Guy Debord - Die Gesellschaft des Spektakels (1967)

Vom Autor gebilligte Übersetzung aus dem französischen von Jean-Jacques Raspaud. Edition Nautilus. Hamburg, 1978.

 

7. Kapitel   DIE RAUMORDNUNG

»Und wer Herr einer bisher freien Stadt wird und sie nicht vernichtet, mag darauf gefaßt sein, von ihr vernichtet zu werden. Denn die Bürger können sich bei einer Empörung stets auf ihre Freiheit und alte Verfassung berufen, welche weder die Zeit noch empfangene Wohltaten in ihrem Gedächtnis auszulöschen vermögen. Was für Maßregeln und Verkehrungen auch der Eroberer trifft: wenn er die Einwohner nicht auseinanderreißt und zerstreut, vergessen sie ihre Freiheit und Verfassung nie.«

Machiavelli (Der Fürst).

165.

Die kapitalistische Produktion hat den Raum vereinheitlicht, der von keinen Außengesellschaften mehr begrenzt ist. Diese Vereinheitlichung ist zugleich ein extensiver und intensiver Prozeß der Banalisierung. So wie die Akkumulation der für den abstrakten Raum des Marktes in Serie produzierten Waren alle regionalen und gesetzlichen Schranken und alle korporativen Beschränkungen des Mittelalters, die die Qualität der handwerksmäßigen Produktion aufrechterhielten, brechen mußte, mußte sie auch die Autonomie und die Qualität der Orte auflösen. Diese Macht der Homogenisierung ist die schwere Artillerie, die alle chinesischen Mauern in den Grund geschossen hat.

166.

Um immer identischer mit sich selbst zu werden, um sich der unbeweglichen Eintönigkeit möglichst weit zu nähern, wird der freie Raum der Ware nunmehr ständig verändert und wiederaufgebaut.

167.

Diese Gesellschaft, die die geographische Entfernung abschafft, nimmt im Inneren die Entfernung als spektakuläre Trennung wieder auf.

168.

Das Nebenprodukt der Warenzirkulation, die als Konsum betrachtete menschliche Zirkulation, d.h. der Tourismus, läßt sich im wesentlichen auf die Muße zurückführen, das zu besichtigen, was banal geworden ist. Die wirtschaftliche Erschließung des Besuchs verschiedener Orte ist bereits von selbst die Garantie ihrer Äquivalenz. Dieselbe Modernisierung, die der Reise die Zeit entzogen hat, hat ihr auch die Realität des Raums entzogen.

169.

Die Gesellschaft, die ihre ganze Umgebung modelliert, hat sich eine spezielle Technik geschaffen, um die konkrete Basis dieser Aufgabengruppe zu bearbeiten: ihr Territorium selbst. Der Urbanismus ist diese Inbesitznahme der natürlichen und menschlichen Umwelt durch den Kapitalismus, der, indem er sich logisch zur absoluten Herrschaft entwickelt, jetzt das Ganze des Raums als sein eigenes Bühnenbild umarbeiten kann und muß.

170.

Das kapitalistische Erfordernis, das im Urbanismus als sichtbarer Vereisung des Lebens befriedigt wird, kann – mit Hegelschen Worten gesagt – als die absolute Vorherrschaft »des ruhigen Nebeneinander des Raums« über »das unruhige Werden im Nacheinander der Zeit« ausgedrückt werden.

171.

Wenn alle technischen Kräfte der kapitalistischen Wirtschaft als trennungschaffende Kräfte zu verstehen sind, handelt es sich im Fall des Urbanismus um die Ausrüstung ihrer allgemeinen Basis, um die Bearbeitung des für ihre Entfaltung geeigneten Bodens; um die Technik der Trennung selbst.

172.

Der Urbanismus ist die moderne Ausführung der ununterbrochenen Aufgabe, die die Klassenherrschaft sicherstellt: die Aufrechterhaltung der Atomisierung der Arbeiter, die durch die städtischen Produktionsbedingungen gefährlich zusammengebracht worden waren. Der ständige Kampf, der gegen alle Aspekte dieser Möglichkeit der Begegnung geführt werden mußte, findet im Urbanismus sein bevorzugtes Feld. Die Bemühung aller etablierten Mächte seit den Erfahrungen der französischen Revolution, die Mittel zur Aufrechterhaltung der Ordnung in den Straßen zu vermehren, gipfelt schließlich in der Abschaffung der Straße. »Mit den Massenkommunikationsmitteln über große Entfernungen hat sich herausgestellt, daß die Isolierung der Bevölkerung ein viel wirksameres Mittel der Kontrolle ist«, stellt Lewis Mumford in The City in History fest, wo er eine »von nun an bestehende Einbahnwelt« beschreibt. Aber die allgemeine Isolierungsbewegung, die die Realität des Urbanismus ist, muß auch eine kontrollierte Wiedereingliederung der Arbeiter nach den planbaren Erfordernissen der Produktion und des Konsums enthalten. Die Integration in das System muß die isolierten Individuen als gemeinsam isolierte Individuen wieder in Besitz nehmen: die Betriebe wie die Kulturzentren, die Feriendörfer wie die großen Wohnsiedlungen sind speziell für die Ziele dieser Pseudogemeinschaftlichkeit organisiert, die das vereinzelte Individuum auch in die Familienzelle begleitet: die verallgemeinerte Verwendung von Empfängern der Spektakelbotschaft bewirkt, daß seine Vereinzelung von den herrschenden Bildern bevölkert wird, von Bildern, die erst durch diese Vereinzelung ihre volle Macht erreichen.

173.

Zum ersten Mal ist eine neue Architektur, die in jeder früheren Epoche der Befriedigung der herrschenden Klassen vorbehalten war, direkt den Armen zugedacht. Das formale Elend und die riesenhafte Ausdehnung dieser neuen Wohnungserfahrung sind die Folge ihres Massencharakters, den sowohl ihre Bestimmung als auch die modernen Konstruktionsbedingungen einschließen. Die autoritäre Entscheidung, die abstrakt den Raum zu einem Raum der Abstrakten anordnet, steht natürlich im Zentrum dieser modernen Konstruktionsbedingungen. Die gleiche Architektur erscheint überall dort, wo die Industrialisierung der in dieser Hinsicht zurückgebliebenen Länder beginnt, als der neuen gesellschaftlichen Existenzweise – die es dort ansässig zu machen gilt – adäquates Terrain. Die überschrittene Wachstumsschwelle der materiellen Macht der Gesellschaft und die Verzögerung der bewußten Beherrschung dieser Macht treten im Urbanismus genauso offen zu Tage wie in den Fragen der thermonuklearen Bewaffnung und der Geburtenfrequenz – und im letzteren Fall geht es so weit, daß die Möglichkeit einer Manipulation der Erblichkeit bereits erreicht worden ist.

174.

Der gegenwärtige Moment ist bereits derjenige der Selbstzerstörung des städtischen Milieus. Die Zersplitterung der Städte auf das Land, das durch »formlose Massen städtischer Überbleibsel« (Lewis Mumford) überwachsen wird, wird unmittelbar von den Erfordernissen des Konsums geleitet. Die Diktatur des Automobils, des Schrittmacherproduktes der ersten Phase des Warenüberflusses, hat sich durch die Herrschaft der Autobahn, die die alten Zentren sprengt und eine immer mehr geförderte Versprengung gebietet, in das Gelände eingeprägt. Zugleich polarisieren sich vorübergehend die Momente der unvollendeten Reorganisation des städtischen Gefüges um die »Distributionsfabriken« herum, um die riesigen Supermarkets, die auf dem nackten Gelände, auf einem Parkplatz-Sockel, errichtet sind; und diese Tempel des überstürzten Konsums fliehen selbst in der zentrifugalen Bewegung, die sie wieder abstößt, sobald sie ihrerseits zu überlasteten Sekundärzentren geworden sind, weil sie zu einer teilweisen Neuzusammensetzung der Ballung geführt haben. Aber die technische Organisation des Konsums steht lediglich im Vordergrund der allgemeinen Auflösung, die die Stadt auf diese Weise dahingebracht hat, daß sie sich selbst konsumiert.

175.

Die Wirtschaftsgeschichte, die sich ganz und gar um den Gegensatz Stadt – Land herum entwickelt hat, hat eine Erfolgsstufe erreicht, die die beiden Seiten gleichzeitig vernichtet. Die heutige Lähmung der gesamten geschichtlichen Entwicklung zugunsten der alleinigen Fortsetzung der selbständigen Bewegung der Wirtschaft macht den Moment, in dem die Stadt und das Land zu verschwinden beginnen, nicht zur Aufhebung ihrer Entzweiung, sondern zu ihrem gleichzeitigen Zusammenbruch. Die gegenseitige Abnutzung der Stadt und des Landes, das Produkt des Versagens der geschichtlichen Bewegung, durch die die bestehende städtische Wirklichkeit überwunden werden sollte, erscheint in der eklektischen Mischung ihrer zerlegten Bestandteile, die die in der Industrialisierung fortgeschrittensten Zonen überdeckt.

176.

Die Weltgeschichte ist in den Städten entstanden, und sie ist in dem Moment des entscheidenden Sieges der Stadt über das Land mündig geworden. Marx sieht es als eines der größten revolutionären Verdienste der Bourgeoisie an, daß »sie das Land der Herrschaft der Stadt unterworfen hat«, deren Luft freimacht. Aber wenn die Geschichte der Stadt die Geschichte der Freiheit ist, so war sie auch die Geschichte der Tyrannei, der staatlichen Verwaltung, die das Land und die Stadt selbst kontrolliert. Die Stadt konnte bisher nur der Kampfplatz der geschichtlichen Freiheit sein und nicht deren Besitz. Die Stadt ist das Milieu der Geschichte, weil sie zugleich Konzentration der gesellschaftlichen Macht, die das geschichtliche Unternehmen möglich macht, und Bewußtsein der Vergangenheit ist. Die gegenwärtige Tendenz zur Liquidierung der Stadt äußert daher nur auf eine andere Weise die Verzögerung bei der Unterordnung der Wirtschaft unter das geschichtliche Bewußtsein und bei einer Vereinigung der Gesellschaft, die die Mächte wieder ergreift, die sich von ihr abgehoben haben.

177.

»Das Land bringt gerade die entgegengesetzte Tatsache, die Isolierung und Vereinzelung, zur Anschauung« (Die deutsche Ideologie). Der Urbanismus, der die Städte zerstört, baut ein neues Pseudo-Land auf, in dem die natürlichen Verhältnisse des alten Landes genauso wie die direkten und direkt in Frage gestellten gesellschaftlichen Verhältnisse der geschichtlichen Stadt verloren sind. Eine neue künstliche Bauernschaft wird durch die Bedingungen der Siedlung und der spektakulären Kontrolle in dem heutigen »geordneten Raum« geschaffen: die Verstreuung im Raum und die bornierte Mentalität, die stets die Bauernschaft daran gehindert haben, eine unabhängige Aktion zu unternehmen und sich als schöpferische geschichtliche Macht zu behaupten, bilden wieder die Merkmale der Produzenten – und die Bewegung einer Welt, die sie selbst erzeugen, bleibt ihnen genauso unerreichbar, wie es der natürliche Rhythmus der Arbeiten für die Agrargesellschaft war. Aber wenn diese Bauernschaft, die die unerschütterliche Basis des »orientalischen Despotismus« war und deren Zersplitterung selbst nach der bürokratischen Zentralisierung rief, als Produkt der Wachstumsbedingungen der modernen staatlichen Bürokratisierung wieder auftaucht, muß ihre Apathie diesmal geschichtlich erzeugt und erhalten worden sein; die natürliche Unwissenheit hat dem organisierten Spektakel des Irrtums Platz gemacht. Die »neuen Städte« der technologischen Pseudobauernschaft prägen in das Terrain deutlich den Bruch mit der geschichtlichen Zeit ein, auf die sie aufgebaut sind; ihr Motto kann lauten: »Hier selbst wird nie etwas geschehen und hier ist nie etwas geschehen«. Weil die Geschichte, die es in den Städten zu befreien gilt, in ihnen noch nicht befreit worden ist, gerade darum beginnen die Kräfte der geschichtlichen Abwesenhei, ihre eigene exklusive Landschaft zusammenzustellen.

178.

Die Geschichte, die diese dämmernde Welt bedroht, ist auch die Kraft, die der erlebten Zeit den Raum unterwerfen kann. Die proletarische Revolution ist diese Kritik der menschlichen Geographie, durch die die Individuen und die Gemeinschaften die Landschaften und die Ereignisse konstruieren müssen, die der Aneignung nicht mehr nur ihrer Arbeit, sondern ihrer gesamten Geschichte entsprechen. In diesem bewegten Raum des Spiels und der freigewählten Variationen der Spielregeln kann die Autonomie des Ortes wiedergefunden werden, ohne eine neue ausschließende Bindung an den Boden einzuführen, und dadurch die Wirklichkeit der Reise und des als Reise verstandenen Lebens zurückbringen, einer Reise, die in sich selbst all ihren Sinn hat.

179.

Die größte revolutionäre Idee über den Urbanismus ist selbst weder urbanistisch noch technologisch oder ästhetisch. Es ist die Entscheidung, den Raum nach den Bedürfnissen der Macht der Arbeiterräte, der anti-staatlichen Diktatur des Proletariats, des vollstreckbaren Dialogs vollständig wiederaufzubauen. Und die Macht der Räte, die nur wirklich sein kann, wenn sie die Totalität der bestehenden Bedingungen verändert, wird sich, wenn sie anerkannt werden will und sich selbst in ihrer Welt erkennen will, keine geringere Aufgabe stellen können.

 

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