Guy Debord - Die Gesellschaft des Spektakels (1967)

Vom Autor gebilligte Übersetzung aus dem französischen von Jean-Jacques Raspaud. Edition Nautilus. Hamburg, 1978.

 

6. Kapitel   DIE SPEKTAKULÄRE ZEIT

»Nichts gehört unser, als nur die Zeit, in welcher selbst der lebt, der keine Wohnung hat.«
Balthasar Gracian (Hand-Orakel und Kunst der Weltklugheit).

147.

Die Zeit der Produktion, die Zeit als Ware, ist eine unendliche Akkumulation von äquivalenten Intervallen. Sie ist die Abstraktion der irreversiblen Zeit, deren Abschnitte alle auf dem Chronometer ihre alleinige quantitative Gleichheit beweisen müssen. Diese Zeit ist in ihrer ganzen Wirklichkeit, was sie in ihrer Austauschbarkeit ist. Bei dieser gesellschaftlichen Herrschaft der Zeit als Ware ist »die Zeit alles, der Mensch nichts mehr; er ist höchstens noch die Verkörperung der Zeit« (Das Elend der Philosophie). Es ist die entwertete Zeit, die vollständige Umkehrung der Zeit als »Raum der menschlichen Entwicklung«.

148.

Die allgemeine Zeit der menschlichen Nichtentwicklung existiert auch unter dem ergänzenden Aspekt einer konsumierbaren Zeit, die von dieser bestimmten Produktion aus zum täglichen Leben der Gesellschaft als eine pseudozyklische Zeit zurückkehrt.

149.

Die pseudozyklische Zeit ist in Wirklichkeit nur die konsumierbare Verkleidung der Zeit der Produktion, der Zeit als Ware. Sie enthält deren wesentlichen Charaktere: austauschbare homogene Einheiten und die Abschaffung der qualitativen Dimension. Aber als Nebenprodukt dieser Zeit, die zur Herstellung – und Aufrechterhaltung – der Rückständigkeit des konkreten täglichen Lebens bestimmt ist, muß sie mit Pseudowertungen besetzt sein und in einer Folge scheinbar individualisierter Momente erscheinen.

150.

Die pseudozyklische Zeit ist die Zeit des Konsums des modernen wirtschaftlichen Überlebens, des vermehrten Überlebens, worin das tägliche Erlebte ohne Entscheidungsgewalt und unterworfen bleibt, aber nicht mehr der natürlichen Ordnung, sondern der in der entfremdeten Arbeit entwickelten Pseudonatur; und so findet diese Zeit ganz natürlich den alten zyklischen Rhythmus wieder, der das Überleben der vorindustriellen Gesellschaften regelte. Die pseudozyklische Zeit stützt sich auf die Überreste der zyklischen Zeit und stellt aus ihnen zugleich neue homologe Zusammensetzungen her: den Tag und die Nacht, die wöchentliche Arbeit und Ruhe, die Wiederkehr der Ferienzeiten.

151.

Die pseudozyklische Zeit ist eine Zeit, die von der Industrie verändert worden ist. Die Zeit, die ihre Basis in der Produktion der Waren hat, ist selbst eine konsumierbare Ware, die alles, was sich vorher, während der Auflösungsphase der alten einheitlichen Gesellschaft in Privatleben, Wirtschaftsleben und politisches Leben gegliedert hatte, sammelt. Die gesamte konsumierbare Zeit der modernen Gesellschaft wird schließlich als Rohmaterial neuer verschiedenartiger Produkte verarbeitet, die sich auf dem Markt als gesellschaftlich organisierte Zeitanwendungen durchsetzen. »Das Produkt, das in einer für die Konsumtion fertigen Form existiert, kann von neuem zum Rohmaterial eines anderen Produkts werden«. (Das Kapital)

152.

In seinem fortgeschrittensten Bereich kommt der konzentrierte Kapitalismus immer mehr zum Verkauf von »komplett ausgestatteten« Zeitblöcken, von denen jeder eine einzige vereinheitlichte Ware bildet, die eine bestimmte Zahl verschiedener Waren in sich integriert hat. So kann in der sich ausdehnenden Wirtschaft der »Dienstleistungen« und der Freizeit die Zahlungsformel »alles inbegriffen« auftauchen, für die spektakuläre Wohnung, die kollektiven Pseudoreisen der Ferien, das Abonnement auf den kulturellen Konsum und den Verkauf selbst der Geselligkeit in der Form von »erregenden Gesprächen« und »Begegnungen mit Persönlichkeiten«. Diese Art spektakulärer Ware, die natürlich nur in Funktion der zunehmenden Knappheit der entsprechenden Wirklichkeiten Geltung haben kann, gehört ebenso natürlich zu den schrittmachenden Artikeln der Modernisierung der Verkaufstechniken, indem sie auf Kredit zahlbar ist.

153.

Die konsumierbare pseudozyklische Zeit ist die spektakuläre Zeit, als Zeit des Konsums der Bilder im engen Sinn und zugleich, in ihrem ganzen Ausmaß, ein Bild des Konsums der Zeit. Die Zeit des Konsums der Bilder, das Medium aller Waren, ist untrennbar das Feld, auf dem die Instrumente des Spektakels ihre volle Wirkung ausüben, und das Ziel, das diese Instrumente global als Ort und zentrale Gestalt aller besonderen Arten des Konsums darstellen: es ist bekannt, daß der ständige Zeitgewinn, den die moderne Gesellschaft erstrebt – sei es durch die Schnelligkeit der Beförderungsmittel oder durch den Gebrauch von Fertigsuppen – für die Bevölkerung der Vereinigten Staaten positiv darin zum Ausdruck kommt, daß allein das Zuschauen des Fernsehens sie durchschnittlich zwischen drei und sechs Stunden täglich beschäftigt. Das gesellschaftliche Bild des Konsums der Zeit wird seinerseits ausschließlich von den Momenten der Freizeit und der Ferienzeit beherrscht, Momente, die von fern vorgestellt werden und die, wie jede spektakuläre Ware, durch Postulat begehrenswert sind. Diese Ware wird hier ausdrücklich als der Moment des wirklichen Lebens ausgegeben, dessen zyklische Wiederkehr es abzuwarten gilt. Aber in diesen dem Leben zugewiesenen Momenten selbst ist es noch das Spektakel, das sich zu sehen und zu reproduzieren gibt und dabei eine noch stärkere Intensität erreicht. Was als das wirkliche Leben vorgestellt wurde, erweist sich lediglich als das Leben, das noch wirklicher spektakulär ist.

154.

Diese Epoche, die sich selbst ihre Zeit wesentlich als die beschleunigte Wiederkehr vielfältiger Festlichkeiten zeigt, ist ebenso eine Epoche ohne Feste. Was in der zyklischen Zeit der Moment der Teilnahme einer Gemeinschaft an der luxuriösen Verausgabung des Lebens war, ist der Gesellschaft ohne Gemeinschaft und ohne Luxus unmöglich. Wenn ihre allgemein verbreiteten Pseudofeste, Parodien des Dialogs und der Gabe, zu einer wirtschaftlichen Mehrausgabe anregen, bringen sie nur die stets das Versprechen einer neuen Enttäuschung kompensierende Enttäuschung ein. Die Zeit des modernen Überlebens muß sich im Spektakel um so nachdrücklicher anpreisen als sich ihr Gebrauchswert vermindert hat. Die Wirklichkeit der Zeit ist durch die Werbung für die Zeit ersetzt worden.

155.

Während der Konsum der zyklischen Zeit der alten Gesellschaften mit der wirklichen Arbeit dieser Gesellschaften übereinstimmte, steht der pseudozyklische Konsum der entwickelten Wirtschaft im Widerspruch zu der abstrakten irreversiblen Zeit ihrer Produktion. Während die zyklische Zeit die wirklich erlebte Zeit der unbeweglichen Illusion war, ist die spektakuläre Zeit die illusorisch erlebte Zeit der sich verändernden Wirklichkeit.

156.

Was stets neu im Produktionsprozeß der Dinge ist, findet sich nicht im Konsum wieder, der die erweiterte Wiederkehr des Gleichen bleibt. Weil die tote Arbeit weiterhin über die lebendige Arbeit herrscht, herrscht in der spektakulären Zeit die Vergangenheit über die Gegenwart.

157.

Als andere Seite des Mangels des allgemeinen geschichtlichen Lebens hat das individuelle Leben noch keine Geschichte. Die Pseudoereignisse, die sich in der spektakulären Dramatisierung drängen, sind nicht von denjenigen erlebt worden, die über sie informiert sind; und außerdem gehen sie mit jedem Pulsschlag der spektakulären Maschinerie in der Inflation ihres beschleunigten Ersatzes verloren. Andererseits steht das, was wirklich erlebt wurde, in keiner Beziehung zu der offiziellen irreversiblen Zeit der Gesellschaft, und in direktem Gegensatz zu dem pseudozyklischen Rhythmus des konsumierbaren Nebenprodukts dieser Zeit. Dieses individuell Erlebte des getrennten täglichen Lebens bleibt ohne Sprache, ohne Begriff, ohne kritischen Zugang zu seiner eigenen Vergangenheit, die nirgendwo aufbewahrt ist. Es wird nicht mitgeteilt. Es ist unbegriffen und vergessen zugunsten des falschen spektakulären Gedächtnisses für das Undenkwürdige.

158.

Das Spektakel, als gegenwärtige gesellschaftliche Organisation der Lähmung der Geschichte und des Gedächtnisses, des Verzichtes auf die Geschichte, der sich auf der Grundlage der geschichtlichen Zeit aufbaut, ist das falsche Bewußtsein von der Zeit.

159.

Um die Arbeiter zu dem Stand »freier« Produzenten und Konsumenten von Zeit als Ware hinzuführen, war die Vorbedingung die gewaltsame Enteignung ihrer Zeit. Die spektakuläre Wiederkehr der Zeit ist erst von dieser ersten Enteignung des Produzenten an möglich geworden.

160.

Der unreduzierbare biologische Teil, der in der Arbeit als Abhängigkeit von dem natürlichen Zyklischen des Wachens und des Schlafens wie auch in der Handgreiflichkeit der individuellen irreversiblen Zeit des Lebensverschleißes vorhanden bleibt, ist für die moderne Produktion nur nebensächlich; und als solche werden diese Elemente in den offiziellen Proklamationen der Produktionsbewegung und der konsumierbaren Trophäen, die die erschwingliche Äußerung dieses unaufhörlichen Sieges sind, vernachlässigt. Das im verfälschten Zentrum der Bewegung seiner Welt immobilisierte zuschauende Bewußtsein kennt in seinem Leben keinen Übergang mehr zu seiner Verwirklichung und zu seinem Tod. Wer darauf verzichtet hat, sein Leben zu verausgaben, darf sich nicht mehr seinen Tod eingestehen. Die Werbung der Lebensversicherungen gibt lediglich zu verstehen, daß der schuldig ist, wer stirbt, ohne die Regulierung des Systems nach diesem wirtschaftlichen Verlust gesichert zu haben; und die Werbung des american way of death betont seine Fähigkeit, bei dieser Begegnung den größten Teil des Scheins des Lebens aufrechtzuerhalten. An der gesamten übrigen Front der Werbebombardierungen ist es rundweg verboten zu altern. Danach würde es darauf ankommen, bei jedem ein »Jugend-Kapital« zu bewahren, das, obschon es nur wenig benutzt worden ist, nicht beanspruchen kann, die dauerhafte und kumulative Realität des Finanzkapitals zu erwerben. Diese gesellschaftliche Abwesenheit des Todes ist mit der gesellschaftlichen Abwesenheit des Lebens identisch.

161.

Die Zeit ist die notwendige Entäußerung, wie Hegel zeigte, die Sphäre, in der sich das Subjekt verwirklicht, indem es sich verliert, anders wird, um die Wahrheit seiner selbst zu werden. Aber ihr Gegenteil ist gerade die herrschende Entfremdung, die der Produzent einer fremden Gegenwart erfährt. In dieser räumlichen Entfremdung trennt die Gesellschaft das Subjekt an der Wurzel von der Tätigkeit, die sie ihm raubt, zunächst aber von seiner eigenen Zeit. Die überwindbare gesellschaftliche Entfremdung ist gerade diejenige, die die Möglichkeiten und die Risiken der lebendigen Entäußerung in der Zeit verwehrt und versteinert hat.

162.

Hinter den erscheinenden Moden, die einander an der tändelhaften Oberfläche der kontemplierten pseudozyklischen Zeit vernichten und wiederzusammensetzen, besteht der große Stil der Epoche stets in dem, was durch die offensichtliche und geheime Notwendigkeit der Revolution orientiert wird.

163.

Die natürliche Grundlage der Zeit, die sinnliche Gegebenheit des Verfließens der Zeit, wird menschlich und gesellschaftlich, indem sie für den Menschen existiert. Der bornierte Stand der menschlichen Praxis, die Arbeit in ihren verschiedenen Stadien, hat bis heute die Zeit als zyklische Zeit und als irreversible getrennte Zeit der Wirtschaftsproduktion vermenschlicht und auch entmenscht. Das revolutionäre Projekt einer klassenlosen Gesellschaft, eines verallgemeinerten geschichtlichen Lebens, ist das Projekt eines Absterbens des gesellschaftlichen Zeitmaßes zugunsten eines ludistischen Modells irreversibler Zeit der Individuen und Gruppen, eines Modells, in dem gleichzeitig verbündete unabhängige Zeiten vorhanden sind. Es ist das Programm einer totalen Verwirklichung des Kommunismus, der »alles von den Individuen unabhängig Bestehende« abschafft, in der Sphäre der Zeit.

164.

Die Welt besitzt schon den Traum von einer Zeit, von der sie jetzt das Bewußtsein besitzen muß, um sie wirklich zu erleben.

 

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