Guy Debord - Die Gesellschaft des Spektakels (1967)

Vom Autor gebilligte Übersetzung aus dem französischen von Jean-Jacques Raspaud. Edition Nautilus. Hamburg, 1978

 

2. Kapitel DIE WARE ALS SPEKTAKEL

»Denn nur als Universalkategorie des gesamten gesellschaftlichen Seins ist die Ware in ihrer unverfälschten Wesensart begreifbar. Erst in diesem Zusammenhang gewinnt die durch das Warenverhältnis entstandene Verdinglichung eine entscheidende Bedeutung sowohl für die objektive Entwicklung der Gesellschaft wie für das Verhalten der Menschen zu ihr; für das Unterworfenwerden ihres Bewußtseins den Formen, in denen sich diese Verdinglichung ausdrückt [...]. Diese Willenlosigkeit steigert sich noch dadurch, daß mit zunehmender Rationalisierung und Mechanisierung des Arbeitsprozesses die Tätigkeit des Arbeiters immer stärker ihren Tätigkeitscharakter verliert und zu einer kontemplativen Haltung wird.«

Lukács (Geschichte und Klassenbewußtsein).

35.

An dieser wesentlichen Bewegung des Spektakels, die darin besteht, alles in sich aufzunehmen, was in der menschlichen Tätigkeit in flüssigem Zustand war, um es in geronnenem Zustand als Dinge zu besitzen, die durch die negative Umformulierung des erlebten Wertes zum ausschließlichen Wert geworden sind – erkennen wir unsere alte Feindin wieder, die so leicht auf den ersten Blick ein selbstverständliches, triviales Ding scheint, während sie doch im Gegenteil ein sehr vertracktes Ding ist, voll metaphysischer Spitzfindigkeit: die Ware.

36.

Das Prinzip des Warenfetischismus ist es, d.h. die Beherrschung der Gesellschaft durch »sinnliche übersinnliche Dinge«, das sich absolut im Spektakel vollendet, wo die sinnliche Welt durch eine über ihr schwebende Auswahl von Bildern ersetzt wird, welche sich zugleich als das Sinnliche schlechthin hat anerkennen lassen.

37.

Die zugleich anwesende und abwesende Welt, die das Spektakel zur Schau stellt, ist die jedes Erlebnis beherrschende Warenwelt. Und die Warenwelt wird auf diese Weise gezeigt genau wie sie ist, denn ihre Bewegung ist identisch mit der Entfernung der Menschen voneinander und ihrem Gesamtprodukt gegenüber.

38.

Der auf allen Ebenen der spektakulären Sprache so offensichtliche Qualitätsverlust der von ihr gepriesenen Gegenstände und der von ihr geregelten Verhaltensweisen drückt nur die Grundmerkmale der wirklichen Produktion aus, die die Wirklichkeit beseitigt: die Warenform ist durch und durch die Mitsichselbstgleichheit, die Kategorie des Quantitativen. Das Quantitative ist es, das sie entwickelt, und in ihm nur kann sie sich entwickeln.

39.

Diese Entwicklung, die das Qualitative ausschließt, untersteht selbst als Entwicklung dem qualitativen Übergang: das Spektakel bedeutet, daß sie die Schwelle ihres eigenen Überflusses überschritten hat; dies ist lokal erst auf einigen Punkten wahr, dennoch trifft es bereits im Weltmaßstabe zu, der der Urmaßstab ist, und ihre praktische Bewegung hat diesen Maßstab bestätigt, indem sie die ganze Erde als Weltmarkt umfaßt.

40.

Die Entwicklung der Produktivkräfte war die bewußtlose wirkliche Geschichte, die die Existenzbedingungen der Menschengruppen als Überlebensbedingungen und als deren Erweiterung aufgebaut und verändert hat; die ökonomische Basis all ihrer Unternehmungen. Innerhalb einer Naturalwirtschaft bestand der Bereich der Ware in der Schaffung eines Überschusses an Überleben. Die Warenproduktion, die den Austausch verschiedenartiger Produkte zwischen unabhängigen Produzenten voraussetzt, konnte lange handwerkmäßig, in einer wirtschaftlichen Randfunktion beschränkt bleiben, worin ihre quantitative Wahrheit noch verdeckt ist. Da jedoch, wo sie die gesellschaftlichen Bedingungen des Großhandels und der Kapitalakkumulation antraf, bemächtigte sie sich der gesamten Wirtschaft. Die ganze Wirtschaft ist also zu dem geworden, als was sich die Ware bei dieser Eroberung erwiesen hatte: zu einem Prozeß quantitativer Entwicklung. Diese unaufhörliche Entfaltung der wirtschaftlichen Macht in der Form der Ware, die die menschliche Arbeit zur Ware Arbeit, zur Lohnarbeit, umgebildet hat, führte kumulativ zu einem Überfluß, in dem die Grundfrage des Überlebens zweifelsohne gelöst wird, aber so daß sie immer wiederkehren muß; sie wird jedesmal wieder auf einer höheren Stufe gestellt. Das Wirtschaftswachstum befreit die Gesellschaften vom natürlichen Druck, der ihren unmittelbaren Überlebenskampf erforderte, nun aber sind sie von ihrem Befreier nicht befreit. Die Unabhängigkeit der Ware hat sich auf das Ganze der von ihr beherrschten Wirtschaft ausgedehnt. Die Wirtschaft verwandelt die Welt, aber nur in eine Welt der Wirtschaft. Die Pseudonatur, in der sich die menschliche Arbeit entfremdet hat, erfordert, daß ihr Dienst endlos fortgesetzt wird, und da dieser Dienst nur von sich selbst beurteilt und freigesprochen wird, erlangt er in der Tat die Gesamtheit der gesellschaftlich zulässigen Bemühungen und Vorhaben als seine Diener. Der Überfluß der Waren, d.h. des Warenverhältnisses, kann nicht mehr als das vermehrte Überleben sein.

41.

Die Ware hat ihre Herrschaft über die Wirtschaft zuerst verdeckt ausgeübt, und diese Wirtschaft selbst blieb als materielle Grundlage des gesellschaftlichen Lebens unbemerkt und unbegriffen, so wie das Bekannte überhaupt darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt ist. In einer Gesellschaft, in der die konkrete Ware selten oder in der Minderheit bleibt, stellt sich die scheinbare Herrschaft des Geldes als der mit unumschränkter Vollmacht versehene Gesandte dar, der im Namen einer unbekannten Macht spricht. Mit dem Eintreten der industriellen Revolution, der manufakturmäßigen Teilung der Arbeit und der massenhaften Produktion für den Weltmarkt erscheint die Ware tatsächlich als eine Macht, die das gesellschaftliche Leben wirklich in Beschlag nimmt. Zu dieser Zeit bildet sich die politische Ökonomie als herrschende Wissenschaft und als Wissenschaft der Herrschaft heraus.

42.

Das Spektakel ist der Moment, in welchem die Ware zur völligen Beschlagnahme des gesellschaftlichen Lebens gelangt ist. Das Verhältnis zur Ware ist nicht nur sichtbar; sondern man sieht nichts anderes mehr: die Welt, die man sieht, ist seine Welt. Die moderne Wirtschaftsproduktion dehnt ihre Diktatur extensiv aus. An den am wenigsten industrialisierten Orten ist ihr Reich schon durch einige Star-Waren und als imperialistische Herrschaft der an der Spitze der Produktivitätsentwicklung stehenden Zonen vorhanden. In diesen fortgeschrittenen Zonen wird der gesellschaftliche Raum durch eine ununterbrochene Übereinanderlagerung geologischer Warenschichten überschwemmt. An diesem Punkt der »zweiten industriellen Revolution« wird neben der entfremdeten Produktion der entfremdete Konsum zu einer zusätzlichen Pflicht für die Massen. Die ganze verkaufte Arbeit einer Gesellschaft wird völlig zur Gesamtware, deren Kreislauf sich fortsetzen muß. Dazu muß diese Gesamtware dem fragmentarischen Individuum, das von den als ein Ganzes wirkenden Produktivkräften absolut getrennt ist, fragmentarisch zurückkehren. Hier muß sich gerade die spezialisierte Wissenschaft der Herrschaft ihrerseits spezialisieren: sie zerbröckelt in Soziologie Psychotechnik, Kybernetik, Semiologie usw., und wacht über die Selbstregulierung aller Stufen des Prozesses.

43.

Während in der ursprünglichen Phase der kapitalistischen Akkumulation »die Nationalökonomie den Proletarier nur als Arbeiter betrachtet«, der das zur Erhaltung seiner Arbeitskraft unentbehrliche Minimum bekommen muß, ohne ihn jemals »in seiner arbeitslosen Zeit, als Mensch« zu betrachten, kehrt sich diese Denkweise der herrschenden Klasse um, sobald der in der Warenproduktion erreichte Überflußgrad vom Arbeiter einen Überschuß von Kollaboration erfordert. Dieser Arbeiter, von der vollständigen Verachtung plötzlich reingewaschen, die ihm durch alle Organisations- und Überwachungsbedingungen der Produktion deutlich gezeigt wird, findet sich jeden Tag außerhalb dieser Produktion, in der Verkleidung des Konsumenten, mit überaus zuvorkommender Höflichkeit scheinbar wie ein Erwachsener behandelt. Da nimmt der Humanismus der Ware den Arbeiter »in seiner arbeitslosen Zeit und als Mensch« in die Hand ganz einfach deswegen, weil die politische Ökonomie diese Sphären beherrschen kann und muß. So hat »die konsequente Durchführung der Verleugnung des Menschen« die Ganzheit der menschlichen Existenz in die Hand genommen.

44.

Das Spektakel ist ein ständiger Opiumkrieg, um die Identifizierung der Güter mit den Waren und auch die der Zufriedenheit mit dem sich nach seinen eigenen Gesetzen vermehrenden Überleben aufzuzwingen. Wenn aber das konsumierbare Überleben etwas ist, das sich ständig vermehren muß, so deshalb, weil es die Entbehrung immer noch enthält. Wenn es kein Jenseits des vermehrten Überlebens gibt, keinen Punkt, an dem dieses Überleben sein Wachstum beenden könnte, so deshalb, weil es selbst nicht jenseits der Entbehrung liegt, sondern die reicher gewordene Entbehrung ist.

45.

Mit der Automation, die der fortgeschrittenste Bereich der modernen Industrie und zugleich das Modell ist, in dem sich deren Praxis vollkommen zusammenfaßt, muß die Warenwelt den folgenden Widerspruch überwinden: die technische Instrumentierung, die objektiv die Arbeit abschafft, muß gleichzeitig die Arbeit als Ware und als einzigen Geburtsort der Ware erhalten. Damit die Automation oder jede andere weniger extreme Form der Produktivitätssteigerung der Arbeit, die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit wirklich nicht verkürzt, müssen neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Der Tertiärsektor, die Dienstleistungen sind das ungeheure Ausdehnungsfeld für die Etappenlinien der Distributions- und Lobpreisungsarmee der heutigen Waren; gerade in der Künstlichkeit der Bedürfnisse nach solchen Waren findet diese Mobilisierung von Ergänzungskräften glücklich die Notwendigkeit einer solchen Organisation der Nachhut-Arbeit vor.

46.

Der Tauschwert konnte sich nur als Agent des Gebrauchswerts bilden, aber sein durch seine eigenen Waffen errungener Sieg hat die Bedingungen seiner autonomen Herrschaft geschaffen. Durch die Mobilisierung jedes menschlichen Gebrauchs und die Ergreifung des Monopols von dessen Befriedigung ist der Tauschwert endlich dazu gekommen, den Gebrauch zu steuern. Der Tauschprozeß hat sich mit jedem möglichen Gebrauch identifiziert und hat ihn auf seine Gnade und Ungnade unterjocht. Der Tauschwert ist der Kondottiere des Gebrauchswertes, der endlich den Krieg für seine eigene Tasche führt.

47.

Jene Konstante der kapitalistischen Wirtschaft, die in dem tendenziellen Fall des Gebrauchswerts besteht, entwickelt eine neue Form der Entbehrung innerhalb des vermehrten Überlebens; dieses ist ebensowenig von der alten Not befreit, da es die Mitwirkung der großen Mehrheit der Menschen als Lohnarbeiter zur endlosen Fortsetzung seines Strebens fordert und da jeder weiß, daß er sich entweder unterwerfen oder sterben muß. Die Wirklichkeit dieser Erpressung, d.h. die Tatsache, daß der Gebrauch in seiner ärmsten Form (Essen, Wohnen) nur noch besteht, soweit er im Scheinreichtum des vermehrten Überlebens eingeschlossen bleibt, ist die wirkliche Grundlage dafür, daß die Täuschung überhaupt beim Konsum der modernen Waren hingenommen wird. Der wirkliche Konsument wird zu einem Konsumenten von Illusionen; Die Ware ist diese wirkliche Illusion und das Spektakel ihre allgemeine Äußerung.

48.

Der Gebrauchswert, der im Tauschwert implizit mit inbegriffen war, muß jetzt in der verkehrten Realität des Spektakels explizit verkündet werden, und zwar gerade weil seine Wirklichkeit durch die überentwickelte Warenwirtschaft zersetzt wird und weil eine Pseudorechtfertigung zum falschen Leben nötig wird.

49.

Das Spektakel ist die andere Seite des Geldes: das abstrakte allgemeine Äquivalent aller Waren. Wenn aber das Geld als Vertretung der zentralen Äquivalenz, d.h. als Vertretung der vielfältigen Güter – deren Gebrauch unvergleichbar blieb – die Gesellschaft beherrscht hat, ist das Spektakel seine moderne, entwickelte Ergänzung, in der die Totalität der Warenwelt als allgemeine Äquivalenz mit all dem, was die Gesamtheit der Gesellschaft sein und tun kann, im ganzen erscheint: Das Spektakel ist das Geld, das man nur anblickt, denn das Ganze des Gebrauchs hat sich in ihm schon gegen das Ganze der abstrakten Vorstellung ausgetauscht. Das Spektakel ist nicht nur der Diener des Pseudogebrauchs, es ist bereits in sich selbst der Pseudogebrauch des Lebens.

50.

Beim wirtschaftlichen Überfluß wird das konzentrierte Ergebnis der gesellschaftlichen Arbeit augenscheinlich und unterwirft jede Realität dem Schein, der nun sein Produkt ist. Das Kapital ist nicht mehr das unsichtbare Zentrum, das die Produktionsweise leitet: seine Akkumulation breitet es in der Form von sinnlichen Gegenständen bis an die Peripherie aus. Die ganze Ausdehnung der Gesellschaft ist sein Porträt.

51.

Der Sieg der autonomen Wirtschaft muß zugleich ihr Untergang sein. Die Kräfte, die sie entfesselt hat, beseitigen die wirtschaftliche Notwendigkeit, die die unwandelbare Grundlage der alten Gesellschaften war. Wenn diese autonome Wirtschaft durch die Notwendigkeit der endlosen wirtschaftlichen Entwicklung die wirtschaftliche Notwendigkeit ersetzt, kann sie nur die Befriedigung der summarisch anerkannten ersten menschlichen Bedürfnisse durch eine ununterbrochene Erzeugung von Pseudobedürfnissen ersetzen, die sich auf das einzige Pseudobedürfnis der Aufrechterhaltung ihres Reichs zurückführen lassen. Die autonome Wirtschaft aber hebt sich für immer vom tiefen Bedürfnis im gleichen Maße ab, wie sie aus dem gesellschaftlichen Unbewußten heraustritt, das von ihr abhing, ohne es zu wissen. »Alles, was bewußt ist, nutzt sich ab. Was unbewußt ist, bleibt unveränderlich. Aber wenn es einmal befreit ist, zerfällt es dann nicht seinerseits?« (Freud.)

52.

In dem Moment, in dem die Gesellschaft entdeckt, daß sie von der Wirtschaft abhängt, hängt die Wirtschaft tatsächlich von ihr ab. Diese unterirdische Macht, die bis zu ihrem souveränen Erscheinen wuchs, hat auch ihre Macht verloren. Wo das wirtschaftliche Es war, muß das Ich werden. Das Subjekt kann nur aus der Gesellschaft, d.h. aus dem Kampf, der in ihr selbst ist, hervorgehen. Seine mögliche Existenz hängt von den Ergebnissen des Klassenkampfs ab, der sich als Produkt und Produzent der wissenschaftlichen Grundlegung der Geschichte offenbart.

53.

Das Bewußtsein der Begierde und die Begierde des Bewußtseins sind identisch derjenige Entwurf, der in seiner negativen Form die Aufhebung der Klassen will, d.h. die unmittelbare Herrschaft der Arbeiter über alle Momente ihrer Tätigkeit. Sein Gegenteil ist die Gesellschaft des Spektakels, in der die Ware sich selbst in einer von ihr geschaffenen Welt anschaut.

 

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