch mitgebrachte Eigenbestände nicht lange genug gedeckt werden kann. Bis dahin ein absolut logisches Rechenexempel.
Die Schlussfolgerung des Gutachtens lautet:
»... Zusammenfassende Beurteilung:
54. Wie bekannt, war Lodsch die verjudetste Großstadt Europas. Die Stadt, die seinerzeit über 700 000 Einwohner zählte, beherbergte in ihren Mauern allein 340 000 Juden. Besonders im Norden der Stadt hatte sich das jüdische Element ausgebreitet und beherrschte von dort aus das gesamte Wirtschaftsleben. Die Nachprüfung der Krankenstatistik soll ergeben haben, dass jedes Jahr die in der Stadt auftretenden Infektionskrankheiten ( Typhus, Ruhr, Genickstarre) ihren Ausgangspunkt im jüdischen Wohngebiet hatten und die Stadt von Jahr zu Jahr immer stärker verseuchten.
Dem Bestreben, in Lodsch Ordnung zu schaffen, musste solang jeglicher Erfolg versagt bleiben, als der sehr große jüdische Bestandteil der Bevölkerung sich uneingeschränkt bewegen und betätigen konnte.
...
57. Die Bildung des Gettos in Litzmannstadt ist eine Abwehrmaßnahme. Die Zusammenfassung aller Juden im Ghetto bietet die sicherste Gewähr, den Juden zu einer positiven Arbeit heranzuziehen und ihn von der Berührung mit deutschen Volksgenossen auszuschließen.
...
66. Schäden für die Stadt ... diejenigen Steuerausfälle, die durch die Umsiedlung der Juden im übrigen Stadtgebiet zwangsläufig entstanden sind. Zehntausende von Wohnungen sollen seit etwa einem Jahr leerstehen und das Aufkommen an Grundstücks- und Lokalsteuern vermindern, da die Grundstücksgesellschaft der Haupttreuhandstelle Ost nur in Prozentsätzen des tatsächlich aufgebrachten Mietaufkommens zahlen soll. Leerstehende Ladenlokale und stillgelegte Fabrikbetriebe, entstanden durch die Umsiedlung der Juden, sollen einen nicht schätzbaren Ausfall an Gewerbesteuern bedeuten.«
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Vergleichbare Überprüfung des Gettos Warschau vom März `41- nach etwas mehr als einem Jahr seines Bestehens.
»Schlussfolgerung: Ergebnis der Untersuchung: das Ghetto kann sich in der gegenwärtigen Organisationsform niemals selbst erhalten. Es ergeben sich drei Möglichkeiten:
1. Man lässt eine Unterversorgung eintreten, ohne Rücksicht auf die sich ergebenden Folgen
2. Die Organisationen, die für die Ausnutzung der jüdischen Arbeitskraft im j.w. ( Jüdischer Wohnbezirk-Keuschwort für Ghetto) vorgesehen sind, werden in beschleunigtem Tempo auf einen solchen Stand gebracht, dass die Einsetzung der Juden für diese Zwecke in größtem Umfang wirklich gelingt.
3. Die Absperrung des jw. erfährt eine gewisse Lockerung, sofern dies vom Standpunkt der Abteilung Gesundheitswesen vertreten werden kann. Hierdurch erhalten gewisse Zweige der jüdischen Handwerker die Möglichkeit, sich - wenn auch in bescheidenem Umfange - selbst wieder wirtschaftlich für die Außenwelt zu betätigen.«
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Anm. 1 zu Lodz: Hinweis auf Seuchen. Typisch für eine Denkweise, die alle sozialen Phänomene auf Biologie (Rasse) zurückführen will. Virchow hatte der herrschenden Klasse nach der Typhusakademie in Hamburg hundert Jahre vorher berechtigte Angst gemacht, dass zusammengedrängte Massen ohne Rücksicht auf Rasse, wohl aber auf die Wohnumstände, immer potentielle Seuchenherde darstellen. Die Bakterien fragen nachher nicht nach arm oder reich. Der Rechnungshof bleibt an der selbsterfüllten Prophezeiung hängen, denn natürlich begünstigte die Zusammendrängung im Ghetto genau die Seuchenherde, vor denen geschützt werden sollte.
2. Im Bericht stellt der Rechnungshof sehr richtig fest, dass innerhalb des Ghetto keinerlei Räume zur Verfügung stünden, um Fabriken, Ateliers und Großwerkstätten einzurichten. Die Tatsache, dass eben die fehlenden Räume in genauer Anzahl außerhalb des Ghettos jetzt leerstehen und der Stadt nichts mehr einbringen, wird an ganz anderer Stelle erwähnt.
Der an sich konsequente Ratschlag: Löst das Getto auf und lasst die Juden in ihren alten Gegenden und Räumen ihre alten Berufe wieder aufnehmen - kann nicht gegeben werden. Diese naheliegende Lösung wird gar nicht gesehen, weil das Axiom Juden müssen abgesondert werden, sie nicht zu sehen erlaubt.
3. Damit ergibt sich, dass die verwaltungswissenschaftlichen Aussagen der gesetzten Faktizität einfach nachlaufen. Sie wiederholen den vorher gesetzten politischen Machtakt und entwickeln nicht die Kraft, das bloß positiv Vorhandene in irgendeiner Weise zu übersteigen. Also übernimmt diese Art Verwaltungsdenken Antisemitismus als Axiom, das nicht weiter begründet werden muss. Gerade als dieses Hintergrundwissen bleibt Antisemitismus dann unbearbeitbar, vor allem unbezweifelbar und gewinnt den Schein des angemessenen Zweck-Mittel-Handelns.
4. Bericht über Warschau - kommt natürlich zu den selben Ergebnissen.
Diese sagen übereinstimmend: die Absicht, Juden abzusondern von Polen und Deutschen scheitert regelmäßig daran, dass selbsterhaltende Arbeit nur in Kontakt mit der Außenwelt und durch Tauschhandlungen denkbar wäre. Diesen Kontakt soll die Ghettobildung eben unmöglich machen.
5. Schlussfolgerungen daraus: die nur wenig verhüllte Aufforderung, den Genozid durch Verhungerlassen zu vollziehen. Ist dieser Gedanke als logische Folgerung aus dem Vorangegangenen erst akzeptiert, ist Auschwitz als schnellere, lautlosere und eigentlich »humanere« Lösung nur der nächste Schritt.
6. Die zwei weiteren vorgeschlagenen Lösungen heben die Grundidee des Ghetto wieder auf. Sie sind ohne Überschreitung der Trennung von Juden und »Ariern« nicht durchzuführen.
(Es kann sein, dass Vorschlag b nur eine vorsichtige Umschreibung von »Vernichtung durch Arbeit« in »Geschlossenen Kolonnen« sein soll, wie sie in der Wannsee-Konferenz Januar 1942 vorgeschlagen, aber später nicht durchgeführt wurden)
7. Das bloße Vorhandensein der Gutachten vollkommen traditionell arbeitender Behörden (vor allem der Reichsrechnungshof war eine solche) zeigt noch einmal das nur über die vereinigte Gegnerschaft gegen die Juden mögliche Zusammenwirken der feindlichen Blöcke.
- Bürokratie -Rechnungshof- erfüllt klaglos die ihr fremde Aufgabe einer Rechnung auf Leben und Tod.
- SS - setzt die Vorgabe als Einrichterin des Ghetto (zusammen mit Stadtverwaltungen)
- Wehrmacht - tendiert zur Restausnützung der jüdischen Arbeitskraft zum Beispiel zum Uniformschneidern, will aber mit Folgekosten zur Lebenserhaltung der Arbeitenden nicht belastet werden
- Monopole - wären, wie ja auch in Auschwitz, an der Ausbeutung der Arbeitskraft bis zum letzten zwar interessiert, wollen aber ohne Aufwendungen für Reproduktion der Arbeitenden durchkommen (Rückgriff auf Sklavenarbeit )
[Sonderproblem für Götz-Aly-Kenner: in seinen verschiedenen früheren Büchern, so vor allem in »Vordenker der Vernichtung« und in »Endlösung« zeichnet Aly einen Kreislauf der Verschiebungen. Demnach sollten deshalb so eilig nach dem Polensieg 39/40 jüdische Wohnungen geräumt werden und Ghettos gebildet, weil die deutschstämmigen Umsiedler aus Lettland, Litauen, Bessarabien und Südtirol diese Wohnungen brauchten. Offenbar - obwohl der Rechnungshof sich sehr vage ausdrückt: »sollen« - standen aber im Jahr 40/41 immer noch viele Wohnungen und gewerbliche Räume in Lodz leer. Da Götz Aly auch Herausgeber der »Beiträge« ist, denen die Stellen entnommen wurden, müsste dem Widerspruch einmal nachgegangen werden. Im Reichsgebiet ist an sich damit zu rechnen, dass leere »Judenwohnungen« sofort neu bezogen wurden. Etwa Berlin: Schon 1939 ließ Speer jüdische Wohnungen räumen, um Platz für gehobene Angestellte, wohl auch Arbeiter zu bekommen, die er für den Umbau Berlins zu GERMANIA brauchte]
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Weitere Anmerkungen zum Arbeitsblatt zu Franz Neumann: Behemoth:
→ Dokumentation einer Romanstelle aus Zöberlein: »Der Befehl des Gewissens« mit kritischen Anmerkungen und einem typischen NS-Tryptichon (Arbeiter / Bauer / Soldat) aus Theweleit »Männerphantasien«.