Entwurf zum Seminar »Antikapitalismusphantasien der Nazis«

Arbeitsblatt zu Franz Neumann: Behemoth

1. Worterklärung:

Leviathan und Behemoth sind zwei Ungeheuer biblisch-babylonischer Überlieferung. Sie stellen die Mächte des widergöttlichen Chaos dar und sind dazu bestimmt, zu unterliegen. Das nimmt das In-Kauf-nehmen des Untergangs vorweg, wie es sich in der modernen Vergegenwärtigung von »Leviathan« und »Behemoth« in der Zeit des Nationalsozialismus darstellt.

1.1. Der Sozialphilosoph Thomas Hobbes hatte zu Beginn der absolutistischen Epoche in »Leviathan« die von ihm gebilligte umfassende, im König konzentrierte Staatsgewalt dargestellt.!Für ihn ist »Behemoth« die verabscheuenswerte gestaltlose Herrschaft der Vielen, wie sie das Parlament vor und nach Cromwell ausübte.

2. Franz Neumann stellt die öffentliche Verfügungsgewalt des Nationalsozialismus als etwas dar, das auf folgenden vier Säulen beruht:

3. Neumanns Pointe gegenüber der herkömmlichen Vorstellung vom totalen Staat: die öffentliche Gewalt des NS-Systems war kein Staat im herkömmlichen Sinne mehr.

3.1. Als Marx die Commune von Paris 1871 als »kein Staat« mehr kennzeichnete, dachte er an eine Rücknahme des Apparats nach unten: an die arbeitenden Körperschaften der Räte. Neumann denkt bei seiner Charakterisierung des NS-Staats an Rücknahme »nach oben«: aus der Unterworfenheit unter das Gesetz wird direkte Abhängigkeit von Personen.

4. Der herkömmliche bürgerliche Staat garantiert das Zusammenwirken der Akteure über das Medium Recht. Dieses muss zumindest berechenbar, allgemeingültig und seine Wirksamkeit über Anrufung vom einzelnen Subjekt her erzwingbar sein. Haupausdrucksform: Gegen jedermann verbindlicherVertrag - der eben durch die Justiz sanktioniert wird. Die verbleibenden Verträge zwischen den Machtgruppen sind nur noch Willensäußerung (voluntas) ohne nachvollziebare Allgemeinverbindlichkeit ( ratio). Neumann zeigt, wie die Einheitlichkeit des Rechts und der Justiz im Lauf der Zeit zerfällt.

4.1. Das Medium RECHT wird weitgehend durch innermonopolistische Regelungen und durch individuelle Weisung ersetzt.

4.2. Das im klassischen Kapitalismus notwendig einheitliche Recht zerfällt in Teilrechte. Jede der vier Säulen erhält im Grunde ihre eigene Gerichtsbarkeit.

[→ Anmerkung zu Hans Frank, zur Illustration der am Ende katastrophalen Reibung zwischen den vier Blöcken →]

5. Franz Neumann arbeitet mit weiteren Negationen um die Eigenart des NAZI-Gemeinswesens zu umkreisen.

Das Gebilde des BEHEMOTH ist :

  1. kein absoluter Staat im Sinn des vertikalen Durchregierens von oben nach unten im Sinn etwa Friedrichs des Großen oder Louis XIV
    a1: Auch nicht der »totale Staat«, wenn auch Regierungsjuristen wie Forsthoff 1933 davon sprachen.
  2. kein Ständestaat, der wesentlich eine Phantasievorstellung der italienischen Faschisten und deutschen Nazis geblieben war. [→ Dokumentation einer Romanstelle aus Zöberlein: »Der Befehl des Gewissens« mit kritischen Anmerkungen →]
  3. keineswegs eine herkömmliche Militärdiktatur wie in Südamerika üblich
  4. keine Hüllstruktur zur Aufrechterhaltung eines »Staatskapitalismus« (Pollock und Rest der Frankfurter Schule)
  5. kein Staat als Ausdruck der Herrschaft des Finanzkapitals im Sinne Dimitroffs
  6. Nicht völlig der »Doppelstaat« von Neumanns Studienkollegen Fraenkel
  7. An manchen Stellen nähert er sich bedenklich der zuletzt unzulänglichen Begrifflichkeit von Horkheimer/Adorno, wenn diese von Mafia, Gangs und Rackets sprechen. Das darf aber nicht als letztes Wort genommen werden.

6. Das ehemals Staat genannte Gebilde blieb in seinen vier Säulen voneinander getrennt erhalten. Trotz der ungeheuren Reibungsverluste ist die Trennung unerlässlich, um Hitlers Alleinstellung bis zum Ende aufrechtzuerhalten.

6.1. Neumann spricht von Hitlers charismatischer Herrschaft, die er -wahrscheinlich zu Unrecht- auf Luthers Kult der Obrigkeit zurückführt. Mit M.Weber weiß er aber, dass das gewöhnliche Charisma sich in der bürokratischen Durchsetzung über den Apparat verbrauchen und abschwächen würde..

Nur wenn Hitler Drehscheibe der Entscheidung über den unvereinbaren Teilgewalten blieb, konnte er seine Macht bis zum jämmerlichen Ende beibehalten.

7. Wie konnte eine so widersprüchliche Einheit aus vier Partikulargewalten die Herrschaft immerhin zwölf Jahre lang überdauern?

7.1. Antwort: Die auseinanderstrebenden Elemente waren zugleich unlöslich verzahnt durch die Ausrufung des permanenten Kriegszustandes. Sei dieser real - wie ab 1939 - oder imaginär-inszeniert - wie der ab 1933 unablässig beschworene Kampf gegen die Juden als Inbegriff der bolschewistisch-plutokratischen Bedrohung des »Reichs der Mitte«.

7.1.1. Die Zeit der Pogrome, aber auch die Proklamation des »Totalen Kriegs« mit ihren unkontrollierbaren Massenbewegungen dient jeweils neu dazu, das Widerstrebende zusammenzuwingen. (Vergl. z.B. Konferenz bei Göring/Frick nach dem neunten November 1938; vergl. Zusammenwirken von Teilgewalten in der Wannsee-Konferenz)[ Vergl. unten Punkt 10: Neumanns nicht ausreichende Analyse der Rolle des Antisemitismus]

7.2. Unerlässliches Zwangselement der Verzahnung sämtlicher Gewalten: die Abschließung gegen Außen.

7.2.1. Diese von Beginn an technisch bewerkstelligt durch Schachts Devisenkontingentierung unter offizieller Beibehaltung des Goldstandards ohne Umwechselmöglichkeit. [→ Anmerkung zur Rolle Schachts bei Neumann (Behemoth) / bei Tooze (Ökonomie der Zerstörung) / in der eigenen Autobiogaphie →]

7.3. Verzahnung auch durch die zahllosen Doppelfunktionen zwischen Partei(SS) und Staatsrelikten.

7.3.1. Vergleiche etwa Himmler/Bests Konstrukt von Gestapo und SD: SS-Offiziere erhielten Beamten-Ränge

7.3.2. Fast noch wichtiger die Übernahme von Monopolisten in staatliche Planungsbehörden, so dass das paradoxe Bild einer Selbstverwaltung der Monopole entstand.

7.3.2.1. Beispiel. Krauch von IG-Farben als - ausgeliehener - Staatssekretär - weist »zwangsweise« seinen früheren Kollegen von IG-Farben Auschwitz als Produktionsort zu - den sie ohnedies anstrebten. [vergl Otto Köhler in jw zu Tooze]

7.3.2.2. Die Zuteilung ehemaliger Staatsfunktionen an Monopole kann als geldwerter Vorteil angesehen werden. So wie im Feudalismus etwa Zollrechte verliehen wurden - oder dem Malefizgrafen das Gefängniswesen als Pfründe - so erhalten im höchstentwickelten Kapitalismus Konzerne Weisungsfunktionen »zugeteilt«.

7.4. Das Streben nach »Autarkie« wird von Neumann stark relativiert. »Autarkie« als sich-Bescheiden mit den Erzeugnissen des eigenen Territoriums ist auf die Dauer mit Imperialismus nicht vereinbar. Die Parole »Autarkie« gilt so lange, wie ein Anlauf genommen werden muss - zum Ausgriff nach weiteren Territorien. Also allenfalls bis 1938.

7.5. Neumann geht auf die Finanzierung der NSDAP durch Konzerne vor 1933 nur wenig ein. Mit Recht. Wenn Stützung eines Systems durch das Kapital bedeuten würde, bestimmten genehmen Parteien Geld zu spenden, wäre die DNVP mit Hugenberg und Stresemanns DVP sicher mehr gestützt worden.

Bejahung des NS-Systems durch das monopolisierte Kapital bedeutet nicht so sehr Spenden als Zustimmung zu Aufrüstung und Expansion Deutschlands unter Inkaufnahme zunächst mehr oder weniger fiktiver Bezahlung über MEFO-Wechsel und ähnliches. Das System der wechselnden Methoden verschleierter staatlicher Finanzierung der Zeit bis 1938 lässt sich verstehen als eine wechselseitige Stundung von Zahlungen zwischen den einzelnen Monopolen. Stundung bis zur Zahlung über die durch Eroberung zu erpressenden Gegenwerte.

Allenfalls den Chancen des Außenhandels nachtrauernde Monopole werden durch Devisenkontingentierung in den gemeinsamen Stundungszusammenhang gezwungen.

8. Neumann unterscheidet vier Etappen der Wirtschaftslenkung.

a. 1933 Reinhardtplan- Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen über Staatskredit.

a1. die während und nach dem »Dritten Reich« so gerühmte reine Arbeitsbeschaffung über Autobahnbau dauerte ein knappes Jahr. Alles danach diente der Aufrüstung und damit der Vorbereitung des imperialistischen Raubs.

b. 1934 -1938 Schachts neuer Plan: Aufrüstung finanziert über die bekannten MEFO-Wechsel. Durch Preis-und Lohnstopp ohne sichtbar inflationäre Folgen.

c. Görings Vierjahresplan: 1938-42: forcierte Aufrüstung. Übergang zur kontrollierten Kriegswirtschaft. Verschärfte Ausbeutung der inzwischen angeschlossenen und eroberten Gebiete.

d. Speer 1942-45: erweiterte Selbstverwaltung der Monopole in Produktionsringen. (s.o) [→ Anmerkungen zu Speers System - trotz dem Anschein schärfster staatlicher Lenkung zugleich größte Entfaltung der Monopole. →]

9. Neumann führt den Beweis, dass diese Wirtschaftsordnung bis zum Ende kapitalistisch bestimmt war und in den verschiedenen Stufen der Lenkung gerade immer stärker durch Profitinteressen bestimmt wurde.Er entkräftet nacheinander die verschiedenen Einwände derer, die wie Pollock von einer mehr oder weniger »sozialistischen« Lenkung ausgehen bezw. einem »Staatskapitalismus«. S.350ff

9.1. Der verstaatlichte Sektor. Reich und Länder verfügten 1937 über nur sieben Prozent des in Aktien-und Kommanditgesellschaften konzentrierten Kapitals von c.27 Milliarden RM

9.2. Sektor in Parteibesitz - Hermann-Göring-Werke reicht ebenfalls nicht zu einem Übergewicht der öffentlichen Hand aus. Außerdem wurden laut Nachwort die Hermann-Göring-Werke um 1943 wieder aufgelöst.

9.3. Die Preiskontrolle betraf Konzerne und Monopole am wenigsten. Diese wurden in ihrer Zwangskartellierung zur Selbstregulierung angehalten. Das heißt: die Zwangskartellbildung erfüllte, worauf die einzelnen Konzerne ohnedies hinauswollten.

9.4. »Ende des Finanzkapitals«. Propagandistisch wurde im NS-System darauf verwiesen, dass die Koordinierungskraft der Banken zurückging. Die OMGUS-Untersuchungen nach 1945 haben das für Deutsche Bank und Dresdner Bank erwiesen. Die Konzerne wurden in Wirklichkeit zur Selbtfinanzierung angehalten und legten überschüssige Gewinne zum Ankauf ursprünglich fachfremder Fabriken an. Finanzkapital bestand also weiter, aber Gewinn und Einfluss funktionierte ohne den Umweg über die Banken.

9.5. Imperialismus setzt zwar eine gewisse Koordinierung des Kapitaleinsatzes voraus, aber eben im Sinn der Monopole, die jetzt ihre Stillhalteprämie von 33-38 einstreichen.

9.6. »Kontrolle der Arbeit« entmachtete die kollektiven Organisationen der Arbeiterklasse und erfolgte im Interesse der Monopole. Dass am Ende auch Abwerbung von Facharbeitern von einer Firma zur anderen verboten wurde, konnte zwar gewisse Erweiterungsabsichten der Konkurrenz behindern, aber keineswegs im Sinne von etwas, das irgendwie »Sozialismus« hätte genannt werden können.

9.7. Fazit: Die Wirtschaft funktionierte weiterhin nach kapitalistischen Prinzipien, erwies sich dabei aber als so elastisch, dass sie daneben ohne weiteres auf Sklavenarbeit zurückgreifen konnte (= auf durch militärischen und staatlichen Druck zur Verfügung gestellte Fremdarbeiter mit abgestufter Entrechtung).

- Unzulänglich ist deshalb die Aussage, die Eigentümer hätten in der Zeit des Nationalsozialismus nur den formalen Besitzztitel behalten, aber keine Verfügung mehr über das Geschäftsgebaren und die Firmenentscheidungen gehabt. Richtig ist: die Kapitalisten bekamen zur ökonomischen Gewalt Teile der ehemals staatlichen mitzugeteilt.

10. Unzulängliche Bestimmung der Rolle des Antisemitismus bei Neumann.

10.1. Mit Recht betont Neumann, dass der in den USA zum Beispiel so auffällige gesellschaftliche Antisemitismus in Deutschland eher geringer ausgeprägt war. (Vermeidung jüdischer Clubmitgliedschaften, Vermeidung von jüdisch-christlichen Mischehen in gehobenen Kreisen, usw. Von da aus sieht er die Rolle des Antisemitismus einmal als Teil des für Imperialisten notwendigen Rassismus, zum andern die Enteignungen und Beschlagnahmungen jüdischen Vermögens als ein Analogon der Adelsenteignungen in der Französischen Revolution oder der Klostergüterverteilungen unter Heinrich VIII. Sie dienen der Zufriedenstellung derjenigen Parteimitglieder, die nicht in das geschlossene Korps der Staatsbeamten und der Wirtschaftelite eindringen konnten.

Dieser Aspekt reicht nicht aus.

10.2. Im Anhang von 1944 nennt Neumann thesenartig drei Gründe für Antisemitismus:

10.2.1. Zitat Best(583): ein Volk das den Antisemitismus akzeptiert hat, hat zugleich mit dem Liberalismus gebrochen und ist damit den imperialistischen deutschen Ideen von der Ungleichheit der Menschen leichter zugänglich.

10.2.2. Am Juden werden die terroristischen Methoden versuchsweise zuerst ausprobiert, die dann gegenüber weiteren Schichten zur Anwendung kommen. Die verbreitete »Sündenbocktheorie« lehnt Neumann ab, weil sie ein Ende darstellen würde. Mit der Schlachtung des Sündenbocks ist auch die Sünde vorbei. Antisemitismus ist aber nach Neumann gerade umgekehrt Beginn noch weit größerer Greuel.

10.2.3. Die Teilnahme an der Ausrottung der Ostjuden verwickelt alle einzelnen Glieder der Blöcke Wirtschaft/Armee/Verbliebene Staatsbürokratie/Partei gemeinsam in ein Verbrechen, das zusammenschweißt und daran hindert, das Boot rechtzeitig zu verlassen.

10.3. Die Begründungen enthalten zwar unbestreitbar richtige Beobachtungen, reichen aber zur Erklärung des Gesamtphänomens der Shoah nicht aus.

10.3.1. Tatsächlich müssen wir davon ausgehen, dass die Judenvernichtung für das nazistische System ein Endzweck war, also nicht einfach experimentelle Vorstufe von Schlimmerem.

10.3.1.1. Chronologisch stimmt zum Beispiel nicht, dass das System der KZs zuerst an den Juden ausprobiert wurde, um es dann auf andere auszuweiten. 1933 wurden zunächst als aktive Gegner des Systems zur Zermürbung eingesperrt, Juden nur, wenn sie als Mitglieder politischer Organisationen verdächtig waren. Inhaftierung von Juden, nur weil sie Juden waren, erfolgte in großem Umfang erst 1938.

10.4. Man muss an dieser Stelle den Gedanken grundsätzlicher fassen und an den zwei Erscheinungsformen des Antisemitismus im NS-System ansetzen. [→ Anmerkungen zur unlöslichen Verbindung des »Antisemitismus der Vernunft mit dem »Antisemitismus des Pogroms« →]

10.4.1. Auf der einen Seite forderte Hitler in seiner ersten bekannt gewordenen Zuschrift 1919 den »Antisemitismus der Vernunft« durch Gesetz. Er lehnte den Pogrom ganz ausdrücklich als »östliche Form« ab. Wahrscheinlich aus Angst vor der Unkontrollierbarkeit von Massenbewegungen.

10.4.2. Wieso ließ sich Pogrom in einem Staat der angeblichen Allmacht des Führers dann nicht vermeiden? Keineswegs gab es nur die Aufwallung vom November 1938.Goebbels berichtet in seinem Tagebuch von mehreren Pogrom-Inszenierungen vorher, zum Beispiel in Hannover, Frühjahr 1938.

10.5. Antwort: Normalerweise müssen wir bei Leuten wie Abs und Schacht, aber auch bei den »Vordenkern der Vernichtung« davon ausgehen, dass sie keineswegs die ganze Zeit als dominante Bewusstseinserscheinung realen Hass auf Juden empfanden. Es ist anzunehmen, dass sie Antisemitismus behandelten wie die Axiome in der Mathematik. Sie mussten nicht jeweils neu begründet werden, sie lagen als stillschweigende Voraussetzung den Planungen zugrunde.

Also auf Polen bezogen: Das Land ist zu dicht bevölkert. Es muss freier Raum zur Disposition gestellt werden. Wenn jemand weggeschafft werden muss aus dem Land, wird es der schon Vorbestimmte sein: der JUDE:

Dieses stillschweigend planerische Vorgehen reichte aber nicht aus, um die Notwendigkeit des Antisemitismus wieder in den allgemeinen Bewusstseinsvordergrund zu schieben. Mobiliseren und die vier Teilgewalten zusammenzwingen konnte nur das leidenschaftliche, offene, massenhafte Verbrechen vor aller Welt.

10.5.1. Es ist anzunehmen, dass die Notwendigkeit dieser Mobilisierung sich für die Goebbels-Seite der Bewegung in dem Augenblick aufdrängte, in dem die Deutschen nach dem beispiellosen Erfolg der Aneignung Österreichs und des Sudetengebiets davon abgehalten werden mussten, sich kollektiv »saturiert« - nach Bismarcks Wort - zurückzulehnen. Sie mussten vor aller Welt alle Bindungen zerreißen und - über die gemeinsame Untat - sich eingestehen, dass das Erreichte nichts war gegen das zu Erreichende: Selbstbehauptung gegen die im Juden zusammenphantasierten Feinde SU und US. Dollarzeichen und Roter Stern.

Ähnlich sind die mobilisierenden Reden Himmlers (Posen) in der Situation größter Krise zu verstehen:es musste das Bewusstsein und der Wille zum Endkampf bewusstseinsbeherrschend werden.

10.6. So gedacht, würde eine erweiterte und verbesserte Theorie des Antisemitismus das Grunstheorem Neumanns nur unterstützen. Der Antisemitismus in seinen zwei Erscheinungsformen und ihrem gegenstrebenden Zusammenhang enthält die massenhaft wirksame Grundkraft, die ein zum Untergang verurteiltes Unternehmen noch einmal - im Bewusstsein der Gefahr des Endes über die Zerklüftung in den vier Gewalten zusammentreibt, solange es materiell eben noch geht.

Gerade die anfallsweise Massenmobilisierung mit der Chance zeitweiser Ruhigstellung macht die Dynamik und Heftigkeit des NS-Systems aus, verglichen mit allen anderen Formen undemokratischer Herrschaft.

11. Das Hauptverdienst Neumanns liegt darin, Nazismus zu verstehen als Transformation und besonderen Aggregatzustand der ganz gewöhnlichen deutschen Bürger im Kapitalismus der Weimarer Republik.

Oft wird die Machtübernahme der NS-Partei so verstanden, als hätten sich im Lauf der Zeit immer mehr Nazi-Inhalte in den Köpfen gesammelt, bis eine kritische Menge erreicht wurde und diese Inhalte zusammenschwappten zur Überschwemmung alles Hergebrachten. Dem ist zunächst entgegenzuhalten, dass diese Inhalte angesichts der Theorielosigkeit des NS so unterschiedlich geblieben wären bei aller Übereinstimmung im Reaktionären, dass sich auch durch jahrelange Diskussion keine Einheit und Einigkeit hätte erzeugen lassen. Neumann zeigt die objektiv zu schaffenden organisatorischen Kommunikations- und Ausdrucksformen, in die - wie in Kanäle - sich die Bewusstseinsinhalte ergießen mussten und konnten, um Dominanz und Überzeugungskraft nach außen zu gewinnen. (Hegemonie im engeren Sinn bei Gramsci) Ebenso lässt sich auf den Spuren Neumanns verstehen die Retransformation der selben Bürger nach 1945 als diese Gefäße durch die militärische Niederlage weitgehend zerschlagen wurden. In einer ungeheuren Anspruchsermäßigung unterwirft sich die im Grunde gleichgebliebene herrschende Schicht aus den Resten der vier Herrschaftssäulen der US-Hegemonie und gibt sich über Jahrzehnte mit dem Platz des Sekundärimperialisten im »West-Block« zufrieden. Bis circa 1989. Diese Anspruchsermäßigung ist in Hitlers letzten Niederlegungen ( Testament) schon vorgedacht. Sein einziger wirklicher auf Realität bezogener Gedanke: Wenn der Feind siegt, dann hat er auch Recht. Wer verloren hat, hat immer mit Recht verloren. Im Gegensatz zum Marxismus, der ja von Niederlage zu Niederlage wuchs, enthält der Nazismus nicht die Möglichkeit zu einer Horizonterweiterung, einem zweiten Anlauf.

Neumanns bis ins Kleinste gehende Analyse enthüllt den gewaltsamen Willen zur Selbstbehauptung im Niedergang des ganz gewöhnlichen Kapitalismus. Man stelle sich vor, die heutige »globalisierte« Wirtschaft wäre durch einen ungeheuren Unglücksfall gezwungen, sich in kürzester Zeit nur noch auf das Gebiet der jetzigen Bundesrepublik zu beschränken und aus diesem nicht nur einen Überleben garantierenden Restgewinn zu ziehen, sondern auch das Glacis zum künftigen neuen imperialistischen Vorstoß zu bilden. Welche gewaltsamen Stützen des Systems wären in diesem Fall erforderlich?

 


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Anmerkungen zu diesem Text:

→ Beispiel Hans Frank, zur Illustration der am Ende katastrophalen Reibung zwischen den vier Blöcken, bzw. zur Vereinbarkeit von Maßnahmenstaat und bürgerlichem Vertragsrecht.

→ Zur Rolle Schachts bei Neumann (Behemoth) / bei Tooze (Ökonomie der Zerstörung) / in der eigenen Autobiogaphie

→ Dokumentation einer Romanstelle aus Zöberlein: »Der Befehl des Gewissens« mit kritischen Anmerkungen und einem typischen NS-Tryptichon (Arbeiter / Bauer / Soldat) aus Theweleit »Männerphantasien«.

→ Speers System - trotz dem Anschein schärfster staatlicher Lenkung zugleich größte Entfaltung der Monopole.

→ Zur unlöslichen Verbindung des »Antisemitismus der Vernunft mit dem »Antisemitismus des Pogroms«

 

 

 

 

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