Guy Debord - Die Gesellschaft des Spektakels (1967)

Vom Autor gebilligte Übersetzung aus dem französischen von Jean-Jacques Raspaud. Edition Nautilus. Hamburg, 1978.

 

5. Kapitel   ZEIT UND GESCHICHTE

»Oh, edle Herrn, des Lebens Zeit ist kurz:
Wir treten Kön’ge nieder, wenn wir leben.«

Shakespeare (Henry IV)

125.

Der Mensch, »das negative Wesen, welches nur ist, insofern es Sein aufhebt«, ist mit der Zeit identisch. Die Aneignung seiner eigenen Natur durch den Menschen ist ebenfalls seine Ergreifung der Entfaltung des Universums. »Die Geschichte selbst ist ein wichtiger Teil der Naturgeschichte, des Werdens der Natur zum Menschen.« (Marx). Umgekehrt hat diese »Naturgeschichte« eine tatsächliche Existenz nur durch den Prozeß einer menschlichen Geschichte, des einzigen Teils, der dieses geschichtliche Ganze wiederfindet, wie das moderne Teleskop, das in der Zeit durch seine Reichweite die fliehenden Nebelflecken an der Peripherie des Weltalls einholt. Die Geschichte hat immer existiert, aber nicht immer in ihrer geschichtlichen Form. Die Zeitigung des Menschen, wie sie durch die Vermittlung einer Gesellschaft stattfindet, entspricht einer Vermenschlichung der Zeit. In dem geschichtlichen Bewußtsein äußert sich die bewußtlose Bewegung der Zeit und wird wahr.

126.

Die eigentlich geschichtliche Bewegung beginnt, wenn auch noch verborgen, in der langsamen und unmerklichen Bildung »der wirklichen Natur des Menschen«, dieser »in der menschlichen Geschichte – dem Entstehungsakt der menschlichen Gesellschaft – werdenden Natur«, aber die Gesellschaft, die sich dann einer Technik und einer Sprache bemeistert hat, ist sich, wenn sie auch bereits das Produkt ihrer eigenen Geschichte ist, nur einer immerwährenden Gegenwart bewußt. In dieser Gesellschaft wird jede Kenntnis, die auf das Gedächtnis der Ältesten beschränkt ist, stets von Lebenden getragen. Weder der Tod noch die Zeugung werden als ein Gesetz der Zeit begriffen. Die Zeit steht still, wie ein geschlossener Raum. Wenn eine komplexere Gesellschaft dazu kommt, sich der Zeit bewußt zu werden, besteht ihre Arbeit vielmehr darin, diese Zeit zu leugnen, denn sie sieht in der Zeit nicht das, was vergeht, sondern das, was wiederkommt. Die statische Gesellschaft organisiert die Zeit nach ihrer unmittelbaren Erfahrung der Natur, im Modell der zyklischen Zeit.

127.

Die zyklische Zeit ist bereits in der Erfahrung der Nomadenvölker vorherrschend, denn vor ihnen finden sich in jedem Moment ihrer Wanderung die gleichen Bedingungen wieder: Hegel bemerkt, daß »das Herumschweifen der Nomaden nur formell ist, weil es in einförmige Kreise beschränkt ist«. Die Gesellschaft, die sich örtlich festsetzt und dabei durch die Einrichtung individualisierter Orte dem Raum einen Inhalt gibt, findet sich dadurch selbst im Inneren dieser Ortsbestimmung eingeschlossen. Die zeitliche Rückkehr zu Orten, die sich gleichen, ist jetzt die reine Wiederkehr der Zeit an einem gleichen Ort, die Wiederholung einer Reihe von Gesten. Der Übergang vom Nomadentum der Hirten zur seßhaften Landwirtschaft ist das Ende der inhaltslos-trägen Freiheit, der Beginn der mühevollen Arbeit. Die von dem Rhythmus der Jahreszeiten beherrschte agrarische Produktionsweise überhaupt ist die Basis der völlig ausgebildeten Wiederkehr des Gleichen. Der Mythos ist die einheitliche Konstruktion des Denkens, das die gesamte kosmische Ordnung um die Ordnung herum garantiert, welche diese Gesellschaft tatsächlich bereits innerhalb ihrer Grenzen verwirklicht hat.

128.

Die gesellschaftliche Aneignung der Zeit, die Erzeugung des Menschen durch die menschliche Arbeit, entwickeln sich in einer in Klassen geteilten Gesellschaft. Die Macht, die sich über der Knappheit der Gesellschaft der zyklischen Arbeit gebildet hat, die Klasse, die diese gesellschaftliche Arbeit organisiert und sich deren begrenzten Mehrwert aneignet, eignet sich ebenso den zeitlichen Mehrwert ihrer Organisation der gesellschaftlichen Zeit an: sie besitzt für sich allein die irreversible Zeit des Lebendigen. Der einzige Reichtum, den es konzentriert in dem Bereich der Macht geben kann, um materiell für festlichen Aufwand ausgegeben zu werden, wird dabei auch als Vergeudung einer geschichtlichen Zeit der Oberfläche der Gesellschaft ausgegeben. Die Eigentümer des geschichtlichen Mehrwerts besitzen die Kenntnis und den Genuß der erlebten Ereignisse. Diese Zeit, die von der kollektiven Organisation der Zeit getrennt ist, welche mit der wiederholten Produktion der Grundlage des gesellschaftlichen Lebens vorherrscht, fließt oberhalb ihrer eigenen statischen Gemeinschaft. Es ist die Zeit des Abenteuers und des Krieges, in der die Herren der zyklischen Gesellschaft ihre persönliche Geschichte durchlaufen; es ist ebenso die Zeit, die in dem Zusammenstoß zwischen fremden Gemeinschaften erscheint, die Störung der unveränderlichen Ordnung der Gesellschaft. Die Geschichte ereignet sich folglich wie ein fremder Faktor vor den Menschen, wie etwas, das sie nicht gewollt haben und gegen das sie sich abgeschirmt glaubten. Aber auf diesem Umweg kehrt auch die negative Unruhe des Menschlichen zurück, die am Ursprung selbst der ganzen Entwicklung stand, welche eingeschlafen war.

129.

Die zyklische Zeit ist in sich selbst die Zeit ohne Konflikt. Aber in dieser Kindheit der Zeit ist der Konflikt angelegt: die Geschichte kämpft zunächst, um die Geschichte in der praktischen Tätigkeit der Herren zu sein. Oberflächlich schafft diese Geschichte Irreversibles; ihre Bewegung bildet die Zeit selbst, die sie ausschöpft, im Inneren der unerschöpflichen Zeit der zyklischen Gesellschaft.

130.

Die »kalten Gesellschaften« sind diejenigen, die ihren Teil Geschichte aufs äußerste verlangsamt haben; die ihren Gegensatz zu der natürlichen und menschlichen Umgebung und ihre inneren Gegensätze in ständigem Gleichgewicht gehalten haben. Wenn die extreme Verschiedenartigkeit der zu diesem Zweck errichteten Institutionen von der Plastizität der Selbstschöpfung der menschlichen Natur zeugt, so erscheint dieses Zeugnis selbstverständlich nur dem außerhalb stehenden Beobachter, dem aus der geschichtlichen Zeit zurückgekehrten Ethnologen. In jeder dieser Gesellschaften hat eine endgültige Strukturierung die Veränderung ausgeschlossen. Der absolute Konformismus der bestehenden gesellschaftlichen Bräuche, mit denen sich alle die menschlichen Möglichkeiten für immer identifiziert finden, kennt als äußere Grenze nur die Furcht, in das formlose Tierwesen zurückzufallen. Hier müssen die Menschen gleichbleiben, um im Menschlichen zu bleiben.

131.

An der Schwelle einer Periode, die bis zum Erscheinen der Industrie keine tiefgehenden Erschütterungen mehr erfahren wird, bezeichnet die Geburt der politischen Macht, die in Beziehung zu den letzten großen Revolutionen der Technik – wie dem Eisenguß – zu stehen scheint, den Moment, der die Blutsverwandtschaft aufzulösen beginnt. Von nun an tritt die Aufeinanderfolge der Generationen aus der Sphäre des rein natürlichen Zyklischen heraus, um zu gerichtetem Ereignis, zu Aufeinanderfolge von Mächten zu werden. Die irreversible Zeit ist die Zeit desjenigen, der herrscht; und die Dynastien sind deren erstes Maß. Die Schrift ist ihre Waffe. In der Schrift erreicht die Sprache ihre volle unabhängige Wirklichkeit als Vermittlung zwischen bewußten Wesen. Aber diese Unabhängigkeit ist mit der allgemeinen Unabhängigkeit der getrennten Macht, als der die Gesellschaft bildenden Vermittlung, identisch. Mit der Schrift erscheint ein Bewußtsein, das nicht mehr in der unmittelbaren Beziehung zwischen den Lebenden getragen und übertragen wird: ein unpersönliches Gedächtnis, das der Verwaltung der Gesellschaft. »Die Schriftstücke sind die Gedanken des Staates; die Archive sein Gedächtnis.« (Novalis.)

132.

Die Chronik ist der Ausdruck der irreversiblen Zeit der Macht und auch das Instrument, das das voluntaristische Fortschreiten dieser Zeit, von ihrem früheren Verlauf ab, aufrechterhält; denn diese Orientierung der Zeit muß mit der Kraft jeder einzelnen Macht zusammenbrechen; und sie fällt wieder der gleichgültigen Vergessenheit der den Bauernmassen allein bekannten zyklischen Zeit anheim, welche sich in dem Zusammenbruch der Reiche und ihrer Chronologien niemals verändern. Die Besitzer der Geschichte haben in die Zeit einen Sinn gesetzt: eine Richtung, die auch eine Bedeutung ist. Aber diese Geschichte entfaltet sich und vergeht gesondert: sie läßt die Tiefe der Gesellschaft unbewegt, denn sie ist gerade das, was von der gemeinsamen Realität getrennt bleibt. In dieser Hinsicht läßt sich die Geschichte der Reiche des Orients für uns auf die Geschichte der Religionen zurückführen: diese wieder verfallenen Chronologien haben nur die scheinbar autonome Geschichte der Illusionen, die sie umhüllten, hinterlassen. Die Herren, die unter dem Schutz des Mythos das Privateigentum an der Geschichte im Besitz halten, besitzen es zunächst in der Art der Illusion: in China und Ägypten hatten sie lange Zeit das Monopol der Unsterblichkeit der Seele, wie ihre ersten anerkannten Dynastien die imaginäre Anordnung der Vergangenheit sind. Aber dieser illusorische Besitz der Herren ist auch der ganze zu jener Zeit mögliche Besitz einer gemeinsamen Geschichte und ihrer eigenen Geschichte. Die Erweiterung ihrer tatsächlichen Macht geht mit einer allgemeinen Verbreiterung des illusorischen mythischen Besitzes einher. All dies ergibt sich aus der einfachen Tatsache, daß die Herren in genau dem Maße, wie sie es übernahmen, mythisch die Permanenz der zyklischen Zeit zu garantieren – wie zum Beispiel in den jahreszeitlichen Riten der chinesischen Kaiser –, sich selbst von derselben relativ befreit haben.

133.

Wenn die unerklärte dürre Chronologie der vergötterten Macht, die zu ihren Dienern spricht, und die nur als irdische Ausführung der Gebote des Mythos verstanden werden will, überwunden werden kann und zur bewußten Geschichte wird, muß die wirkliche Teilnahme an der Geschichte von umfassenden Gruppen erlebt worden sein. Aus dieser praktischen Mitteilung zwischen denjenigen, die sich als die Besitzer einer einzelnen Gegenwart anerkannt haben, die den qualitativen Reichtum der Ereignisse als ihre Tätigkeit und als den Ort, worin sie standen – ihre Epoche –, erfuhren, entsteht die allgemeine Sprache der geschichtlichen Mitteilung. Diejenigen, für die die irreversible Zeit existiert hat, entdecken in ihr zugleich die Denkwürdigkeit und das Drohen der Vergessenheit: »Herodot aus Halikarnaß legt hier die Ergebnisse seiner Untersuchung vor, damit die Zeit nicht die Werke der Menschen auslöscht?«

134.

Das Nachdenken über die Geschichte ist nicht zu trennen von dem Nachdenken über die Macht. Griechenland war dieser Moment, in dem die Macht und deren Veränderung diskutiert und begriffen wurden, die Demokratie der Herren der Gesellschaft. Hier bestand das Gegenteil der Bedingungen, die der despotische Staat kannte, in dem die Macht im unzugänglichen Dunkel seines konzentriertesten Punktes stets nur mit sich selbst abrechnete: durch die Palastrevolution, die bei Erfolg wie bei Mißerfolg gleichermaßen außer Diskussion stehen. Jedoch existierte die aufgeteilte Macht der griechischen Gemeinschaften nur in der Verausgabung eines gesellschaftlichen Lebens, dessen Produktion getrennt und statisch in der Sklavenklasse verblieb. Nur diejenigen, die nicht arbeiten, leben. Bei der Teilung der griechischen Gemeinschaften, und bei dem Kampf um die Ausbeutung der fremden Städte, wurde das Prinzip der Trennung, das jede von ihnen im Inneren begründete, nach außen getragen. Griechenland, das die Weltgeschichte erträumt hatte, gelang es nicht, sich angesichts der Invasion zu vereinen; es gelang ihm nicht einmal, die Kalender seiner unabhängigen Städte zu vereinigen. In Griechenland ist die geschichtliche Zeit bewußt geworden, aber noch nicht selbstbewußt.

135.

Nach dem Verschwinden der örtlich günstigen Bedingungen, die die griechischen Gemeinschaften gefunden hatten, wurde der Rückschritt des westlichen geschichtlichen Denkens nicht von einer Wiederherstellung der ehemaligen mythischen Organisationen begleitet. In dem Aufeinanderstoßen der Mittelmeervölker, in der Bildung und im Zusammenbruch des römischen Staats, tauchten halbgeschichtliche Religionen auf, die zu grundlegenden Faktoren des neuen Bewußtseins der Zeit und zur neuen Rüstung der getrennten Macht wurden.

136.

Die monotheistischen Religionen waren ein Kompromiß zwischen dem Mythos und der Geschichte, zwischen der zyklischen Zeit, die noch die Produktion beherrschte und der irreversiblen Zeit, in der die Völker aufeinanderstoßen und sich wieder zusammensetzen. Die aus dem Judentum hervorgegangenen Religionen sind die abstrakte universelle Anerkennung der irreversiblen Zeit, die nun zwar demokratisiert ist und allen offensteht, aber nur im Illusorischen. Die Zeit ist ganz und gar auf ein einziges letztes Ereignis hin orientiert: »Das Reich Gottes ist nah.« Diese Religionen sind auf dem Boden der Geschichte entstanden und haben sich auf ihm festgesetzt. Aber noch dort bleiben sie in radikalem Gegensatz zur Geschichte. Die halbgeschichtliche Religion führt in die Zeit einen qualitativen Ausgangspunkt ein, die Geburt Christi, die Flucht Mohammeds, aber ihre irreversible Zeit – die eine tatsächliche Akkumulation einleitet, die im Islam die Gestalt einer Eroberung und im Christentum der Reformation die Gestalt einer Vermehrung des Kapitals wird annehmen können – ist im religiösen Denken in Wirklichkeit wie eine Zählung gegen den Strich umgekehrt: das Warten in der abnehmenden Zeit auf den Zugang zur wahren anderen Welt, das Erwarten des Jüngsten Gerichts. Die Ewigkeit ist aus der zyklischen Zeit herausgetreten. Sie ist ihr Jenseits. Sie ist das Element, das die Irreversibilität der Zeit herabsetzt, das die Geschichte in der Geschichte selbst abschafft, indem sie sich als ein reines punktuelles Element, in das die zyklische Zeit zurückgekehrt und verschwunden ist, auf die andere Seite der irreversiblen Zeit stellt. Bossuet sagt noch: »Und mittels der Zeit, die vergeht, gehen wir in die Ewigkeit ein, die nicht vergeht.«

137.

Das Mittelalter, diese unvollendete mythische Welt, deren Vollkommenheit außerhalb ihrer selbst lag, ist der Moment, in dem die zyklische Zeit, die noch den Hauptteil der Produktion regelt, von der Geschichte wirklich untergraben wird. Eine gewisse irreversible Zeitlichkeit wird allen als Individuen zuerkannt, in der Aufeinanderfolge der Lebensalter, in dem Leben, das als eine Reise angesehen wird, als Durchgang ohne Rückkehr durch eine Welt, deren Sinn anderswo liegt: der Pilger ist der Mensch, der aus dieser zyklischen Zeit heraustritt, um tatsächlich dieser Reisende zu sein, der jeder Mensch als Zeichen ist. Das persönliche geschichtliche Leben findet seine Vollendung stets in der Sphäre der Macht, in der Teilnahme an den von der Macht geführten Kämpfen und an den Kämpfen im Streit um die Macht; aber die irreversible Zeit der Macht wird ins Unendliche geteilt bei der allgemeinen Vereinigung der gerichteten Zeit der christlichen Zeitrechnung, in einer Welt des bewaffneten Vertrauens, in der sich das Spiel der Herren um die Treue und das Bestreiten der schuldigen Treue dreht. Diese feudale Gesellschaft, die aus dem Zusammentreffen der »kriegerischen Organisation des Heerwesens während der Eroberung selbst« und der »in den eroberten Ländern vorgefundenen Produktivkräfte« (Die deutsche Ideologie) entstand – und zur Organisation dieser Produktivkräfte muß man ihre religiöse Sprache zählen –, hat die Herrschaft über die Gesellschaft zwischen der Kirche und der staatlichen Macht geteilt, die ihrerseits in den komplexen Beziehungen von Lehnsherrlichkeit und Vasallenschaft der Grundlehen und der städtischen Gemeinden unterteilt war. In dieser Verschiedenartigkeit des möglichen geschichtlichen Lebens enthüllte sich die irreversible Zeit, durch welche bewußtlos die Tiefe der Gesellschaft mitgerissen wurde, die von der Bourgeoisie in der Warenproduktion, in der Gründung und Ausdehnung der Städte, in der kommerziellen Entdeckung der Erde – dem praktischen Experimentieren, das jede mythische Organisation des Kosmos für immer zerstört – erlebte Zeit, allmählich als die unbekannte Arbeit der Epoche, als die große offizielle geschichtliche Unternehmung dieser Welt mit den Kreuzzügen gescheitert war.

138.

Im Herbst des Mittelalters wird die irreversible Zeit, die auf die Gesellschaft übergreift, von dem an der alten Ordnung haftenden Bewußtsein in der Form einer Zwangsvorstellung vom Tod empfunden. Darin liegt die Melancholie der Auflösung einer Welt, der letzten, in der sich die Sicherheit des Mythos noch der Geschichte das Gleichgewicht hielt; und für diese Melancholie bewegt sich alles Irdische nur in Richtung auf seinen Verfall. Die großen Aufstände der Bauern Europas sind auch ihr Versuch einer Antwort auf die Geschichte, die sie gewaltsam aus dem patriarchalischen Schlaf riß, den die feudale Vormundschaft gewährleistet hatte. Es ist die millenaristische Utopie der irdischen Verwirklichung des Paradieses, in der in den Vordergrund tritt, was am Anfang der halbgeschichtlichen Religion stand, als die christlichen Gemeinden, wie der jüdische Messianismus, von dem sie herkamen, jene Antworten auf die Unruhen und das Unglück der Epoche, die unmittelbar bevorstehende Verwirklichung des Reichs Gottes erwarteten und in der antiken Gesellschaft einen Faktor der Unruhe und der Subversion beitrugen. Als das Christentum schließlich die Macht im Kaiserreich mitbesaß, widerlegte es zu rechter Zeit als bloßen Aberglauben all das, was von dieser Hoffnung übriggeblieben war: dies ist die Bedeutung der Augustinischen Behauptung, dem Archetyp aller satisfecit der modernen Ideologie, wonach die eingesessene Kirche bereits seit langem dieses Reich war, von dem man gesprochen hatte. Der soziale Aufstand des millenaristischen Bauerntums definiert sich natürlich zunächst als ein Wille zur Zerstörung der Kirche. Aber der Millenarismus entfaltet sich in der geschichtlichen Welt und nicht auf dem Boden des Mythos. Die modernen revolutionären Hoffnungen sind nicht, wie Norman Cohn in »Das Ringen um das Tausendjährige Reich« zu beweisen glaubt, irrationale Folgen der religiösen Leidenschaft des Millenarismus. Es ist ganz im Gegenteil der Millenarismus, ein revolutionärer Klassenkampf, der zum letzten Mal die Sprache der Religion gebraucht, der bereits eine moderne revolutionäre Tendenz ist, welcher noch das Bewußtsein fehlt, nur geschichtlich zu sein. Die Millenaristen mußten verlieren, weil sie die Revolution nicht als ihr eigenes Tun anerkennen konnten. Die Tatsache, daß sie um zu handeln ein äußeres Zeichen der Entscheidung Gottes abwarten, ist die Übersetzung ins Denken einer Praxis, in der die aufständischen Bauern Anführern folgen, die nicht aus ihren eigenen Reihen stammen. Die Bauernklasse konnte kein richtiges Bewußtsein darüber erreichen, wie die Gesellschaft funktionierte und wie ihr eigener Kampf zu führen war: weil der Bauernklasse diese Bedingungen der Einheit in ihrer Handlung und in ihrem Bewußtsein fehlten, ist es zu erklären, daß sie ihr Projekt in den Bildern des Gartens von Eden ausdrückte und ihre Kriege eben diesen Bildern gemäß führte.

139.

Der neue Besitz am geschichtlichen Leben, die Renaissance, die im Altertum ihre Vergangenheit und ihr Recht findet, trägt in sich den freudigen Bruch mit der Ewigkeit. Ihre irreversible Zeit ist die Zeit der unendlichen Akkumulation der Kenntnisse und das geschichtliche Bewußtsein, das aus der Erfahrung der demokratischen Gemeinschaften und der Kräfte, die sie zerstören, entstanden ist, fängt mit Machiavelli wieder an, über die entheiligte Macht nachzudenken, das Unaussprechliche über den Staat auszusprechen. In dem überschäumenden Leben der italienischen Städte, in der Kunst der Feste, erfährt sich das Leben als Genießen des Vergehens der Zeit. Aber dieses Genießen des Vergehens mußte auch selbst vergänglich sein. Das Lied von Lorenzo de’ Medici, das Burckhardt als »eine wehmütige Ahnung der kurzen Herrlichkeit der Renaissance selbst« betrachtet, ist das Eigenlob, das sich dieses zerbrechliche Fest der Geschichte hielt: »Wie schön die Jugend ist – die so bald vergeht.«

140.

Die ständige Bewegung der Monopolisierung des geschichtlichen Lebens durch den Staat der absoluten Monarchie, der Übergangsform zur vollständigen Herrschaft der Bürgerklasse, läßt in seiner Wahrheit erscheinen, was die neue irreversible Zeit der Bourgeoisie ist. Die Bourgeoisie ist mit der zum ersten Mal vom Zyklischen befreiten Zeit der Arbeit verknüpft. Die Arbeit ist mit der Bourgeoisie zur Arbeit geworden, die die geschichtlichen Bedingungen verändert. Die Bourgeoisie ist die erste herrschende Klasse, für die die Arbeit ein Wert ist. Und die Bourgeoisie, die jedes Privileg abschafft und nur den Wert anerkennt, der aus der Ausbeutung der Arbeit entspringt, hat gerade mit der Arbeit ihren eigenen Wert als herrschende Klasse identisch gesetzt und macht den Fortschritt der Arbeit zu ihrem eigenen Fortschritt. Die Klasse, die die Waren und das Kapital akkumuliert, verändert ständig die Natur, indem sie die Arbeit selbst verändert, indem sie deren Produktivität entfesselt. Jedes gesellschaftliche Leben hat sich bereits in der ornamentalen Armut des Hofes konzentriert, dem Schmuck der kalten staatlichen Verwaltung, die im »Königsberuf« gipfelt; und jede besondere geschichtliche Freiheit mußte ihrem Verlust zustimmen. Die Freiheit des irreversiblen zeitlichen Spiels der Feudalherren hat sich in ihren letzten verlorenen Schlachten mit den Kriegen der Fronde oder der Erhebung der Schotten für Karl-Eduard verbraucht. Die Welt hat sich von Grund auf verändert.

141.

Der Sieg der Bourgeoisie ist der Sieg der zutiefst geschichtlichen Zeit, weil sie die Zeit der wirtschaftlichen Produktion ist, die die Gesellschaft fortwährend und von Grund auf verändert. Solange die agrarische Produktion die Hauptarbeit bleibt, nährt die zyklische Zeit, die auf dem Grund der Gesellschaft gegenwärtig bleibt, die verbündeten Kräfte der Tradition, die die Bewegung hemmen. Aber die irreversible Zeit der bürgerlichen Wirtschaft rottet diese Überreste auf der ganzen weiten Welt aus. Die Geschichte, die bis dahin als die alleinige Bewegung der Individuen der herrschenden Klasse erschien und folglich als Geschichte von Ereignissen geschrieben wurde, wird jetzt als die allgemeine Bewegung begriffen, und in dieser strengen Bewegung werden die Individuen aufgeopfert. Die Geschichte, die ihre Grundlage in der politischen Wirtschaft entdeckt, kennt jetzt die Existenz dessen, was ihr Unbewußtes war, das aber trotzdem noch das Unbewußte bleibt, das sie nicht ans Licht ziehen kann. Nur diese blinde Vorgeschichte, ein neues Fatum, das kein Mensch beherrscht, wurde durch die Warenwirtschaft demokratisiert.

142.

Die Geschichte, die in der ganzen Tiefe der Gesellschaft gegenwärtig ist, tendiert dahin, sich an der Oberfläche zu verlieren. Der Triumph der irreversiblen Zeit ist auch ihre Verwandlung in die Zeit der Dinge, weil die Waffe zu ihrem Sieg gerade die Serienproduktion von Gegenständen nach den Gesetzen der Ware war. Das Hauptprodukt, das die Wirtschaft von einem seltenen Luxusartikel in ein gefährliches Konsumgut verwandelte, ist daher die Geschichte, aber lediglich als Geschichte der abstrakten Bewegung der Dinge, die jeden qualitativen Gebrauch des Lebens beherrscht. Während die frühere zyklische Zeit einen wachsenden Teil von Individuen und Gruppen erlebter geschichtlicher Zeit in sich trug, tendiert die Herrschaft der irreversiblen Zeit der Produktion dahin, diese erlebte Zeit gesellschaftlich abzuschaffen.

143.

So machte die Bourgeoisie die Gesellschaft mit einer irreversiblen geschichtlichen Zeit bekannt und zwang sie ihr auf, verweigert ihr aber deren Gebrauch. »Somit hat es eine Geschichte gegeben, aber es gibt keine mehr«, weil die Klasse der Besitzer der Wirtschaft, die nicht mit der Wirtschaftsgeschichte brechen kann, auch jede andere irreversible Verwendung der Zeit als eine unmittelbare Bedrohung verdrängen muß. Die herrschende Klasse, die aus Spezialisten des Besitzes der Dinge besteht, die dadurch selbst ein Besitz der Dinge sind, muß ihr Schicksal mit der Aufrechterhaltung dieser verdinglichten Geschichte verknüpfen, mit der Permanenz einer neuen Unbeweglichkeit in der Geschichte. Zum ersten Mal ist der Arbeiter, der an der Basis der Gesellschaft steht, der Geschichte nicht materiell fremd, denn irreversibel bewegt sich jetzt die Basis der Gesellschaft. In der Forderung, die geschichtliche Zeit, die es macht, zu erleben, findet das Proletariat das einfache, unvergeßliche Zentrum seines revolutionären Projektes; und jeder der bis heute zerschlagenen Versuche, dieses Projekt durchzuführen, kennzeichnet einen möglichen Ausgangspunkt des geschichtlichen neuen Lebens.

144.

Die irreversible Zeit der Bourgeoisie, der Herrin der Macht, präsentierte sich zunächst unter ihrem eigenen Namen, als einen absoluten Ursprung, als das Jahr 1 der Republik. Aber die revolutionäre Ideologie der allgemeinen Freiheit, die die letzten Reste der mythischen Organisation der Werte und jede traditionelle Regelung der Gesellschaft beseitigt hatte, ließ bereits den wirklichen Willen sichtbar werden, den sie mit einem römischen Gewand bekleidet hatte: die verallgemeinerte Handelsfreiheit. Als die Gesellschaft der Ware dann herausfand, daß sie die Passivität wiederherzustellen hatte, die sie gründlich hatte erschüttern müssen, um ihre eigene reine Herrschaft zu erreichten, fand sie in dem »Christentum, mit seinem Kultus des abstrakten Menschen, [...] die entsprechendste Religionsform« (Das Kapital). Die Bourgeoisie hat darauf mit dieser Religion einen Kompromiß geschlossen, der sich auch in der Vorstellung der Zeit ausdrückt: als ihr eigener Kalender aufgegeben wurde, schmiegte sich ihre irreversible Zeit wieder der christlichen Zeitrechnung an, deren Folge sie fortsetzte.

145.

Mit der Entstehung des Kapitalismus wird die irreversible Zeit weltweit vereinheitlicht. Die Weltgeschichte wird Wirklichkeit, denn die ganze Welt wird unter der Entwicklung dieser Zeit versammelt. Aber die Geschichte, die überall und zugleich dieselbe ist, ist erst noch die innergeschichtliche Ablehnung der Geschichte. Es ist die in gleiche abstrakte Stücke geschnittene Zeit der wirtschaftlichen Produktion, die sich auf dem ganzen Planeten als der gleiche Tag äußert. Die vereinheitlichte irreversible Zeit ist die Zeit des Weltmarkts und folglich die des Weltspektakels.

146.

Die irreversible Zeit der Produktion ist zunächst das Maß der Waren. Daher ist die Zeit, die sich offiziell über die ganze Weite der Welt hin als die allgemeine Zeit der Gesellschaft behauptet, indem sie nur die spezialisierten Interessen bedeutet, aus denen sie gebildet wird, nur eine besondere Zeit.

 

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